Andreas Urban
Ignoranz als Realität
Abschließende Anmerkungen zur Energieschranken-Debatte
Es gibt, wie bereits an anderer Stelle und in einem anderen inhaltlichen Zusammenhang festgestellt werden musste (vgl. Urban 2023), Diskussionen auch innerhalb der Wert- und Wert-Abspaltungskritik, deren Fortführung nicht lohnt, weil bzw. wenn von einer der Parteien im Diskussionsprozess grundlegende Standards einer sachlichen Debatte von vornherein missachtet werden. Es bestand daher auch diesmal der Vorsatz, auf einen Kommentar zu Thomas Meyers Replik (Meyer 2024a) auf unsere Beiträge zur Energieschranken-Debatte (Urban 2024; Jappe 2024a) und insbesondere unsere Kritik an seinem Umgang mit dem dafür den Anlass und Gegenstand bildenden Buch von Sandrine Aumercier (Die Energieschranke des Kapitals, 2023) zu verzichten. Meyer bleibt in seiner Replik der bisherigen und für EXIT mittlerweile charakteristischen Arbeitsweise treu: Denunziation statt einer auf der Höhe des Gegenstandes erfolgenden inhaltlichen Kritik. Es reicht nicht einmal für eine halbwegs sorgfältige Lektüre von und Zitation aus den von ihm beanstandeten Texten.
Da inzwischen jedoch Aumercier die unsererseits nicht mehr für wert befundene Mühe auf sich genommen hat, auf Meyers Pamphlet zu reagieren (vgl. Aumercier 2025), ihr Text darüber hinaus nur in französischer Sprache vorliegt, soll dies zum Anlass für einige wenige, abschließende Anmerkungen genommen werden – abschließend zwar keineswegs in der Sache selbst, zumindest aber soweit es die Auseinandersetzung mit EXIT betrifft. Ich werde dabei die Debatte und ihre inhaltlichen Eckpunkte an dieser Stelle nicht nochmals referieren, sondern setze diese als bekannt voraus. Ich möchte es im Wesentlichen bei zwei Bemerkungen belassen, wobei sich die eine unmittelbar auf Meyers Reaktion auf unsere Debattenbeiträge bezieht und die andere auf einen durchaus interessanten Aspekt, auf den Aumercier in ihrem jüngsten Kommentar (wenn auch auf etlichen argumentatorischen Umwegen) hinweist, und der m.E. dazu beitragen kann, unsere Kritik an EXIT noch ein wenig zu präzisieren bzw. auf den Punkt zu bringen.
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Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Meyers Reaktion auf unsere Kritik lohnt im Grunde schon deshalb nicht, da Meyer auf praktisch keine der von uns aufgeworfenen Fragen und Diskussionspunkte inhaltlich eingeht. Er ist primär damit beschäftigt, einzelne gegen ihn ins Feld geführte Kritikpunkte zu isolieren bzw. zu entkontextualisieren und so den Argumentationszusammenhang, in den sie eingebettet sind, systematisch zu zerstören. Die derart ihres Kontexts beraubten Inhalte erklärt Meyer sodann zur Argumentation der Kritiker, denen er auf dieser Basis Realitätsblindheit und Ignoranz vorwerfen kann (so auch der Titel seines Pamphlets: Ignoranz oder Realität?). So meint er beispielsweise meine Einwände gegen sein umstandsloses und apodiktisches Festhalten an industrieller Landwirtschaft und fossilen Energieträgern, die seiner Ansicht nach auch in einer emanzipierten „postkapitalistischen“ Gesellschaft, nicht zuletzt in Anbetracht der heutigen Bevölkerungszahl, u.a. zur Herstellung von Kunstdünger nötig seien, auf folgende Weise zu entkräften:
„Urban versteht immerhin, dass auch Kleinbauern Düngemittel benötigen. Selbst wenn man auf künstliche Düngemittel verzichten würde, wie Meyer unter Berufung auf den Umweltwissenschaftler Vaclav Smil […] anführte, so müsste man z.B. die Viehzucht ausdehnen, jedenfalls nicht zurückfahren, um genug tierische Exkremente für die Felddüngung (und Pferde für den Transport usw.) organisiert zu bekommen (und tierische Exkremente sind zu dem nicht so ergiebig wie industriell hergestellter Dünger, ganz abgesehen von der klimaschädlichen Methanausscheidung). Urban liest aus der Tatsache der Düngemittelnotwendigkeit für die Landwirtschaft eine Naturalisierung der industriellen Landwirtschaft Meyers heraus. Dass zahlreiche Kulturpflanzen nicht in der Lage sind, für sie lebenswichtige Stickstoffverbindungen selbst zu synthetisieren, ist aber einfach Fakt!“ (Meyer 2024a)
Urban ignoriere also schlicht die Tatsache, dass es Kunstdünger für eine in den entsprechenden Dimensionen erforderliche landwirtschaftliche Tätigkeit nun einmal brauche. Nun war das aber nie der Punkt, um den es in der Kritik an Meyer ging – wie auch leicht nachzuvollziehen ist für jeden, der meinen Beitrag wirklich gelesen hat. Im Gegenteil, ich habe ihm im Prinzip sogar zugestimmt. Es besteht von daher auch kein Grund, nochmals seine umweltwissenschaftlichen Gewährsleute in den Zeugenstand zu rufen.[1] Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass, gerade wenn man Meyers Position vertritt, der zufolge eine Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen sich auf Subsistenzniveau nicht reproduzieren kann und deshalb ein entsprechendes industrielles Niveau der Landwirtschaft, inkl. einer auf fossilen Energieträgern beruhenden Kunstdüngerproduktion, auch über den Kapitalismus hinaus beibehalten werden muss, man Aumerciers auf energetischer Ebene ansetzende Argumentation nicht so einfach vom Tisch wischen kann. Wenn dem wirklich so ist, dass schon allein die Größe der Weltbevölkerung uns dazu zwingt, eine weitgehend industriell organisierte Landwirtschaft beizubehalten mit allem, was dies an Infrastruktur, Maschinen, Rohstoffen usw. impliziert, dann setzt dies ein energetisches Niveau voraus, das möglicherweise mit dem Ziel der gesellschaftlichen Emanzipation sowie mit ökologischen Zielsetzungen von „Nachhaltigkeit“ usw. in Konflikt steht. Und dieses Problem liegt auf einer anderen Ebene und ist weit grundsätzlicher als die von Meyer zum Dogma gemachten und wie eine Monstranz vor sich hergetragenen Thesen von Robert Kurz über eine mögliche „Sortierung“, „Umgruppierung“ und „andere Zusammensetzung“ moderner Technologien und Produktionsmittel in einer potentiellen, nicht mehr vom Kapitalfetisch beherrschten Gesellschaft der Zukunft (vgl. hierzu auch Kurz 2004, S. 112ff.). Die Energieintensität der im Kapitalismus entstandenen Technologien, Produktionsmittel und Infrastrukturen entspricht der kapitalistischen Produktionsweise mit ihrer rücksichtslosen und entsprechend destruktiven Wachstumslogik, ist aber mit einer anzustrebenden Vergesellschaftungsform jenseits von Ware, Wert, Kapital, Geld etc. möglicherweise (oder sehr wahrscheinlich) unverträglich. Vieles davon wird also nicht – auch nicht in „anderer Zusammensetzung“ oder in wie auch immer reduzierter Form – in eine postkapitalistische Gesellschaft „hinübergerettet“ werden können, um dort „endlich“ einem sinnvollen Zweck zugeführt zu werden. Und das betrifft vermutlich auch fossile Energieträger, deren Anwendungsmöglichkeiten für weniger destruktive Zwecke als unter kapitalistischen Bedingungen ja überhaupt nicht infrage stehen, deren Verwendung über den Kapitalismus hinaus aber die Unterhaltung komplexer, eng miteinander verschränkter und energieintensiver Systeme voraussetzt – von ihrer Förderung, den de facto globalen Transportwegen bis hin zur Produktion der entsprechenden Maschinen und Güter und der Nutzung sowie Erhaltung der erforderlichen Infrastrukturen – und deren Betrieb auch dann noch sehr energieintensiv sein würde, wenn diese nicht mehr unter dem Diktat des Werts stünden.
Wo Meyer sich nicht in solche Scheingefechte begibt, in denen er verzweifelt versucht, seine Kritiker mit Argumenten zu widerlegen, die deren Argumentation im Wesentlichen gar nicht berühren, behilft er sich damit, dass er manche ihrer Argumente und Kritikpunkte einfach als Hirngespinste darstellt. Seine Kritiker würden ihm Aussagen unterschieben, die er so nicht getätigt habe. So streitet er etwa rundweg ab, den potentiellen Nutzen der Gentechnik auch und gerade für eine postkapitalistische Gesellschaft mindestens insinuiert zu haben durch seine Feststellung, dass durch gentechnische Eingriffe die Düngemittelabhängigkeit von Nutzpflanzen reduziert werden könnte (siehe jedoch ausdrücklich Meyer 2024a, S. 213).
Ansonsten greift er in Ermangelung inhaltlich tragfähiger Gegenargumente bevorzugt zum altbewährten Mittel der Denunziation. So wird meine Wenigkeit, nachdem zuvor bereits Aumercier im Rahmen der „Besprechung“ ihres Buches als potentielle „Sozialdarwinistin“ denunziert wurde (vgl. Meyer 2024b, S. 209f.; ebenso Scholz 2024a, S. 235), kurzerhand zum Malthusianer erklärt. Zugegeben: Das Zitat, das Meyer als „Beleg“ heranzieht, um mich des Malthusianismus zu überführen, ist treffsicher gewählt – so treffsicher, wie es charakteristisch ist für die meisten der heute umgehenden, postmodernen Degenerationsgestalten bürgerlicher Debattenkultur, die mangels inhaltlicher Substanz und intellektueller Redlichkeit nur noch auf irgendwelche Reizwörter reagieren und zur denunziatorischen Abfertigung ihrer Gegner auf vorgefertigte Schablonen zurückgreifen. Das Zitat, an dem sich Meyer stößt, lautet folgendermaßen:
„Wir kommen hier [aus dem Kapitalismus, A.U.] womöglich nicht mehr raus – jedenfalls nicht so leicht und möglicherweise, wenn überhaupt, nur mit einer langen, über mehrere Generationen angelegten Übergangszeit, in der die technischen Großsysteme, soweit dies möglich und zweckmäßig ist, sukzessive rückgebaut werden; was jedoch auch einhergehen müsste mit einer entsprechenden Reduktion der Bevölkerungsgröße auf ein mit diesem energetischen Niveau zu vereinbarendes Maß, ggf. durch ‚biopolitische‘ Maßnahmen der Geburtenkontrolle. Dies wäre übrigens nur ein weiteres Beispiel dafür, dass manche gesellschaftliche Organisations- und Vermittlungsformen, die uns der Kapitalismus während seiner, historisch gesehen, relativ kurzen Existenz mit umso größerer Wirkmacht, u.a. in Gestalt biopolitischer Zugriffe auf jeden einzelnen Körper als Rädchen im Getriebe der ‚schönen Maschine‘, beschert hat, auch im Falle einer postkapitalistischen Transformation womöglich nicht ansatzlos im Orkus der Geschichte verschwinden würden.“ (Urban 2024, S. 22)
Beinahe hätte Meyer auch mich von meinem verkappten Malthusianismus überzeugt. Allerdings wird das Zitat durch Meyer abermals, und wie schon alles andere, gänzlich seines Kontexts entkleidet. Worum geht es hier? Im Grunde knüpft dieses Zitat unmittelbar an die bereits oben grob zusammengefasste Argumentation an, die sich Meyer bekanntlich um jeden Preis zu negieren bemüht: Wenn man an Meyers Position festhält – und der ich in meinem damaligen Beitrag tendenziell geneigt war zuzustimmen –, dass eine Weltbevölkerung in der derzeitigen Größe auf Subsistenzniveau nicht überlebensfähig ist, und wenn man dabei zugleich in Betracht zieht, dass sich Meyers Vorstellungen einer quasi beliebigen „Selektion“ und „Umgruppierung“ moderner Produktionsmittel, Technologien und Infrastrukturen auf der Grundlage von Aumerciers Energieschranken-Thesen als illusorisch herausstellen könnten, dann ergibt sich daraus für eine emanzipatorische Gesellschafts- und Kapitalismuskritik ein Dilemma, zumindest aber ein Problem, das bis jetzt anscheinend noch niemand auf dem Schirm hatte (und Meyer offenkundig auch weiterhin dort nicht haben möchte). Denn möglicherweise folgt daraus, dass wir dazu verdammt sind, auf absehbare Zeit an zahlreichen, vom Kapitalismus hervorgebrachten Infrastrukturen, Technologien, Produktionsmitteln, Lieferketten sowie Arbeitsformen festzuhalten, weil das Überleben weiter Teile der Menschheit mittlerweile an ein Energieniveau gebunden ist, hinter das wir nicht mehr so ohne weiteres zurückkönnen – oder eben nur mit einer Übergangszeit von ungewisser Dauer, in der das technologische und industrielle Aggregat langsam und mit Rücksicht auf „soziale Verträglichkeit“ rückgebaut wird; eine gesamtgesellschaftliche Transformation, die daher noch mehr und anderes voraussetzen würde als nur die Abschaffung kapitalistischer Kategorien wie Geld, Ware oder Wert und der darauf beruhenden kapitalistischen Verkehrsformen.
Mag sein, dass ich es Meyer durch die konkrete Formulierung meiner (wohlgemerkt äußerst spekulativen) Überlegungen zum Teil etwas zu leicht gemacht habe, mit seiner gut in der Hand liegenden Sozialdarwinismus- und Malthusianismus-Keule über mich herzufallen. Manches würde ich heute anders schreiben. So erachte ich es etwa im Nachhinein als unpräzise und entsprechend problematisch, jegliche Geburtenkontrolle unter „Biopolitik“ zu verbuchen, also mehr oder weniger in den Zusammenhang eines von oben verordneten (staatlichen oder sonstigen gesellschaftlichen) Zwangs zu stellen. Eine Beschränkung der Kinderzahl wäre ja grundsätzlich auch als bewusste Entscheidung von Menschen und Gesellschaften denkbar und bildet nicht von ungefähr einen Aspekt dessen, was Ivan Illich eine „konviviale“ Gesellschafts- und Lebensform nennt, eine Gesellschaft, die bereits aufgrund der konkreten Form ihrer materiellen Reproduktion eine Tendenz zur „Selbstbegrenzung“ aufweisen würde und wozu letztendlich auch eine den Reproduktionsformen entsprechende (Regulierung der) Bevölkerungsgröße gehören würde (vgl. Illich 1980, S. 92f.). Es braucht wohl nicht daran erinnert zu werden, dass dies in allen vormodernen Sozietäten der Regelfall war. Dort stellten sich im Allgemeinen (außer vielleicht nach Kriegen, Seuchen oder anderen größeren Katastrophen) auch keine der spezifisch kapitalistischen „Bevölkerungsprobleme“ wie z.B. ein „Mangel an Arbeitskraft“ (bereits das Konzept der „Bevölkerung“ ist genuin modernen Ursprungs, wie etwa in Michel Foucaults Abhandlungen über die „Gouvernementalität“ nachgelesen werden kann); ganz zu schweigen vom gegenteiligen Problem einer sogenannten „Überbevölkerung“. Denn damals bestand in aller Regel ein Entsprechungsverhältnis zwischen den für notwendige Tätigkeiten wie Sammeln, Jagen, Ackerbau usw. verfügbaren Menschen und der Größe der Gruppe, d.h. der Anzahl an Menschen, die ernährt werden mussten, und umgekehrt.[2] Auch und gerade die sich heute im Zuge der Krise der Arbeit entfaltende Produktion einer „überflüssigen“ Menschheit ist ein Phänomen, das nur ein derart verrücktes und von sinnlich-menschlichen Bedürfnissen völlig abgehobenes System wie das warenproduzierende hervorzubringen imstande ist. Was heute besonders in rechten Kreisen als „Überbevölkerung“ verhandelt wird, ist so gesehen gleich in zweierlei Hinsicht ein Produkt kapitalistischer Verhältnisse: einmal durch die mittlerweile umfassende Deformierung, ja Pervertierung der gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse, inkl. der Fortpflanzung, durch die Warenwirtschaft, und zum anderen durch die Erzeugung einer stetig wachsenden Masse ökonomisch „Überflüssiger“ infolge der systematischen Vernichtung von Arbeit auf Basis der rasch voranschreitenden Rationalisierungs- und Automatisierungsprozesse. Es ist von daher keineswegs abwegig, sondern im Gegenteil konsequent, wenn in utopischen Vorstellungen einer „lebensgerechten“ Gesellschaft jenseits kapitalistischer und industrieller Verhältnisse, worauf Illich mit seinem Begriff der „Konvivialität“ abhebt, auch die Bevölkerungsgröße als ein Aspekt des gesellschaftlichen Lebens eine Rolle spielt, der einer (nicht etwa repressiven oder gar mörderischen, sondern freiwilligen) „Selbstbegrenzung“ unterliegen müsste (und würde). Vermutlich würden Meyer und Co. aber auch Illich ohne zu zögern unter die „Sozialdarwinisten“ und „Malthusianer“ einordnen, zumal sie schon bei Aumercier und uns wenig Hemmungen haben, unsere Thesen und Überlegungen mit explizit oder implizit auf Massenmord hinauslaufenden malthusianischen Diskursen und entsprechenden Losungen à la „Verschwindet von der Erde!“ in einen Topf zu werfen (vgl. Scholz 2024b).[3]
Der eigentlich springende Punkt, an dem sich Meyers Denunziationen letztendlich selbst blamieren, ist jedoch, dass mit meinen Überlegungen, wie spekulativ man diese auch immer finden mag, ja keineswegs ein irgendwie wünschenswerter Zustand ausgemalt, sondern im Prinzip nur die letzte und logische Konsequenz von Meyers eigener Position gezogen wurde: Setzt man die Größe der heutigen Weltbevölkerung und deren materielle Reproduktion als maßgebliches Kriterium, dem eine emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus genügen muss, dann bildet schon allein dies mit hoher Wahrscheinlichkeit eine nicht zu vernachlässigende Schranke für die Verwirklichung eines solches Ziels – zumindest wenn man unter Emanzipation nicht nur die Abschaffung von Geld, Arbeit, Markt, Ware usw. versteht, sondern auch den Ausstieg aus der „technologischen Megamaschine“, die als unmittelbarer Bestandteil, gleichsam als die zweite „Hälfte“ des modernen Fetischsystems (Jappe 2024b, S. 6) zu begreifen ist und als solche eine keineswegs „neutrale“ oder beliebig modifizierbare materielle Vergegenständlichung der Wertvergesellschaftung darstellt. Sogar der Vorwurf des Malthusianismus fällt potentiell auf Meyer selbst zurück – er weiß es nur noch nicht, weil er sich einstweilen noch seinen Illusionen hingeben kann, nach einer Überwindung des Kapitalismus weiterhin relativ beliebig und auf der Grundlage einer entlang von Kriterien der „sinnvollen Verwendung“ und der „Befriedigung von Bedürfnissen“ vorgenommenen „Selektion“ und „Umgruppierung“ auf moderne Technologien, Produktionsmittel und Infrastrukturen zurückgreifen zu können – seien es fossile Energieträger, davon angetriebene Maschinen, Kunstdünger, vielleicht sogar Gentechnik. Dies geht bis hin zu Phantasien einer „kommunistischen Echtzeit-Ökonomie“ (Konicz 2020, S. 313) auf Basis der sich heute immer rascher entwickelnden und durchsetzenden digitalen Technologien, wie sie etwa Tomasz Konicz in seinem Buch Klimakiller Kapital ausbreitet – Phantasien, die bereits in Aumerciers Energieschranken-Buch sowie in meinem ersten Debattenbeitrag einer Kritik unterzogen wurden und zu denen Meyer bislang (wahrscheinlich aus gutem Grund) noch nie Stellung genommen hat. Das von Aumercier aufgeworfene Energieproblem und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für eine emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus werden aber gewiss nicht einfach verschwinden, bloß weil Meyer sie ignoriert. Es hat vor diesem Hintergrund durchaus seine Berechtigung – vor allem, wenn man bedenkt, welche Unverschämtheiten sich Meyer und Co. auf theoretisch dermaßen dünnem Eis herausnehmen –, wenn Aumercier ihm in ihrem aktuellen Kommentar erwidert:
„Er [Meyer, A.U.] ist es im Grunde selbst, der sich als ‚Sozialdarwinist‘ erweist, wenn er abstrakt das Ende des Geldes und der Ware propagiert, ohne die materielle Realität des Industriesystems zu berücksichtigen, das deren substantielle Koextension darstellt. Diese materielle Infrastruktur ist ihrem Wesen nach zerstörerisch, und zwar in all ihren konstitutiven Teilen, genau wie das warenproduzierende System, das sie hervorgebracht hat. Und ich sage, wenn die Geldakkumulation und die Warenproduktion unterbrochen werden, dann wird de facto auch die industrielle Produktion mit ihren unzähligen Differenzierungen und Unterteilungen sowie der internationale Warenaustausch unterbrochen, und Millionen von Menschen werden sofort in die Gosse geworfen.“ (Aumercier 2025, Übersetzung A.U.)
Man könnte also sagen, dass es Meyer und Co. selbst sind, die den im Angesicht der Krise sich ausbreitenden Sozialdarwinismus und Malthusianismus mindestens stützen, weil sie beharrlich an einer „Theorie“ über die praktische Überwindung des Kapitalismus festhalten, die sich in ihrer konkreten Form mit hoher Wahrscheinlichkeit als unterkomplex und daher illusionär erweisen wird, und eine Diskussion über alternative Perspektiven oder überhaupt nur über die Gültigkeit ihrer theoretischen Prämissen nicht einmal zulassen wollen.
Auf die von Anselm Jappe in die Debatte eingebrachte, quasi konträr zu meinen Spekulationen stehende Position, wonach gerade die hohe Bevölkerungszahl es illusorisch erscheinen lässt, das mit modernen Technologien verbundene energetische Niveau aufrechtzuerhalten, und der zufolge es auch triftige Gründe gebe anzunehmen, dass selbst eine Bevölkerung in der heutigen Größe auf nicht-industriellem Niveau (über)leben könnte (vgl. Jappe 2024a, S. 3f.), geht Meyer folgerichtig gar nicht erst ein.
Das Einzige, das an Meyers Replik irgendwie treffend ist, ist der Titel, auf den auch die Überschrift des vorliegenden Textes anspielt – wenngleich es sich dabei freilich, angesichts der dargebotenen diskursiven Fehlleistungen, nur um eine Projektionsleistung Meyers handeln kann.
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Sandrine Aumercier erbringt nun in ihrer Replik auf Meyer – neben bzw. über die bislang im Fokus stehende, in ihren Formen zuweilen an ein systematisches Sich-Dumm-Stellen erinnernde Debattenverweigerung hinaus – auch manch ernstzunehmenden Hinweis auf handfeste theoretische Regressionen bei EXIT. Es ist primär dieser Aspekt, der im Folgenden genauer betrachtet werden soll – ich gehe also keineswegs auf Aumerciers Kommentar als Ganzen ein. Aumercier arbeitet sich in ihrem Text hauptsächlich an einem ebenfalls (und das ist diesmal nicht sarkastisch gemeint) sehr gut gewählten Zitat Meyers ab, das da lautet:
„An Aumerciers Position wäre zu kritisieren, dass Energie nicht der gleiche ‚kategoriale Status‘ zukommen kann wie dem Wert oder der abstrakten Arbeit (was im Text Meyers tatsächlich so nicht expliziert wurde). Das wäre nur dann plausibel, wenn abstrakte Arbeit tatsächlich das Gleiche wie physikalische Arbeit oder Energie wäre (eine Sonde, die am Jupiter vorbeiflöge, um Schwung zu holen, würde demnach abstrakte Arbeit verrichten bzw. an ihr würde abstrakte Arbeit vom Jupiter verrichtet werden).“ (Meyer 2024b)
Ausgehend von diesem Zitat legt sie dar (oder vielmehr: bloß), dass bei EXIT offenbar nur noch ein sehr verqueres oder eigentlich gar kein Verständnis mehr vom Doppelcharakter der Arbeit (abstrakt/konkret) vorhanden ist. Aumercier geht dabei freilich wieder einmal erheblich umständlicher vor als nötig. Sie macht seitenlange Ausführungen über das „Abstrakte“, welche Abstraktionen es in unserem Denken gibt, dass auch „Konkretes“ immer eine „Abstraktion“ ist usw., um am Ende zu einem Schluss zu kommen, der ohnehin offensichtlich ist und nicht zufällig bereits im Mittelpunkt meiner Auseinandersetzung mit Aumerciers Buch und Meyers Kritik daran stand, nämlich dass Meyer und Co. die „materielle Realität des Industriesystems“ als „substantielle Koextension“ (Aumercier 2025) der Wertvergesellschaftung schlicht ausblenden und nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Man kann es auch einfacher und ohne derartige argumentatorische Umwege auf den Punkt bringen: Bei EXIT wird einfach so getan, als hätten Dinge, Technologien, Infrastrukturen usw. nicht handfeste materielle und „energetische“ Voraussetzungen, unabhängig davon, ob diese unter kapitalistischen oder postkapitalistischen Verhältnissen erzeugt bzw. betrieben werden sollen. Unter diese „energetischen“ Voraussetzungen fallen nicht nur in der Produktion von Waren oder Gütern zum Einsatz kommende „externe“ Energiequellen wie Elektrizität oder die Verfeuerung fossiler Energieträger, sondern, worauf Aumercier in ihrem Text besonderen Wert liegt, bereits die im Produktionsprozess verausgabte Arbeit selbst – die berühmte, von Marx so bezeichnete „Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw.“ (Marx 1986, S. 85). In der Tat ließe sich daher sagen, dass bei Meyer und Co. die Dialektik von „abstrakt“ und „konkret“ als unhintergehbare Eigenschaft der kapitalistischen Kategorie Arbeit, die eben in besagtem Doppelcharakter besteht, stillgestellt und einseitig zur abstrakten Seite hin aufgelöst wird. Die materielle-stoffliche Dimension der Arbeit, die sich in konkreten Produkten und Gebrauchsgegenständen, aber auch in Technologien und Infrastrukturen mit ihren jeweiligen technischen und energetischen Eigenschaften und Voraussetzungen darstellt, erscheint dann nicht mehr als elementarer Bestandteil der abstrakten Arbeit selbst, sozusagen als ihre andere Seite[4], sondern als etwas gegenüber der abstrakten Dimension ganz und gar Sekundäres und als eine in jeder Hinsicht vernachlässigbare Größe. Nun hat das zwar theoretisch eine gewisse Berechtigung insofern (und wird nicht zufällig seitens der Wertkritik schon lange in diesem Sinne theoretisiert), als die konkreten Produkte, die kapitalistisch hergestellt werden, tatsächlich nur das Medium sind, durch das sich der tautologische Selbstzweck der Kapitalverwertung realisiert, der „Stoff“ so gesehen also unter die „Form“ subsumiert wird bzw. letztere über ersteren dominiert. Die Warenproduktion ist lediglich ein notwendiges Übel für das eigentliche Ziel der Wertverwertung; auf den dabei produzierten „stofflichen Reichtum“, auf die konkreten Produkte und die menschlichen Bedürfnisse, die sie befriedigen könnten, kommt es dabei nicht an. Auch ist es im Prinzip zutreffend, wie Meyer nicht müde wird, gegen seine Kritiker (an deren eigentlichen Argumentation vorbei) einzuwenden, dass der „Gebrauchswert“, der Dingen durch ihre kapitalistische Form aufgezwungen wird, diesen nicht per se eigentümlich ist, und dass man daher Gegenstände, Technologien oder Produktionsmittel, die unter kapitalistischen Prämissen entwickelt wurden, nicht pauschal verwerfen kann, weil sie potentiell auch in anderer Weise und zu sinnvolleren Zwecken eingesetzt werden könnten: Man könnte z.B. einen Verbrennungsmotor für Sinnvolleres und weniger Destruktives verwenden als für automobilen Individualverkehr. Auch braucht es nicht viel Phantasie, um sich weit sinnvollere und nützlichere Anwendungen und Verwendungszwecke für das Internet vorzustellen als in der Gegenwart, da der weit größte Teil des permanent wachsenden Datenverkehrs für Unsinn wie „soziale Medien“, Streaming-Dienste, Online-Shopping oder Bitmining draufgeht. In all diesen Punkten besteht also keinerlei Dissens. Derartige theoretischen Setzungen rechtfertigen aber nicht, von den materiellen Eigenschaften der Gegenstände und Technologien abzusehen, die von der Art und Weise und vom konkreten Zweck ihrer Anwendung relativ unabhängig sind und von denen eine sehr wesentliche das zu ihrem Betrieb erforderliche Energieniveau ist. Für einen Verbrennungsmotor mag es auch in einer emanzipierten postkapitalistischen Gesellschaft nützliche und sinnvolle Einsatzgebiete und Anwendungsmöglichkeiten geben, die Unterhaltung der zu seiner Herstellung und seinem Betrieb erforderlichen Systeme und Infrastrukturen könnte sich allerdings als problematisch erweisen (und zwar auch dann, wenn die Verwendung des Verbrennungsmotors stark reduziert würde). Ähnliches gilt für das Internet und alle anderen digitalen Technologien. Diese Dimension – die von Aumercier so genannte „materielle Realität des Industriesystems“ – einfach zu negieren, ist fragwürdig; und noch fragwürdiger ist es, Theoretiker/innen, die dieser Dimension Geltung zu verschaffen versuchen, zu denunzieren, obwohl bzw. weil deren Argumentation in der Sache wie auch in ihrer Tragweite offensichtlich noch gar nicht adäquat erfasst wurde.
Das von Aumercier gewählte Zitat Meyers ist unter diesem Gesichtspunkt in der Tat gleichermaßen aufschlussreich wie verräterisch. Wir wollen hier darüber hinwegsehen, dass Meyer sich in der zitierten Passage wieder einmal, um vom eigentlichen Thema abzulenken, auf einen Nebenschauplatz begibt, auf den er allerdings von Aumercier teilweise gelockt wird bzw. auf den auszuweichen sie ihn durch den Aufbau und den konkreten Gang ihrer Argumentation bis zu einem gewissen Grad einlädt, da es ihr sehr darum zu tun ist, Energie selbst als spezifisch moderne Abstraktion, ähnlich oder komplementär zum Wert und zur abstrakten Arbeit, zu theoretisieren. Auch die Umständlichkeit der Argumentation in ihrem jüngsten Beitrag, ihre Exkurse über das „Abstrakte“ ergeben sich wesentlich daraus. In dem Zusammenhang muss ich im Übrigen auch eine Einschätzung aus meinem ersten Artikel zumindest partiell revidieren. Ich hatte darin kritisiert, dass Aumercier ihre theoretische Argumentation aus meiner Sicht unnötig weitschweifig unter Rekurs auf Grundlagen der Thermodynamik entwickelt. Das Problem, um das es ihr gehe, nämlich das der Energieschranke, sei auch ohne diese umständlichen thermodynamischen Herleitungen nachvollziehbar und unmittelbar einsichtig. Auch wenn an dieser Einschätzung nicht grundsätzlich etwas zurückzunehmen ist, so würde ich dennoch im Nachhinein einräumen wollen, damit über einen nicht unwesentlichen Aspekt von Aumerciers Argumentation möglicherweise etwas zu nonchalant hinweggegangen zu sein. Sie versucht, wie gesagt, zu zeigen, dass auch „Energie“ eine spezifisch moderne Abstraktion ist, worunter letztlich auch die Gesetze der Thermodynamik fallen. Für den Gesamtzusammenhang ihrer Argumentation ist daher die recht ausführliche Bezugnahme auf die Thermodynamik keineswegs so entbehrlich, wie sie von mir dargestellt wurde. Meyer versucht nun, Aumerciers Thesen damit abzutun, dass sie der „Energieabstraktion“ den „gleiche[n] ‚kategoriale[n] Status‘ […] wie dem Wert oder der abstrakten Arbeit“ beimesse. In der Tat wäre eine solche theoretische Operation so unnötig wie problematisch. Die warenproduzierende Gesellschaft ist reich an Abstraktionen, die dabei häufig nicht bloße Abstraktionen im kognitiven Sinne sind, also nicht allein dem Denken entspringen, sondern, mit Alfred Sohn-Rethel gesprochen, „Realabstraktionen“ sind – Realabstraktionen deshalb, weil sie eben nicht (nur) aus dem Denken, sondern primär aus dem Handeln der Menschen hervorgehen. Sohn-Rethel hat den Begriff der Realabstraktion in erster Linie an den Abstraktionen „Wert“ und „Ware“ entwickelt: Der Wert, so schreibt er, „existiert zwar nirgends anders als im menschlichen Denken, er entspringt aber nicht aus dem Denken. Er ist unmittelbar gesellschaftlicher Natur, hat seinen Ursprung in der raumzeitlichen Sphäre zwischenmenschlichen Verkehrs. Nicht die Personen erzeugen diese Abstraktion, sondern ihre Handlungen tun das, ihre Handlungen miteinander“ (Sohn-Rethel 1989, S. 12). Abstraktionen wie Wert, Ware, aber auch abstrakte Arbeit, Geld usw. haben in der Wertkritik einen „kategorialen Status“ inne, weil sie zentrale Formprinzipien der kapitalistischen Gesellschaft darstellen. Sie bestimmen das gesamte gesellschaftliche Leben bis hinein ins subjektive Denken, Handeln und sogar Fühlen. Es gibt aber natürlich noch zahlreiche andere Abstraktionen, die zwar vielleicht keinen „kategorialen Status“ für sich beanspruchen können, weil sie von den genannten kapitalistischen Kategorien bloß abgeleitet und damit vermittelt, deshalb aber noch nicht irrelevant sind. Eine sehr wesentliche Abstraktion, die hier genannt werden könnte und die in engem Zusammenhang mit der abstrakten Arbeit steht, ist etwa die „abstrakte Zeit“ (Czorny 2017). Eske Bockelmann (2012) hat in seinem Buch Im Takt des Geldes die Entstehung des Taktrhythmus in der neuzeitlichen Musik ab dem 17. Jahrhundert überzeugend mit der Ausbreitung der Geldwirtschaft und der davon ausgehenden bzw. für ihre Reproduktion erforderlichen Abstraktionsleistungen in Verbindung gebracht. Ähnliches hat Claus Peter Ortlieb mit Blick auf die Entstehung der mathematischen Naturwissenschaft herausgearbeitet (Ortlieb 1998). Und Vergleichbares könnte eben – sozusagen als Teilaspekt jener modern-naturwissenschaftlichen Entwicklung – für die bei Aumercier im Mittelpunkt stehende „Energieabstraktion“ geltend gemacht werden. Man mag kritisieren, wenn Aumercier in ihrem Eifer, die Energieabstraktion als relevantes und bisher noch nicht adäquat berücksichtigtes Problem in den wertkritischen Fokus zu rücken, sich dazu hinreißen haben lassen sollte, diese auf dieselbe begriffliche Ebene von kapitalistischen Kategorien wie Wert oder abstrakte Arbeit zu stellen (wofür man möglicherweise auch manchen Beleg in ihren Texten finden kann). Ungleich problematischer ist es jedoch, auf diese Weise wie Meyer die Energieabstraktion als solche mitsamt den daraus resultierenden Implikationen einfach in einem Handstreich vom Tisch zu wischen und für gegenstandslos zu erklären.
Es ist beeindruckend, mit welcher Offenheit Meyer in obigem Zitat sein krasses Unverständnis gegenüber den in der Energieschranken-Debatte aufgeworfenen Fragen demonstriert und dabei ganz nebenbei seine eigene theoretische Regression bloßlegt, die er doch eigentlich an seinen Kontrahenten festzustellen meint. Er wählt ausgerechnet das Beispiel einer Sonde, um anhand dieses Beispiels zu widerlegen, was ohnehin niemand (auch Aumercier nicht) behauptet hat: Hätte Energie denselben „kategorialen Status“ wie abstrakte Arbeit oder wäre physikalische Arbeit dasselbe wie abstrakte Arbeit, dann würde eine Sonde, „die am Jupiter vorbeiflöge, um Schwung zu holen, […] abstrakte Arbeit verrichten bzw. an ihr würde abstrakte Arbeit vom Jupiter verrichtet werden“. Dass das Humbug ist, weiß Meyer selber, denn es geht ihm ja gerade darum, seine Kontrahenten als so verblödet und theoretisch heruntergekommen hinzustellen, dass sie dergleichen ernsthaft behaupten würden. Nun vermögen gewiss weder eine Sonde noch ein Planet abstrakte Arbeit zu leisten. Eine Sonde verfügt aber über gewisse andere Eigenschaften, und mit diesen kämen wir endlich (wieder einmal) zum Kern der Sache, von der Meyer jedoch partout nichts wissen will: Eine Gesellschaft, die Sonden ins Weltall schießt, muss ein entsprechend hohes technologisches und damit auch „energetisches“ Niveau erreicht haben, um die Herstellung und den Betrieb der Sonden sowie all der dafür notwendigen technischen Systeme und Infrastrukturen zu gewährleisten. Dieses technologische und energetische Niveau müsste auch eine hypothetische „postkapitalistische“ Gesellschaft aufrechterhalten, sollte sie an der Erforschung des Weltraums als einem erstrebenswerten „Menschheitsziel“ festhalten wollen. Dass eine solche postkapitalistische Gesellschaft nicht mehr durch abstrakte Kategorien wie Wert, Geld oder Kapital angetrieben würde und gesellschaftliche Tätigkeiten, wie im konkreten Fall die Erforschung des Weltraums, keinen Verwertungszwängen mehr unterlägen, änderte nichts an den technischen und energetischen Voraussetzungen dieser Tätigkeiten. Denn dies sind Voraussetzungen, die durch die materiellen Eigenschaften der Dinge, der Technologien und Infrastrukturen gesetzt sind. Der gesamtgesellschaftliche Energie- und Ressourcenaufwand mag in einer postkapitalistischen Gesellschaft bereits per se erheblich geringer sein als heute, weil mit dem Zwang zur Wertverwertung auch die Tendenz zur Überproduktion und zur massenhaften Erzeugung von Technikmüll sowie von allerhand weiteren bestenfalls sinnlosen, oft genug aber auch destruktiven Warensorten verschwände. Die Ressourcen könnten und würden daher weit gezielter und „effizienter“ für solche Zwecke eingesetzt werden, die diese Gesellschaft für sinnvoll oder notwendig erachtet. Es bleibt dann aber immer noch die Frage, wie umfassend und breit jene Definition des „Sinnvollen“ und „Notwendigen“ ausfällt, und diese muss längst nicht die Erforschung des Weltalls beinhalten, um bereits enorme Anforderungen hinsichtlich technologischer Entwicklung, Ressourcenaufwand und energetischem Umsatz an ein Gemeinwesen zu stellen. Alleine Meyer fallen, wie in meinem ersten Aufsatz ausführlich dargelegt, zahlreiche Dinge und Techniken ein, die er für eine postkapitalistische Gesellschaft als geradezu unverzichtbar erachtet und die allesamt in materieller Hinsicht in hohem Maße voraussetzungsreich sind – vor allem, wenn man diese nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit und in ihren komplexen strukturellen Verschränkungen und Vernetzungen betrachtet. Von Koniczs Utopien eines digitalen Hightech-Kommunismus ist dabei noch gar keine Rede. Berücksichtigt sind an dieser Stelle bislang wohlgemerkt auch nur die vielfältigen und enormen technologischen, infrastrukturellen und energetischen Anforderungen, dem der von Meyer und Co. anvisierte Postkapitalismus zu genügen hätte. Noch gar nicht angesprochen sind damit die weitreichenden, von technischen Großsystemen und Infrastrukturen auf die Menschen ausgeübten Zwänge und Freiheitseinschränkungen, deren Beseitigung unter dem Gesichtspunkt der „Emanzipation“ ja ebenfalls nicht zu gering zu gewichten wäre, und die vor allem von Industrie- und Technikkritikern wie Ivan Illich in den Fokus gerückt werden (vgl. abermals Illich 1980).
Letztlich kann sich Meyer winden und wenden, wie er will. Schon allein das von ihm gewählte Beispiel der Sonde veranschaulicht, wie beschränkt sein Denken bei diesem Thema ist. Denn es geht nun einmal und ging auch niemals darum, ob Energie dasselbe wie abstrakte Arbeit sei oder auf derselben Stufe damit stehe. Genauso wenig ging und geht es darum, modernen Technologien ihre potentielle Nützlichkeit für ein postkapitalistisches Gemeinwesen per se abzusprechen oder sie gar pauschal zu verwerfen, bloß weil sie im und durch den Kapitalismus entwickelt wurden. Worum es geht, ist, dass Technologien, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, ein mit der Produktivität und dem durch die Wertproduktion angetriebenen technologischen Fortschritt gewachsenes energetisches Niveau voraussetzen, das für eine Gesellschaft, die sich einmal vom Kapital emanzipiert haben soll, schlichtweg nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Die energetische Dimension stellt daher ein wesentliches Kriterium dar im Hinblick auf die Frage, welche Techniken, Praktiken oder Produktionsmittel die Abschaffung des Kapitalismus überdauern könnten oder dies überhaupt sollten. Sie schränkt damit zwangsläufig auch die Möglichkeiten ein, konkrete Technologien und Produktionsmittel allein am Kriterium ihrer Nützlichkeit für eine „emanzipierte“ Gesellschaft zu beurteilen und quasi nach dem Motto „die guten ins Töpfchen, die schlechten in Kröpfchen“ zur „sortieren“ und zu „selektieren“. Denn was ins „Töpfchen“ und was ins „Kröpfchen“ wandert, wird auch und vielleicht sogar vorrangig davon abhängig zu machen sein, ob der Weiterbetrieb der jeweiligen Systeme und Technologien punkto Energie- und Ressourcenaufwand überhaupt möglich und, wenn ja, ob dieser gesellschaftlich und/oder ökologisch vertretbar ist. Was im Einzelnen daraus folgt, hätte auf unterschiedlichen Ebenen Gegenstand eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses zu sein und kann schwer im Vorhinein bestimmt werden. Auch setzt ein solcher Diskussions- und Verständigungsprozess eine hinreichende Kenntnis der jeweiligen Technologien, (Energie-)Systeme und Infrastrukturen in ihren mannigfachen Vernetzungen voraus, wird also auch nicht allein kritischen Gesellschaftstheoretikern überlassen bleiben können.
Die aus dem von Aumercier aufgeworfenen „Energieproblem“ resultierenden Implikationen und Herausforderungen für eine emanzipatorische Gesellschaftskritik kann man einsehen oder auch nicht. Wer jedoch meint, es sich so leicht machen zu können wie Meyer, der mit allen möglichen (und unmöglichen) pseudotheoretischen Konstruktionen aufwartet, um schlussendlich, in Ermangelung tragfähiger Gegenargumente, bei der nackten Denunziation Zuflucht zu suchen, hat sich als einigermaßen ernstzunehmender Gesellschaftstheoretiker endgültig disqualifiziert.
Literatur
Aumercier, Sandrine (2023): Die Energieschranke des Kapitals. Technikkritik als Kapitalismuskritik, Zürich.
Aumercier, Sandrine (2025): L’abstraction-valeur et l’abstraction „énergie“, grundrissedotblog.wordpress.com
Bockelmann, Eske (2012): Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens (Neuausgabe), Springe.
Czorny, Bernd (2017): Das Verständnis von Zeit in der Vormoderne und in der Moderne unter Bezugnahme auf Postone, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 14, S. 213-238.
Illich, Ivan (1980): Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Reinbek bei Hamburg.
Jappe, Anselm (2023): Revolution gegen die Arbeit? Wertkritik und die Überwindung des Kapitalismus, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)
Jappe, Anselm (2024a): Von Mixern und Sozialdarwinisten. Ein Kommentar zu Andreas Urbans Bemerkungen anlässlich der EXIT-Kritik an Sandrine Aumercier, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)
Jappe, Anselm (2024b): Lebendiges und Totes in der Wertkritik. Einige kursorische Thesen zum Stand der Wertkritik heute, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)
Jappe, Anselm (2024c): Ein diffiziler Begriff. Fetischismus bei Marx, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)
Konicz, Tomasz (2020): Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört, Wien/Berlin.
Kurz, Robert (2004): Tabula Rasa. Wie weit soll, muss oder darf die Kritik der Aufklärung gehen?, in: ders.: Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef, S. 89-152. (Neuabdruck 2024 in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 21, S. 137-192)
Levich, Jacob (2018): Disrupting global health. The Gates Foundation and the vaccine business, in: Parker/García (Hg.): Routledge Handbook on the Politics of Global Health, London, S. 704-742.
Marx, Karl (1986/1867): Das Kapital, Bd. 1 (MEW 23), Berlin.
Meyer, Thomas (2024a): Tabula Rasa der modernen Technik? Nachtrag und Ergänzung zu den „Artefakten der Geschichte“ und der „Energieschranke des Kapitals“, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 21, S. 193-221.
Meyer, Thomas (2024b): Ignoranz oder Realität?, exit-online.org
Ortlieb, Claus Peter (1998): Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft, in: Krisis 21/22, S. 15-51, online verfügbar unter exit-online.org
Scholz, Roswitha (2024a): Eine Metatheorie der Verschwörungstheorien? Eine Replik auf Sandrine Aumerciers Überlegungen zu Auseinandersetzung um Corona – bei exit!, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 21, S. 229-244.
Scholz, Roswitha (2024b): Wertkritik nach Altherrenart. Bemerkungen zum Linkskonservativismus Anselm Jappes, exit-online.org
Sohn-Rethel, Alfred (1989): Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte (revidierte und ergänzte Neuauflage), Weinheim.
Urban, Andreas (2023): Ein altbekanntes Syndrom. Zur Ersetzung inhaltlicher Kritik durch Denunziation im wert-abspaltungskritischen Sektenwesen, wertKRITIK.org
Urban, Andreas (2024): Wie weit darf „tabula rasa“ gehen? Anmerkungen zur Diskussion um Sandrine Aumerciers Die Energieschranke des Kapitals, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)
Endnoten
[1] Apropos Gewährsleute: Meyer berief sich in seiner Kritik an Aumercier sogar mehrfach auf Bill Gates. Das ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil es ein bezeichnendes Licht darauf wirf, was alles bei EXIT heute für eine kompetente und objektive Expertise gehalten wird, sondern auch eingedenk der Reflexhaftigkeit, mit der etwa in der Corona-Debatte bei nahezu jeder Gelegenheit und abgehoben von jeglichen Inhalten eine Kontaktschuld konstruiert wurde, wenn einschlägige maßnahmenkritische Quellen auch nur gestreift wurden, um auf dieser Grundlage die Denunziation von „Corona-Kritikern“ auch innerhalb der Wertkritik als „Querdenker“, „rechts“ und „sozialdarwinistisch“ zu rechtfertigen. Ein milliardenschwerer „Philanthrop“ und Schirmherr diverser, für ihre „disruptiven“ Methoden u.a. im Gesundheitsbereich (vgl. Levich 2018) bekannten Stiftungen soll aber in wertkritischen Kontexten ohne Weiteres zitabel sein?
[2] Wobei hier aber der Vollständigkeit halber erwähnt werden muss, dass in vormodernen Kulturen auch eine historisch belegte Praxis der Tötung von Neugeborenen und Kindern in Notzeiten bestand. Es gibt also keinen Grund, vormoderne Formen der „Geburtenkontrolle“ zu beschönigen oder gar zu romantisieren. Das an dieser Stelle im Mittelpunkt stehende Argument, dass in vormodernen Sozietäten – anders als im entwickelten Kapitalismus – „Bevölkerungs“- bzw. Gruppengröße und Erfordernisse der materiellen Reproduktion in der Regel in einem entsprechenden Verhältnis zueinander standen, wird dadurch allerdings nicht angefochten.
[3] Der hier angeführte Artikel von Roswitha Scholz über den von ihr herbeihalluzinierten „Linkskonservativismus Anselm Jappes“ ist übrigens nur ein weiterer Tiefpunkt theoretisch bankrottierender EXIT-Publizistik, der eine ausführlichere Auseinandersetzung kaum lohnt. Er beweist lediglich einmal mehr, dass aus diesen Kreisen nicht einmal mehr auf polemischer Ebene irgendetwas Neues zu erwarten ist und nur noch müde die Gebetsmühle aus Kurz- und Scholz-Zitaten abgespult wird.
[4] Anselm Jappe etwa spricht in seinen Texten, wenn von abstrakter Arbeit die Rede ist, praktisch durchgängig von der „abstrakten Seite der Arbeit“ (z.B. Jappe 2023, S. 2; 2024b, S. 6; 2024c, S. 13). Was auf den ersten Blick wie eine sprachliche Marotte erscheinen mag, hat seinen Sinn genau darin, dass auf diese Weise stets der Doppelcharakter der Arbeit als zugleich „abstrakte“ und „konkrete“ präsent gehalten wird.