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Anselm Jappe


Von Mixern und Sozialdarwinisten

Ein Kommentar zu Andreas Urbans Bemerkungen anlässlich der EXIT-Kritik an Sandrine Aumercier

 


In seinem Text[1] verteidigt Andreas Urban die Grundthesen von Sandrine Aumerciers Buch Die Energieschranke des Kapitals gegen die Angriffe von Roswitha Scholz und Thomas Meyer, Mitglieder der EXIT-Redaktion, und stellt den völlig unsachlichen und sektiererischen Charakter dieser Attacken dar. Inhaltlich betont Urban, sehr zu Recht, dass das Buch oft unnötig weitschweifig ist und naturwissenschaftlichen Erörterungen, vor allem zur Thermodynamik, zu viel Raum gibt. Aber er unterstreicht, dass Aumercier einige sehr wichtige Punkte herausgearbeitet hat, denen bis jetzt nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Einerseits die gefährliche Beschränktheit von Ausführungen wie die eines Tomasz Konicz, der das Problem der Umweltkatastrophe auf die Frage der fossilen Brennstoffe beschränken will und meint, mit alternativen Energien und ökologischem Wandel im Sinne des Green New Deal, wie ihn die EU vorantreibt (oder bis vor kurzem vorantrieb), sei das Wesentliche erreicht, und der darüber hinaus von einem „digitalen Kommunismus“ kybernetischer Art träumt. Sie erwähnt außerdem zu Recht einige Schwächen und Inkonsequenzen in den Äußerungen, die andere Krisis- und EXIT-Autoren, auch Robert Kurz selber, im Lauf der Jahre zum Verhältnis von Technologie[2], Kapitalismus und Umweltzerstörung gemacht haben.


Die Bedeutung von Aumerciers Buch liegt aber vor allem darin, dass sie sehr klar eine weitverbreitete Illusion als solche aufdeckt. Sowohl Kurz als auch Norbert Trenkle[3] wie auch viele andere Personen, und nicht nur im wertkritischen Spektrum, lehnen zwar einerseits das blinde Vertrauen in „die Technik“ ab (das sich ja nun heute wirklich nicht mehr vertreten lässt), aber kritisieren genauso eine „abstrakte“ Ablehnung moderner Technologien, die ihrer Meinung nach ebenso blind gegenüber den jeweils konkreten Inhalten der einzelnen Techniken sei und deshalb, genau wie der Wert, alles über einen Kamm schere. Nach dem Ende der Warengesellschaft – wie auch immer dieser Ausstieg zuwege gebracht werden soll – würde eine befreite und von „sinnlicher Vernunft“ geleitete Menschheit, die nicht mehr ihre Produkte fetischistisch als bloße Träger akkumulierter Arbeit und deshalb von Wert behandelt, diese gemäß ihren konkreten Eigenschaften benutzen und sich jedes Mal fragen, ob der Aufwand an menschlicher Energie und an Ressourcen sowie die eventuellen Folgeschäden die Produktion des jeweiligen Gutes rechtfertigen.


Scheinbar eine sehr vernünftige Herangehensweise, die es außerdem ermöglicht, radikale Technik-, Fortschritts- und Industriekritik als „genauso abstrakt“ wie die offizielle Technik-, Fortschritts- und Industrieidolatrie zu bezeichnen. Die Auswahlkomitees der emanzipierten Menschheit werden schon zwischen dem Helikopter zu Rettungseinsätzen und der Atomenergie zu unterscheiden wissen!


Aumercier beweist, ins Einzelne gehend, eine Tatsache, die eigentlich völlig offensichtlich ist, aber in den entsprechenden Diskussionen fast immer ausgeblendet wird: Kein technologisches Produkt, jedenfalls keines, das auf elektrischer Energie oder fossilen Brennstoffen beruht, kann isoliert betrachtet werden. Es muss stets die ganze Kette der Voraussetzungen und der Folgen jedes einzelnen Produkts in Betracht gezogen werden. Was z.B. den elektrischen Küchenmixer angeht – der wohl selten so viel Aufmerksamkeit seitens gestrenger Theoretiker erfahren hat! – kann dieses scheinbar harmlose und nützliche Produkt nicht existieren ohne die gesamte Industrieproduktion – unabhängig davon, in welcher gesellschaftlichen Ordnung diese stattfindet. Auch in einer vom Wert befreiten Gesellschaft müssen irgendwo Leute sich der höchst unangenehmen Aufgabe unterziehen, unter der Erde nach den Rohstoffen zu suchen, die für die Herstellung eines Mixers erforderlich sind. Ebenso wie es keinen Gebrauch der Informatik geben kann, der nicht enorm viel Energie verschlingt und der gleichzeitig den wenigen Menschen („Experten“), die deren Funktionieren überhaupt verstehen können (oder wollen), eine riesige Macht verleiht.


Es ist also eine große Naivität, zu glauben, man könne sich eines Tages einfach hinsetzen wie die Kinder vor einen Berg Spielzeug, jede Technik in die Hand nehmen, abwägen, ausdiskutieren und schließlich, wie Aschenputtel, die guten ins Töpfchen und die schlechten ins Kröpfchen werfen, um dann am Ende nur noch mit den „guten“ Techniken zu verbleiben. So einfach wäre das!


Die Vertreter dieser Ansicht sind im Grunde immer der Meinung geblieben, Technik sei etwas „Neutrales“, und es komme nur darauf an, wer sie wie anwendet. An die „sozialistischen Kernkraftwerke“ glauben zwar diese „Kritiker der Produktivkraftkritik“[4] nicht mehr, aber ansonsten scheint fast jede Technik in einer vom Warenwert befreiten Gesellschaft zumindest diskutabel zu sein. Die paläomarxistische Vorstellung von den „Produktivkräften, die die Produktionsverhältnisse sprengen“ ruht weiterhin auf dem Grunde der Seele der meisten Kapitalismuskritiker, wie radikal diese auch sonst sein mögen.


In der Tat ist in der Wertkritik die Technik (oder Technologie) fast nie als eigenständige Ebene der Fetischvergesellschaftung behandelt worden, also als ein anonymes und automatisches System, das die Menschen selber schaffen, ohne es zu wissen, und das ihnen hinter ihrem Rücken seine Logik auferlegt. Diejenigen Autoren, die diese Verselbständigung der Technik herausgearbeitet haben, wie Jacques Ellul, Günther Anders, Ivan Illich oder Lewis Mumford, wurden in der Wertkritik entweder völlig ignoriert oder als „reaktionär“ abgekanzelt. Sicher, es fehlt bei diesen Autoren die kategoriale Kritik von Arbeit und Wert, Ware und Geld, also die Kritik der politischen Ökonomie, und das beschränkt die Reichweite ihrer Theorien. Aber dafür erkannten und behandelten sie Problemebenen, die nicht nur beinah alle Marxisten, sondern weitgehend auch die Wertkritik völlig übersehen hatten. Es wäre viel angebrachter gewesen, ihre Problemstellungen in die Wertkritik einzuarbeiten und zu beschreiben, wie sich in der Moderne die Technik und die Wertakkumulation durch abstrakte Arbeit als gleichgewichtige Faktoren – als die zwei Seiten der Fetischkonstitution – gegenseitig beeinflusst haben und zusammen die „Megamaschine“ bilden. Wertkritik und Technologiekritik bilden gewissermaßen die zwei Hälften eines Diskurses, die unabhängig voneinander entstanden sind, aber zusammengefügt werden müssen, um ein vollständiges Bild der kapitalistischen Moderne zu erhalten.


Das kann jetzt nicht weiter ausgeführt werden. Hier soll nur eine spezifische Frage behandelt werden. Am Ende seines Kommentars wirft Urban eine entscheidende Frage auf, auf die auch Aumercier selbst keine klare Antwort gibt. Wenn die Technik nicht „neutral“ ist, sondern eng mit der Wertvergesellschaftung und ihrem Verwertungszwang verflochten ist, dann ist es unmöglich, nur aus dem Kapitalismus unter Beibehaltung des modernen Technikniveaus auszusteigen, oder nur aus der Industriegesellschaft auszusteigen unter Beibehaltung des Kapitalismus.[5] An diese Notwendigkeit einer doppelten Emanzipation vom „automatischen Subjekt“ des Werts und vom „automatischen Subjekt“ der Technologie muss ständig erinnert werden, sowohl gegenüber den Marxisten, einschließlich der Wertkritik, als auch gegenüber aller reinen Technologiekritik, radikaler Ökologie, Décroissance usw. Urban fragt sich, ob eine generelle drastische Reduzierung des Technologieniveaus – also ein Ausstieg aus der Industriegesellschaft – auf dem heutigen Stand der Technologieentwicklung und der Vernetzung der technischen Systeme überhaupt möglich sei, und was das für das Projekt eines Ausstiegs aus der Warengesellschaft bedeutet. „Es könnte eher sogar, umgekehrt, sein, dass das technologische ‚Erbe‘ des Kapitalismus aufgrund der mittlerweile bestehenden Abhängigkeit der Menschheit vom Funktionieren technischer Großsysteme das kapitalismuskritische Ziel der ‚Emanzipation‘ überhaupt in Frage stellt“, schreibt er.[6] Einerseits wirft er das tatsächlich gravierende Problem der von den technischen Großsystemen ausgehenden „Ewigkeitslasten“ auf, zu denen u.a. die auf Dauer unumgängliche Endlagerung von Atommüll gehört. Hochspezialisierte technische Kompetenzen und komplizierte Gerätschaften werden leider nötig sein, um mit diesem Erbe (und vielen anderen) der Industriegesellschaft umzugehen. Da kann man ihm leider nur recht geben.


Andererseits behauptet Urban, dass eine Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen ohne den Beitrag von Technologien wie Kunstdünger und Traktoren nicht ernährt werden könne. Sonst würde man Hungerkatastrophen riskieren. Das ist sicher nicht wie bei EXIT gemeint, die aus dieser Vermutung heraus Aumercier sogar „Sozialdarwinismus“ und eine Nähe zu „rechten Ökokonzepten“[7] unterstellen. Aber das Argument ist trotzdem keineswegs überzeugend. Sicher, man muss kein „Malthusianer“ sein, um zu finden, dass acht Milliarden Menschen wirklich sehr viel sind. Die starke Zunahme der Bevölkerung ist nichts „Natürliches“, sondern eine Folge der weltweiten Verbreitung des Kapitalismus, der in jedem Land eine Phase durchgemacht hat, in der die Bevölkerung sich im Laufe weniger Jahrzehnte verdoppelte oder verdreifachte. Was heute in Afrika geschieht (und die Stammtischmalthusianer empört), ist im 19. Jahrhundert in Europa geschehen – und man war stolz darauf! Aber sofern man nicht auf fürchterliche Katastrophen setzt, die die Weltbevölkerung reduzieren werden, wie die Kollapsologen und Survivalists, wird man mit dieser Zahl leben müssen.[8] Wie der an sich richtige Gesichtspunkt des Ecological Footprint zeigt, kommt es aber nicht auf die abstrakte Zahl der Menschen an, sondern auf deren Ressourcenverbrauch. Und wo wäre nun dieser Ressourcenverbrauch geringer als bei einer Weltgesellschaft, die im Wesentlichen auf Landwirtschaft und Handwerk beruht? Gerade weil wir so viele sind, ist es unvorstellbar, dass alle weiterhin auf dem derzeitigen, von der Industrie bestimmten Niveau leben, und ist es unmöglich, alle mit Hilfe von Kunstdünger und Pestiziden zu ernähren, oder jeder Person einen Computer und ein Auto und eine Waschmaschine zu verschaffen.


Es braucht dabei nicht negiert zu werden, dass eine Bevölkerung in der heutigen Größe für eine postkapitalistische Transformation, in deren Rahmen auch das Technikniveau radikal reduziert werden müsste, ein Problem darstellt, und in der Tat hätte dies Gegenstand weiterer Diskussionen und Untersuchungen zu sein. Es gibt aber auch gute Gründe, anzunehmen, dass eine nicht-industrielle, klein strukturierte, mit geringem Technologieeinsatz betriebene Landwirtschaft nicht weniger, sondern vielleicht sogar mehr Menschen zu ernähren vermag als die heutige High-Tech-Agrarindustrie. Ein Hektar landwirtschaftlicher Boden, arbeitsintensiv, aber mit wenig Technik bewirtschaftet, verschafft einer Familie (oder einer kleinen Gruppe) schon einmal das Lebensnotwendige. Das bedeutet – und viele Studien beweisen es[9] –, dass selbst in den dichtbesiedelten Ländern Europas eine ungleich größere Zahl von Bauern leben könnte als es heute der Fall ist, wo die Durchschnittsgröße (jedenfalls in Frankreich) bei siebzig Hektar liegt! Die immer wieder, mittlerweile auch von den Regierungen, beschworene „Ernährungssouveränität“ ist durchaus möglich – aber eben nicht, indem einige zehntausend Großbauern mit Hilfe jeder Art von Technologie – von den Pestiziden bis zu riesigen „Wasserrückhaltebecken“ (mégabassines) – das ganze Land mit giftigen Lebensmitteln überschwemmen, sondern durch ein massives Kleinbauerntum. Hinzu kommt, dass eine Low-Tech-Kleinbauern-Landwirtschaft Flächen nutzen kann (z.B. auf Hängen), die die heutige industrielle Landwirtschaft vernachlässigen muss. Die Diskussion zu solchen Fragen scheint in Frankreich deutlich weiter fortgeschritten zu sein als anderswo.[10]


Gerade das wäre das Gegenteil eines Sozialdarwinismus. Angesichts von acht Milliarden Menschen und knappen Ressourcen sollten wir uns erst einmal auf das Wichtigste konzentrieren: allen das Essen zu verschaffen, und die lebensnotwendigen Gegenstände durch Handwerk. Selbstverständlich muss das auf einer egalitären Basis geschehen und mit der Abschaffung von Privilegien und Hierarchien einhergehen. Und natürlich ist ein neues Gleichgewicht von Stadt und Land nötig, also ein Rückfluss aufs Land. Städte mit zwanzig Millionen Einwohnern können unmöglich aufrechterhalten werden, und niemand wird ihnen nachtrauern. Auf diese Weise würden auch die globalen Migrationsströme weitgehend aufhören, weil das „Wohlstandsgefälle“ verschwände.


In dem Maße, in dem industrielle Produktionsweisen weiterhin nötig sein werden, sollten diese prioritär für die Befriedigung der Grundbedürfnisse in Landwirtschaft und Handwerk eingesetzt werden, also z.B. Energie für ein notwendiges Minimum an Elektrizität. Inwieweit auch dieses Minimum bereits mehr industrielle Strukturen verlangt, als in der hier beschriebenen Perspektive wünschenswert erscheint, ist eine unangenehme Frage, die ebenfalls diskutiert werden muss und eine sachlich fundierte Auseinandersetzung erfordert. An entweder der Knappheit oder der Schädlichkeit der Ressourcen und Energiequellen kann aber auch die Abschaffung des Kapitalismus nichts ändern.


Natürlich erhebt sich dann sofort das Geschrei, das sei „Dorfidylle“, reaktionär, würde die Menschen ihr Leben lang an die Scholle fesseln. Aber wieso? Eine arbeitsintensive Landwirtschaft muss keineswegs mit den traditionellen Familienbanden einhergehen, sondern kann auch in Form von selbstbestimmten Kollektiven vor sich gehen – die wiederum nicht unbedingt stets aus denselben Mitgliedern bestehen müssen. Eine Form von Umherziehen für diejenigen, die es wünschen, längere oder kürzere Zeit an einer Stelle zu bleiben, ist gut vorstellbar. Der englische Künstler, Schriftsteller und Anarchist William Morris hat eine solche Gesellschaft in seinem Zukunftsroman News from Nowhere (1890) entworfen. Man mag seine Utopie in mancher Hinsicht etwas naiv finden; aber als Leitfaden für eine emanzipierte Gesellschaft taugt sie sicher mehr als alle 3-D-Labors oder die Fieberträume der „Akzelerationisten“. Die emanzipatorische Kritik der Moderne unterscheidet sich gerade darin von der reaktionären, dass sie betont, dass eine (Teil-)Abschaffung der technischen „Errungenschaften“ der Moderne keineswegs eine Rückkehr zu vormodernen gesellschaftlichen Rollen bedeuten muss. Das unterschied schon William Morris von seinem Mentor John Ruskin.


Warum erfährt Aumerciers Buch bei EXIT keine kritische Diskussion, sondern wird nur wütend beschimpft? Das, was von EXIT noch übrigbleibt, ist zu einer Sekte heruntergekommen, die ihre Rolle als Nachlassverwalter von Robert Kurz schamlos ausnutzt, um einerseits endlos dieselben ewigen Weisheiten runterzuleiern, und andererseits jeden anzufallen, der um ein Haarbreit von ihrer selbst definierten Orthodoxie abweicht. In einer grotesken Parodie der „Zwei-Lager-Theorie“ des Kalten Krieges wird die Welt in zwei Lager geteilt: einerseits die EXIT-Redaktion, andererseits der Rest der Welt, der schon bei jeder Art von Wertkritik anfängt, die nicht genau die ihre ist. Und so wie früher jeder, der nicht Väterchen Stalin anbetete, zwangsläufig ein „Imperialist“, ein „Faschist“ oder ein „Trotzkist“ war, so ist nun jeder nicht EXIT-Konforme erstens ein „Antisemit“, zweitens ein „Querdenker“ und drittens ein „Sozialdarwinist“.[11]


Erwähnen wir nur nebenbei, dass der absolut inflationäre Gebrauch des Begriffs „struktureller Antisemitismus“, der auf alles und jeden angewandt werden kann, nur dazu beiträgt, den expliziten Antisemitismus zu verharmlosen: Wenn jeder ein Antisemit ist, dann ist es niemand mehr. Wenn jede Äußerung, die auch von rechts aus getan werden kann, aber aus ganz anderen Gründen, „Querdenkertum“ beweist, tut sich ein weites Feld auf. Was soll man dann dazu sagen, dass heutzutage fast die gesamte radikale Rechte in Europa und Amerika absolut Israel-freundlich ist? Oder dass EXIT-Positionen zu Gaza anscheinend denen der AfD ähneln?


Dazu kommt der ständige Vorwurf des „Sozialdarwinismus“. Wer im emanzipatorischen Lager will das schon sein? Aber auch hier verdrehen die EXIT-Autoren den Sinn der Worte, die sie gebrauchen, völlig. „Sozialdarwinistisch“ ist bei ihnen jeder, der den Sinn der Covid-Maßnahmen bezweifelt oder auf die Gewinne der Pharmaindustrie verweist. Aber auch die Kritik von Industrie und Technologie wird als sozialdarwinistisch gebrandmarkt, weil sie angeblich den Tod eines Teils der Menschheit in Kauf nimmt. Das Gegenteil von Sozialdarwinismus besteht bei EXIT offenbar in der unmittelbaren Verhinderung von Leiden konkreter Personen. Was natürlich an sich richtig ist – aber als alleinige Richtschnur für ein revolutionäres oder emanzipatorisches Handeln problematisch wird. Nicht nur ein Ausstieg aus der Industriegesellschaft, der laut EXIT verheerende Folgen für zahlreiche Menschen haben würde, ist risikoreich, sondern auch die Überwindung von Wert und Ware, Geld und Arbeit, Abspaltung und Staat – die doch immer noch den Horizont und das Ziel der wertkritischen Theoriebildung darstellt oder darstellen sollte! – wäre ein Sprung ins absolut Ungewisse. Ein Ende des Kapitalismus wird zweifelsohne mit gewaltigen Verwerfungen einhergehen, die unter anderem enorme Versorgungsschwierigkeiten und den Zusammenbruch vieler Dienstleistungen mit sich bringen, aber auch ein hohes Maß an direkter Gewalt. Eine derartige Umwälzung wird schwerlich einstimmig von allen Mitgliedern der Weltgesellschaft beschlossen und in gutem Einvernehmen durchgeführt werden. Der bloße Versuch wird, wie immer schon in der Geschichte, auf heftige und gewalttätige Reaktionen seitens der Verteidiger des Systems treffen, die ihrerseits Gegengewalt hervorrufen. Wenn man von vorneherein sicher sein will, dass niemand zu Schaden kommt, darf man keinen Umsturz wagen. Dann hätte man 1789, 1848, 1917, 1936 oder den europäischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs gar nicht erst anfangen dürfen. Man sollte sich dann lieber darauf beschränken, die Opfer des Systems zu trösten und ihnen die Wunden zu verbinden. Natürlich bedeutet ein solcher Verzicht aufs Handeln, dass das Elend stets weitergeht und am Ende noch mehr Opfer fordert, als das eigene Einschreiten vielleicht gekostet hätte. Bei dem Verweis auf mögliche Opfer handelt sich oft um eine moralische Erpressung, ähnlich derjenigen, die gegenüber Kritikern der Gentechnologie angewandt wird: Diese oder jene Gentechnologie, so heißt es, könne eine seltene genetische Krankheit heilen, und nur ein Unmensch könne den im Fernsehen vorgeführten Kranken („Telethon“) die Chance verweigern, doch noch geheilt zu werden dank den „Fortschritten der Medizin“.


In Wirklichkeit hat diese Haltung, die lieber die Opfer tröstet als Risiken eingeht, damit sie keine Opfer mehr sind, einen Namen: Nächstenliebe, oder Caritas – die eine der wichtigsten christlichen Tugenden ist. Und das steht voll und ganz im Einklang mit der Orientierung, die EXIT seit Jahren eingeschlagen hat.




Endnoten


[1] Urban, Andreas (2024): Wie weit darf „tabula rasa“ gehen?, wertKRITIK.org


[2] „Technik“ und „Technologie“ sind nicht dasselbe. Aber da es sehr unterschiedliche Definitionen dieses Unterschiedes gibt und diese hier nicht diskutiert werden können, benutzen wir diese Begriffe als äquivalent. Jedenfalls sind Begriffe wie „Technophobie“ eigentlich unsinnig, denn man kann nicht gegen die „Technik“ als solche sein, da auch ein Faustkeil oder Bierbrauen oder ein Kaminfeuer „Techniken“ sind – aber eben keine Technologien.


[3] Z.B. in „Arbeitskritik und soziale Emanzipation. Eine Replik auf Kritiken am Manifest gegen die Arbeit“, in: Krisis 28, Oktober 2004.

[4] „Kritische Anmerkungen zur neuen Produktivkraft-Kritik und Entgesellschaftungs-Ideologie“ war der Untertitel von Kurz’ großem Artikel „Die Herrschaft der toten Dinge“ in Marxistische Kritik Nr. 2 und Nr. 3, 1986-1987.


[5] Solche Diskussionen mögen erst einmal völlig irreal wirken – oder wie ein Streit um die Haut des noch zu erlegenden Bären –, da zurzeit weder die Abschaffung des Kapitalismus noch die der Industriegesellschaft auf der Tagesordnung zu stehen scheinen. Trotzdem ist es wichtig, zu entscheiden, in welche Richtung sich emanzipatorische Kräfte auch zu Einzelfragen bewegen sollen – z.B. hinsichtlich der von vielen Ökofeministinnen befürworteten Subsistenzproduktion.


[6] Urban, a.a.O., S. 23f., wertKRITIK.org (Druckversion)

[7] Scholz, Roswitha (2024): Eine Metatheorie der Verschwörungstheorien? Eine Replik auf Sandrine Aumerciers Überlegungen zur Auseinandersetzung um Corona – bei exit!, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 21, S. 235


[8] Selbst ein „friedlicher“ Bevölkerungsrückgang durch eine niedrigere Geburten- als Sterberate – wie er sich bereits in manchen europäischen Ländern abzeichnet – hätte einen großen Nachteil: eine „überalterte“ Bevölkerung, in der Kinder und junge Leute eine Seltenheit wären. Traurige Vorstellung! Aber wie jemand bemerkt hat: Jeder Wirt weiß, dass sein Gewinn nicht nur von der Zahl der eintreffenden Gäste abhängt, sondern auch davon, wie lange sie bleiben – je schneller sie wieder gehen, desto besser! Aber diesen Gedanken hegen die, oft betagten, Stammtischmalthusianer natürlich nie.


[11] EXIT betont gerne die Berechtigung auch scharfer Polemik beim Zusammenprall der Ideen. Damit sind wir durchaus einverstanden; wir sind nicht für Harmonie und Nettigkeit. Aber es besteht ein Unterschied ums Ganze zwischen argumentierender Polemik, wie wir sie hier betreiben, und reinem Gezeter und dem gebetsmühlenartigen Abspulen immer derselben Muster, wie wir sie bei Scholz’ wirrer und abgehackter Prosa finden. Vielleicht täte ihr ein Erholungsaufenthalt auf dem Land gut. In Anspielung auf Maria Mies’ Buch könnte man „Eine Kuh für Roswitha“ vorschlagen.