Druckversion/PDF

Andreas Urban & F. Alexander von Uhnrast


Down the rabbit hole

Bemerkungen zum Ukraine-Krieg und zu seiner wertkritischen Diskussion




Am 24. Februar 2022 wurde ein Ausnahmezustand praktisch nahtlos in den nächsten überführt. Mögen einige wenige Länder – unter ihnen an vorderster Front Deutschland und Österreich – den vor zweieinhalb Jahren ausgerufenen Corona-Notstand nach wie vor versuchen zu prolongieren, wurde dieser im Rest der Welt durch den mit dem Angriff Russlands in eine neue Eskalationsstufe eingetretenen Ukraine-Krieg weitgehend in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht überhaupt beendet.


Aus wertkritischer Sicht beschreibt diese militärische Eskalation einen „qualitativen Kipp- und Umschlagspunkt des irreversiblen Krisenprozesses des kapitalistischen Weltsystems“ (Konicz 2022a, S. 14). Im Wesentlichen haben wir es mit einem Stellvertreterkrieg zu tun, in dem zum einen noch der Zusammenbruch des Realsozialismus bzw. der Sowjetunion mit seinen ökonomischen und politischen Verwerfungen nachwirkt (vgl. Bedszent 2022), und zum anderen sich eine tiefe Krise des Westens, insbesondere der USA geltend macht, die gegenwärtig mit allen Mitteln gegen ihren geopolitischen Abstieg und den drohenden Verlust ihres Status als Welthegemon kämpft. Weitgehende Einigkeit in der wertkritischen Diskussion – wie sie derzeit vor allem durch die Publikationen von Tomasz Konicz repräsentiert wird – besteht auch im Hinblick auf die wahrscheinlichen Folgen des Ukraine-Krieges und die weiteren Zukunftsaussichten angesichts dieses neuen Krisenschubs: „Der Konflikt wird wahrscheinlich die kommenden Jahrzehnte prägen. Der Krieg in der Ukraine wird Verrohung und Barbarisierung Vorschub leisten – […] egal, ob Russland oder der Westen aus diesem imperialistischen Gemetzel als Sieger hervorgehen.“ (Konicz 2022a, S. 14)


Diese Barbarisierung beschränkt sich nicht nur auf den Ukraine-Krieg, sondern hat globale Dimensionen. Längst brechen im Windschatten des Ukraine-Krieges – zusätzlich zu den ohnehin seit Jahren tobenden Kriegen, etwa im Jemen – neue wie auch bereits länger schwelende Konflikte in vielen Teilen der Welt auf (Taiwan/China, Türkei/Griechenland, Armenien/Aserbaidschan etc.). Zu erwarten ist mithin eine neue Ära militärisch ausgetragener Konflikte und Verteilungskämpfe weltweit. Gegenwärtig steht überhaupt die Eskalation des Ukraine-Kriegs zu einem die Welt verheerenden Atomkrieg zu befürchten. Wir müssen also in der Tat von Glück sprechen, wenn der Krieg „ohne Zivilisationsbruch“ (ebd.) beendet wird.


„Geopolitisch“ zeichnet sich eine Art „globale Blockbildung“ ab, „bei der sich in einer Realdystopie Eurasien (Russland und China [aber auch noch einige andere Länder, d. Verf.]) und Ozeanien (USA samt ihren atlantischen und pazifischen Bündnissystemen) in einem immerwährenden Konflikt befinden“ (Konicz 2022b). Die Herausbildung eines eurasischen Blocks ist bereits in vollem Gange und wird speziell seit Kriegsbeginn forciert – siehe etwa die Bestrebungen diverser Länder, z.B. Argentinien oder Saudi-Arabien, dem BRICS-System beizutreten, oder jüngere Entwicklungen im Rahmen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO), gleichsam als eurasische Alternative zur westlichen OECD, ebenso die in diesem Zusammenhang laufenden Versuche, aus dem Dollar als Weltleitwährung auszusteigen (Stichwort: de-dollarization). Ob und wie tragfähig ein solcher eurasischer Block vor allem in ökonomischer Hinsicht sein wird (oder ob dieser z.B. durch den drohenden Zusammenbruch des globalen Finanzsystems womöglich obsolet wird), wird sich erst noch zeigen müssen. Dass aber eine wirtschaftliche, politische und militärische Allianz zwischen Russland und China entstanden ist, ja von der US-Politik des vergangenen Jahrzehnts geradezu provoziert wurde, ist bereits eine geopolitische Dummheit und Niederlage ersten Ranges, die nicht unbedingt von der Kompetenz und Weitsicht der westlichen Eliten kündet.[1] Zahlreiche der oben genannten und in Zukunft wohl noch folgenden Konflikte stehen übrigens mit dieser Tendenz zur Blockbildung in einem deutlichen Zusammenhang. Taiwan z.B. ist geopolitisch gesehen so etwas wie die Ukraine Ostasiens und für den Showdown der westlichen Konfrontationspolitik mit China vorgesehen. Nicht zu unterschätzen sind auch die westlichen Regime-Change-Aktivitäten in der kapitalistischen Peripherie, die in Zukunft wohl in dem Maße zunehmen werden, wie immer mehr Länder aus dem US-Dollar-Hegemonialblock auszubrechen versuchen.


Bemerkenswert an der bisherigen wertkritischen Diskussion ist allerdings, dass der vielleicht auffälligste und entscheidendste Aspekt in dieser neuen, zunehmend in Gestalt eines offenen Krisenimperialismus ausgetragenen Verschärfung der kapitalistischen Krisendynamik relativ untergeordnet behandelt wird und in den Analysen eine erstaunlich geringe Rolle spielt – nämlich die überdeutliche, offenbar immer rascher voranschreitende geopolitische, ökonomische, aber nicht zuletzt auch militärische und intellektuelle Krise des Westens. Das Hauptgewicht der Analyse und der darauf beruhenden krisentheoretischen Einschätzungen wird auf Russland und dessen (angebliche[2] oder tatsächliche) krisenbedingte Probleme gelegt, die es letztlich in den Krieg gegen die Ukraine getrieben hätten:


„Die soziale Zerrüttung in der ökonomisch abgehängten Region, in der ehemalige Nomenklatura-Seilschaften autoritäre Oligarchien und Kleptokratien errichteten, lässt überall dort sozialen Sprengstoff entstehen, wo Rohstoffe und fossile Energieträger nicht im ausreichenden Maß exportiert werden können, um Teile der Bevölkerung ruhigzustellen. Diese Instabilität bietet dem Westen überreiche Angriffsflächen.“ (Konicz 2022a, S. 14)


Russlands „Modernisierungsunfähigkeit“, die Angst vor sozialen Revolten und der zunehmende Verlust seiner imperialen Einflusssphäre im postsowjetischen Raum hätten ihm quasi als Option nur noch die Flucht nach vorn in die militärische Eskalation gelassen:


„Die sozialen Spannungen im postsowjetischen Raum, wo Russlands Hegemonie bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs rasch erodierte, ließen eine die Machtverhältnisse bedrohende Dynamik aus Protest, Aufstand und äußerer Intervention aufkommen. Wenn Moskau weiterhin die Hauptstadt eines Imperiums sein sollte, dann musste der Westen in der Ukraine mit Waffengewalt zurückgedrängt werden. Der russische Überfall auf die Ukraine ist somit ein Zeichen der Schwäche, da andere Mittel zur Bindung dieses Kernbestandteils der russischen Einflusssphäre fehlgeschlagen sind.“ (ebd.)


Zwar werden die spezifisch westlichen Ausprägungen und Erscheinungsformen des Krisenprozesses und deren Beitrag zur Eskalation des Ukraine-Krieges mitnichten gänzlich ausgeblendet. Durchaus zutreffend hält Konicz in diesem Zusammenhang fest:


„Nicht nur der Kreml sah sich genötigt, ein ungeheures Vabanquespiel einzugehen, indem er die Ukraine überfiel. Die Kompromisslosigkeit des Westens, der USA wie der EU, im Vorfeld der Invasion ist Ausdruck einer ähnlichen Dynamik von innerer Krise und äußerer Expansion – in diesem Fall in den postsowjetischen Raum. Die Nato weigerte sich strikt, Neutralitätsgarantien für die Ukraine, die selbstverständlich Teil der russischen Einflusssphäre war, abzugeben, während sie mit Hochdruck die mit Naziregimentern angereicherten ukrainischen Streitkräfte modernisierte, was dem Kreml mindestens einen Casus Belli lieferte.“ (ebd.)


Auch die in der öffentlich-medialen, westlichen Debatte rundweg abgestrittene und als „pro-russische Propaganda“ tabuisierte Tatsache, dass der Westen bzw. die USA die militärische Eskalation provoziert haben, kommt explizit zur Sprache: „Die USA provozierten den Krieg, um Hegemonialmacht bleiben zu können.“ (ebd., S. 15) Erwähnenswert wäre dabei, wie die USA die Eskalation provoziert haben, dies verlief nämlich in zwei Stufen: 2014 mit dem nur euphemistisch als „regime change“ zu bezeichnenden Putsch gegen die pro-russische Regierung von Viktor Janukowitsch, durch den die heute eskalierende Konfliktsituation in der Ukraine in dieser Form überhaupt erst hergestellt wurde (offener Konflikt im Osten der Ukraine, Einbindung besagter Nazis in Militär und Staatsapparat etc.); und schließlich im Februar 2022, als die USA durch die Vorbereitung einer ukrainischen Großoffensive die Russen zum Präventivschlag verleiteten. Dass es entsprechende Vorbereitungen gab, ist durch Aufzeichnungen der OSZE belegt (OSZE 2022).


Und nicht zuletzt wird zutreffend auf die Rolle des Dollars, dessen Status als Weltleitwährung die USA mit aller Macht erhalten wollen (und müssen), hingewiesen:


„Die Nato-Expansionsstrategie im ‚Hinterhof‘ Russlands wird aber vor allem durch das Bemühen Washingtons motiviert, den imperialen Zerfall der USA aufzuhalten, ihre Hegemonie und den Dollar als Weltleitwährung zu bewahren. Ohne den Greenback als das Wertmaß aller Warendinge würden die Vereinigten Staaten zu einem gigantischen, waffenstarrenden[3] Griechenland verkommen.“ (ebd., S. 14)


Der bisherige Verlauf des Krieges – und streng genommen bereits der seit zweieinhalb Jahren primär in westlichen Staaten virulente Corona-Wahn – liefert jedoch starke Indizien dafür, dass die Krise des Westens noch wesentlich tiefer reicht und nicht nur ökonomische und geopolitische Krisenprozesse umfasst, die sich nun krisenimperialistisch entladen, sondern auch solche auf militärischem Gebiet. Hinzu kommt ein rapider Verfall westlicher Institutionen insgesamt, kenntlich werdend u.a. in einem Umsichgreifen von Irrationalität und Inkompetenz gerade auch unter westlichen Funktionseliten und politischen Entscheidungsträgern, gepaart mit einem weitgehenden Realitätsverlust und einer entsprechend verzerrten Wahrnehmung sowohl der weltgesellschaftlichen Situation als auch der eigenen Position darin, des eigenen Agierens und der eigenen Fähigkeiten sowie Handlungsmöglichkeiten. Es kann inzwischen kaum noch ein Zweifel daran bestehen, dass der Westen die militärische Eskalation in der Ukraine nicht nur aus einer krisenimperialistischen Motivation heraus provoziert, sondern sich dabei auch massiv verspekuliert und in einer fatalen Eskalationsspirale verfangen hat. Die Idee dürfte in der Tat darin bestanden haben, was auch Konicz beschreibt: eine russische Invasion zu provozieren, „um Russland im ukrainischen Kriegsmorast ausbluten zu lassen“ (ebd.). Zumindest ist damit ein Teil der geopolitischen Strategie des Westens bzw. der USA beschrieben. Ein anderer Aspekt, um den speziell die USA nie ein Geheimnis gemacht haben, besteht darin, einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben. Letzteres ist mit der Eskalation des Krieges auch tatsächlich gelungen. Soweit es aber die beabsichtigte Schwächung Russlands betrifft – mit dem mutmaßlichen Ziel, anschließend dort einen „regime change“ herbeizuführen –, ist der Plan keineswegs aufgegangen, und es deutet auch wenig darauf hin, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern dürfte. Der Westen bzw. die USA scheinen sich und ihr (militärisches) Pouvoir maßlos überschätzt und jenes Russlands ebenso maßlos unterschätzt zu haben. Das allein spräche im Grunde schon für einen beeindruckenden Mangel an Kompetenz an den entscheidenden staatlichen und militärischen Schalthebeln, etwa im militärstrategischen oder geheimdienstlichen Bereich, und wäre als kräftiges Indiz für besagten Verfall des Westens und seiner Institutionen zu werten. Plakativ gesagt, ist das Vorgehen des Westens in etwa so weitsichtig und strategisch, wie die Praxis der Biden-Administration, seit dem Sommer 2022 die strategischen Ölreserven der USA auf den Markt zu werfen, um sich durch die vorübergehende leichte Preisentspannung ein paar Stimmen in den Midterm Elections im November zu kaufen.[4] Noch beeindruckender als dieses bornierte, auf kurzfristigen Machterhalt ausgerichtete Vorgehen ist allerdings die Vehemenz und die Beharrlichkeit, mit der die epochalen Fehlschläge der geopolitischen westlichen „Strategie“ verdrängt und mit groteskesten Verrenkungen geleugnet und sogar noch zu einem immer noch größeren Desaster hocheskaliert werden, etwa durch eine in hohem Maße selbstschädigende Sanktionspolitik oder durch die Provokation eines möglichen nuklearen Schlagabtauschs.


Die im Ukraine-Krieg immer offensichtlicher werdende und sich stetig verschärfende Krise des Westens, deren maßgeblicher Anteil an den zunehmenden Eskalationen sowie das immer autodestruktivere Agieren der westlichen Funktionseliten in den vergangenen Wochen und Monaten bleibt von wertkritischer Seite bislang weitgehend dethematisiert. Hier folgt die Wertkritik bis dato weitgehend dem westlichen „Narrativ“ – zwar nicht, was die geopolitischen und historischen Ursachen des Kriegs, aber was dessen Verlauf und wahrscheinlichen Ausgang betrifft. Laut Konicz ist der Ukraine-Krieg vor allem für Russland schlicht ein „militärisches Desaster“ (Konicz 2022c). Was wir aktuell sehen, ist aber, dass das eigentliche Desaster der Verlauf des Krieges eher für den Westen und die NATO bedeutet, auch und gerade auf militärischem Gebiet – von der sich abzeichnenden Niederlage des Westens im Wirtschaftskrieg ganz zu schweigen (sofern – hier ist Konicz durchaus zuzustimmen – der Wirtschaftskrieg überhaupt langfristig irgendwelche Gewinner kennt), und gar nicht erst zu sprechen von den verheerenden Konsequenzen, die der Krieg und dessen vom Westen beharrlich durch noch mehr Waffenlieferungen und noch mehr command-and-control-Leistungen forcierte Fortsetzung für die Ukraine hat. Wenn derzeit jemand dabei ist, am Schlachtfeld „auszubluten“, dann die Ukraine, wo die USA bereits die Gehälter von Beamten und Lehrern bezahlen müssen.[5] Alleine was Ausrüstung und „Kanonenfutter“ betrifft, befindet sich die Ukraine, trotz massiver westlicher Unterstützung (die ebenfalls nun langsam, aufgrund der sich allmählich leerenden westlichen Waffenarsenale und „Kriegskassen“, versiegen dürfte), langsam aber sicher im Stadium der Erschöpfung – wozu nicht zuletzt die im Westen euphorisch gefeierten, jedoch extrem verlustreichen Herbstoffensiven der Ukraine in Cherson und Charkiw beigetragen haben –, während für Russland der Krieg gerade erst zu beginnen scheint.


Die kürzlich (Anfang Oktober 2022) begonnenen russischen Luftangriffe auf Kiew und andere ukrainische Städte, die nun – anders als noch in früheren Phasen des Krieges – vermehrt auch zivile Infrastruktur betreffen (z.B. Stromversorgung), markieren wohl (aus russischer Sicht) den Übergang von der „militärischen Spezialoperation“ zum echten Krieg – eine neue Eskalationsstufe, die sich mit der russischen Teilmobilisierung und der „Aufnahme“ der vier Oblaste Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja in die russische Föderation Ende September 2022 bereits angekündigt hat. Die genaue Entwicklung, die der Kriegsverlauf in der nächsten Zeit nehmen wird, lässt sich freilich gegenwärtig nicht absehen, aber nichts deutet darauf hin, dass die Ukraine und der „kollektive Westen“ den russischen Plänen militärisch noch viel entgegenzusetzen haben (es sei denn, sie wollen den Krieg tatsächlich zu einem atomaren Gemetzel hocheskalieren). Bereits das quantitative Ausmaß der aktuellen Raketenangriffe zeigt, dass Russland mitnichten die Munition ausgeht, wie bereits seit März unaufhörlich und gegen jede Evidenz von westlichen Medien und Behörden behauptet wird.[6] Dies sind übrigens dieselben Medien und Behörden, die uns zum Teil bis heute versuchen einzureden, es sei Russland selbst, welches das von ihm besetzte AKW in Saporischschja beschieße, oder Russland habe die Nord-Stream-Pipelines selbst zerstört (wobei man bei letzterem mittlerweile eher in betretenes Schweigen übergangen ist – allen scheint klar zu sein, dass die USA dahinterstecken, aber niemand will oder kann es aussprechen). Es ist zuweilen schwer zu entscheiden, ob es sich dabei nur um besonders plumpe Propaganda handelt, oder ob die Verantwortlichen im Westen mittlerweile tatsächlich jeden Bezug zur Realität verloren haben. Wahrscheinlich trifft beides zugleich zu: Allein der handwerkliche Dilettantismus, mit dem die westliche Propaganda über den Ukraine-Krieg und dessen Verlauf im Grunde schon seit Kriegsbeginn daherkommt[7], spricht entweder die Sprache völliger Verzweiflung oder einer verbreiteten, in ihrem Ausmaß inzwischen die weitgehende Dysfunktionalität westlicher Institutionen insgesamt anzeigenden Inkompetenz und Verblödung der verantwortlichen Personnage in Politik, Medien, Verwaltung, Wissenschaft und Militär. Auch hier ist sehr wahrscheinlich, dass beides gleichermaßen zutreffend ist. Dass die Urheber der westlichen Propaganda dieser offenkundig selbst auf den Leim gehen und selber die Lügen glauben, die sie in die Welt setzen, spricht jedoch abermals dafür, dass wir es mit einem weit vorangeschrittenen Zersetzungsprozess westlicher Intelligenz zu tun haben, der mittlerweile zu einem nahezu vollständigen Realitätsverlust der verantwortlichen Eliten sowie der die Propaganda häufig völlig kritiklos rezipierenden Bevölkerung geführt hat. Auf Seiten der Propagandaempfänger hatten zwei Jahre COVID-19-Gehirnwäsche den Boden bereits ausgiebig vorbereitet – der Anspruch an Logik, Konsistenz und Komplexität des „Narratives“ war bereits auf unter Null gesunken, als das blaugelbe mediale Dauerfeuer Ende Februar eröffnet wurde.[8]


Vor dem Hintergrund des bisherigen Verlaufs des Ukraine-Krieges, der, wie es scheint, mitnichten gegen Russland, sondern eher gegen den Westen und hier vor allem gegen Europa verläuft, ist wohl auch die im Westen vorherrschende Einschätzung zu revidieren, Russland sei nur eine „als Staat verkleidete Tankstelle“ (John McCain) – eine Einschätzung, von der auch Konicz auszugehen scheint und die bis heute innerhalb der Wertkritik tatsächlich weitgehend Konsens ist. Nach allem, was wir spätestens seit Beginn des Krieges erleben konnten, scheint dies so nicht mehr zu stimmen – und war wohl auch in der Vergangenheit eine krasse Übertreibung, immerhin hatte Russland selbst in der desolatesten Phase der 1990er Jahre ein umfangreiches Weltraumprogramm und ist das einzige Land, das den USA glaubhaft mit vollständiger atomarer Vernichtung drohen konnte und kann.[9] Russland hat offenbar speziell die Jahre seit 2014, die bereits stark von westlichen Sanktionen geprägt waren, genutzt, um sich wirtschaftlich in vielen Bereichen mehr oder weniger vom Westen unabhängig zu machen – und das allem Anschein nach zumindest teilweise mit Erfolg, jedenfalls aber in einem Ausmaß, das es Russland erlaubt, einen militärischen Apparat aufzubauen und zu unterhalten, der dem westlichen u.a. auch technologisch mittlerweile in vielerlei Hinsicht überlegen zu sein scheint. Das betrifft insbesondere die Raketentechnik und Hyperschallwaffen (gegen die es keine wirksame Abwehr gibt), Luftabwehrsysteme (etwa S-400, S-500), elektronische Kampfführung (EW) und Unterwasserdrohnen.[10] Wie weit diese Waffentechnik die Kriegsführung zugunsten Moskaus ändern kann, wie weit die jüngere ökonomische Entwicklung in Russland überhaupt trägt und welchen Preis die daraus finanzierte militärische Aufrüstung womöglich in anderen Bereichen, z.B. sozioökonomisch, hat, ist eine andere Frage, die einer vorurteilsfreien Analyse bedürfte.


Freilich bedeutet dies bis zu einem gewissen Grad eine Herausforderung der wertkritischen Krisentheorie, denn eine solche Entwicklung, wie sie in Russland (offenbar) zu konstatieren ist, hätte es ihr zufolge eigentlich nicht geben dürfen. Eben darauf beruht auch Koniczs Verdikt, Russland sei „modernisierungsunfähig“ (vgl. Konicz 2022a, S. 14). Im Buch Weltordnungskrieg von Robert Kurz aus dem Jahr 2003, in dem es um die „Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung“ geht, nämlich hin zu einem „Krisenimperialismus“, wie er gerade auch für den aktuellen Krieg in der Ukraine bestimmend ist, kommt Russland als ökonomisch, geopolitisch oder militärisch relevanter Akteur nicht einmal vor (Kurz 2003). Selbst den Ukraine-Krieg dürfte es aus dieser Perspektive also im Grunde gar nicht geben, jedenfalls nicht in dieser Form und erst recht nicht mit dem sich aktuell abzeichnenden Verlauf. Damals, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Kurz’ Buch, hatte die marginale Behandlung Russlands vielleicht ihre (eingeschränkte) Berechtigung, da Russland zu diesem Zeitpunkt ökonomisch tatsächlich danieder lag und die unter Putin ins Werk gesetzte repressive Systemstabilisierung erst noch ganz am Anfang stand bzw. die daraus folgenden Entwicklungen noch nicht vorhersehbar waren. Die Entwicklung der letzten 20 Jahre scheint jedoch der Annahme, dass Russland durch und durch „modernisierungsunfähig“ wäre, zu widersprechen. Dagegen spricht seine militärische Überlegenheit (jedenfalls im Vergleich zur vom Westen hochgerüsteten Ukraine und zur Performance der dabei zum Einsatz kommenden westlichen Waffen), aber auch seine offenkundige Fähigkeit, die massiven westlichen Sanktionen – jedenfalls bislang – wirtschaftlich zu kompensieren, wozu auch, aber bei weitem nicht nur die aufgrund der explodierenden Energiepreise stark erhöhten Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft beigetragen haben. So scheint es Russland etwa recht rasch gelungen zu sein, wegfallende westliche Importe weitgehend zu substituieren und durch solche aus anderen Ländern, aber auch aus russischer Produktion zu ersetzen, etwa im Lebensmittelbereich.[11] Jedenfalls ist schwerlich zu übersehen, dass das Land mit den massiven Sanktionen sehr viel besser zurechtkommt als von ihren Urhebern erhofft (wenngleich es in Russland eine Rezession gibt) und vor allem ungleich besser als der Westen, insbesondere die EU. Dass Russland nur ein Energiekonzern mit angehängtem Staat sei – diese Prämisse, die vermutlich auch der Leichtfertigkeit zugrunde liegt, mit der die USA bzw. der Westen die militärische Eskalation im Ukraine-Krieg und den all-out economic war provoziert haben, blamiert sich aktuell ganz offensichtlich und in beeindruckender Weise an der Realität.


Aus wertkritischer Sicht ist diese, zumindest zum Teil zur eigenen Theorie in Widerspruch stehende Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen. Wie bereits Adorno zu Recht betonte, ist Theoriebildung ein ständiger Vermittlungsprozess von Wesen und Erscheinung, und dies impliziert auch, dass eine Theorie laufend an der gesellschaftlichen Wirklichkeit überprüft und ggf. modifiziert werden muss, wenn sich gesellschaftliche Entwicklungen oder Phänomene nicht mehr zureichend damit fassen und beschreiben lassen. Dies erfordert dann die nötige „Courage […], Wesensbegriffe oder Allgemeingesetzlichkeiten, die schlechterdings den Phänomenen inkompatibel, auch nicht dialektisch zu vermitteln sind, preiszugeben“ (Adorno 2012, S. 46f.). Dies wäre freilich nicht gleichbedeutend damit, die Krisentheorie einfach aufzugeben und zu verwerfen. Im Gegenteil: An der Richtigkeit der Diagnose einer finalen Krise des Kapitalismus ändert sich dadurch nicht das Geringste. Selbst ein volkswirtschaftlicher Koloss wie China und ein wiedererstarktes Russland – die ihre „Stärke“ nicht zuletzt ihren historisch noch aus dem Prozess nachholender Modernisierung stammenden despotischen Elementen und den daraus resultierenden Möglichkeiten verdanken, autoritär durchzuregieren (ein Autoritarismus, den sich vielleicht gerade deshalb auch die westlichen Staaten zunehmend zum Vorbild nehmen, ohne ihn bislang, mangels Einsicht in dessen Genese und Struktur, tatsächlich erfolgreich nachahmen zu können) – wären nicht in der Lage, die Krise abstrakter Arbeit und die Entwertung des Werts aufzuhalten. Aber es könnte bedeuten, dass immanent auch beim bereits erreichten Stadium der Krisenreife unter bestimmten Bedingungen (z.B. Vorhandensein eines entsprechend großen und modernen Produktionsaggregats, Verfügung über Rohstoffe und Energieträger etc.) noch eine größere „Entwicklungsfähigkeit“ möglich ist, als bisher angenommen, und dass der Krisenprozess sich, erstens, noch länger hinziehen kann als gedacht und dabei, zweitens, auch noch so manche nicht vorhergesehene Wendungen und Verläufe nehmen kann.[12]


Jedenfalls aber muss zur Kenntnis genommen und theoretisch adäquat verarbeitet werden, dass der Westen – und danach sieht es derzeit sehr stark aus – den von ihm provozierten Stellvertreterkrieg in der Ukraine auf ganzer Linie verlieren wird. Und diese Niederlage wird wiederum Konsequenzen für den weiteren Verlauf des Krisenprozesses haben. Schon allein, ob und wie wir durch die nächsten Monate kommen, hängt vielleicht wesentlich stärker vom Westen als von Russland ab, nämlich davon, wie die westlichen Funktionseliten mit dieser sich abzeichnenden Niederlage umgehen. Gerade der Zustand, in dem sich der Westen heute offenkundig befindet, macht die gegenwärtige Situation so überaus gefährlich, da den westlichen Eliten in ihrer Verkennung und/oder Verleugnung der objektiven Realität in hohem Grade Unzurechnungsfähigkeit attestiert werden muss und ihr Handeln und ihre politischen Entscheidungen daher entsprechend unvorhersehbar und irrational sein können. Hier kommt hinzu, dass Imperien im Zustand ihres Abstiegs und Verfalls dazu tendieren, wie wild um sich zu schlagen – auch vor diesem Hintergrund sind wohl einige der Entwicklungen und Tendenzen der vergangenen zweieinhalb Jahre zu sehen. Mit Blick auf das gegenwärtige Eskalationspotenzial des Ukraine-Kriegs wäre zu hoffen, dass zumindest noch eine gewisse, wie auch immer bornierte Restrationalität besteht und die USA angesichts der zahlreichen Rückschläge bald das Interesse an diesem Konflikt verlieren. Damit wäre zwar die Krise keineswegs vorbei – schon allein deshalb, weil die ökonomischen Folgen der letzten Monate (Energiekrise, Teuerung, der sich abzeichnende Deindustrialisierungsschub in Europa[13]) erst noch voll zu wirken beginnen werden und sehr wahrscheinlich nicht reversibel sind. Darüber hinaus ist aus wertkritischer Perspektive, wie gesagt, darauf zu bestehen, dass der aktuelle Krieg im Kontext einer zunehmend eskalierenden kapitalistischen Widerspruchsentfaltung zu sehen ist, d.h. Konflikte dieser Art werden in Zukunft eher deutlich zunehmen. Aber es wäre vielleicht zumindest fürs erste die aktuell sehr große, menschheitsbedrohende Gefahr eines nuklearen Schlagabtauschs gebannt (vorausgesetzt natürlich, die USA suchen sich nicht gleich den nächsten Konfliktherd, z.B. Taiwan).


Kurz gesagt: So wie sich die Dinge darstellen, bedeutet der aktuelle Krisenschub ganz besonders einen neuen Höhe- und Kulminationspunkt im Abstieg und rasch voranschreitenden Verfall des Westens, und eben dieser hätte ein bevorzugter Gegenstand wertkritischer Theoriebildung zu sein. In der bisherigen wertkritischen Diskussion zum Ukraine-Krieg, aber auch schon davor zur Corona-Krise, wird dieser derzeit eine neue Qualität erreichende und im Hinblick auf den weiteren Krisenverlauf vielleicht besonders entscheidende und insofern prioritär zu behandelnde Erosionsprozess des Westens eher nachrangig behandelt, sofern er überhaupt thematisiert und einer gesonderten Aufmerksamkeit für würdig befunden wird. Dies steht wohl in einem direkten Zusammenhang dazu, dass weite Teile der Wert- und Wert-Abspaltungskritik, inklusive Tomasz Konicz, bereits während der Corona-Krise quasi „auf Linie“ waren und die sich im Corona-Wahn auf überwältigende Weise darbietenden und ausdrückenden Krisensymptome (dazu Urban/Uhnrast 2022a & 2022b) entweder nicht erkannten oder aber nicht zur Kenntnis nehmen wollten und sich stattdessen der pauschalen Diffamierung jeglicher Maßnahmenkritik, auch solcher im wertkritischen Kontext, befleißigten (vgl. Urban 2022a). Damit einher ging auch eine auffällig geringe Distanz zum Dauerfeuer des medialen Propagandaapparates, das im Kontext von Corona bereits ähnlich halluzinatorischen Charakter hatte wie aktuell im Ukraine-Krieg. Möglicherweise liegt es also darin begründet, dass auch im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg eine unzureichende kritische Distanz zu westlichen Medien[14] bzw. zu den darin transportierten „Narrativen“ besteht und der u.a. in Form, Inhalt und Qualität der Propaganda (inklusive der unvermeidlichen Phalanx von „Experten“) zum Vorschein kommende Realitätsverlust im Westen – als Symptom eines fortgeschrittenen, krisenbedingten, spezifisch westlichen Verfallsprozesses – bislang nicht in den wertkritischen Fokus rückt.


Vor dem Hintergrund des nicht anders als Versagen zu bezeichnenden Auftretens von Konicz und der Mehrheit der Wert- und Wert-Abspaltungskritik während der Corona-Krise erscheint übrigens auch Koniczs Kritik an manchen linken Positionen im und zum Ukraine-Krieg zuweilen wie aus einem schrägen Paralleluniversum. Zunächst ist auffällig, dass er – wie schon bei Corona – jene Linken, die immerhin noch Spurenelemente der Kritikfähigkeit demonstrieren und die westliche Propaganda kritisieren (wenngleich an deren konkreten Positionen durchaus einiges kritikwürdig ist), deutlich stärker problematisiert als jene noch viel erbärmlicheren „woken“ Pseudolinken, die Ukrainefahnen schwenken, immer neue Waffenlieferungen fordern, Putin für einen „neuen Hitler“ halten (aber von Stepan Bandera, dem Prawyj Sektor, den Azov- oder Ajdar-Bataillonen noch nie gehört haben) und jeden, der Zweifel am westlichen Narrativ anmeldet, zum „Staatsfeind“ und „Putinversteher“ erklären. Eine einzige Zumutung und schwerlich ernst zu nehmen, angesichts seiner eigenen Performance während der Corona-Krise, ist aber die Art und Weise, wie sich Konicz oberlehrerhaft und mit dem Gestus der intellektuellen Überlegenheit als Gralshüter einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik aufspielt. Z.B. in Sätzen wie diesem: „Der Kampf gegen die Großkriegsgefahr, gegen Krisendiktatur, Chauvinismus und Hetze müsste mit dem Ziel geführt werden, günstige Bedingungen für einen emanzipatorischen Transformationskampf zu schaffen.“ (Konicz 2022a, S. 15) Nicht dass Konicz damit Unrecht hätte – ganz im Gegenteil –, allerdings sind solche Sätze in hohem Maße unglaubwürdig aus jemandes Mund bzw. Feder, der bei Corona all jene, die den Maßnahmenstaat mit einer „Diktatur“ verglichen, als „Rechtsextreme“ denunzierte und während der massiven Hetze gegen „Ungeimpfte“ im Herbst und Winter 2021/22 nicht nur keinerlei Kritik verlauten ließ, sondern Personen, die aus guten Gründen auf eine Impfung mit den neuartigen mRNA-Impfstoffen verzichten wollten, pauschal der Irrationalität bezichtigte (vgl. Konicz 2022d). Im hier zitierten Artikel mit dem Titel Die Alternativimperialisten (Konicz 2022a), in dem er sich u.a. kritisch mit den Verkürzungen linker Kritik zum Ukraine-Krieg befasst, verwendet er mehrfach den Begriff „Dreck“ bzw. „propagandistischer Dreck“, womit er nicht etwa auf die Bellizisten unter den „Ukraine-solidarischen“ Linken anspielt, sondern sich hauptsächlich (und, wie gesagt, zum Teil nicht nur zu Unrecht) auf jene Linken bezieht, die die westliche Kriegspropaganda in Frage stellen. Starke Worte für jemanden, der während der Corona-Krise selbst offenkundig die mediale Propaganda vom „Killervirus“ und von den per se rechtsextremen und verschwörungsideologischen „Coronaleugnern“ gefressen und unkritisch nachgeplappert hat. Schließlich fordert er eine dezidierte „Abgrenzung“ von den Antiimps ein, da diese „mittlerweile zur Avantgarde der Barbarei verkümmert“ seien (ebd., S.15), während er selbst keinerlei Abgrenzung walten ließ, sondern, ganz im Gegenteil, selbst Teil, zumindest aber tendenziell auf der Seite jener „Avantgarde der Barbarei“ war, die während der Corona-Krise aktiv an der Durchsetzung des autoritären Seuchenstaates mitgearbeitet hat (vgl. hierzu auch Urban 2022b) und die nicht ganz zufällig auch in der Russland-Ukraine-Frage überwiegend zu denjenigen gehört, die bereit sind, „bis

zum letzten Ukrainer zu kämpfen“, und einem aggressiven, nach außen wie nach innen gerichteten Bellizismus frönen[15] – und die für Konicz offenbar weniger problematisch ist als die in einem historischen Anachronismus befangenen Antiimperialisten. Als Beschwörer eines „emanzipatorischen Transformationskampfs“ sollte sich Konicz also vielleicht selbst einmal an der Nase nehmen und sich in Selbstkritik üben, wenn er nicht vollends seine Glaubwürdigkeit einbüßen will. Denn um die Schaffung „günstiger Bedingungen“ für einen solchen Transformationskampf, wie er sie (zu Recht) einfordert, hat sich Konicz in der letzten Zeit nicht gerade verdient gemacht. Im Gegenteil: Er und seinesgleichen waren mit ihrer Verteidigung des Corona-Maßnahmenstaates und des permanenten Ausnahmezustands sowie der pauschalen Diffamierung von Kritiker/innen mit daran beteiligt, den öffentlichen Debattenraum zu zerstören und die Bedingungen für eine emanzipatorische Kritik massiv und wahrscheinlich irreversibel zu verschlechtern.


Summa summarum: Der Westen hat sich mit seiner Eskalations- und Sanktionspolitik im eigenen Kaninchenbau verirrt – nur, dass an dessen Ende wohl die Realität und kein geopolitisches Wunderland stehen wird. Damit erreicht seine Krise, aber auch die des warenproduzierenden Systems insgesamt einen neuen Höhepunkt. Daraus folgt freilich nicht, dass diese Krise des Westens ein glatter, bereits vordefinierter Weg nach unten wäre. Eine Verständigung der Leviathane untereinander und eine Neueinteilung der Einflusssphären ist nie auszuschließen. Insbesondere die USA sind auch durchaus in der Lage, noch allerlei Unheil zu stiften. Beispielsweise könnten die derzeit hohen Leitzinsen der Federal Reserve arme Länder der Peripherie, die sich überwiegend nicht der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland angeschlossen haben und sich womöglich Hoffnungen auf einen Ausstieg aus der Dollar-Schuldknechtschaft machen, bald erneut in die Arme des IWF und seiner Strukturanpassungsprogramme treiben. Dieses Spiel wäre wohl erst vorbei, wenn diese Länder a) den Staatsbankrott erklären könnten und ein alternatives BRICS-Zahlungs- und Kreditsystem zur Verfügung hätten und b) Mittel hätten, sich militärisch und geheimdienstlich gegen westliche Strafaktionen zu schützen. Generell ist nicht anzunehmen, dass die USA aufhören werden, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ihren globalen Abstieg, gegen das Ende des sprichwörtlichen unipolar moment anzukämpfen. So drohen Washington aktuell gerade zwei key allies von der Fahne zu gehen: die Türkei und Saudi-Arabien. Hier sind ökonomische Angriffe (etwa Währungsspekulationen oder Sanktionen) und Regime-Change-Versuche zu erwarten. Auch besteht, wie bereits erwähnt, die Gefahr, dass die USA im Konflikt zwischen China und Taiwan – ähnlich wie davor in der Ukraine – versuchen werden, einen neuen Stellvertreterkrieg anzuzetteln. Erinnert sei hier nur an den umstrittenen Besuch von Nancy Pelosi, der Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, in Taiwan Anfang August 2022, der bereits als offener Affront gegen China aufgefasst werden konnte.[16] Bei einer Eskalation dieses Konflikts bliebe auch die Gefahr eines Atomkriegs weiterhin akut.




Literatur


Adorno, Theodor W. (2012): Einleitung in die Soziologie (3. Auflage), Frankfurt/Main.


Bedszent, Gerd (2022): Krise und Krieg der Oligarchen, wertKRITIK.org


Konicz, Tomasz (2022a): Die Alternativimperialisten, in: konkret 9/2022, S. 13-15.


Konicz, Tomasz (2022b): Eine neue Krisenqualität. Wieso es nach dem Ende des Krieges um die Ukraine keine stabile Nachkriegsordnung geben wird, exit-online.org


Konicz, Tomasz (2022c): Russischer Sieg im Wirtschaftskrieg? Die Invasion der Ukraine ist für den Kreml ein militärisches Desaster. Beim ökonomischen Kräftemessen scheint Russland aber – vorerst – am längeren Hebel zu sitzen, exit-online.org


Konicz, Tomasz (2022d): Von Crashpropheten, Putschisten, Preppern und Krisenprofiteuren. Rechte Ideologie in der Krise, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 19, S. 67-81.


Kurz, Robert (2003): Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef.


Martyanov, Andrei (2018): Losing Military Supremacy: The Myopia of American Strategic Planning, Atlanta.


OSZE (2022): Special Monitoring Mission Ukraine. Daily Report 41/2022, 22 February 2022, osce.org


Urban, Andreas (2022a): Ein Gespenst geht um in der Wertkritik. Anmerkungen zur wert(abspaltungs)kritischen Corona-„Debatte“, wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2022b): Wider die Sterilisierung des Lebens. Corona-Kritik von links, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022a): Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Teil 1: Auf der Suche nach dem „Killervirus“, wertKRITIK.org

Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022b): Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Teil 2: Pandemischer Nervenzusammenbruch, wertKRITIK.org




Endnoten


[1] Was selbst der greise Henry Kissinger, einst Architekt des US-chinesischen Rapprochements der 70er und 80er Jahre, am World Economic Forum in Davos im Mai 2022 andeutete: „Parties should be brought to peace talks within the next two months. Ukraine should‘ve been a bridge between Europe and Russia, but now, as the relationships are reshaped, we may enter a space where the dividing line is redrawn and Russia is entirely isolated. We are facing a situation now where Russia could alienate itself completely from Europe and seek a permanent alliance elsewhere.“ („Kissinger: These are the main geopolitical challenges facing the world right now“, weforum.org [23.5.2022]).


[2] Einiges von dem, was Konicz als Beispiel für die spezifisch russische Instabilität und Krisenanfälligkeit anführt, ist in dieser pauschalen Form übertrieben. So ist z.B. der Fall, dass Russland seine Rohstoffe und fossilen Energieträger „nicht im ausreichenden Maß” exportieren könnte, bis dato noch nicht vorgekommen – auch nicht seit Beginn des Krieges und trotz der westlichen Sanktionen. Anderes wiederum ist schlicht falsch, so Koniczs Behauptungen, „Russlands Hegemonie“ sei „bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs rasch erodiert“. Hier lassen sich in der jüngeren Geschichte durchaus Punkte angeben, an denen eine gewisse Kehrtwende festgemacht werden kann. Seit dem kurzen Krieg in Georgien im Sommer 2008, spätestens aber seit der handstreichartigen Besetzung und Annexion der Krim 2014 kann sicher nicht mehr von einer „raschen Erosion” der russischen Hegemonie im postsowjetischen Raum die Rede sein.


[3] Das trifft möglicherweise nur noch zu, wenn man einige klar abgrenzbare Waffengattungen (etwa die Unterwasserflotte) sowie das Atomwaffenarsenal und die damit verbundene Vernichtungskapazität berücksichtigt. Auf „konventionellem“ Gebiet ist es damit vielleicht nicht mehr allzu weit her. Erstens sind die USA als Militärmacht, wie es scheint, nicht nur global ziemlich überdehnt, sondern mittlerweile auch heruntergekommen, gerade auch unter (waffen-)technologischen Gesichtspunkten (vgl. Martyanov 2018). Zweitens arbeiten die USA mit den beharrlichen Waffenlieferungen an die Ukraine derzeit kräftig an ihrer eigenen „Demilitarisierung“. Jedenfalls hat die Ukraine in den vergangenen Monaten mehr Raketen und Munition verschossen, als die USA auf Jahre hinaus nachproduzieren können. Vgl. hierzu:

„The return of industrial warfare“, rusi.org (17.6.2022)

The US has given Ukraine nearly 1 million 155 mm artillery shells. Now it's looking for US companies to build more of them“, businessinsider.com (14.9.2022)


[4] „Weekly U.S. Ending Stocks of Crude Oil in SPR“, eia.gov (Stand 19.10.2022)

U.S. sells oil reserves as Biden tackles pump prices ahead of elections“, reuters.com (20.10.2022)


[5] „The United States contributes $1.7 billion to support the government of Ukraine“, ua.embassy.gov (12.7.2022)

[6] Dazu exemplarisch nur zwei Zeitungsartikel von März und April 2022. Die Liste ähnlich lautender Medienberichte ließe sich über den gesamten Zeitraum des Krieges bis heute praktisch endlos fortsetzen:

„Russia running short on guided missiles, firing indiscriminately – Ukraine“, jpost.com (17.3.2022)

„Russia running short of precision missiles, say western officials“, ft.com (29.4.2022)

Absurdes Highlight dieser desperaten „Russland verliert“-Propaganda war die Story, dass die Russen die für Waschmaschinen und Geschirrspüler vorgesehenen Computerchips aus Verzweiflung in ihre Raketen und Marschflugkörper einbauen („Sanctions forcing Russia to use appliance parts in military gear, U.S. says“, washingtonpost.com [11.5.2022]).


[7] Mit Ausnahme so mancher PR-Offensive – darin ist der Westen nach wie vor meisterlich und Russland weit überlegen, zumindest wenn es darum geht, die eigene Bevölkerung zu manipulieren.


[8] Wobei die Propaganda im Ukraine-Krieg zum Teil schon so widersprüchlich und lächerlich ist, dass dies immerhin etwas mehr Leuten aufzufallen scheint als während der Corona-Krise.


[9] Die aus dem Kalten Krieg bekannte Doktrin der Mutual Assured Destruction (MAD) hat nicht nur ein vielsagendes Akronym, sie ist auch eine keinesfalls geringzuschätzende „Leistung“ des warenproduzierenden Systems im 20. Jahrhundert. Es gehört in dem Zusammenhang übrigens zu den hier thematisierten geopolitischen Kurzsichtigkeiten des Westens, dass die USA unter George W. Bush sich aus dem sogenannten ABM-Vertrag über die „Abwehr von ballistischen Flugkörpern“ zurückgezogen haben und mittlerweile über gar kein Raketenabwehrsystem mehr verfügen, mit dem ein russischer Nuklearschlag erfolgreich abgewehrt werden könnte („Putin’s nuclear power cruise missile is bigger than Trump’s“, foreignpolicy.com [1.3.2018]). Die Trump-Administration zog sich wiederum 2019 einseitig aus dem Intermediate-Range Nuclear Forces (INF) Treaty zurück. In Europa scheint im Gegensatz zu den 1980er Jahren niemand mehr in der Lage zu sein zu verstehen, dass das für den Kontinent sehr schlechte Nachrichten sind. Die Beendigung des INF-Treaty hat jedenfalls nicht unerheblich zur Eskalation in Osteuropa beigetragen, da sie dazu angetan war, in Moskau das Bedrohungsgefühl stark zu erhöhen und das Personal in Washington als „not agreement capable“ (недоговороспособны) zu begreifen.


[10] Die gerne in der Kategorie doomsday weapon geführte, mit Nuklearsprengkopf bestückte Unterwasserdrohne „Poseidon“ hat erst unlängst für hysterische Reaktionen in den westlichen Medien gesorgt (z.B. „Russian nuclear submarine armed with ‚doomsday‘ weapon dissappears from Arctic harbor: report“, foxnews.com [3.10.2022]).


[11] Russland hat beispielsweise seine Weizenexporte seit 2014 beinahe verdoppelt („Russian Federation wheat exports by year“, indexmundi.com [Stand 23.10.2022]).


[12] Denkbar als Option wäre wohl mittlerweile auch eine gleichsam repressive Überwindung des Kapitalismus und seiner Kategorien, entweder in Form einer kybernetischen Techno-Kommandowirtschaft oder als primitive Schwundstufe in Gestalt einer Mad-Max-Mafia- und Plünderungsökonomie. Auf diese durchaus in den Bereich des Möglichen gerückte repressive Aufhebung des Kapitalverhältnisses wäre bei Gelegenheit in einem eigenständigen Beitrag einzugehen.


[13] Gegen Deindustrialisierung wäre aus wertkritischer Perspektive an sich nicht viel einzuwenden. Allerdings müsste diese mit der emanzipatorischen Aufhebung, d.h. Abschaffung, des Kapitalverhältnisses vermittelt und Ausdruck einer geänderten Bedürfnisstruktur sein. Systemimmanent kann daraus nur eine soziale Katastrophe mit Massenarbeitslosigkeit, Verarmung und neuen Qualitäten der Notstandsverwaltung erwachsen. Und ganz gewiss sollte, angesichts des im Westen offenkundig bestehenden Inkompetenzproblems, auch eine planmäßige „emanzipatorische“ Deindustrialisierung nicht Personen vom Schlage eines Habeck oder einer Baerbock überlassen werden.


[14] So beruft sich Konicz in seinen Analysen zum Ukraine-Krieg und dessen Verlauf fast ausschließlich auf die Einschätzungen westlicher Medien – von denen inzwischen klar sein sollte, dass deren Glaubwürdigkeit endenwollend ist.


[15] Der von einem gar nicht so kleinen lunatic fringe des „Coronismus“ verfolgten, realitätsfremden Chimäre „Zero Covid“ entspricht im Krieg das nicht minder fanatisch-destruktive Motto „Cancel Russia“.


[16] „Umstrittener Besuch: US-Politikerin Pelosi in Taiwan gelandet“, tagesschau.de (2.8.2022)