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Anselm Jappe

 

Haben Sie „Gesundheitsdiktatur“ gesagt?

 



Vorbemerkung: Dieser Text ist im Januar 2022 geschrieben worden, als die Impfhysterie überall auf ihrem Höhepunkt stand. Ein Rückgang der schweren Fälle hat es in der Folge den Regierungen erlaubt, Entwarnung zu geben, und eine (vielleicht nur zeitweilige) Lockerung der Einschränkungen zu verkünden. Aber das ändert nichts an der Notwendigkeit, das Vorgefallene zu verstehen, und vor allem, zu verstehen, warum die radikale Gesellschaftskritik und die Wertkritik diesem Thema so hilflos gegenüberstanden und sich sogar darüber spalteten.

 


 

Es ist behauptet worden, die Ratlosigkeit der Wertkritiker angesichts des Themas „Pandemie und Gesundheitspolitik“ sei ein „Spiegel der Gesellschaft“. Es steht zu hoffen, dass dem nicht so ist. 35 Jahre radikaler Gesellschaftskritik sollten doch dazu führen, dass diese nicht, gleich dem Rest der Gesellschaft und dem Rest der Linken, „wie der Ochs vorm Berg“ steht angesichts dieser unerwarteten Lage!


In diesem Moment – Anfang Januar 2022 – sind die Prioritäten der europäischen Regierungen klar. In mehreren Ländern wird entweder eine offizielle Impfpflicht, zumindest für einen Teil der Bevölkerung, eingeführt, wie in Italien oder in Österreich, oder Maßnahmen, die erklärterweise darauf abzielen, den Nichtgeimpften das Leben unmöglich zu machen.

Aber die Impfstoffe haben zahlreiche Nebenwirkungen – und das kann jeder in seiner Umgebung sehen, nicht nur gerüchteweise im Internet vernehmen. Eine dritte Dosis nach sechs Monaten, nein: nach fünf Monaten, nein: nach drei Monaten – und dann kommt die vierte Dosis. Schließlich wird sie wöchentlich verabreicht werden, oder wir werden direkt an eine Dauerinfusion angeschlossen. Und das alles ab dem fünften Lebensjahr. Bürgerlicher Tod für Verweigerer und Einkerkerung sind nicht mehr ausgeschlossen, ebenso wenig wie körperliche Angriffe auf Ungeimpfte und das Verbot jeder gegenteiligen Information, die automatisch als „Fake News“ betrachtet wird. Und das alles zu einem Zeitpunkt, an dem dieselben „Behörden“ zugeben müssen, dass der Impfstoff weder vor der Gefahr einer Infektion noch vor der Übertragung des Virus schützt. Er dient lediglich dazu, so scheint es, die Anzahl der schweren Fälle zu reduzieren – und auch das gilt nur wenige Monate – also die Überlastung der Krankenhäuser, die durch die neoliberalen Reformen ausgeblutet sind, zu vermeiden. Und die Massenimpfung soll natürlich verhindern, dass es zu viele Abwesenheiten vom Arbeitsplatz gibt und die Wirtschaft zu sehr leidet – das wird mittlerweile offen zugegeben. 

Natürlich ist es noch schlimmer, in Syrien oder im Kongo unter Bomben zu stehen. Aber für viele Menschen, jedenfalls im „demokratischen“ Westeuropa, stellt dies die schwerwiegendste Einschränkung der Freiheiten seit 1945 dar. Wenn es den Staaten gelingt, ihre Linie durchzusetzen, kann man jeden Gedanken an Widerstand bei jedem anderen wichtigen Thema für lange Zeit vergessen.

Der Staat hat jedoch große Angst davor, dass seine Impfstrategie scheitern und die Bevölkerung jegliches Vertrauen verlieren könnte. Um dies zu verhindern, wird er alles daran setzen, die gesamte Verantwortung für das Scheitern auf die Nicht-Geimpften abzuwälzen. Gleichzeitig muss er paradoxerweise darauf hoffen, dass es ihm nicht gelingt, alle zu impfen, denn dann hätte er keinen Sündenbock mehr für die Pandemie, die sich weiter ausbreiten wird. Emmanuel Macrons scheinbar kontraproduktive Absicht, die Ungeimpften zu „ärgern“, dient vielleicht diesem Zweck: die „Unverbesserlichen“ dazu zu bringen, so zu bleiben und der Macht einen Schuldigen zu liefern?  

 

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Es heißt stets, wir sollten „Vertrauen“ in die Wissenschaft und die Medizin haben. Aber warum eigentlich? Es ist natürlich absurd, diese in Bausch und Bogen zu verdammen. Aber es gibt genauso wenig Gründe dafür, ihnen unbegrenzt zu vertrauen. Sie standen fast immer im Dienste von Kapital und Staat und sind in ihrer Grundstruktur von diesen geprägt. Wie viele Ärzte hatten den Mut, asbestbedingte Krebserkrankungen zu melden, solange sie sie sich damit dem Spott ihrer Kollegen aussetzten?

Sind alle Ärzte Lügner, sind sie Teil einer „Verschwörung“? Offensichtlich nicht. Im Gegenteil, es sollte zu denken geben, dass mindestens 20 Prozent des medizinischen Personals, von dem man annehmen sollte, dass es ein größeres Interesse daran hat, sich vor einer Krankheit zu schützen, die in alle Bereiche des Gesundheitswesens vorgedrungen ist, sich nicht spontan impfen lassen wollten und dass Tausende sogar lieber ihren Job verloren haben, als sich impfen zu lassen. Die Frage ist nicht, ob Ärzte, Bürokraten oder Regierende selber „daran glauben“: Was sie antreibt, sind Konformismus, die Angst vor Lächerlichkeit und Ausgrenzung, Karrierechancen für diejenigen, die sich als erste dem neuen Kurs verschreiben. Mutatis mutandis entspricht dies der Logik des Stalinismus: Die Verfolger handeln nicht für ein „Ideal“, nicht einmal ein verzerrtes, sondern aus Angst davor, von denjenigen, die ihren Platz einnehmen wollen, des mangelnden Eifers bezichtigt zu werden.

 

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Die Rede vom „Impfegoismus“ der „entwickelten“ oder reichen Länder ist in der Linken weit verbreitet, weil sie es ermöglicht, die Zustimmung zu staatlicher Impfpolitik mit einer recht traditionellen Rhetorik zu verbinden. Diese Rhetorik geht jedoch an der Realität vorbei. In Afrika, wie auch in den französischen Kolonien, bei den Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund in Frankreich, aber auch in Bulgarien oder Rumänien usw. fehlt es nicht an Dosen, nicht an „Informationen“, nicht an der Möglichkeit, in ein Impfzentrum zu gehen – diese Menschen wollen sich einfach nicht impfen lassen, weil sie misstrauisch sind, nach all dem, was man ihnen in der Vergangenheit eingetrichtert hat. Es gab zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Neapel und Brasilien Aufstände gegen die Impfung. Ihre Gründe mögen fragwürdig sein, aber man muss diese Ablehnung ernstnehmen, anstatt Menschen zu „Opfern“ zu erklären, die in Wirklichkeit eine Entscheidung getroffen haben, die a priori nicht irrationaler erscheint, als einem fünfjährigen Kind eine dritte Dosis zu geben. Hier wie auch anderswo zeigt sich der tiefgreifende Wandel der aktuellen Lage und die Gefahr, schematisch Analysen anzuwenden, die in einer anderen Epoche gültig waren.

Es gibt diejenigen, die Impfverweigerer des „Impf-Egoismus“ beschuldigen und ihnen die Haltung zuschreiben: „Finger weg von meinem Körper“. Eine merkwürdige Behauptung. Wenn sich jemand weigert, sich mit einem Impfstoff impfen zu lassen, von dem man ihm gleichzeitig die Liste der möglichen Nebenwirkungen vorlegt, die er unterschreiben muss, und damit diejenigen, die ihn erfunden, verteilt und zur Pflicht gemacht haben, von jeglicher Verantwortung entbindet, während sich seine Befürworter selbst gezwungen sehen, zuzugeben, dass der Schutz, den er bietet, begrenzt und von kurzer Dauer ist – ist er dann ein „Egoist“, ein „Sozialdarwinist“, ein „Narzisst“ mit Allmachtsphantasien, ein „Zyniker“ oder ein „Liberaler“, der am „Privateigentum seines Körpers“ festhält, wenn er sich weigert, ihn zu akzeptieren? Muss man eine spontane Ablehnung rechtfertigen, die eher vor jedem Diskurs kommt, eine Haltung des Misstrauens, die die Grundlage jeder Gesellschaftskritik bilden sollte? Wenn es eine Mehrheit von Menschen gibt, die sogar einen „Booster“ pro Tag akzeptieren würden, um ihr Weihnachten, ihre Wirtschaft und ihre Olympischen Spiele zu retten, kann man sie nicht daran hindern. Aber man sollte wenigstens den anderen die Möglichkeit lassen zu wählen.

Man kann nicht sagen, dass eine solche Ablehnung nur die Kehrseite des Impffanatismus der Mehrheit sei, so dass Ablehnung und Akzeptanz auf derselben Ebene liegen würden. Die Risiko-Nutzen-Kalkulation muss jeder für sich selbst vornehmen. Wenn der Staat den Menschen seine Kalkulation aufzwingen will, liegt er völlig falsch, ohne jede Diskussion. Ohne die spontane Reaktion der Ablehnung gegenüber diesen Maßnahmen, wie die des Fohlens gegenüber dem Sattel, ist Gesellschaftskritik nur eine akademische Übung.

 

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Jemand wird sofort „Verschwörungstheorie“ schreien. Derzeit ist der Vorwurf der Verschwörungstheorie zu einem zentralen Bestandteil des offiziellen Diskurses geworden und soll jede Diskussion über staatliche und mediale Wahrheiten im Keim ersticken.

Die Tatsache, dass einige Medien diejenigen verbannt haben, die Zweifel an Gesundheits- und insbesondere Impfstrategien äußern, sagt weder etwas für noch gegen den Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen aus. Wenn die Verbreitung „falscher Informationen“ es rechtfertigt, von der öffentlichen Diskussion ausgeschlossen zu werden (und wer definiert, welche Information falsch ist? Im Fall von Statistiken scheint es fast unmöglich, nachzuvollziehen, wer Recht hat), dann sollten alle Regierungen und ihre Journalisten längst aus allen Medien verbannt sein. Wir erleben eine derartige Gehirnwäsche und eine solche Dämonisierung aller abweichenden Stimmen, dass die sowjetischen Medien der 1970er Jahre im Vergleich dazu ein Beispiel für Pluralismus darstellten!

Ist es da verwunderlich, dass diejenigen, die sich von jeglicher Interventionsmöglichkeit abgeschnitten sehen, selbst wenn sie sehr unschuldige Einwände äußern, wie etwa die Diskussion darüber, wie man einen Tod durch Covid definiert, manchmal in den einzigen Milieus landen, die sie aufnehmen und die sehr schlecht sein können? Natürlich ist es eine Schande für Professor Didier Raoult, in rechten Zeitschriften zu schreiben – aber ist es nicht vor allem eine Schande, dass er nach Jahrzehnten, in denen er die Autorität in Frankreich auf dem Gebiet der ansteckenden Krankheiten war, in dem Moment in den Dreck gezogen wird, in dem er nicht mehr mit dem Staat übereinstimmt (ohne hier weder seine Persönlichkeit noch die von ihm befürworteten Therapien beurteilen zu wollen)?

 

Natürlich zeigt ein Teil der Opposition gegen diese Politik trübe Motive. Aber eine Kritik verliert nichts von ihrer Wahrheit dadurch, dass Finsterlinge oder Idioten scheinbar ähnliche Reden halten. Als Robert Kurz um 2002 von den Antideutschen heftig angegriffen wurde, fasste jemand die Logik dieser Angriffe folgendermaßen zusammen: „Horst Mahler sagt: ‚Ein Pferd hat vier Beine‘. Robert Kurz sagt: ‚Ein Pferd hat vier Beine‘. Erwischt!“. Man sollte nicht darauf verzichten, die „Gesundheitspolitik“ zu kritisieren, nur weil andere, zweifellos zwielichtige Leute scheinbar Ähnliches sagen – aber aus ganz anderen Gründen! Wenn die extreme Rechte gegen Corona-Maßnahmen ist, dann deshalb, weil sie auf magische Weise sofort zur Normalität zurückkehren will. Doch genau diese „Normalität“ ist das Problem. Zufällige Übereinstimmungen zwischen linker und rechter Kritik beweisen absolut nichts. Andernfalls hätte die Kritik an Wert und Arbeit, die Verweise auf Marx, Kurz, Debord usw. aufgegeben werden müssen, seit der rechtsextreme französische Intellektuelle Alain de Benoist sich gleichfalls darauf bezieht.

Eine Verwechslung von Gesellschaftskritik mit der extremen Rechten ist nicht zu befürchten, weil die extreme Rechte aus genau entgegengesetzten Gründen gegen die Einschränkungen protestiert: Sie will mit der Verwertung, der Digitalisierung, der Überwachung der „Anderen“ (Migranten usw.), den Fußballmeisterschaften etc. weitermachen. Der Gesundheitstotalitarismus ist nur die Verlängerung von zu vielen anderen Dingen, die bereits geschehen sind. Man muss nur über diese sprechen, um sich seiner unerwünschten Mitstreiter zu entledigen.

 

Worin besteht normalerweise die Gefahr von Verschwörungstheorien? Dass sie Sündenböcke benennen und die Wut auf diese entladen. Aber die verschwörungstheoretischen Tendenzen (deren Existenz unbestreitbar ist) unter den Impfgegnern haben zurzeit keine Macht, keine Möglichkeit, Regierungen und Geimpfte anzugreifen. Stattdessen besteht ein hohes Risiko, dass sie selbst zu Sündenböcken für das Versagen der Gesundheitspolitik werden.

 

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Es gibt auch ein eher theoretisches Problem: Jeder Hinweis auf Akteure mit ihren Strategien und Absichten scheint in den Augen einiger im Umfeld der radikalen Kritik als „Populismus“, „personalisierende Kritik “ oder sogar als „Verschwörungstheorie“ angesehen zu werden. So wird die Existenz des Kapitals selbst bald als Verschwörungsgerücht gelten – was bereits von einigen Ex-Linken in Deutschland und Frankreich propagiert wird. Würde man übrigens die gleiche Argumentation auf Hitler und Himmler anwenden? Waren sie bloße Vollstrecker einer anonymen und unvermeidlichen Logik? Natürlich gibt es keine geheimen Treffen der Supermächtigen, die in aller Freiheit die Drähte ziehen. Aber es gibt Menschen, die Macht haben und Ideen, was sie damit anfangen sollen – auch wenn sie dabei nicht immer erfolgreich sind. Schon lange vor der Pandemie hatten die Regierungen eine Vorliebe für alles, was die Kontrolle und Überwachung erhöht. Sie entwarfen, zumindest in ihren Köpfen, mögliche Szenarien, die sie dann durch ein eher zufälliges Ereignis wie die Pandemie oder in einem anderen Fall den 11. September umsetzen konnten. Man unterschätzt sie ein wenig, wenn man denkt, dass sie nur chaotisch auf völlig unvorhergesehene Ereignisse reagiert haben. Die „Gesundheits“-Maßnahmen sind bloß die Fortsetzung der Virtualisierung des Lebens und der Tyrannei der Algorithmen, die seit langem ganz offen betrieben werden. Erst durch die Gelegenheit von Covid wurden Einschränkungen akzeptiert, über die sich die Öffentlichkeit lustig gemacht oder entsetzt gezeigt hatte, als sie in China stattfanden. Die überraschend aufgetretene Pandemie sorgte nach der ersten Verwirrung dafür, dass eine der inhärenten Möglichkeiten des „automatischen Subjekts“ über andere Entwicklungsmöglichkeiten siegte, und das Managementpersonal passte sich dieser „systemischen Notwendigkeit“ an oder wurde marginalisiert.

 

Die Gesundheitspolitik der Regierungen (zumindest in Westeuropa) ist keineswegs „chaotisch“ oder „zickzackförmig“. Zu Beginn, vor zwei Jahren, war sie es. Spätestens seit dem Sommer 2021 sind diese Politiken absolut kohärent und verfolgen ohne Zögern ein einziges Ziel: alle Menschen zu zwingen, sich impfen zu lassen, und zwar wiederholt. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Impfstoff kaum wirkt: Was zählt, ist, die gesamte Bevölkerung auf Linie zu bringen, Gehorsam zu lehren und jeden Widerstand zu ersticken. Dass dies mit einigen wirtschaftlichen Verlusten verbunden ist, spielt keine große Rolle: Pleiten in der Unterhaltungs- oder Tourismusbranche sind ein geringer Preis für den Erfolg der gesamten Operation, genauso wie eine erfolgreiche Brandschutzübung in einer Schule eine verlorene Unterrichtsstunde wert ist.


Für Staaten gibt es keine Unschuldsvermutung. Sie befinden sich nicht in einem „Dilemma“. Man kann nicht glauben, dass sie sich wirklich um das Leben ihrer Bürger kümmern, um das sie sich in anderen Fällen so herzlich wenig scheren – umso mehr, wenn es sich um Rentner handelt, die die Rentenkassen wirtschaftlich gesehen nur belasten! Die fanatische Anwendung der Impfung muss andere Ziele haben – im Wesentlichen soll sie ein Klima der Unterwerfung schaffen und die Kontrollinstrumente präparieren, die die Staaten brauchen, wenn die wirklichen Krisen kommen.

Müssen wir uns in die Köpfe derer hineinversetzen, die uns regieren, und uns fragen, was sie tun könnten? Aus ihrer Sicht und aus der Sicht derer, die sie unterstützen, handeln sie richtig: Sie retten Weihnachten und bringen die Wirtschaft wieder in Schwung. Es sind die Ziele, die falsch sind. Wie kann man die Bevölkerung vor der Krankheit schützen? Wenn man sich die (proportionale) Anzahl der Todesfälle durch Covid in den verschiedenen Ländern ansieht und sie mit der jeweils verfolgten Gesundheitspolitik in Beziehung setzt, findet man keine eindeutigen Beziehungen – diese Tatsache wird selten erwähnt. Es scheint eher so, als ob dem Virus alle Maßnahmen und auch das Fehlen von Maßnahmen egal wären. Vielleicht liegt das Problem woanders: Dieses Virus widerlegt vor allem die menschliche Hybris, die Überzeugung, dass Wissenschaft und Technik immer auf alles eine Antwort finden. Es ist auch dieser Ungehorsam der Natur, der die Mächtigen der Erde so wütend macht.

 

Die Analyse des objektiven Charakters der Verwertungskrise und der Unmöglichkeit für die „Herrschenden“, sie zu verhindern, bedeutet keineswegs, dass das gesamte „Funktionspersonal“ des Kapitalismus und seiner Staaten unfähig ist, über ihre unmittelbarsten Interessen hinaus zu denken, und nur passiv dem Lauf der Ereignisse folgt. Einige von ihnen wissen sehr wohl, welche ökologischen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krisen auf sie warten, und entwerfen Szenarien, wie sie mit diesen Krisen umgehen sollen. Was ihnen Sorgen bereitet, sind nicht so sehr organisierte und bewusste Bewegungen, sondern anomische, chaotische Reaktionen von verzweifelten Bevölkerungsgruppen. Die Entwicklung der Digitalisierung entspricht zum Teil dieser Vorbereitung neuer Herrschaftstechniken. Dies entspricht der Suche einer Fraktion des Kapitals nach einem „ökologischen Übergang“ und einem Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen. Wenn sie die Wurzeln der Verwertungskrise nicht beseitigen können, können sie immerhin versuchen, die Folgen für die herrschenden Schichten für eine gewisse Zeit abzulenken. Und dann stellte sich die Pandemie, auch wenn ihr Auftreten zunächst eine Überraschung war, später als die perfekte Gelegenheit heraus, um die seit langem geschärften Waffen anzuwenden – und zwar unter breiter Beteiligung der Bevölkerung. Das funktioniert fast so gut wie der Patriotismus im Jahr 1914; es funktioniert besser als Terrorismus und Pädophilie.

Der ökologische Wandel wird eine weitere wunderbare Gelegenheit sein, diejenigen zu überwachen und zu bestrafen, die ihren Müll nicht ausreichend trennen oder zu viel Energie verbrauchen. Es ist unwahrscheinlich, dass der Staat auf die Waffen verzichten wird, die er fast der gesamten Bevölkerung akzeptabel machen konnte. Ohnehin scheinen die Regierungen nicht so „machtlos“ zu sein, wie manche behaupten: „Machtlos“ gegenüber dem Virus natürlich, aber keineswegs machtlos gegenüber ihren Bürgern, denen sie alles Mögliche aufzwingen können. Und allein in Frankreich werden sechs Millionen Menschen, zehn Prozent der Bevölkerung, aus dem zivilen Leben ausgeschlossen, um die Widerspenstigen vielleicht eines Tages zu „homines sacri“ überhaupt zu machen. Das sagen sie offen. Der nächste Schritt ist, sie nicht mehr in Krankenhäuser aufzunehmen. Bei der Geschwindigkeit, mit der die Dinge voranschreiten, sollte man sich über nichts mehr wundern, sondern Dinge für möglich halten, die im letzten Jahr noch als unvorstellbar galten, wie die physische Einkerkerung von Verweigerern.