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Andreas Urban

 

Kapital im Katastrophenmodus
Bemerkungen zu Fabio Vighi und seinen Thesen eines „emergency capitalism“

 


Zuerst erschienen in leicht gekürzter Form unter dem Titel „Im Katastrophenmodus“ in Streifzüge, Nr. 86, Herbst 2022, S. 38-42

 



Während der Corona-Krise haben einige „wertkritisch“ anmutende Thesen über einen konstitutiven Zusammenhang von finaler Kapitalismuskrise und Corona, insbesondere der im Rahmen der Pandemie installierten Lockdown-Politik, von sich reden gemacht. Autor dieser Thesen ist Fabio Vighi, Universitätsprofessor für Italienisch und Kritische Theorie an der Cardiff University (Großbritannien). Eine Auseinandersetzung mit seinen Thesen erscheint schon deshalb lohnenswert, da diese u.a. auch in wert- und wert-abspaltungskritischen Kreisen unter das Verdikt „Verschwörungstheorie“ – ein in den vergangenen zweieinhalb Jahren besonders beliebtes Label zur Denunziation aller Arten von Kritik an der Corona-Politik – subsumiert werden (vgl. Böttcher 2022). In diesen Kreisen hat man es ja generell, wie die meisten anderen Linken auch, vorgezogen, sich auf die Seite des Maßnahmenstaates zu schlagen und den medialen Diffamierungskampagnen gegen Maßnahmen- und Impfkritiker anzuschließen, ohne sich je auf eine inhaltliche Diskussion einzulassen. Entsprechend sah daher auch die interne Diskussion aus, insbesondere wenn gelegentlich Versuche unternommen wurden, in der wertkritischen Analyse (auch) die Corona-Politik und das Maßnahmenregime adäquat zu berücksichtigen (vgl. Urban/Uhnrast 2022a & 2022b; Jappe 2022; zur wertkritischen Corona-Debatte vgl. Urban 2022a).


Vighis Texte liegen bis dato fast ausschließlich in englischer Sprache vor. Eine Ausnahme stellt der Beitrag Von Covid-19 zu Putin-22 dar, der im Juni 2022 in der linken, Corona-kritischen Broschüre Der Erreger abgedruckt wurde (siehe hierzu auch meine Besprechung in Urban 2022b). Ansonsten finden sich noch einige (mangelhafte) Übersetzungen im „Schwurbelnetz“ (z.B. auf tkp.at). Die folgenden Anmerkungen beziehen sich ausschließlich auf Vighis Thesen im Kontext der Corona-Krise sowie – daran anschließend – des Ukraine-Krieges. Nicht berücksichtigt werden dabei, mangels hinreichender Kenntnis, andere bzw. frühere (Buch-)Publikationen des Autors. Keineswegs wird damit bereits eine umfassende Diskussion und Einschätzung von Vighis Œuvre prätendiert.

 

Was ist der Inhalt von Vighis Thesen? Vighi hat sich insbesondere mit den makroökonomischen Hintergründen der Corona-Krise befasst und dabei die auf den ersten Blick etwas steil anmutende, bei genauerer Betrachtung – und nach den Erfahrungen der vergangenen zweieinhalb Jahre – aber durchaus nicht ganz abwegige These entwickelt und sowohl theoretisch als auch empirisch zu begründen versucht, dass die während der Pandemie exekutierte Lockdown-Politik der Staaten auch oder vielleicht sogar vorrangig andere Funktionen erfüllte als die einer effektiven Pandemiebekämpfung. Dafür könnte ja schon der Umstand sprechen, dass über den geringen Nutzen von Lockdowns in einer Epidemie bzw. Pandemie, bei zugleich immens hohem Schadenspotenzial, bis März 2020 ein breiter wissenschaftlicher Konsens bestand – was sich dann ja auch in der Corona-Krise auf eindrucksvolle und tragische Weise bewahrheitete. Laut Vighi bestand die Hauptfunktion der Lockdowns in der Verhinderung bzw. Verzögerung eines sich seit Herbst 2019 wieder deutlich abzeichnenden, unmittelbar bevorstehenden Finanzcrashs. Dieser sollte durch ein gigantisches Going-Direct-Liquiditätsprogramm der Notenbanken, mit dem massenhaft Geld ins System gepumpt wurde (allein in den USA zwischen September 2019 und März 2020 neun Billionen Dollar), verhindert werden. Da die enorme Menge an Liquidität, wenn diese in realökonomische Geschäftskreisläufe eingegangen wäre, eine Hyperinflation mit katastrophalen Folgen ausgelöst hätte, seien Lockdowns eine willkommene Möglichkeit gewesen, die Öffentlichkeit abzulenken und gleichzeitig Geschäftstransaktionen auszusetzen und durch eine entsprechende Senkung der Nachfrage nach Krediten eine „Ansteckung“ der Realökonomie zu verhindern (Vighi 2021a).

 

Was an solchen Thesen bis hinein in wert- und wert-abspaltungskritische Kontexte alle Verschwörungstheorie-Alarmglocken klingeln lässt, ist die den Thesen (angeblich) zugrunde liegende erkenntnistheoretische „Verschiebung von der Frage nach abstrakter Herrschaft und dem darin eingebetteten Handeln von Akteuren hin zur Unmittelbarkeit der Erkenntnis und des zielgerichteten Handelns von Eliten“ (Böttcher 2022). In der Tat weist Vighi eine gewisse offene Flanke zum Verschwörungstheoretischen auf, insofern er in seiner Analyse des Corona-Maßnahmenregimes das Moment des Handelns und des Kalküls von Funktionseliten relativ stark gewichtet, während der in vielerlei Hinsicht irrationale Charakter der kapitalistischen Krisenverwaltung im Allgemeinen und der Corona-Politik im Besonderen tendenziell in den Hintergrund rückt. Gewiss gibt es in dem ganzen auch eine Binnenrationalität und gehen einige Akteure durchaus „planmäßig“ vor, diese Binnenrationalität ist aber selbst fragmentiert durch die in der Krise immer mehr durcheinandergehenden Interessen von Staat(en) und diversen Kapitalfraktionen und darüber hinaus gebrochen durch krisenbedingte institutionelle Verfallserscheinungen und die auf allen Ebenen zunehmend überschießende Irrationalität. Diesem irrationalen Moment des warenproduzierenden Systems in seiner Agonie gibt Vighi analytisch vergleichsweise wenig Raum.


Aus wertkritischer Perspektive kann Vighi ohne Frage auch als ein relativ „postmoderner“ Theoretiker betrachtet werden mit einer theoretisch recht eklektizistischen Arbeitsweise, bei dem dann schon mal Wertkritik (die ihm offenbar bekannt ist[1]) mit Versatzstücken von Lacan und Žižek durcheinandergeht. Über den Wahrheitsgehalt seiner kritischen Analysen sagt dies allerdings noch nicht zwangsläufig etwas aus. Unter dem Strich bleibt und ist offensichtlich, dass Corona „als Mittel für eine Krisenbewältigung im kapitalistischen Sinne benutzt [wurde]. Dieser Versuch einer Krisenbewältigung war und ist selbstverständlich ein reaktionärer, faktisch ein Rückgriff auf die autoritär-repressive Frühphase des Kapitalismus“ (Bedszent 2022, S. 654). Und dieses Ziel der Krisenbewältigung scheint zumindest vorläufig erreicht worden zu sein. Auch und gerade die Ablenkung der Öffentlichkeit durch die Lockdown-Politik, ob nun als Teil des „Plans“ oder bloß als Effekt des Maßnahmenregimes und der es flankierenden PR-Aktionen, hat hervorragend funktioniert. Wenn man bedenkt, dass im Zuge der Corona-Krise geldpolitisch ungefähr dasselbe abgezogen wurde wie im Kontext der Finanzkrise 2007/08, allerdings nochmals um einige Hausecken höher dimensioniert, gab es diesmal im Vergleich zu damals erstaunlich wenig bis gar keinen Protest, geschweige denn nennenswerten Widerstand, aus der Bevölkerung. Vighis Argumentation ist darüber hinaus explizit krisentheoretisch und durchaus anschlussfähig an die wertkritische Theoriebildung, insofern er die Entwicklungen der letzten zweieinhalb Jahre ausdrücklich in einer fundamentalen Krise des Kapitalismus verortet:


„However, the ‚going direct‘ blueprint should also be framed as a desperate measure, for it can only prolong the agony of a global economy increasingly hostage to money printing and the artificial inflation of financial assets. At the heart of our predicament lies an insurmountable structural impasse. Debt-leveraged financialization is contemporary capitalism’s only line of flight, the inevitable forward-escape route for a reproductive model that has reached its historical limit. Capitals head for financial markets because the labour-based economy is increasingly unprofitable.“ (Vighi 2021a)


Mit seiner Betonung eines konstitutiven Zusammenhangs von „Finanzialisierung“ und Obsoletwerden der Arbeit und einer daraus resultierenden fundamentalen Krise des warenproduzierenden Systems insgesamt befindet er sich also durchaus auf der Höhe des „prozessierenden Widerspruchs“ (Marx).


Letztlich hebt seine ausgesprochen originelle These, die er in darauffolgenden Artikeln noch weiterentwickelt und begründet hat (z.B. Vighi 2021b, 2022a & 2022b), darauf ab, dass die fundamentale Krise, in der sich das warenproduzierende System befindet, inzwischen ein Stadium erreicht hat, in dem nur noch reale oder inszenierte Katastrophenzustände es dem Kapitalismus erlauben, seine Zombie-Existenz (vorerst) weiterzuführen, indem sie es ermöglichen, die Krisenverwaltung qua Finanzblasen und einer Politik des billigen Geldes auf dem erforderlichen Niveau zu prolongieren. Zu ergänzen wäre hier vielleicht noch, als weiterer Teil eines entsprechenden Krisenverwaltungsprogramms, die Bremsung des Profitratenfalls durch eine hochdimensionierte, staatliche subventionierte „Sinnlosproduktion“ (vgl. Hüller 2019, S. 187) zugunsten großer Kapitalfraktionen und bestimmter Leitsektoren. „Sinnlosproduktion“ meint in diesem Zusammenhang eine über das bisherige kapitalistische business as usual hinausgehende Produktion nur um der Produktion willen, ggf. auch von Waren ohne ersichtlichen Nutzen, dafür aber mit mehr oder weniger großem Schadenspotenzial. Dass etwas in der Art im Kontext der Corona-Krise (Pharma- und Digitalindustrie), aber auch aktuell vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges (Rüstungsindustrie) stattfindet, ist mit Händen zu greifen. Auch die Sinnlosigkeit und Schädlichkeit dieser hunderte Milliarden an Staatsgeld verschlingenden Warenproduktion auf stofflicher Ebene ist kaum zu übersehen – im Fall der Rüstungsindustrie sowieso, aber auch mit Blick auf die Produkte der „Pandemie-Industrie“, z.B. wenig wirksame, aber nebenwirkungsreiche mRNA-Impfungen, Corona-Testkits für epidemiologisch sinnfreie Massentestungen (inklusive der in den letzten zweieinhalb Jahren überall aus dem Boden geschossenen Testlabore) oder die zig Milliarden Masken, für deren Nutzen es keinerlei valide wissenschaftliche Evidenz gibt. Alleine die ökologischen Schäden durch die anfallenden Müllberge aus benutzten (und unbenutzten) Masken und Corona-Tests sind schlicht enorm.


Auch Vighi sieht einen ähnlich gelagerten Zusammenhang zwischen Corona-Krise und Ukraine-Krieg. Ihm zufolge ist der Ukraine-Krieg, ähnlich wie schon davor Corona, ein brauchbares Vehikel oder zumindest eine willkommene Rechtfertigung dafür, die immer größere Dimensionen annehmende Gelddruckerei, auf die der Kapitalismus im aktuellen Stadium der Krisenreife angewiesen ist, weiter aufrechtzuerhalten:


„Putins Krieg ist die ideale Fortsetzung des War on Covid. Das übergeordnete Ziel besteht darin, das eigentliche Problem zu verschleiern. Es besteht in den Bergen von billigem Geld, das in die schuldensüchtige Wirtschaft geschleust wird. Die Katastrophenspirale ist das makroökonomische Ereignis unserer Zeit.“ (Vighi 2022c, S. 104, Herv. im Orig.)


In der Tat war beeindruckend zu beobachten, wie mit Beginn des Kriegs die Logik des Corona-Ausnahmezustandes mitsamt seinem ganzen Propagandaapparat nahezu nahtlos auf die Ukraine-Krise übersprang (vgl. Urban 2022c) und insbesondere die bereits während der „Pandemie“ weit geöffneten Geldschleusen sogleich ein weiteres schwarzes Loch fanden, in das sie sich ergießen konnten. So hat etwa Deutschland kurz nach Kriegsbeginn umgehend das größte Rüstungspaket seit dem Zweiten Weltkrieg in der Höhe von 100 Milliarden Euro verabschiedet. Die schon durch Corona massiv gestiegene Verschuldungsdynamik, an deren Tropf der postmoderne Krisenkapitalismus hängt, ist dadurch nochmals auf neue Höhen geklettert:


„Im Wesentlichen hat ‚Mad Vlad‘ mit seiner Militäroffensive der Federal Reserve (und anderen großen Zentralbanken) erlaubt, den Tag der Abrechnung für unser ultrafinanzialisiertes Wirtschaftssystem weiter hinauszuschieben. Denn billige Schulden, die in noch mehr Schulden investiert werden, sind das, was die Titanic vor dem Sinken bewahrt. […] Berge von billigem Geld werden aus dem Nichts geschaffen und als finanzielles Druckmittel eingesetzt. Der Appetit auf Kreditaufnahme ist nun wirklich endemisch, denn er betrifft auch die Realwirtschaft, die Haushalte und vor allem die Regierungen. Aus diesem Grund sind globale Notlagen die Hauptantriebskraft für die künstliche Geldmengenausweitung, die wiederum die kapitalistische Flucht nach vorn aus der Verwertungskrise (Unfähigkeit, gesellschaftlich ausreichende Mengen an Mehrwert und damit realen Reichtum zu erzeugen) darstellt, die unsere Produktionsweise seit der Dritten Industriellen Revolution und der Implosion des Bretton-Woods-Systems in den 1970er Jahren plagt.“ (Vighi 2022c, S. 106f.)


Wie bereits Corona, gibt der Krieg den Zentralbanken „einen Freibrief, ihre monumentalen Gelddruckereien fortzusetzen, die die Märkte ankurbeln und gleichzeitig die Weltwirtschaft weiter unter Druck setzen. Das ist die Einbahnstraße des heutigen Kapitalismus“ (ebd., S. 107).


Mit dieser sich immer schneller drehenden Verschuldungsspirale kann zwar freilich die Verwertungskrise mitnichten verhindert, aber zumindest der endgültige Zusammenbruch noch weiter hinausgezögert werden, indem dem ausblutenden Kapitalismus in immer rascherer Abfolge immer noch größere Mengen an Blut, d.h. Geld, zugeführt werden. Damit können die (Finanz-)Märkte vorübergehend stabilisiert werden, und auch die seit Corona wieder explodierende Staatsverschuldung lässt sich auf diese Weise noch ein wenig länger aufrechterhalten. Entscheidend ist laut Vighi das Offenhalten der Geldschleusen und eine Fortsetzung der Politik des leichten Geldes (Quantitative Easing), die zu ihrer Legitimierung ggf. „durch eine zyklische Abfolge globaler Notfälle kalibriert wird“ (ebd.). Ob diese „Notfälle“ real oder bloß inszeniert sind, ist dabei genauso unerheblich wie die konkrete Art des Notstandes, wie Vighi nicht ohne Ironie festhält:


„Pandemie, terroristische Kampagnen, nukleare Bedrohungen, Handelskriege, militärische Konflikte oder – warum nicht – die Landung von Außerirdischen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit muss das Chaos heraufbeschworen werden, im Idealfall mit der Figur eines brutalen, blutrünstigen Feindes. Ob als Medienereignis oder in der Realität, es kommt auf den Notfallkreislauf an, denn er hält den Geldhahn offen. Vergessen wir nicht, dass das Kapital ein blinder Prozess ist, der den Stillstand verabscheut: Es muss in ständiger Bewegung sein, auch wenn Bewegung bedeutet, dass immer größere Mengen an untragbaren Schulden angehäuft werden, auf welche Weise auch immer.“ (ebd., Herv. im Orig.)


Eine „zyklische Abfolge“ von Notständen ist laut Vighi unter den Bedingungen einer sich immer stärker zuspitzenden, krisenhaften kapitalistischen Widerspruchsentfaltung vor allem deshalb erforderlich, da sich die jeweiligen Begründungen und „Narrative“ mit der Zeit abnützen können – zumal bei solchen Krisen, die mehr inszeniert als real sind –, wie ja gerade auch an der Corona-Krise beobachtet werden konnte: „Nach zwei Jahren unermüdlicher Panikmache, Geschichtenerzählens und Gelddruckens war das Covid-Narrativ jedoch abgestanden und zunehmend widersprüchlich geworden [...].“ (ebd., Herv. im Orig.) Der Ukraine-Krieg kam vor diesem Hintergrund gerade recht, dieser lieferte ein neues Katastrophen-„Narrativ“, das sich wie schon vorher bei Corona politisch-ökonomisch, vor allem aber geldpolitisch ausschlachten ließ. Denn wenn „die Fed den Fuß vom geldpolitischen Gaspedal nehmen würde, würde die Welt in Rekordzeit in eine ausgewachsene Rezession stürzen“ (ebd., S. 108).


Natürlich ist das – sollte Vighi mit seinen Thesen Recht behalten – im höchsten Grade verrückt und reiner Wahnsinn, zumal mit dem sich ständig hocheskalierenden Ukraine-Krieg plötzlich auch die nukleare Bedrohung wieder so real ist wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch Irrationalität gehört zum Wesen des die ganze stoffliche Welt der Kapitalverwertung subsumierenden und dabei ggf. auch zerstörenden warenproduzierenden Systems. Und in seiner fundamentalen Krise entfaltet sich der Kapitalismus, worauf Robert Kurz immer wieder hingewiesen hat, zu einem regelrechten „Weltvernichtungsprogramm“ (Kurz 2003, S. 428). Das Kapital duldet nichts außer sich, und wo kein Kapital und keine Verwertung mehr ist, soll gar nichts mehr sein. Es ist somit die irrationale Binnenlogik des Kapitalismus selbst, die in seiner finalen Krise endgültig zu sich kommt und die kapitalistische „Zivilisation“ geradewegs auf ihre eigene Selbstzerstörung zurasen lässt. An manchen Stellen kommt auch Vighi auf die galoppierende Irrationalität des Krisenkapitalismus zu sprechen. So spricht er etwa von einem „psychotische[n] Kern des Kapitals“, der heute immer deutlichere Züge annehme, „da es [das Kapital, A.U.] sich fast vollständig von seinem Ursprung (der wertproduzierenden Arbeit) entfernt hat“.


„Auch wenn der gegenwärtige Einsatz von Ausnahmezuständen bereits seinem Wesen nach pervers ist, könnten psychotische Zeiten vor der Tür stehen. Indem wir Putin als ‚Mad Vlad‘ bezeichnen, übersehen wir jedoch den Wahnsinn und die wahrhaft kriminelle Berufung des heutigen Kapitalismus. Um es noch einmal zu wiederholen: Ein implodierendes sozioökonomisches System, das von einem finanziellen Hebeleffekt in der gegenwärtigen Größenordnung getragen wird, benötigt dringend einen kontinuierlichen Strom von Notfällen und einen Bond-Bösewicht, dem man die Schuld geben kann. Die industrielle Produktion von Notfällen wiederum erfordert glaubwürdige Akteure auf der Weltbühne und ein Publikum, das bereit ist, sich von zynischer Medienpropaganda schocken zu lassen.“ (Vighi 2022c, S. 108)


Letzteres ist, wie nicht zuletzt die vergangenen zweieinhalb Jahre gezeigt haben, en masse vorhanden. Anders mag es um die „glaubwürdigen Akteure“ stehen, denn glaubwürdig war und ist an der Darbietung von Politik, Journaille und „Experten“ in der Corona-Krise wie aktuell in der Ukraine-Krise ausgesprochen wenig – was wiederum ein umso bezeichnenderes Licht auf das „Publikum“ wirft, dessen Manipulierbarkeit mittlerweile offenbar keine Grenzen mehr kennt. Die „Akteure“, d.h. die Funktionseliten in Staat und Kapital, sind aber offensichtlich von keinem wesentlich anderen Schlage als ihr „Publikum“ und vielleicht nur so etwas wie die realen Gesamtpsychotiker in einem sich immer irrationaler gebärdenden Krisenkapitalismus – Akteure, die inzwischen selbst auf ihre eigene Propaganda hereinfallen (vgl. Urban/Uhnrast 2022c).


An solchen Stellen zeigt sich die größte Schwäche von Vighis Analysen, die eingangs bereits angesprochen wurde: Er neigt dazu, den Funktionseliten eine Binnenrationalität zu unterstellen, die es zwar gewiss – auch – gibt, schon allein mit Blick auf die konkurrierenden Interessen diverser Kapitalfraktionen oder die Versuche von Staaten, die Krise (immer autoritärer) zu verwalten. Aber diese Rationalität ist bereits in sich durch und durch irrational – nicht umsonst sprachen schon Horkheimer und Adorno von einer „irrationalen Rationalität“ der kapitalistischen Gesellschaft. Und mit Fortschreiten der Krise löst sich die für die kapitalistische Moderne schon immer charakteristische Dialektik von Rationalität und Irrationalität tendenziell immer weiter in Richtung der Irrationalität auf. Diese Tendenz zur Irrationalität, in Verbindung mit den in der Krise immer mehr durcheinandergehenden Interessen und Kalkülen von Staaten und Kapitalfraktionen, ergibt eine sehr widersprüchliche und instabile Gemengelage, die sich in zunehmendem Maße in hochgradig irrationalen und autodestruktiven Verhaltens- und Reaktionsweisen Ausdruck verschaffen kann – wovon ja gerade die Ereignisse der vergangenen zweieinhalb Jahre ein beredtes Zeugnis ablegen.


Auch ist festzuhalten, dass Vighis Erklärungsansatz speziell mit Blick auf den Ukraine-Krieg weniger weit trägt als hinsichtlich der Corona-Lockdowns. Für den Ukraine-Krieg sind noch einige andere Faktoren verantwortlich, insbesondere auf geopolitischer Ebene, die allerdings ebenfalls nicht unabhängig von der finalen Kapitalismuskrise und hier wiederum von dem sich immer deutlicher abzeichnenden Abstieg und Verfall des Westens zu sehen sind (vgl. Urban 2022c; Urban/Uhnrast 2022c). Mit Blick auf den konkreten Verlauf des Krieges und insbesondere dessen beharrlich betriebene Eskalation und Verlängerung, z.B. durch westliche Waffenlieferungen, könnte die von Vighi hervorgehobene geldpolitische Funktion aber durchaus eine gewisse Rolle spielen.


Wie geht es weiter? Laut Vighi ist ein langwieriger Krisenprozess zu erwarten:


„Man muss einen Tsunami weltweiter Inflation, weitere Verarmung und Massenmigration (von billigen Arbeitskräften) erwarten – und all das wird Putin angelastet werden.[2] Man muss die Rückkehr von Pandemie-Bedrohungen, die die laufenden Bestrebungen zur Globalisierung von Impfpässen und der Digitalisierung des Lebens unterstützen, erwarten. Man muss von einem neuen Wettrüsten ausgehen, um die stagnierenden BIPs in der ganzen Welt anzukurbeln. Wenn es das wirtschaftliche Umfeld erfordert, kann man mehr militärischen Schaden für die hilflosen Bevölkerungen erwarten, die in der Mitte der kapitalistischen Scharade gefangen sind. Man muss von false flag-Operationen und unerbittlichen Desinformationskampagnen ausgehen.“ (Vighi 2022c, S. 109)


In manchen Punkten wurden Vighis Analysen freilich (der hier zitierte Text Von Covid-19 zu Putin-22 wurde erstmals Mitte März 2022 in englischer Sprache publiziert) durch den Gang der Ereignisse überholt. Beispielsweise hat Vighi damals noch angenommen, dass die EU-Sanktionen auf russisches Öl und Gas aufgrund der extremen Abhängigkeit der europäischen Volkswirtschaften nicht so umfassend umgesetzt werden würden, wie ursprünglich geplant und verlautbart. Das ist zwar nicht völlig falsch, aber wie wir inzwischen miterlebt haben, hat sich die EU mit ihrer Sanktionswut beharrlich in eine Situation hineinmanövriert, die in naher Zukunft massive wirtschaftliche Kollateralschäden und einen historisch beispiellosen Deindustrialisierungsschub in Europa erwarten lässt (hier ist allerdings zu konzedieren, dass wohl niemand, der noch einigermaßen bei Verstand ist, einen derartigen Irrsinn vor einem halben Jahr für möglich gehalten hätte). Anderes, das Vighi prognostizierte, ist wiederum tatsächlich in der einen oder anderen Form eingetreten (Inflation, Energiekrise).


In einem rezenten Artikel hat Vighi seine Thesen inzwischen aktualisiert und berücksichtigt dabei auch neuere Entwicklungen. So hält er etwa vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Energiekrise in Europa auch wieder Maßnahmen wie Lockdowns für möglich – schon allein, um die von Verarmung und Kälte bedrohten Massen in Schach zu halten:


„When looking at the ongoing energy crisis, which threatens to bring Europe to its knees no later than this Winter, lockdowns (or similar restrictions) cannot fail to appear as the most ‚practical‘ way of achieving large-scale energy savings. Social restrictions would not only tame inflation but also help us conscientious citizens to ‚do our bit‘ against climate change, feeding the noble illusion that a zero-net ‚Green New Deal‘ – supported of course by a massive programme of fiscal stimulus (i.e., more debt) – will unleash a new era of capitalist growth. Adopting lockdown policies may well be the only way for ‚green capitalism‘ to affirm itself, for the system needs to keep both the inflationary spiral and the impoverished masses under control. The key point here is that ‚sustainable growth‘ through green technology remains a pious illusion for a system that requires increasing levels of labour-intensive production to generate real economic value. Every leap in post-industrial technological innovation driven by capital, no matter how green or desirable, will cause unemployment and poverty to grow, together with the imposition of widespread repressive measures upon entire populations.“ (Vighi 2022b)


Energie- bzw. Klima-Lockdowns? Nach den Erfahrungen der vergangenen zweieinhalb Jahre kann dies wohl nicht mehr kategorisch ausgeschlossen werden (zumindest manche Universitäten, so auch die Universität Wien, planen angeblich bereits für den Winter-Lockdown).


Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Vighis Thesen aus wertkritischer Sicht durchaus der Diskussion würdig sind. Ihre Schwachstelle besteht in einer zu starken analytischen Fokussierung auf das Handeln und die Interessen konkreter Akteure und einer zu inkonsequenten (wenn auch nicht durchweg fehlenden) Vermittlung mit den heute krisenbedingt zunehmend aus dem Leim gehenden kapitalistischen Fetischverhältnissen. Damit setzt sich Vighi (so gesehen vielleicht nicht ganz unberechtigt) dem Verdacht der „Verschwörungstheorie“ aus – zumindest aber macht er es denjenigen unnötig leicht, für die der Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ ohnehin nur ein besonders beliebtes Totschlagargument ist, um bestimmte Inhalte als „nicht diskussionsfähig“ zu markieren und dabei zugleich jegliche inhaltliche Entgegnung obsolet zu machen. Wer allerdings meint, Vighis Thesen pauschal unter das Verdikt „Verschwörungstheorie“ subsumieren und damit abhaken zu können, möchte vermutlich nur jene Aspekte seiner Thesen nicht zur Kenntnis nehmen, die aus krisentheoretischer Sicht durchaus erhellend und instruktiv sind – was umso leichter fällt, wenn man bereits andere Absurditäten aus der an Absurditäten so reichen Corona-Zeit partout nicht sehen wollte. Mag bei Vighi bis zu einem gewissen Grad eine „erkenntnistheoretische Verschiebung“ weg von der abstrakten Herrschaft des Kapitals und hin zum Handeln und den Kalkülen von Funktionseliten zu konstatieren sein – immerhin kann ihm attestiert werden, dass es ihm noch um „Erkenntnis“ geht und nicht, wie manch anderen, bloß darum, jedweden Erkenntnisversuch, der den Rahmen eines bestimmten „Narrativs“ verlässt, zu desavouieren.




Literatur


Besdzent, Gerd (2022): Im Herbst der Pandemie, in: Ossietzky 19/2022, S. 652-655, online unter wertKRITIK.org


Böttcher, Herbert (2022): Du musst „Gesundheitsdiktatur“ sagen! Wer ist der beste beim Regredieren?, exit-online.org


Hüller, Knut (2019): Immer mühsamer hält sich die Profitrate. Eine Studie über theoretische und praktische Rettungsversuche am Spätkapitalismus, exit-online.org


Jappe, Anselm (2022): Haben Sie „Gesundheitsdiktatur“ gesagt?, wertKRITIK.org


Kurz, Robert (2003): Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef.


Kurz, Robert (2012): Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin.


Urban, Andreas (2022a): Ein Gespenst geht um in der Wertkritik. Anmerkungen zur wert(abspaltungs)kritischen Corona-„Debatte“, wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2022b): Wider die Sterilisierung des Lebens. Corona-Kritik von links, wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2022c): Ukraine-Krieg, Propaganda und der geopolitische Abstieg des Westens. Einige Thesen aus wertkritischer Perspektive, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022a): Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Teil 1: Auf der Suche nach dem „Killervirus“, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022b): Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Teil 2: Pandemischer Nervenzusammenbruch, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022c): Down the rabbit hole. Bemerkungen zum Ukraine-Krieg und zu seiner wertkritischen Diskussion, wertKRITIK.org


Vighi, Fabio (2021a): A self-fulfilling prophecy: Systemic collapse and pandemic simulation, thephilosophicalsalon.com


Vighi, Fabio (2021b): The central bankers’ Long Covid: An uncurable condition, thephilosophicalsalon.com


Vighi, Fabio (2022a): Pause for thought: Money without value in a rapidly disintegrating world, thephilosophicalsalon.com


Vighi, Fabio (2022b): A system on life support, thephilosophicalsalon.com


Vighi, Fabio (2022c): Von Covid-19 zu Putin-22, in: Der Erreger #2, S. 104-109.




Endnoten


[1] Beispielsweise trägt einer seiner jüngeren Artikel den (Teil-)Titel Money without Value (Vighi 2022a), was für Wertkritiker/innen klar ersichtlich eine bewusste oder unbewusste Reminiszenz an Robert Kurz’ letztes großes Werk Geld ohne Wert (Kurz 2012) darstellt.


[2] Dies hat sich bereits bewahrheitet. Inflation, Energiekrise, drohende Wirtschaftseinbrüche – alles Putins Schuld.