WAS IST WERTKRITIK?
Einige wesentliche Punkte und theoretische Grundlagen
Das kapitalistische System ist in eine schwere Krise geraten. Diese Krise ist nicht bloß zyklisch, sondern final: nicht im Sinne eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs, sondern als Zerfall eines jahrhundertealten Systems. Hierbei handelt es sich nicht um die Prophezeiung eines zukünftigen Ereignisses, sondern um die Feststellung eines Prozesses, der in den frühen 1970er Jahren sichtbar wurde und dessen Wurzeln bis zu den Ursprüngen des Kapitalismus selbst zurückreichen.
Wir erleben nicht den Übergang zu einem anderen Akkumulationsregime (wie es der Fordismus war), noch das Aufkommen von neuen Technologien (wie beim Automobil), noch eine Verlagerung des Gravitationszentrums in andere Regionen der Welt, sondern die Erschöpfung der eigentlichen Quelle des Kapitalismus: die Umwandlung von lebendiger Arbeit in Wert.
Die grundlegenden Kategorien des Kapitalismus, wie sie Karl Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie analysiert hat, sind die abstrakte Arbeit und der Wert, die Ware und das Geld, die im Begriff des „Warenfetischismus“ zusammengefasst werden.
Eine moralische Kritik, die sich auf die Denunziation der „Gier“ stützt, würde am Wesentlichen vorbeigehen.
Es geht nicht darum, Marxist oder Postmarxist zu sein oder das Werk von Marx zu interpretieren oder es mit anderen theoretischen Beiträgen zu ergänzen. Vielmehr gilt es, den Unterschied zwischen dem „exoterischen“ Marx und dem „esoterischen“ Marx, zwischen dem konzeptuellen Kern und der historischen Entwicklung, zwischen dem Wesen und der Erscheinung zu erkennen. Marx ist nicht „veraltet“, wie die bürgerlichen Kritiker sagen. Selbst wenn man sich nur auf die Kritik der politischen Ökonomie und innerhalb dieser vor allem auf die Theorie des Werts und der abstrakten Arbeit bezieht, ist dies immer noch der wichtigste Beitrag zum Verständnis der Welt, in der wir leben. Ein emanzipatorischer Gebrauch der Marxschen Theorie bedeutet nicht, sie zu „überholen“ oder mit anderen Theorien zu vermischen, aber genauso wenig, zu versuchen, den „wahren Marx“ wiederherzustellen oder ihn immer wörtlich zu nehmen, sondern bedeutet vielmehr, die Welt von heute mit den Instrumenten zu denken, die er uns zur Verfügung gestellt hat. Wir müssen seine grundlegenden Einsichten weiterentwickeln, manchmal gegen den Buchstaben seiner Texte.
Die grundlegenden Kategorien des Kapitalismus sind weder neutral noch überhistorisch. Ihre Folgen sind katastrophal: die Vorherrschaft des Abstrakten über das Konkrete (also ihre Verkehrung), der Warenfetischismus, die Verselbständigung der gesellschaftlichen Prozesse gegenüber dem bewussten menschlichen Willen, der Mensch, der von seinen eigenen Schöpfungen beherrscht wird. Der Kapitalismus ist untrennbar mit der großen Industrie verbunden, Wert und Technologie gehören zusammen – beides sind Formen des Determinismus und des Fetischismus.
Darüber hinaus unterliegen diese Kategorien einer historischen Dynamik, die sie noch zerstörerischer macht, aber auch die Möglichkeit ihrer Überwindung eröffnet. In der Tat erschöpft sich der Wert. Seit ihren Anfängen vor über 200 Jahren neigt die kapitalistische Logik dazu, „an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzt“, weil der Wettbewerb jedes einzelne Kapital dazu drängt, Technologien einzusetzen, die lebendige Arbeit ersetzen: Dies bringt einen unmittelbaren Vorteil für das jeweilige Einzelkapital, verringert aber die Produktion von Wert, Mehrwert und Profit auf globaler Ebene und erschwert damit die Reproduktion des Systems. Die verschiedenen Kompensationsmechanismen, von denen der Fordismus der letzte war, sind endgültig erschöpft. Die „Tertiarisierung“ wird den Kapitalismus nicht retten: Es muss der Unterschied zwischen (kapital-)produktiver und (kapital-)unproduktiver Arbeit berücksichtigt werden.
Anfang der 1970er Jahre wurde eine drei- oder sogar vierfache Bruchstelle erreicht: wirtschaftlich (sichtbar in der Aufgabe der Bindung des Dollars an den Goldstandard), ökologisch (sichtbar im Bericht des Club of Rome), energetisch (sichtbar im „ersten Ölschock“), dazu kamen die Veränderungen der Mentalität und der Lebensformen nach 1968 („flüssige Moderne“, „neuer Geist des Kapitalismus“). So begann die Warengesellschaft sowohl an ihre äußeren als auch an ihre inneren Grenzen zu stoßen.
In dieser permanenten Krise der Akkumulation – die eine zunehmende Schwierigkeit bedeutet, Gewinne zu erzielen – sind die Finanzmärkte (das fiktive Kapital) zur Hauptquelle des Profits geworden, indem sie es ermöglichen, zukünftige, noch nicht realisierte Gewinne zu konsumieren. Der weltweite Höhenflug der Finanzmärkte ist die Folge, nicht die Ursache der Krise der Kapitalverwertung.
Die aktuellen Gewinne einiger Wirtschaftsakteure sind kein Beweis dafür, dass das System als solches gesund ist. Der Kuchen wird immer kleiner, auch wenn man ihn in größere Stücke schneidet.
Weder China noch andere „Schwellenländer“ werden den Kapitalismus retten, trotz der wilden Ausbeutung, die dort herrscht.
Die zentrale Bedeutung des Begriffs „Klassenkampf“ in der Analyse des Kapitalismus muss kritisiert werden. Die Rolle der Klassen ist vielmehr eine Folge ihrer Stellung in der Wertakkumulation als anonymer Prozess – die Klassen sind nicht deren Ursprung. Die soziale Ungerechtigkeit ist nicht das, was den Kapitalismus historisch einzigartig macht, sie existierte schon lange vorher. Es waren die abstrakte Arbeit und das Geld, das sie repräsentiert, die eine völlig neue Gesellschaft geschaffen haben, in der die Akteure, selbst die „Herrschenden“, im Wesentlichen Vollstrecker einer Logik sind, die sie übersteigt (eine Feststellung, die bestimmte Figuren keineswegs von ihrer Verantwortung entbindet).
Die historische Rolle der Arbeiterbewegung bestand vor allem darin, über ihre proklamierten Absichten hinaus die Integration des Proletariats zu fördern. Dies war während der langen Aufstiegsphase der kapitalistischen Gesellschaft tatsächlich möglich, ist es aber heute nicht mehr. Wir müssen die Kritik an der Produktion wieder aufnehmen, statt nur eine gerechte Verteilung von bereits vorausgesetzten Kategorien (Geld, Wert, Arbeit) zu fordern. Heute ist die Frage der abstrakten Arbeit nicht mehr „abstrakt“, sondern direkt spürbar.
Die Sowjetunion war im Wesentlichen eine Form der „nachholenden Modernisierung“ (durch Autarkie). Das gilt auch für die revolutionären Bewegungen in der „Peripherie“ und die Länder, die sie regieren konnten. Ihr Scheitern nach 1980 ist die Ursache für viele der heutigen Konflikte.
Der Triumph des Kapitalismus ist auch sein Bankrott. Der Wert schafft keine lebensfähige Gesellschaft, und sei sie noch so ungerecht, sondern zerstört seine eigenen Grundlagen in allen Bereichen.
Anstatt weiter nach einem „revolutionären Subjekt“ zu suchen, muss das „automatische Subjekt“ (Marx), auf dem die Warengesellschaft beruht, überwunden werden.
Neben der Ausbeutung – die nach wie vor und sogar in gigantischem Ausmaß stattfindet – ist die Schaffung einer „überflüssigen“ Menschheit, ja sogar einer „Müll-Menschheit“, zum Hauptproblem geworden, das der Kapitalismus erzeugt. Das Kapital braucht die Menschheit nicht mehr und frisst sich schließlich selbst auf. Diese Situation ist ein idealer Nährboden für Emanzipation, aber auch für Barbarei. Statt einer Nord-Süd-Dichotomie haben wir es nunmehr mit einer „globalen Apartheid“ zu tun, mit Mauern um die Inseln des Reichtums, in jedem Land, in jeder Stadt.
Die Ohnmacht der Staaten gegenüber dem globalen Kapital ist nicht nur ein Problem des fehlenden Willens, sondern ergibt sich aus der strukturellen Unterordnung des Staates und der Politik unter die Wertsphäre.
Die ökologische Krise kann im Rahmen des Kapitalismus nicht überwunden werden, selbst wenn man „Degrowth“ oder, schlimmer noch, „grünen Kapitalismus“ und „nachhaltige Entwicklung“ anstrebt. Solange die Warengesellschaft fortbesteht, führen Produktivitätssteigerungen dazu, dass eine immer größere Masse an materiellen Gegenständen – deren Produktion reale Ressourcen verbraucht – eine immer kleinere Masse an Wert darstellt, der Ausdruck der abstrakten Seite der Arbeit ist – und nur die Produktion von Wert ist es, die in der Logik des Kapitals zählt. Der Kapitalismus ist daher seinem Wesen nach, unweigerlich produktivistisch, auf die Produktion um der Produktion willen ausgerichtet.
Wir erleben auch eine anthropologische Krise, eine Zivilisationskrise, sowie eine Krise der Subjektivität. Es gibt einen Verlust der Imagination, vor allem derjenigen, die in der Kindheit entsteht. Der Narzissmus ist zur dominierenden psychischen Form geworden. Es ist ein weltweites Phänomen: Man kann auf eine Playstation genauso in einer Hütte mitten im Dschungel wie in einem New Yorker Loft stoßen. Angesichts der vom Kapital betriebenen Regression und Entzivilisierung müssen wir die Imagination dekolonisieren und das Glück neu erfinden.
Die kapitalistische Gesellschaft, die auf Arbeit und Wert beruht, ist auch eine patriarchale Gesellschaft – und zwar in ihrem Wesen, nicht nur zufällig. Historisch gesehen ist die Produktion von Wert eine männliche Angelegenheit. Nicht alle Tätigkeiten schaffen den Wert, der im Warentausch auftritt. Die sogenannten „reproduktiven“ Tätigkeiten, die vor allem im häuslichen Bereich stattfinden, werden in der Regel von Frauen ausgeführt. Diese Tätigkeiten sind für die Wertproduktion unverzichtbar, aber sie produzieren selber keinen Wert. Sie sind in der Wertgesellschaft unersetzbar, aber spielen nur eine Hilfsrolle. Diese Gesellschaft besteht sowohl aus der Sphäre des Werts als auch aus der Sphäre des Nichtwerts, d. h. aus der Gesamtheit dieser beiden Sphären (Wert-Abspaltung). Die Sphäre des Nichtwerts ist jedoch keine „freie“ oder „nicht-entfremdete“ Sphäre, ganz im Gegenteil. Diese Sphäre des Nichtwerts enthält den Status des „Nicht-Subjekts“ (und lange Zeit sogar auf juristischer Ebene), weil diese Tätigkeiten nicht als „Arbeit“ gelten (so nützlich sie auch sein mögen) und nicht auf dem Markt erscheinen.
Der Kapitalismus hat die Trennung zwischen der privaten, häuslichen Sphäre und der öffentlichen Sphäre der Arbeit nicht erfunden. Aber er hat sie sehr verstärkt. Er entstand – trotz seines universalistischen Anspruchs, der in der Aufklärung zum Ausdruck kam – als Herrschaft westlicher weißer Männer und beruht auch heute auf einer Logik des Ausschlusses: Trennung zwischen der Wertproduktion, der Arbeit, die sie schafft, und den menschlichen Qualitäten, die dazu beitragen (insbesondere verinnerlichte Disziplin und individueller Wettbewerbsgeist) auf der einen Seite und allem, was nicht dazu gehört, auf der anderen Seite. Ein Teil der Ausgegrenzten, insbesondere Frauen, wurden in den letzten Jahrzehnten teilweise in die Marktlogik „integriert“ und konnten den Status eines „Subjekts“ erlangen – allerdings nur, wenn sie nachweislich die „Qualitäten“ des weißen westlichen Mannes erworben und verinnerlicht hatten. In der Regel besteht der Preis für diese Integration in einer doppelten Entfremdung (Familie und Arbeit für Frauen). Gleichzeitig entstehen neue Formen der Ausgrenzung, insbesondere in Krisenzeiten. Es geht jedoch nicht darum, die „Einbeziehung“ der Ausgeschlossenen in die Sphäre der Arbeit, des Geldes und des Subjektstatus zu fordern, sondern darum, mit einer Gesellschaft Schluss zu machen, in der nur die Teilnahme am Markt das Recht verleiht, „Subjekt“ zu sein. Das Patriarchat ist ebenso wenig wie der Rassismus ein anachronistisches Überbleibsel im Rahmen eines Kapitalismus, der ansonsten zur Gleichheit vor dem Geld tendiert.
Eine große Gefahr stellt derzeit der Populismus dar. Er kritisiert ausschließlich die Finanzsphäre und vermischt linke und rechte Elemente, was manchmal an den verkürzten „Antikapitalismus“ der Faschisten erinnert. Der Kapitalismus muss als Ganzes bekämpft werden, nicht nur seine neoliberale Phase. Eine Rückkehr zum Keynesianismus und zum Sozialstaat ist weder wünschenswert noch möglich. Lohnt es sich zu kämpfen, um sich in die herrschende Gesellschaft zu „integrieren“ (Rechte zu erlangen, die materielle Situation zu verbessern) – oder ist das schlichtweg unmöglich?
Es ist wichtig, den trügerischen Enthusiasmus derjenigen zu vermeiden, die alle aktuellen Formen des Protests zusammenzählen, um daraus die Existenz einer Revolution abzuleiten, die bereits im Gange ist. Einige dieser Formen laufen Gefahr, von einer Verteidigung der bestehenden Ordnung vereinnahmt zu werden, andere können in die Barbarei führen. Der Kapitalismus führt seine eigene Abschaffung herbei, die des Geldes, der Arbeit usw. – aber es hängt vom bewussten Handeln ab, ob es danach nicht noch schlimmer wird.
Es ist notwendig, die Dichotomie zwischen Reform und Revolution zu überwinden – allerdings im Namen des Radikalismus, denn der Reformismus ist keinesfalls „realistisch“. Oft wird der Form des Protests (Gewalt/Gewaltlosigkeit usw.) zu viel Aufmerksamkeit geschenkt, anstatt sich mit seinem Inhalt zu befassen.
Die Abschaffung von Geld und Wert, Ware und Arbeit, Staat und Markt muss sofort stattfinden – weder als „Maximalprogramm“ noch als Utopie, sondern als die einzige Form des „Realismus“. Es reicht nicht aus, sich von der „Klasse der Kapitalisten“ zu befreien, man muss sich auch vom kapitalistischen Gesellschaftsverhältnis befreien – einem Verhältnis, das alle umfasst, unabhängig von ihren sozialen Rollen. Daher ist es schwierig, eine klare Linie zwischen „denen und uns“ zu ziehen oder gar zu sagen „wir sind die 99 Prozent“, wie es Bewegungen wie Occupy vielfach getan haben. Allerdings kann sich dieses Problem in den verschiedenen Regionen der Welt sehr unterschiedlich darstellen.
Es geht keineswegs darum, irgendeine Form der Selbstverwaltung der kapitalistischen Entfremdung zu verwirklichen. Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln würde nicht ausreichen. Die Unterordnung des Inhalts des gesellschaftlichen Lebens unter seine Wertform und seine Akkumulation könnte im Extremfall ohne eine „herrschende Klasse“ auskommen und in einer „demokratischen“ Form ablaufen, ohne dabei weniger zerstörerisch zu sein. Schuld daran ist weder die technische Struktur als solche noch eine als unüberwindbar betrachtete Moderne, sondern das „automatische Subjekt“ Wert.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die „Abschaffung der Arbeit“ aufzufassen. Die Arbeit mithilfe von Technologien abschaffen zu wollen, birgt die Gefahr, die vorherrschende Technolatrie noch zu verstärken. Anstatt einfach nur die Arbeitszeit zu verkürzen oder ein „Lob der Faulheit“ zu verbreiten, geht es darum, die Unterscheidung zwischen „Arbeit“ und anderen Tätigkeiten zu überwinden. In diesem Punkt sind nichtkapitalistische Kulturen lehrreich.
Es gibt kein Modell aus der Vergangenheit, das wir unverändert nachahmen können, keine uralte Weisheit, die uns leitet, keine Spontaneität des Volkes, die uns mit Sicherheit retten wird. Aber gerade die Tatsache, dass die gesamte Menschheit über sehr lange Zeiträume hinweg und bis vor kurzem noch ein Großteil der Menschheit ohne kapitalistische Kategorien gelebt hat, zeigt zumindest, dass sie nicht natürlich sind und dass es möglich ist, ohne sie zu leben.
Übersetzung des Anhangs "Quelques points essentiels de la critique de la valeur" aus Anselm Jappes Buch La société autophage, erschienen 2017 in Paris bei Éditions La Découverte, S. 231-236