Gerd Bedszent
Im Herbst der Pandemie
Zuerst erschienen im September 2022 in der Zweiwochenschrift Ossietzky, Heft 19/2022
Nach der Krise ist vor der Krise. Diese Eigenschaft der kapitalistischen Weltwirtschaft ist bekannt. Und dass systemische Krisen gelegentlich in Gestalt von Krisen des Gesundheitssystems in Erscheinung treten, ist so neu ebenfalls nicht.
Der Komplex „Krankheit und Gesundheit“ ist von Beginn an Teil der bürgerlichen Entwicklung. Schon im Zeitalter der Durchsetzung des Kapitalismus hat die Expansion des Fernhandels der Verbreitung von Krankheitserregern erheblich Vorschub geleistet. Mehrere Pestwellen, die über Karawanenwege von Ostasien nach Europa übergriffen, forderten im Spätmittelalter Millionen Opfer. Ähnlich schauerliche Auswirkungen hatte auch der maritime Handel der künftigen Kolonialmächte sowie deren Landnahme in Übersee; zahlreiche bis dahin nur regional verbreitete Krankheitserreger gelangten von Europa nach Afrika, Asien und Australien oder auch von dort nach Europa.
Mit den wissenschaftlich-technischen Neuerungen des 18. bis 20. Jahrhunderts kam es auch zur Erforschung von Krankheitserregern sowie zur Entwicklung wirksamer Medikamente. Der aus der Antike überkommene Berufsstand des Arztes erhielt eine solide wissenschaftliche Grundlage. Erste staatlich gestützte Kranken- und Sozialversicherungssysteme wurden Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen. Vorreiter war damals ausgerechnet das Deutsche Reich unter der Kanzlerschaft Otto von Bismarcks – die kaiserliche Regierung sah in der Verabschiedung von Sozialgesetzen eine Möglichkeit, der damals im Aufwind befindlichen Arbeiterbewegung das Wasser abzugraben.
Der Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens war Bestandteil der Installation bürgerlicher Staatlichkeit, die medizinische Versorgung Bestandteil des Konkurrenzkampfes zwischen sich herausbildenden kapitalistischen Nationen. Wer über das beste Gesundheitssystem verfügte, dessen Bevölkerung war am wenigsten von Krankheiten betroffen. Diese simple Logik betraf natürlich nur die entwickelten Kerngebiete des Kapitalismus, nicht aber kolonial eroberte und zur Plünderung freigegebene Territorien. Das weltweite Gesundheitswesen ist bis heute durch krasse Unterschiede geprägt.
Mit dem Auslaufen der extensiven Phase des Kapitalismus drehte sich die Entwicklung um. Als Ergebnis des ideologischen Siegeszuges des Neoliberalismus erschien die mühsam aus dem Boden gestampfte und unter anderem von der Arbeiterbewegung gegen Widerstände erkämpfte sozialmedizinische Infrastruktur plötzlich als unnützer Kostenfaktor, als Grab für sinnlos eingetriebene Steuermilliarden. Ausgerechnet Privatisierung galt nun als Allheilmittel, chronisch defizitäre Staats- oder Kommunalbetriebe in sprudelnde Geldquellen zu verwandeln.
Und was passiert seitdem mit Krankenhäusern, Reha-Kliniken und ähnlichen Einrichtungen, die ungeachtet brutaler Spardiktate weiter rote Zahlen schreiben? Nicht selten wurden sie entweder teilweise oder vollständig geschlossen. Auch in Deutschland schrumpft die medizinische Infrastruktur seit Jahren; die öffentliche Gesundheitsvorsorge zieht sich zunehmend aus der Fläche zurück und konzentriert sich auf wirtschaftlich florierende Ballungsräume.
Schon mit der Wirtschaftskrise der Jahre 2007 bis 2009 schien der Neoliberalismus am Ende zu sein – nur mittels massiver Überschuldung der jeweiligen Nationalökonomien gelang es damals, die globale Krise unter Kontrolle zu bekommen. Dass diese simple Strategie bei der seit 2019 anlaufenden neuen Wirtschaftskrise nicht noch einmal greifen würde, war abzusehen. Schuldenberge können halt nicht bis ins Unendliche wachsen.
Einen Ausweg hätte ein erneuter Modernisierungsschub mit wieder sprudelnden Steuermilliarden geboten. Ein solcher Schub war aber nach dem Ende des Booms von Computertechnik und Netzkommunikation nicht in Sicht. Und dann kam das Virus. Und mit ihm die Möglichkeit, das (bereits vorhandene) Marktsegment „menschlicher Körper“ massiv zu erweitern.
Das Virus war nicht – wie meist dargestellt – Auslöser der Krise. Es wurde als Mittel für eine Krisenbewältigung im kapitalistischen Sinne benutzt. Dieser Versuch einer Krisenbewältigung war und ist selbstverständlich ein reaktionärer, faktisch ein Rückgriff auf die autoritär-repressive Frühphase des Kapitalismus.
Das in diesem Zusammenhang auch von Seiten der politischen Linken vernehmbare Frohlocken über die Rückkehr der Handlungsfähigkeit des Staates, über seine vermeintliche Fürsorge gegenüber den Opfern der Pandemie ist hingegen völlig unangebracht. Tatsächlich klafft seit Beginn der Anti-Pandemie-Maßnahmen die soziale Schere in allen Teilen der Welt immer weiter auseinander. Die zuvor schon armen Teile der Bevölkerung wurden immer ärmer, und auch das Vermögen des Mittelstandes schrumpfte. Vor allem Unternehmen der Pharmaindustrie, der Transport- und Logistikbranche fuhren hingegen märchenhafte Gewinne ein. Das Ziel einer Krisenbewältigung war (vorläufig) erreicht…
Die während der letzten Jahrzehnte arg demolierte medizinische Infrastruktur ist jedoch während der Pandemie nicht etwa wieder auf-, sondern im Gegenteil weiter abgebaut worden. Noch immer werden Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen geschlossen. In den noch bestehenden Einrichtungen wird das Personal nach wie vor miserabel bezahlt; die Arbeitsbedingungen haben sich massiv verschlechtert.
Von Widerstand gegen die repressiven Zumutungen und sozialen Folgen dieser Strategie ist bisher nur wenig zu verspüren. Die Linke, deren Aufgabe es an sich wäre, solchen Widerstand zu organisieren, schweigt entweder paralysiert oder aber übt sich im sklavischen Gehorsam – selbst angesichts völlig unsinniger staatlicher Maßnahmen: Statt wie bisher in den Genuss eines halbwegs funktionierenden Gesundheitssystems zu kommen, musste die Bevölkerung rigorose Kontaktbeschränkungen über sich ergehen lassen. Und während Preise für Waren des täglichen Bedarfs explodierten, hat man der Pharmaindustrie Riesenbeträge zur Entwicklung neuer Medikamente in den Rachen geworfen. Die Wirksamkeit dieser überstürzt entwickelten Impfstoffe ist allerdings, nun ja, umstritten.
Man muss nicht das Wirken finsterer Verschwörer hinter den verordneten Zumutungen der letzten Jahre sehen. Als Fazit bleibt allerdings: Die staatlichen Eingriffe erzwangen einen Modernisierungsschub zur Durchsetzung partikularer Einzelinteressen von Unternehmensgruppen. Und diese gehen zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit unseres Planeten.
Diese Art von Krisenbewältigung kann natürlich nur eine Krisenbewältigung auf Zeit sein – das Fortschreiten der Krise wurde lediglich ausgebremst. Die zunehmende Militarisierung des öffentlichen Diskurses, Rüstungsaufträge, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, auch eine offen diskutierte Renaissance der Atomenergie sind die Folgen. Die sozialen Verwerfungen von Wirtschaftskrise und verunglückten Anti-Krisen-Strategien sind schon heute heftig. Und das repressive Instrumentarium der Anti-Pandemie-Maßnahmen lässt sich wunderbar im Falle eines Aufbegehrens größerer Teile der Bevölkerung reaktivieren.
Erforderlich wäre ein Bruch mit der verqueren Logik kapitalistischen Wirtschaftens. So etwas wird aber nicht einmal mehr diskutiert.