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Anselm Jappe


Lebendiges und Totes in der Wertkritik

Einige kursorische Thesen zum Stand der Wertkritik heute



Vor 38 Jahren, 1986, erschien die erste Nummer von Marxistische Kritik (später in Krisis umbenannt) und begann die Erarbeitung der Wertkritik. Anfangs auf kleine Kreise beschränkt, erreichte sie einen „Durchbruch“ in der Öffentlichkeit mit der Veröffentlichung von Robert Kurz’ Der Kollaps der Modernisierung (1991). Das Interesse wuchs rasch, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch in anderen Ländern, anfangs vor allem in Brasilien. Als ich 1994 die ersten Texte von Kurz bei einem italienischen Verlag veröffentlichte, schien es mir keineswegs übertrieben, im Vorwort zu behaupten, man würde in naher Zukunft von einer „Nürnberger Schule“ sprechen, so wie man seit langem von der „Frankfurter Schule“ spricht.


Die Voraussage hat sich als falsch erwiesen.


Die Wertkritik, oder Wert-Abspaltungskritik, ist überall auf dem Status einer Sekte stehengeblieben, oder darauf zurückgefallen – vergleichbar mit dem Bordigismus in Italien oder der Marxistischen Gruppe in Deutschland. Zwar gibt es mehrere spezifisch wertkritische Zeitschriften in Deutschland, Österreich und Frankreich, einen Verlag in Frankreich, der sich nur der Wertkritik widmet, zahlreiche Homepages, viele Übersetzungen vor allem von Kurz’ Schriften. Aber es ist unübersehbar, dass die „marxistischen Dinosaurier“, von deren baldigem Aussterben die Wertkritik in den neunziger Jahren überzeugt war, weiterhin (oder wieder) den Teil des linksradikalen Spektrums beherrschen, das sich überhaupt noch auf Marx bezieht. Die alten Glorien dominieren weiterhin in Kolloquien, Zeitschriften, Universitätskursen, Summer Schools: Immer ist die Rede von Louis Althusser und Jacques Rancière, Toni Negri und David Harvey, Slavoj Žižek und Alain Badiou, vom italienischen Operaismus oder sogar der Russischen Revolution; oder von Autoren, die sich gar nicht als Marxisten verstanden bzw. verstehen, wie Gilles Deleuze, Michel Foucault, Giorgio Agamben oder Judith Butler. Selbst Michael Heinrich hat sich ein internationales Publikum erobert. Wer z.B. die angesehene britische Zeitschrift Historical Materialism durchblättert, die beansprucht, allen Arten von Marxismus Raum zu geben, und deren jährliche Konferenzen, wo stets Hunderte von Vorträgen gehalten werden, besucht, findet dort beinah nie Bezüge auf die deutsche Wertkritik. Moishe Postone hat dort hingegen ein gewisses, bescheidenes Bürgerrecht[1] – aber weder Kurz noch andere Krisis- oder EXIT-Autoren.[2]


Nun wäre das eigentlich durchaus zu „verschmerzen“. Die Wertkritik hat sich von Anfang an ausdrücklich als nicht-akademische Strömung definiert. Unter ihren Gründern und späteren wichtigen Mitarbeitern befanden sich keine Universitätslehrer (außer Claus Peter Ortlieb, der Mathematik lehrte), aber auch keine Journalisten oder Leute, die in Medien Einfluss hatten – und natürlich erst recht keine Politiker. Wie Kurz selber sagte: Die Wertkritiker waren die „Straßenhunde“ der Gesellschaftskritik und wollten es sein. Und gerade diese selbstgewählte Außenseiterposition machte die Wertkritik für mehr als einen attraktiv. Wie sehr hatte doch die Akademisierung seit Jahrzehnten zur Banalisierung und „Verhausschweinung“ der Sozialkritik beigetragen! Wie paradox ist es, sich vom Staat dafür bezahlen zu lassen, ihn zu kritisieren, institutionelle Karrieren auf der Verbreitung angeblich revolutionärer Inhalte zu bauen und Studenten zu benoten gemäß ihrem Verständnis der Kapitalismuskritik! Der Radikalität des Inhalts tut es sicher gut, nichts mit dem Staat und den großen Medien zu tun zu haben – existierte doch der Marxismus, bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus, in seinem „goldenen Zeitalter“ (Kolakowski), überhaupt nicht an den Universitäten. Ein anderes Beispiel dafür, dass sich eine kritische Theorie des Kapitalismus auch ohne jede Präsenz in Universitäten, Institutionen oder Mainstreammedien Gehör verschaffen kann, nämlich bloß durch die Qualität ihrer Analysen und eventuellen Aktionen, war die Situationistische Internationale (1957-1972) und ihr Vordenker Guy Debord.


Mit der Wertkritik lässt sich kein Staat machen, keine Karriere einschlagen, keine Fördergelder erhalten, weder vor 38 Jahren noch heute. Opportunisten haben der Wertkritik schnell wieder den Rücken zugekehrt. Aber für diese, vollkommen richtige, Haltung hat die Wertkritik einen hohen Preis gezahlt. Denn damit ist auch eine enorme Resonanzmöglichkeit verlorengegangen, auf die beinah keine andere Strömung des Marxismus verzichtet hat. An den Universitäten sind es oft gerade die Marxisten und anderweitig „Linken“, die ihr sowieso schrumpfendes Gärtchen verteidigen und keine Konkurrenz auf ihrem eigenen Feld zulassen – umso mehr, als heftige Angriffe auf den Traditionsmarxismus stets zur Grundausstattung der Wertkritik gehörten. Die Wertkritik hätte durchaus das Potential, ein neues Paradigma für die Humanwissenschaften zu werden – gerade auf Gebieten wie der Sozial-, Literatur- und Kulturgeschichte, aber auch der Geschichte der Arbeit und des Widerstandes dagegen. Aber diese Möglichkeit hat sich nur selten verwirklicht.


Es gibt natürlich eine zweite Resonanzmöglichkeit für Gesellschaftskritik, die zumindest deren radikalen Ausprägungen eigentlich viel näher stehen müsste: die sozialen Bewegungen jeder Art, der Aktivismus, der praktische Kampf gegen den Kapitalismus.[3] Den Leuten, die wirklich etwas bewegen wollen, die Theorie zu liefern, war bereits Marx’ und Engels’ Absicht, und sie haben keine Seminare an der Universität abgehalten, sondern die Internationale Arbeiterassoziation gegründet. Aber die Wertkritik bestand von Anfang an darauf – und das gehört zu ihrer Essenz –, dass die Theorie nicht die „Dienerin“ der Praxis sein dürfe. Es gehe auf keinen Fall darum, den sozialen Bewegungen hinterherzulaufen und ihnen zu erklären, was sie sowieso schon machen, sondern im Gegenteil darum, deren Unzulänglichkeiten aufzuzeigen und sie dazu anzuregen, radikaler zu werden und die ganze Vergesellschaftung über Wert, Arbeit und Geld in Frage zu stellen. Dieses Vorgehen ist richtig, wichtig und mutig. Man kann nicht die Konstitution des warenförmigen Subjekts kritisieren, wenn man gleichzeitig in jedem seiner Regungen eine revolutionäre Tendenz zu erblicken meint, wie es fast alle linksradikalen Gruppen tun. Der narzisstische Gewinn, den nahezu alle Subjekte aus der Identifikation mit einer „Gruppe“ ziehen, meistens mit einer Gruppe, der großes Unrecht angetan werde, aber der es vorherbestimmt sei, sich zu emanzipieren, wenn sie sich nur dementsprechend engagiert, ist sicher ein wesentliches Motiv bei der Beteiligung am Aktivismus. Er erlaubt es, das eigene „Gerade-so-sein“, wie Adorno es nannte, zum absoluten Positivum aufzublasen und alles Negative immer bei den anderen unterzubringen („das Bürgertum“, „die Herrschenden“, „die Imperialisten“, „die Kolonisatoren“, „die Homophoben“, „die Männer“, usw.). Ihnen entgegenzuhalten, dass das Kapital ein Verhältnis sei, an dem alle kapitalistischen Subjekte teilhaben, wenngleich mit sehr unterschiedlichen Rollen und Vorteilen, und dass jede Sozialkritik auch eine Selbstkritik beinhalten muss, erscheint den kapitalistischen Subjekten fast immer als eine Zumutung, eine Sabotage oder eine Provokation. Die Gefahr eines „transversalen Populismus“ frühzeitig erkannt zu haben, ist eine Folge dieser Einstellung der Wertkritik.[4] Aktivisten jeder Spielart finden die Wertkritik stets abgehoben, zu schwierig, zu intellektuell, praxisfern, zu radikal, nicht vermittelbar, eine Kritik aus dem Elfenbeinturm – aber diese Einwände zeugen nur von der Beschränktheit dieser Art von Aktivismus und von der Berechtigung, sie zu kritisieren. Und nicht nur als praxisfern gilt Wertkritik, sondern auch als pessimistisch, demoralisierend und entmutigend. Aber auch der Umstand, dass sie keine Illusionen verbreitet und sich nicht an jeden Strohhalm Hoffnung klammert, kann der Wertkritik nur als Verdienst angerechnet werden.


Bloß: Irgendjemand muss ja der Theorie zuhören – irgendein Publikum muss es geben, wenn nicht nur Flaschenposten ausgeschickt werden sollen.[5] Die Wertkritik tut sehr gut daran, sich weder dem akademischen Betrieb noch dem Bewegungsbetrieb anzubiedern. Nur fehlt es ihr am Ende an einem Publikum. Leicht macht man die Erfahrung, dass man, selbst wenn man die kategoriale Analyse der Wertkritik teilt, diese gar nicht wirklich braucht, um gegen Atomenergie oder gegen Krankenhausschließungen zu demonstrieren, um die Biodiversität oder die Aufnahme von Migranten zu verteidigen, um kleine Steinhäuser für besser als Betonhochhäuser zu halten oder um den Überwachungsstaat und die Tyrannei der Algorithmen zu kritisieren. Sicher kann man in all diesen Fällen nachweisen, dass schlussendlich, wenn man den Dingen wirklich auf den Grund geht, die Wertvergesellschaftung dafür verantwortlich ist und es keine wirkliche Lösung geben wird, ohne aus ihr auszusteigen. Aber sofern man nicht darauf warten will, kann man auch hier und jetzt Flüchtlinge im Meer retten oder eine Betonfabrik blockieren, ohne sich auf Wertkritik zu beziehen, und das zusammen mit Leuten, die noch nie von Wertkritik gehört haben. Bestenfalls kann man dann versuchen, ihnen ihre Illusionen über die Tragweite ihrer Aktionen zu nehmen und sie davon abzuhalten, fürs Parlament zu kandidieren…


Aber wenn die Theorie weder akademisch noch aktivistisch brauchbar ist – dann findet sie eben wenig Gehör. Nur Menschen, die wirklich an Erkenntnis interessiert sind, ohne unmittelbare Nutzanwendung weder für sie selbst noch für die Gesellschaft, werden sich dann der Mühe unterziehen, Wertkritik wirklich zu verstehen. Aber solche Menschen sind leider selten.


Die Wertkritik hätte sich selber und ihre Besonderheit verraten, wenn sie an irgendeinem Punkt ihrer Entwicklung sich entweder dem akademischen oder dem aktivistischen Publikum an die Brust geworfen hätte. Aber deswegen muss sie sich eben mit einem Echo begnügen, das weit hinter ihrem intellektuellen Potential zurückbleibt. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass vieles von dem, was die Wertkritik seit 1986 geliefert hat, zu den wichtigsten Erkenntnissen unserer Zeit gehört. Aber leider genügt es nicht, es gesagt zu haben.


Das wäre wohl der wichtigste „strategische“ Grund für die unzureichende Verbreitung der Wertkritik.[6] Aber auch die inhaltliche Seite muss betrachtet werden: Was sind, im Rückblick, die starken, aber auch die schwachen Punkte der Wertkritik? Die Bemerkungen hierzu sind notwendigerweise äußerst kursorisch und würden eigentlich ein dickes Buch verdienen!


Die herausragende Bedeutung von Kurz’ Neuformulierung der Kritik der politischen Ökonomie, also seiner Erneuerung der Ideen Marx’, braucht wohl nicht näher erläutert zu werden. Von Abstrakte Arbeit und Sozialismus (1987) über Marx lesen (2000) und Die Substanz des Kapitals (2004)[7] bis zu seinem letzten Werk Geld ohne Wert (2012) hat Kurz eine Neulektüre der Marxschen Kategorien geliefert, die alle anderen Ansätze des letzten halben Jahrhunderts übertrifft, auch den ihm verwandten von Moishe Postone. Auch seine Studien zu den Ursprüngen, der Geschichte und der Aktualität des Kapitalismus, wie er sie in Der Kollaps der Modernisierung (1991), Schwarzbuch Kapitalismus (1999) und Weltordnungskrieg (2003) entfaltet hat, werden wahrscheinlich noch in hundert Jahren gelesen werden, um diese Epoche zu verstehen. In Subjektlose Herrschaft (1993) hat er ein gewaltiges Forschungsprogramm umrissen. Seine Kritik des traditionellen Marxismus, und vor allem von dessen Klassenkampf- und Arbeitsfetisch, und seiner historischen Rolle als Entwicklungshelfer des Kapitalismus bilden Maßstäbe, an denen sich jede Form von marxistischem Denken heute messen muss – oder besser gesagt „müsste“, denn eben die Zielscheiben seiner Kritik haben eine wirksame „Verschwörung des Schweigens“ dagegen organisiert.[8] Es gibt aber andere Punkte, an denen eine Revision der Wertkritik durchaus nötig scheint – sei es, dass der Ansatz von Anfang Schwachstellen hatte, sei es, dass die fortschreitende Entwicklung der Warengesellschaft eine Modifikation der Theorie verlangt.


Das gilt in erster Linie für die Krisentheorie. Sie ist bei weitem der Punkt, der die größte Aufmerksamkeit hervorrief – vor allem dort, wo Wertkritik von einem breiteren Publikum rezipiert wurde. Das war nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der deutschen „Wiedervereinigung“ so und hat sich bei jedem Krisenschub neu aktiviert. In den neunziger Jahren, als die wirtschaftliche Lage in Brasilien sehr unsicher blieb, erfreute sich Kurz großer Beliebtheit in den brasilianischen Medien als „Prophet der Apokalypse“, und er erzählte selber, dass, sobald die Börse oder die Währung dort wieder mal abstürzten, bei ihm das Telefon klingelte und ein brasilianisches Medium einen Kommentar wollte. Als es dann in Brasilien während der ersten Präsidentschaft von Lula (2003-2011) zu einem vorübergehenden Aufschwung kam und sich das Gefühl verbreitete, es „geschafft zu haben“ und kein Dritte-Welt-Land mehr zu sein, ging das Interesse für Wertkritik stark zurück, und von den verbliebenen wertkritischen Gruppen nahmen einige ausdrücklich Abstand von der Krisentheorie, die einfach nicht mehr zu „vermitteln“ sei und für die man ausgelacht würde (was sich aber nach einigen Jahren wieder geändert hat!).


Die Krisentheorie bildet – wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen bei den verschiedenen Richtungen der Wertkritik (bei EXIT geht es natürlich besonders „Kurz-orthodox“ zu) – einen Sockel der deutschen Wertkritik und ihrer internationalen Ableger; im Gegensatz zu Postones Wertkritik, bei der eine Krisentheorie fehlt, und zu fast allen Strömungen des Marxismus. Die innerkapitalistische Konkurrenz treibt ständig zur Ersetzung lebendiger durch tote Arbeit und verringert dadurch die Masse des Wertes, der nur von lebendiger Arbeit geschaffen wird. Dieser historisch fortschreitende Prozess hätte die Wertproduktion und die darauf beruhende Gesellschaft längst zum Einsturz gebracht, wenn sie nicht seit den siebziger Jahren in stetig steigendem Ausmaß durch die Ausweitung des „fiktiven Kapitals“ und immer gigantischere Schuldenberge kaschiert würde.


Das ist die Grundthese, die sich schon in den Beiträgen zu Marxistische Kritik findet. In den neunziger Jahren hielt deshalb Krisis den Zusammenbruch des Kapitalismus für unmittelbar bevorstehend. Kurz führte in Schriften wie Honeckers Rache (1991) aus, dass die Annexion der DDR den westdeutschen Kapitalismus völlig überlasten und letztlich in den Abgrund reißen werde, was wiederum die ganze Weltwirtschaft kollabieren lassen würde. In Der Kollaps der Modernisierung aus dem gleichen Jahr behauptete er, es sei zu erwarten, dass die Warengesellschaft „noch vor dem Ende des 20. Jahrhunderts in ein dunkles Zeitalter von Chaos und Zerfall gesellschaftlicher Strukturen eintritt, wie es noch niemals[!] in der Weltgeschichte dagewesen ist“.[9] Man wird Kurz nicht unbedingt auf solche Aussagen festnageln wollen. Aber es muss festgehalten werden, dass die Wertkritik anfangs das Tempo der Endkrise erheblich überschätzte. In der Folge traten zwar eine Reihe von Krisen auf, die als Anzeichen dafür gewertet werden konnten, dass der Kapitalismus tatsächlich an seine inneren Schranken stieß: die Finanzkrisen in Mexiko 1994, Süd-Ost-Asien 1997, Russland 1998, Brasilien 1999, das Platzen der Dotcom-Blase 2000, die Argentinienkrise 2002, die globale Subprimekrise von 2008, die Griechenlandkrise ab 2010. Jedes Mal wurde die öffentliche und private Verschuldung auf Höhen getrieben, die noch kurz vorher als unvorstellbar galten. Es gab keine Alternativen, da die zugrundeliegenden Probleme unlösbar waren, wie die wertkritische Krisentheorie behauptete – und sonst beinah niemand, auch nicht auf der Linken. Die Rückführung der Finanzkrisen auf die unmöglich gewordene Kapitalakkumulation und die deshalb abschmelzende Wertmasse war eine völlig richtige Grundannahme, mit der, wie gesagt, die Wertkritik allein auf weiter Flur stand.


Aber der Kapitalismus ist nicht zusammengebrochen. Jede dieser Krisen hat auch wieder aufgehört, jedenfalls scheinbar, oder zumindest hat sich ihre Intensität vermindert. Russland ist gegen jede Erwartung wieder zu einer Weltmacht geworden. Es hat sich keine Spirale sich ständig gegenseitig verschärfender Krisen herausgebildet. Die weltweite Covid-Krise wirkte, jedenfalls am Anfang, wirklich wie die richtige Gelegenheit für die definitive Schuldenkrise: erst durch die starke Einschränkung der Produktion und des Welthandels und dann durch die gigantischen „Rettungspakete“ auf Kredit. Aber auch diesmal ist der Kollaps ausgeblieben. Kein Problem ist gelöst, aber alles geht weiter.


Und das muss theoretisch erklärt werden. Die Krisentheorie ist als solche richtig, aber vermag nicht zu erklären, wieso es bis jetzt zu keiner Endkrise gekommen ist. Jedes Mal zu sagen: „Wenn die große Krise diesmal nicht kommt, dann eben nächstes Jahr – ihr werdet’s schon sehen“, ähnelt dann tatsächlich den Weltuntergangsprophezeiungen, mit denen ihre Gegner die Wertkritik schon immer identifizieren wollten. Es ist wahr, dass das fordistische Akkumulationsmodell in seiner Reinform seit Jahrzehnten in den kapitalistischen Zentren tot ist, nie wirklich in die Peripherie hat exportiert werden können und kein anderes Akkumulationsmodell realisierbar ist. Die Verbindung von Marktwirtschaft und Demokratie, Vollbeschäftigung und Wohlstand, Klassenkompromiss (also einer Abschwächung der Einkommensunterschiede) und ausgeglichenem Haushalt, also das sogenannte „Wirtschaftswunder“, hat bestenfalls einige Jahrzehnte gedauert, und auch das nur in einigen Ländern. Diese Gesellschaft hielt sich selber für eine Art Endpunkt der Geschichte, für die endlich gefundene perfekte Lösung, die nur noch auf den Rest der Welt ausgedehnt werden müsse. Auch den darin Aufgewachsenen (darunter den Gründern der Wertkritik!) mochte sie so vorkommen: als der „eigentliche“, „richtige“ Kapitalismus, an dem gemessen alle anderen Formen von Kapitalismus entweder Vorläufer oder Verfallsformen darstellen. Aber ist dem wirklich so? Statt ständig zu wiederholen, irgendwann werde die Schranke schon erreicht werden, sollte die Wertkritik vielleicht die zahlreichen „unorthodoxen“ Formen untersuchen, in denen die weltweite Warengesellschaft von einer Notlösung zum nächsten Provisorium weiterwurstelt. Sind die Rolle Chinas und anderer „aufstrebender Ökonomien“ einerseits, die Rolle der Digitalisierung andererseits genügend berücksichtigt worden? Sicherlich sind das nicht, wie die bürgerliche Volkswirtschaftslehre, aber auch fast alle Marxisten behaupten, einfach neue Modelle, die an die Stelle der alten kapitalistischen Zentren („das pazifische Jahrhundert“!) treten bzw. die alte Industrie ablösen. Aber sie scheinen doch der weltweiten Verwertung des Wertes wieder etwas Atem zu gewähren, und mehr hat der Kapitalismus sowieso nie „verlangt“.


Einen Versuch, den Aufschub der Endkrise mit politökonomischen Kategorien zu erklären, haben Lohoff und Trenkle mit Die große Entwertung (2012) geliefert. Aber niemand scheint von ihren gewundenen Analysen überzeugt zu sein.


Wichtig ist, dass die Wertkritik, in all ihren Schattierungen, nachgewiesen hat, dass die Finanzkrisen die Folge einer Krise der Realakkumulation sind und keinesfalls umgekehrt. Sie hat deshalb jede einseitige Kritik der Finanzmärkte, der Banken und der Spekulation als verkürzte Kapitalismuskritik brandmarken können, die zu Populismus und neuem Antisemitismus führt.


Das für die Wertkritik, und vor allem für Kurz, so charakteristische Bestehen auf der „inneren Schranke“ des Kapitals, das dem herkömmlichen Marxismus fast immer fremd war, hatte sich stets auch unterschwellig gegen die Annahme gerichtet, der Kapitalismus würde vor allem an seine „äußeren Schranken“ stoßen. Darunter versteht man, jedenfalls seit den siebziger Jahren, vor allem die Naturschranken, die ökologische Grenze. Die Wertkritik hat sich von Anfang an ausdrücklich im Gegensatz zu dem in den achtziger Jahren in Deutschland sich verbreitenden Umweltdiskurs entwickelt – „Kritische Anmerkungen zur neuen Produktivkraft-Kritik und Entgesellschaftungs-Ideologie“ war der Untertitel von Kurz’ großem Artikel Die Herrschaft der toten Dinge in Marxistische Kritik Nr. 2 und Nr. 3 (1986-1987). Anfänglich herrschte bei Krisis noch eine regelrechte Technologie-Euphorie vor: Die ständig fortschreitende Entwicklung arbeitsersparender Technologien würde dem Kapitalismus seine Grundlage entziehen und die Individuen von der Arbeit befreien. Da diese Fortschrittsideologie – die im Grunde nur eine Variante der traditionsmarxistischen Vorstellung von den Produktivkräften war, die die Produktionsverhältnisse sprengen – aber später teilweise korrigiert wurde, soll darauf hier nicht näher eingegangen werden (siehe meinen Artikel „Von Mixern und Sozialdarwinisten“). Aber die Frage der äußeren Schranke wurde weiterhin weitgehend ausgeklammert. Während das Erreichen der inneren Schranke der Kapitalverwertung sich wesentlich länger hinzieht als die Wertkritik glaubte und von zahlreichen gegenläufigen Bewegungen unterbrochen wird, ist die Bewegung auf die Naturschranke zu praktisch unaufhaltsam und beschleunigt sich ständig, ohne nennenswerte retardierende Momente. Vieles deutet darauf hin, dass die Naturschranke schneller erreicht werden wird als die innere Schranke und tatsächlich eine weltweite Fundamentalkrise auslösen wird.


Bedeutet das, dass die Produktivkraft-Kritik nach vierzig Jahren doch recht hat gegenüber der Wertkritik? Nicht unbedingt. Nur die Beschreibung der Logik der Verwertung des Werts, wie sie die Wertkritik leistet, ist in der Lage, die inneren Ursachen des irren kapitalistischen Wachstumszwangs offenzulegen. Keine Spielart des ökologischen Diskurses ist dieses Problem wirklich angegangen, und auch die Ökologisten, die sich als radikal kapitalismuskritisch einstufen, haben stets eine sehr oberflächliche Vorstellung von der Beziehung zwischen Kapitalismus und Umweltkrise (die Reichen oder die Multinationalen oder die Lobbys sind an allem schuld). Einen der wichtigsten Beiträge, die die Wertkritik heute liefern kann, besteht darin, aufzuzeigen, dass es keine Rettung vor der Umweltkatastrophe gibt, sofern die Gesellschaft nicht weltweit aus abstrakter Arbeit und Warenproduktion, Geld und Wert aussteigt. Aber dieses Thema ist in der Wertkritik wenig behandelt worden. Ebenso wenig wie die Autonomisierung der Technologien. Der moderne Fetischismus – die Welt, die der Mensch selber aufbaut, aber von der er sich dann beherrscht findet – besteht im wesentlichen aus zwei Hälften: dem von der abstrakten Seite der Arbeit erzeugten Wert und der technologischen Megamaschine. Sie sind historisch zusammen entstanden, ohne dass man eine eindeutige Priorität definieren kann. Hier existiert also ein weites Feld für zukünftige Forschungen, die gleichzeitig von großer Relevanz für das aktuelle Handeln sein werden.


Erwähnen wir kurz einige andere Gebiete, auf denen die Wertkritik weiterentwickelt werden müsste, statt zum Dogma zu versteinern.

Die seit dem Ende der neunziger Jahre von der Wertkritik entwickelte Aufklärungskritik war gleichfalls ein wichtiger Schlag in den Froschtümpel. Praktisch die ganze Linke hatte sich immer als Erben der Aufklärung aufgefasst, die es zu vollenden gelte, oder hatte die „Dialektik der Aufklärung“ als Erklärung akzeptiert. Die Alternative zur Aufklärung konnte nur die Gegenaufklärung sein, die Reaktion, die Romantik, mit all dem, was vor allem in Deutschland daraus hervorging. Kurz und andere haben aufgezeigt, dass in vieler Hinsicht die Aufklärung keine Überwindung von Herrschaft bedeutete, sondern im Gegenteil deren Verinnerlichung, und es sich deswegen um eine Durchsetzung der kapitalistischen Kategorien handelte. Die Aufklärung sei nicht etwa, wie oft behauptet wird, später in ihr Gegenteil pervertiert worden, sondern bedeute schon in ihren Grundlagen eine Intensivierung der Herrschaft – wie Benthams Panoptikum beweise. Aber während letzteres schon von anderen Autoren wie Michel Foucault als repressiv enttarnt worden war, entdeckte die Wertkritik einen repressiven Kern selbst bei dem Heiligen der Aufklärung, Immanuel Kant. Die in den entsprechenden wertkritischen Schriften angeführten Zitate von Kant sind tatsächlich dazu angetan, das weitverbreitete Bild des „Freiheitsphilosophen“, für den Aufklärung den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit bedeutete, ernsthaft zu ramponieren. Auch zahlreiche rassistische, antisemitische und misogyne Äußerungen renommierter Aufklärungsdenker wurden angeführt und daraus der Schluss gezogen, die Unterdrückung von Frauen, Juden und Nicht-Weißen – also die Herrschaft des von Kurz so bezeichneten männlich-westlich-weißen Subjekts (MWW) – hätte sich überhaupt erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirklich etabliert, wobei sie sich an ältere Formen „anlehnte“.


Aber hier wurde übers Ziel weit hinausgeschossen. Das mag ja anfangs richtig sein, um eine neue Theorie erst einmal durch drastische Äußerungen von der gängigen Konfusion der „sowohl-als auch“-Betrachtungen abzuheben und zu vermeiden, dass sie auf dem üblichen Markt der belanglosen Tagesmeinungen untergeht. Aber der Übergang zu einer nuancierteren Betrachtungsweise in einer späteren Phase wäre absolut nötig gewesen.


Kurz’ Lesart der Aufklärung ist – das ist das Mindeste, was man sagen kann – höchst selektiv. Die französischen Aufklärer kommen bei ihm überhaupt nicht vor, obwohl doch z.B. Denis Diderot ein dezidierter Anti-Kolonialist und Anti-Rassist war (Nachtrag zu Bougainvilles Reise, 1772). Dass die Französische Revolution die Judenemanzipation verkündete und die Sklaverei in den Kolonien abschaffte, neben all ihren anderen Verdiensten, wird nicht erwähnt. Die Abschaffung von Folter und Todesstrafe in einigen Ländern ebenfalls nicht. Es geht Kurz (sowie Lohoff und Lewed in den entsprechenden Krisis-Artikeln[10]) eigentlich nur um Kant. Dessen repressive Tendenzen werden ganz zu Recht aufgezeigt. Dass Kant aber auch schrieb: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“, wird geflissentlich übersehen. Mit diesem Einwand ist keineswegs gemeint, dass Kant eben doch ein Philosoph der Freiheit war, sondern dass er so zwiespältig war wie die Aufklärung überhaupt.


Andere Teile der Aufklärungskritik sind noch weniger überzeugend. Antisemitismus, Rassismus und Patriarchat sollen eine bloße Folge der Aufklärung sein? Diese Erscheinungen haben in der kapitalistischen Moderne neue Formen angenommen, die sich oft auf die älteren aufpfropften, aber sie sind keine reinen Erfindungen der Moderne. Die Aufklärung hat sowohl Munitionen für die Umformierung, und oft Verschärfung, von Rassismus, Antisemitismus und Patriarchat geliefert, als auch Argumente dagegen. Dieser Dialektik gilt es stets zu gedenken. Zwanzig Jahre nach der Französischen Revolution waren in den meisten westeuropäischen Ländern die Juden formell emanzipiert. Die Sklaverei in den Kolonien wurde immer mehr kritisiert und bald abgeschafft, und die Frauenrechte nahmen zu (z.B. Einführung der Scheidung während der Französischen Revolution). Natürlich ist es wahr, dass diese Freiheiten mit neuen Formen verinnerlichter Unfreiheit, wie der Arbeitsmoral, einhergingen. Aber ist das ein hinreichender Grund, um in der Aufklärung nur einen Durchsetzungsschub der Wertgesellschaft zu sehen, statt einen Kampfplatz?


Die Kritik der Aufklärung fing gleichfalls in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an und nahm oft die Form der Gegenaufklärung an, also der Romantik, des Traditionalismus, des Irrationalismus, der Rückkehr zur Religion. Damit will natürlich die Wertkritik erst recht nichts zu tun haben. Aufklärung und Gegenaufklärung werden etwas vorschnell als feindliche Brüder behandelt, als dialektische Pole, die es gemeinsam zu überwinden gelte. Aber auf welcher Grundlage? Das war die Frage, die ich schon 2003 an Kurz in meinem Krisis-Artikel „Eine Frage des Standpunkts. Anmerkungen zur Aufklärungskritik“ stellte. Wenn weder die Vormoderne noch die Moderne als Ausgangspunkt dienen können, worauf soll dann die versprochene „emanzipatorische Antimoderne“ überhaupt beruhen? Hängt sie dann nicht völlig in der Luft?


Die Zentrierung auf die Aufklärungskritik ging bei Krisis, und dann bald bei EXIT, mit einer zunehmenden Fokussierung auf die Wert-Abspaltung einher. Man darf das Wort „Wertkritik“ bei EXIT schon gar nicht mehr benutzen, es muss unbedingt „Wert-Abspaltungskritik“ sein, und weil dieses Wort so sperrig ist, wird dann daraus die Kürzel WAK gemacht, im schönsten DDR-Stil. Schwerlich wird ein Text bei EXIT angenommen, der nicht mehrmals auf jeder Seite die Wert-Abspaltung erwähnt[11], und wer das nicht tut, gehört zweifellos einem „Männerbund“ an.


Und doch war die Wert-Abspaltung am Anfang ein äußerst wichtiger Gedanke: Der Wert umfasst nicht alles, nicht jede Tätigkeit erzeugt Wert. Die Wertproduktion kann überhaupt nur stattfinden, weil zahlreiche Tätigkeiten, vor allem im Reproduktionsbereich, in nicht warenförmiger Weise vor sich gehen. Sie stellen keine „Arbeit“ im kapitalistischen Sinn dar – aber sie sind keinesfalls von der Warenform befreit. Sie bilden eine „dunkle Rückseite“ der Wertproduktion, eine stumme Voraussetzung. Wer sie verrichtet, ist meist inferior gesetzt und von den „Rechten“ ausgeschlossen, die die Teilnahme an der Wertproduktion, z.B. dem klassischen Arbeiter, verschafft. Diese Tätigkeiten werden weitgehend von Frauen verrichtet, und die Unterordnung der Frau in den modernen Gesellschaften beruht in erster Linie darauf, dass sie, solange sie im Reproduktionsbereich tätig ist, keine „Arbeit“ verrichtet und keinen „Wert“ erzeugt.


So wurde die Wert-Abspaltung in mehreren Fundamentalartikeln in Krisis 12 (1992) vorgestellt.[12] In der Folge wurde dieser Gedanke aber nicht weiterentwickelt und ausdifferenziert, z.B. durch historische Studien, sondern in seiner ursprünglichen Fassung zum Dogma erhoben, das bloß willkürlich mit empirischen Daten gestützt wurde, wo es gerade passte. In dieser Form wurde es dann auch bei Auseinandersetzungen innerhalb der Wertkritik zu banalen Schlagabtäuschen benutzt, wobei oft unmittelbar von der Höhe kategorialer Abstraktion zu persönlichen Anfeindungen und kleinen Machtkämpfen übergegangen wurde. Vor allem aber wurde eine Diskussion über einen wichtigen Gesichtspunkt verhindert: Im Kapitalismus muss es zwar eine Mehrwertproduktion geben (kategoriale Ebene), die aber nicht unbedingt, wie an ihren Anfängen, von einem verelendeten Industrieproletariat geleistet werden muss (empirische Ebene), sondern auch anderswo, z.B. mit High-Tech-Arbeitern, stattfinden kann (und genau das hatte die Wertkritik auch immer den Traditionsmarxisten vorgehalten, die alle nach einem Nachfolger des alten Proletariats suchten). Genauso braucht der Wert zwar eine weite Sphäre nicht-wertförmiger Tätigkeiten, um überhaupt in Gang zu kommen, aber diese Sphäre beschränkt sich nicht auf die weibliche Tätigkeit in Haus und Familie. Diese spielt zwar weiterhin eine sehr bedeutende Rolle, aber es gibt auch andere nicht-wertförmige Sphären, ohne die die Wertproduktion zusammenbrechen würde. Dazu gehört einerseits das bis weit ins zwanzigste Jahrhundert weit verbreitete Domestikentum (beiderlei Geschlechts), und andererseits all das, was die Soziologie als „Gabenökonomie" bezeichnet, wozu Freundschaft, Liebe, Nachbarschaftshilfe, Vereinswesen usw. gehören: alles Tätigkeiten, die zwar nicht immer ganz „uneigennützig“ sind, aber jedenfalls nicht auf einem Äquivalententausch beruhen (wenn wir Bekannte zum Essen einladen, erwarten wir zwar, dass sie uns wieder einladen, aber haben kein „Recht“ darauf – es ist kein Tausch).


Diese „dunkle Rückseite“ der Wertvergesellschaftung ist tatsächlich oft geschlechtlich konnotiert – aber nicht immer und unbedingt. Und sie ist es immer weniger. Weniges hat sich so sehr geändert in den letzten Jahrzehnten wie die Stellung der Frauen in der Gesellschaft, vor allem dank ihrer Befreiung von der Festschreibung auf die Mutterfunktion. Die kategoriale Funktion der „Frau“ hat sich ebenso wie die kategoriale Funktion des „Arbeiters“ weitgehend von den empirischen Trägern abgelöst. Die zahlreichen Frauen im Staat und der Wirtschaft lassen sich nicht mehr als bloße „Ausnahmen“ definieren. Die Begriffe der „Verwilderung des Patriarchats“ (so der Titel eines Scholz-Artikels von 1998) und der „Hausfrauisierung des Mannes“ nehmen zwar die Nicht-Übereinstimmung von Theorie und Empirie wahr, aber thematisieren nicht wirklich die Ablösung der fetischistischen Logik von ihren historischen Trägern als einen der Hauptzüge des jüngsten Stadiums der Wertvergesellschaftung – ganz so wie die Marxisten, die nicht vom Proletariat Abschied nehmen können und triumphierend auf die „echten“ Proletarier verweisen, die sie noch irgendwo finden. So gelingt es der WAK, sich gleichzeitig als feministisch zu definieren und sich über alle gewöhnlichen Feministinnen zu stellen, die nicht die Abstraktionshöhe der WAK erreichen. Vor allem an Autorinnen wie Silvia Federici oder Maria Mies werden Polemiken gerichtet, die manchmal eher auf Konkurrenzgebaren schließen lassen. Dafür wird dann mit solchen umwälzenden Erkenntnissen aufgewartet wie der Entdeckung, dass es zwischen der abstrakten Ebene der Kategorien und der empirischen Ebene auch eine „Meso-Ebene“ gibt. Wer hätte das je gedacht! Auch hier sind also Chancen für eine Verbreitung wertkritischer Ideen über den linksradikalen Froschteich hinaus abgewürgt worden.


Man kann sich auch fragen, was Kurz wirklich von der WAK hielt, so heftig er sie auch nach außen hin verteidigte. Es ist auffällig, dass in seiner ersten bedeutenden Schrift nach der Krisis-Spaltung (die angeblich wesentlich auf der Ablehnung der WAK durch die anderen Krisis-Mitglieder beruhte), nämlich Die Substanz des Kapitals, ebenso wie in dem kurz danach veröffentlichten Weltkapital (2005) und schließlich in seinem acht Jahre später geschriebenen letzten Werk, Geld ohne Wert, die Wert-Abspaltung kaum eine Rolle spielt. In diesen Schriften, in denen Kurz zweifelsohne in seinem Element ist und sein Bestes gibt, kommt er gut ohne diese Kategorie aus. In anderen Schriften scheint er sich beinah dazu zu zwingen, sie ständig ins Spiel zu bringen. Gibt es vielleicht einen exoterischen und einen esoterischen Kurz?


Streifen wir kurz noch ein anderes Problem: die Frage des Verhältnisses von Universalismus des Werts und Partikularitäten einzelner Kulturen (im weitesten Sinne). Wie vor allem Kurz immer wieder erklärte, herrscht heute der Wert bis in den hintersten Winkel der Welt und determiniert alle Handlungen aller – direkt oder indirekt. Ob jemand Beduine in der Wüste oder Broker in New York ist, sei nur noch eine äußerliche „Bemalung“. Der Wert habe nunmehr eine One World geschaffen. Aber ist dem wirklich so? Auch wenn sich die Wertlogik tatsächlich bis in die afghanischen Berge und den Amazonasurwald auswirkt, bestehen doch ganz erhebliche Unterschiede darin, wie die einzelnen Kulturen darauf reagieren. Auch erscheint es zweifelhaft, ob, wie die vor allem von Rest-Krisis vorgelegten Analysen des Islamismus nahelegen[13], die heutigen Ausprägungen alter Ideologien, wie eben des Islam, wirklich weitgehend von westlichen Mustern geprägt sind, oder jedenfalls eine Reaktion darauf darstellen, so dass z.B. Ernst Jünger oder Carl Schmitt mehr Verantwortung für den politischen Islam trügen als die Wahhabiten oder der Text des Korans. Daran zu erinnern, dass z.B. das heutige China in mancher Hinsicht mehr mit dem China der T’ang-Zeit zu tun haben könnte als mit den heutigen USA, gilt bei der Wertkritik schnell als „Kulturalismus“.


Auch dieser Anti-Kulturalismus hatte anfangs seine guten Gründe. In seinem wichtigen Buch Der dritte Weg in den Bürgerkrieg (1996) wies Lohoff überzeugend nach, dass der Zerfall Jugoslawiens und der daraus folgende grausame Bürgerkrieg nicht, wie es das deutsche Feuilleton genüsslich ausmalte, eine Art „Stammeskrieg“ zwischen Völkern war, die seit Jahrhunderten miteinander verfeindet waren und von denen einige zivilisiert, andere hingegen „barbarisch“ seien. Lohoff zeigte alle Etappen des Scheiterns der „nachholenden Modernisierung“ in Jugoslawien auf und wie sich dabei die Spannungen zwischen unterschiedlichen Kulturen und Sprachen im Lande, die ja auch auf dem friedlichen Niveau der Schweiz hätten existieren können, bis zur Mordlust steigerten.


Aber auch hier gilt, dass die Betonung eines bis dahin in der Öffentlichkeit weitgehend übersehenen Faktors notwendigerweise sehr einseitig ausfiel, um überhaupt gehört zu werden. Später maß Kurz in seinem Weltordnungskrieg den Ideologien und Religionen durchaus ein Eigengewicht bei – aber vielleicht noch nicht genug und primär hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung von krisenbedingter Barbarei und Zerfall. Eine gewisse Unterschätzung der kulturell-symbolischen Sphäre könnte ein unüberwundener Rest des altmarxistischen „Materialismus“ sein.


Während sie die Homogenität der heutigen Warensubjekte vielleicht überschätzt, übertreibt die Wertkritik womöglich andererseits deren absoluten Unterschied zu vormodernen Epochen. Ein anderes Dogma, das in Frage zu stellen wäre, ist die völlige Ablehnung aller sogenannten „ontologisierenden“ oder „anthropologisierenden“ Konzepte. Bedeutet das nicht, die Existenz von Konstanten in der menschlichen Geschichte überhaupt in Frage zu stellen? So wie der Körper des Menschen auf biologischer Ebene im Wesentlichen immer derselbe bleibt, gibt es nicht auch eine Triebstruktur, eine psychische Verfassung des Menschen, die zwar sehr plastisch ist, aber doch nur innerhalb gewisser Grenzen? Wie erklärt es sich sonst, dass in praktisch allen Gesellschaften immer wieder ähnliche Züge auftreten (z.B. soziale Hierarchien, Geschlechterhierarchie, Formen von Religion, verselbständigte Vermittlungsformen (Fetischismus), Krieg, Fremdenhass)? Ist die Ablehnung der Annahme einer als „Essentialismus“ verdammten „Naturgrundlage“ nicht Teil der modernen Illusion, der Mensch könne sich grenzenlos selber machen und fände dabei weder in der äußeren noch in der inneren Natur eine Schranke? Ist das nicht der berühmte „Machbarkeitswahn“, der so eng mit der Warengesellschaft zusammenhängt? Sind z.B. Aggressivität und Destruktivität, bis hin zum „Todestrieb“, stets nur Folgen einer – an sich vermeidbaren – repressiven Gesellschaft, oder entspringen sie teilweise einem Konflikt zwischen individueller Triebstruktur und Gesellschaftlichkeit überhaupt?


So stellt sich nach 38 Jahren die Frage: War die Wertkritik ein Denkansatz, der nach einem brillanten Anfang wieder beinah von der Bühne verschwunden ist und der am Ende die Geschichte kaum beeinflusst hat, oder wird die Wertkritik, nachdem sie einige Beschränktheiten gleichsam wie eine Kinderkrankheit überwunden hat, jetzt endlich ihr ganzes Potential entfalten und einen festen und dauerhaften Platz in der kritischen Analyse der Gesellschaft einnehmen können?




Endnoten


[1] Ihm wurde auch 2004 eine ganze Nummer von Historical Materialism gewidmet.


[2] Ich habe zufällig erfahren, dass selbst in einer deutschen Habilitationsschrift in Linguistik Kurz nicht „zitierwürdig“ ist, er also als nicht seriös gilt – Postone und ich selber hingegen schon. Um diese Rolle als „steinerner Gast“, als Unperson, dem kein seriöser Akademiker die Hand drücken will, kann man Kurz nur beneiden!


[3] Viele linksradikale Denker und ihre Schulen versuchen, diese beiden Vorgehensweisen miteinander zu verknüpfen, wie Michel Foucault, der sich damit brüstete, gleichzeitig „politischer Aktivist und Professor am Collège de France“ zu sein. Oder Toni Negri, der an der Universität Padua „Dottrina dello Stato“ lehrte und den Staat bekämpfte. Ist das strategische Klugheit, um alle Möglichkeiten auszunutzen, oder opportunistisches Bemühen, auf allen Hochzeiten zu tanzen? Das Urteil sei jedem anheimgestellt!


[4] Obgleich das manchmal, jedenfalls bei Rest-EXIT, zur beinah einzigen kritischen Aktivität wird. Unentwegt jedwede praktische Tätigkeit bei anderen abzukanzeln, weil sie nicht genau der wertkritischen Reinheit entspricht – und keine Aktivität tut das, und kann es auch gar nicht – verschafft zwar ein narzisstisches Behagen, es besser als alle zu wissen, aber vollendet dann die eigene Abseitsstellung.


[5] Die Flaschenpostmetapher wird oft mit der Kritischen Theorie, und vor allem mit Adorno, in Verbindung gebracht. Sie dient als Tröstung für alle, die keine andere Möglichkeit mehr für ihre Ideen sehen, als eben als Flaschenpost verbreitet zu werden. Aber bei Adorno handelte es sich zumindest teilweise, vor allem in späteren Jahren, um eine Form des Kokettierens: Er selber hat alles dafür getan, seiner Theorie so viel Resonanz wie nur möglich zu verschaffen, und seit Jahrzehnten gehört er zu den meistgelesenen gesellschaftskritischen Autoren auf der ganzen Welt – von Flaschenpost kann hier keine Rede sein! Gerade der „praxisferne“ Charakter der Kritischen Theorie hat deren Protagonisten dazu angeregt, am Ende doch auf die Universität zu setzen (oder, wie im Fall Marcuses, auf die Universität und den Aktivismus).


[6] Ob die Spaltungen, Ausschlüsse, internen Polemiken und Bannflüche die Verbreitung der Wertkritik behindert haben, ist hingegen keinesfalls sicher; es gibt auch historische Beispiele von Bewegungen, die aus solchen Praktiken Stärke gezogen haben.


[7] Zweiteiliger Artikel in den EXIT-Heften Nr. 1 (2004) und Nr. 2 (2005).

[8] Kurz’ relativ frühzeitiger, einem medizinischen Irrtum geschuldeter Tod im Jahr 2012 hat sicher auch zu der rückläufigen Verbreitung der Wertkritik beigetragen, denn sichtbarerweise war niemand danach in der Lage, die Kritik auf demselben Niveau weiterzutreiben. Vor allem auf dem Gebiet der Kritik der politischen Ökonomie und ihrer Anwendung bei der Analyse der zeitgenössischen Verlaufsformen der Krise des Kapitalismus brachte niemand mehr etwas Bemerkenswertes hervor. Dafür wurde immer mehr moralisiert und die Befindlichkeit der kapitalistischen Subjekte auf der Erscheinungsebene oberflächlich kritisiert. Dass Kurz’ Schaffenskraft ungebrochen war, zeigt sein letztes Buch, und er hätte sicher noch viel zu sagen gehabt. Aber die hier erwähnten Probleme waren schon längst aufgetreten und waren im wesentlichen in den Ausgangspositionen der Wertkritik angelegt. Die im Rest dieses Artikels aufgezeigten diskutablen Aspekte der Wertkritik wurden meist von Kurz stets mit besonderem Eifer vertreten, und das in allen Phasen seiner Entwicklung.


[9] Robert Kurz (1994): Der Kollaps der Modernisierung. Leipzig: Reclam, S. 282

[10] Siehe z.B. Robert Kurz (2003): Negative Ontologie. Die Dunkelmänner der Aufklärung und die Geschichtsmetaphysik der Moderne, in: Krisis 26; Karl Heinz Lewed (2003): Die Höllenfahrt des Selbst. Zur Kritik von Wille und Freiheit bei Kant, in: Krisis 26


[11] Ich erwähne hier gar nicht die Unübersetzbarkeit des Wortes in andere Sprachen.

[13] Z.B. Norbert Trenkle (2015): Gottverdammt modern. Warum der Islamismus nicht aus der Religion erklärt werden kann, krisis.org