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Anselm Jappe


Revolution gegen die Arbeit?
Wertkritik und die Überwindung des Kapitalismus

 


Zuerst erschienen in französischer Sprache in der Zeitschrift Cités, No. 59/2014, S. 103-114. Das französische Original ist online auch unter
palim-psao.fr verfügbar.


 


Die Idee der Revolution scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, ebenso wie jede radikale Kritik am Kapitalismus. Natürlich wird allgemein anerkannt, dass es viele Details gebe, die man an der Ordnung der Welt ändern könnte. Aber den Kapitalismus überhaupt zu überwinden? Und um ihn durch was zu ersetzen? Wer diese Frage stellt, läuft Gefahr, entweder als Nostalgiker für die Totalitarismen der Vergangenheit oder als naiver Träumer zu gelten. Dennoch mangelt es nicht an kritischen Theorien, die sich zum Ziel gesetzt haben, den zerstörerischen und zugleich historisch begrenzten Charakter des Kapitalismus in seinen grundlegenden Strukturen selbst bloßzustellen. Ein solches Unterfangen der Fundamentalkritik wird seit 1987 von der internationalen Strömung der „Wertkritik“ und vor allem von den deutschen Zeitschriften Krisis und Exit! und ihrem Hauptautor Robert Kurz (1943-2012) betrieben.[1] Ihr Ansatz war in vielerlei Hinsicht parallel zum Werk von Moishe Postone.[2]


Der Ausgangspunkt der Wertkritik besteht in einer Neulektüre des Marxschen Werkes. Sie erhebt nicht den Anspruch, den „wahren“ Marx wiederherzustellen, sondern misst der Unterscheidung zwischen einem „exoterischen“ und einem „esoterischen“ Marx großes Gewicht bei, anstatt eine Spannung zwischen dem ökonomischen und dem politischen Teil seines Werks anzunehmen, oder zwischen einem jugendlichen Teil, der auf die unmittelbare Revolution abzielt, und einem späten „Evolutionismus“, der sich der Wissenschaft zuwendet, oder zwischen einem anfänglichen hegelianischen Idealismus und einer späteren wissenschaftlichen Analyse der Klassenverhältnisse. Der „esoterische“ Marx findet sich in einem recht kleinen Teil seines Spätwerks und in seiner konzentriertesten Form im ersten Kapitel des ersten Bandes von Das Kapital: Marx untersucht dort die Grundformen der kapitalistischen Produktionsweise, nämlich Ware, Wert, Geld und abstrakte Arbeit. Er behandelt diese Kategorien nicht – wie es Adam Smith und David Ricardo getan hatten und wie es später implizit fast alle Marxisten taten – als neutrale, natürliche und transhistorische Voraussetzungen allen gesellschaftlichen Lebens, über deren verschiedene Formen ihrer möglichen Verwaltung diskutiert werden kann, nicht aber über ihre Existenz an sich. Im Gegenteil, er analysierte sie, allerdings nicht ohne Zögern und Widersprüche, als Elemente, die es nur in der kapitalistischen Gesellschaft gibt – und gleichzeitig als negative Kategorien, die jede bewusste Sozialität verhindern. Der Wert als gesellschaftliche Form berücksichtigt nicht den tatsächlichen Nutzen der Waren, sondern nur die Menge der in ihnen enthaltenen „abstrakten Arbeit“, d.h. die in Zeit gemessene Menge der reinen Verausgabung menschlicher Energie. Sie wird in einer Geldmenge dargestellt. Der Kapitalismus zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass die gesamte Gesellschaft von diesen anonymen und unpersönlichen Faktoren beherrscht wird. Dies bezeichnet Marx als „Warenfetischismus“, der keineswegs auf eine bloße „Mystifizierung“ der kapitalistischen Realität reduziert werden kann.


In diesem innovativsten Teil seines Werks hatte Marx die grundlegenden Mechanismen des Kapitalismus zu einer Zeit bestimmt, als dieser noch weitgehend mit vormodernen Elementen vermischt war. Im umfangreichsten Teil seines Werks überwiegt jedoch der „exoterische“ Marx, der – übrigens auf sehr präzise Weise – die spezifischen Formen beschrieb, die diese Grundlogik zu seiner Zeit annahm. So äußerte sich die strukturelle Notwendigkeit, dass der Wert durch die „Absorption“ von lebendiger Arbeit akkumuliert wird, lange Zeit in einem extrem ausgebeuteten Industrieproletariat, das in einer noch fast feudalen Weise von seinem vollen Streik- und Wahlrecht ausgeschlossen war. Innerhalb von zwei Jahrhunderten haben sich die Erscheinungsformen, die diese grundlegenden Kategorien annahmen, jedoch stark verändert. Es ist offensichtlich, dass Marx, der trotz allem im Horizont seiner Zeit blieb, nicht immer zwischen dem Kern des Kapitalismus einerseits und seinen Formen, die zu einer historischen Phase der kapitalistischen Entwicklung gehören, wie dem „Klassenkampf“ zwischen Bourgeoisie und Proletariat, andererseits unterscheiden konnte. Generell ist sein Werk von einer konstitutiven Spannung durchzogen zwischen einer Fortsetzung der bürgerlichen Theorien, von denen er ausging (insbesondere der englischen politischen Ökonomie und der liberalen und utilitaristischen Tradition), und dem eigentlichen Neuland, das er mit der Entwicklung der negativen Kategorien der Ware und des Fetischismus betrat.


Der spätere Marxismus[3] – in fast allen seinen Varianten, einschließlich der „heterodoxeren“ – hat Marx‘ Kritik an Wert, Geld, Ware und Arbeit schnell beiseitegeschoben, indem er stillschweigend oder explizit ihre ewige Existenz akzeptierte. Es geht dann nur noch um ihre Verteilung: Anstatt den Warenwert als regulierendes Prinzip der Produktion und des gesellschaftlichen Lebens in Frage zu stellen, kämpften die Arbeiterbewegung und ihre Theoretiker einfach für seine „gerechtere“ Verteilung. Indem sie den eigentlichen Rahmen der kapitalistischen Produktion akzeptierten, ging es ihnen in erster Linie darum, bessere Lebensbedingungen für die arbeitenden Klassen zu erreichen. Ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde der Marxismus so – trotz ein bisschen radikaler Rhetorik – zu einer Theorie über die tatsächliche Integration des Proletariats in die Wertgesellschaft. Oft hat die Arbeiterbewegung die reine Logik des Werts gegen die bornierten Ansichten der kapitalistischen Herrscher, die noch immer mit aus anderen Epochen überkommenen Haltungen behaftet waren, vorangetrieben – lange Zeit hat sich gezeigt, dass hohe Löhne oder das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, keineswegs unvereinbar mit kapitalistischem Profit waren, im Gegenteil. Die „Errungenschaften“ der Arbeiterbewegung wurden dem Kapital nicht alle widerwillig abgerungen, sondern stellten auch dessen effektivste Entwicklungsform dar. Dies gilt vor allem in Bezug auf die – westlichen – sozialdemokratischen Varianten der Arbeiterbewegung. Wo die leninistischen Varianten die Macht übernommen hatten, wie in Russland und später in anderen Ländern an der Peripherie des Weltmarkts, kam es eher zu einer „nachholenden Modernisierung“: Weit davon entfernt, die Ware, die abstrakte Arbeit, den Wert und das Geld abzuschaffen, ging es ganz im Gegenteil darum, sie in Agrarländern einzuführen.


Bei Marx ist der theoretische Status der Arbeit nicht immer ganz klar. Aber es ist unbestreitbar, dass die Arbeit unter ihrem Aspekt der „abstrakten Arbeit“, der reinen Energieverausgabung, bei ihm eine negative und „fetischistische“ Kategorie darstellt. Es ist die abstrakte Arbeit – oder, besser gesagt, die abstrakte Seite jeder Arbeit – und nur sie, die den Waren ihren „Wert“ verleiht, und die daher auch die „Substanz“ des Kapitals bildet. Das Kapital ist nicht das Gegenteil der Arbeit, sondern ihre akkumulierte Form; lebendige und tote Arbeit sind nicht zwei antagonistische Entitäten, sondern zwei verschiedene „Aggregatzustände“ derselben Arbeitssubstanz. Als Arbeiter steht der Arbeiter keineswegs außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, sondern bildet einen ihrer beiden Pole. Eine „Revolution der Arbeiter gegen den Kapitalismus“ ist dann eine logische Unmöglichkeit; es kann nur eine Revolution gegen die Unterwerfung der Gesellschaft und der Individuen unter die Logik der Verwertung und der abstrakten Arbeit geben, eine Revolution gegen die Unterordnung des Konkreten unter die tautologische Reproduktion des Gleichen (des Geldes).


Eine solche Kritik der Arbeit ergibt sich zwangsläufig aus dem Marxschen Konzept der abstrakten Arbeit, das Marx als seine wichtigste Entdeckung betrachtete – auch wenn er nicht alle Konsequenzen daraus gezogen hat. In der Arbeiterbewegung ist davon nichts übrig geblieben; im Gegenteil, die Arbeit wird verherrlicht, und die Hauptkritik an der Bourgeoisie lautet, dass sie nicht arbeitet. Die Revolution, wie sie der traditionelle Marxismus versteht, würde sich dann darauf beschränken, den Arbeitenden das rechtliche Eigentum an den Produktionsmitteln zu übergeben. Die Arbeiter würden weiter arbeiten und Wert produzieren, der sich in Geld darstellt etc. – aber alles „unter Arbeiterkontrolle“.[4]


Kein Emanzipationsprogramm kann sich daher mehr auf die Arbeit stützen: Erstens, weil die Arbeit nie mit der menschlichen produktiven Tätigkeit, dem „Stoffwechsel mit der Natur“ (Marx), identisch war. Die Arbeit als gesellschaftliche Form ist eine „Realabstraktion“, die alle gesellschaftlichen Akteure auf quantitative Ausprägungen derselben inhaltslosen gesellschaftlichen Substanz reduziert, die nur auf ihre Akkumulation abzielt. Wo die Produktion nicht der Bedürfnisbefriedigung dient, sondern nur das Ziel hat, aus hundert Euro einhundertzehn und dann einhundertzwanzig usw. zu machen, kann man sagen, dass der Prozess „tautologisch“ ist: Er dient nur dazu, vom Gleichen zum Gleichen zu gelangen, aber in immer größerem Maßstab (von Geld zu mehr Geld). Er folgt dann einer blinden Dynamik, die menschliche Energien und natürliche Ressourcen verbraucht. Die Verwertung des Werts drängt sich den sozialen Akteuren und den Kapitalisten selbst auf. Der Glaube an die Existenz einer verdeckten „großen Regie“ seitens der Kapitalisten ist eher eine Art der Selbstberuhigung. Die Wahrheit ist viel tragischer: Niemand kontrolliert diesen selbstreferentiellen Mechanismus, der die konkrete Welt einer fetischisierten Abstraktion opfert. Aus demselben Grund ist eine moralisierende Kritik des Kapitalismus nutzlos – auch wenn niemand gezwungen ist, die kleinen und großen „Offiziere und Unteroffiziere des Kapitals“ (Marx) sympathisch zu finden. Die Konflikte zwischen den sozialen Klassen und vor allem der Konflikt zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Verkäufern der Arbeitskraft, zwischen den Trägern des fixen und den Trägern des variablen Kapitals, zwischen den Besitzern der Arbeit in ihrem lebendigen Stadium und ihren Besitzern in ihrem toten Stadium spielen natürlich eine wichtige Rolle. Aber sie bilden nicht das Wesen des Kapitalismus. Diese Phänomene sind nur die konkreten, sichtbaren und historisch variablen Formen, in denen die ziellose Akkumulation von Wert stattfindet. Die klassischen sozialen Kämpfe drehen sich um die Aufteilung des Mehrwerts; die Existenz des Werts wird dort bereits als neutrales „Gut“ vorausgesetzt, das es einfach zu erobern gilt. Die entscheidende Differenzierung zwischen konkretem Reichtum (der tatsächlich ein Bedürfnis befriedigt und den man sich tatsächlich aneignen kann) und abstraktem Wert wird dabei nicht berücksichtigt. Man kann den Wert nicht abschaffen, ohne die Arbeit abzuschaffen, die ihn schafft – deshalb ist es sinnlos, den Kapitalismus im Namen der Arbeit zu bekämpfen. Auch die Gegenüberstellung von „guter“ konkreter Arbeit und „schlechter“ abstrakter Arbeit ist falsch: Würde man die Reduktion aller Arbeiten auf das Gemeinsame – den Energieaufwand – abschaffen, bliebe nicht die „konkrete“ Arbeit übrig (diese Kategorie ist selbst eine Abstraktion), sondern eine Vielzahl von Tätigkeiten, die jeweils mit einem bestimmten Ziel verbunden sind – wie es in vorkapitalistischen Gesellschaften der Fall war, die den Begriff „Arbeit“ im modernen Sinne tatsächlich nicht kannten.


Die Arbeiterbewegung zog eine gewisse Rechtfertigung aus der Tatsache, dass der Kapitalismus während seiner langen Expansionsphase tatsächlich Formen der Umverteilung ermöglichte, mit zum Teil beachtlichen Ergebnissen für die arbeitenden Klassen. Die „immanente“ Kritik, auch wenn ihr Horizont nie die Überwindung des Kapitalismus war, konnte sich damals rühmen, bedeutende Erfolge erzielt zu haben, die den Eindruck vermittelten, dass der Kapitalismus in einer „marktwirtschaftlichen Demokratie“ „gezähmt“ werden könne. Der technologische Fortschritt, vor allem die Anwendung der Mikroelektronik in der Produktion, hat jedoch die Rolle der lebendigen Arbeit kontinuierlich reduziert, vor allem seit den 1960er Jahren. Einzelne Unternehmen können immer noch große Gewinne erzielen, aber das System als Ganzes hat begonnen, seine „Substanz“ zu verlieren. Der Kapitalismus sägt an dem Ast, auf dem er sitzt: der Wertverwertung durch den Einsatz lebendiger Arbeit. Dieses Risiko ist er seit Beginn der industriellen Revolution und der Einführung von Maschinen in die Produktion eingegangen. Lange Zeit wurde das Schrumpfen des Werts (und damit des Anteils an Mehrwert und Profit), der in jeder einzelnen Ware enthalten ist, durch die absolute Ausweitung der Produktion ausgeglichen (oder sogar überkompensiert) – also dadurch, dass die Welt mit Waren zugeschüttet wurde, mit allen Konsequenzen, die das mit sich brachte. Mit dem Ende der fordistischen Phase erschöpfte sich jedoch das letzte Akkumulationsmodell, das auf dem massenhaften Einsatz lebendiger Arbeit beruhte. Seitdem wird der Großteil der Produktion in fast allen Bereichen durch Technologien – die keinen Wert schaffen – sichergestellt. Die absolute Masse an Wert und damit an Mehrwert fällt steil ab. Das bringt die gesamte wertbasierte Gesellschaft in die Krise – aber auch die Arbeitnehmer selbst. Nicht mehr die Ausbeutung ist das vom Kapitalismus geschaffene Hauptproblem, sondern die wachsenden Massen an „überflüssigen“ Menschen, d.h. Menschen, die für die Produktion nicht benötigt werden und daher auch nicht konsumieren können. Nach seiner langen Expansionsphase befindet sich der Kapitalismus trotz der „Globalisierung“ seit Jahrzehnten auf Schrumpfkurs: Personen, Milieus und Regionen, die in der Lage sind, an einem „normalen“ Zyklus von Wertproduktion und -konsum teilzunehmen, bilden zunehmend „Inseln“ in einer steigenden Flut von Zurückgelassenen, die nicht einmal mehr dazu dienen, ausgebeutet zu werden. Und es ist sinnlos, „Arbeit“ für sie zu fordern, da die Produktion sie nicht braucht und es absurd wäre, Menschen als Vorbedingung für ihr eigenes Überleben zur Verrichtung sinnloser Arbeit zu zwingen. Stattdessen sollte das Recht auf ein gutes Leben für jeden Einzelnen eingefordert werden, unabhängig davon, ob es ihm gelungen ist, seine Arbeitskraft, die oftmals niemand mehr haben will, zu verkaufen oder nicht.


Der Kapitalismus stolpert also nicht (oder nicht nur) über den Widerstand der Ausgebeuteten, sondern über die Schwierigkeit, seine eigenen Anforderungen an die Schaffung neuen Werts zu erfüllen. Er wird vom Wachstum der Produktivkräfte überholt, insbesondere von den enormen Produktivitätssteigerungen durch die Mikroelektronik seit den 1970er Jahren, die die Wertmasse auf ein Minimum schmelzen ließen. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass dieser Zusammenbruch zu einer Form der Emanzipation führen wird. Keine soziale Gruppe, die durch ihre Rolle in der Wertproduktion definiert ist, geht „per se“ über die kapitalistische Logik hinaus; es gibt keine soziale Gruppe, die prädestiniert ist, die Überwindung des Kapitalismus zu bewerkstelligen. Kein revolutionäres Subjekt der Vergangenheit kann mehr herangezogen werden, weder das klassische Proletariat noch seine Nachfolger wie prekär Beschäftigte, die Völker des Globalen Südens, Frauen, die „Subalternen“ usw. Es gibt keinen Grund mehr, sich auf den Kapitalismus zu berufen. Jeder ist am System beteiligt, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Rollen, und gleichzeitig hätte jeder ein objektives Interesse an seiner Abschaffung: Man denke nur an die ökologische Frage.


Warum ist das kapitalistische System noch nicht vollständig zusammengebrochen? Hauptsächlich wegen der „Finanzialisierung“, d.h. der Flucht in „fiktives Kapital“ (Marx). Nachdem die reale Akkumulation fast zum Erliegen gekommen war, war es der immer massivere Einsatz von Krediten, mit dem die Fortsetzung der Akkumulation simuliert wurde. Die Aufgabe der Goldkonvertibilität des Dollars im Jahr 1971 war eine Art symbolisches Datum dafür. Diese Atmosphäre der Simulation – man könnte auch sagen der Virtualisierung – hat sich dann auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt. Sie erklärt die weite Verbreitung der sogenannten „postmodernen“ Ansätze in allen Bereichen. Bei Krediten werden erhoffte zukünftige Gewinne – die jedoch nie mehr eintreten werden – im Voraus verbraucht und halten die Wirtschaft am Leben. Bekanntlich haben diese Kredite und andere Formen fiktiven Geldes (Börsenwerte, Immobilienpreise) astronomische Dimensionen erreicht und befeuern eine gigantische Spekulation, die schreckliche Auswirkungen auf die „reale“ Wirtschaft haben kann, wie es 2008 geschah. Doch die Spekulation war keineswegs die Ursache für die Krisen des Kapitalismus und die wachsende Armut, sondern hat vielmehr jahrzehntelang geholfen, die große Krise hinauszuschieben. Die Ursache liegt darin, dass alle Waren und Dienstleistungen zusammengenommen, obwohl ihre Zahl wächst, eine immer geringere Menge an Wert darstellen. Das bedeutet auch, dass ein großer Teil des weltweit zirkulierenden Geldes „fiktiv“ ist, weil es keine tatsächlich „produktiv“ (produktiv für die Reproduktion des Kapitals) verausgabte Arbeit darstellt. Die „Konjunkturmaßnahmen“, die von den Regierungen nach der Krise von 2008 ergriffen wurden, sind nichts weiter als Buchhaltungsakrobatik, bei der den ohnehin schon völlig fantastischen Zahlen noch eine Null hinzugefügt wird. Es wird keinen neuen kapitalistischen Wohlstand geben können, weil die arbeitsersetzenden Technologien nicht aus der kapitalistischen Produktion eliminiert werden können. Es wäre auch vergeblich zu erwarten, dass China oder andere „Schwellenländer“ den Kapitalismus retten: Ihre angeblichen Erfolge basieren teils auf steigenden Rohstoffpreisen, teils auf einseitigen Exporten in die reichen Länder, die nur so lange anhalten werden, wie es diesen Ländern selbst noch gelingt, den eigentlichen Ausbruch der Krise hinauszuzögern. Es geht also nicht darum, einen zukünftigen Zusammenbruch des Kapitalismus zu prophezeien, sondern darum, die Krise zur Kenntnis zu nehmen, die bereits stattfindet und sich über kurze Konjunkturaufschwünge hinaus verschärft. Sie ist weit davon entfernt, nur wirtschaftlich zu sein, und bringt alle Arten von Konvulsionen mit sich: von neuartigen Kriegen bis hin zu Verwüstungen in der individuellen Psychologie.


Es bedarf also einer radikalen Kritik am Kapitalismus überhaupt, nicht nur an seiner neoliberalen Phase. Eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung und zu keynesianischen Rezepten, einer großen Rolle des Staates und der Wohlfahrt von einst sind nicht möglich: Ihre Aufgabe war nicht die Folge einer Verschwörung, die von neoliberalen Ökonomen und den gierigsten Kapitalisten angeführt wurde, sondern das Ergebnis der Erschöpfung der gesamten kapitalistischen Dynamik. Eine solche Rückkehr wäre auch keineswegs wünschenswert: Der Kapitalismus muss überwunden werden, indem seine Grundlagen abgeschafft werden, nicht indem man zu scheinbar etwas erträglicheren Formen der Sklaverei und Entfremdung zurückkehrt. Die alten Emanzipationskonzepte sind gemeinsam mit dem Kapital in die Krise geraten und haben damit ihre Natur als „feindliche Brüder“ bewiesen.


Was bleibt angesichts dessen von der Revolution, der radikalen Veränderung, dem tiefen Bruch übrig? Ihre Notwendigkeit ist nach wie vor eine große Forderung, und ihre Umsetzung stellt sich als noch schwieriger dar als zuvor. Mehr als zwei Jahrhunderte lang standen sich „Reformisten“ und „Revolutionäre“ gegenüber. Rückblickend lässt sich sagen, dass es ihnen mehr um die Mittel als um den Inhalt ging, mehr um den Weg als um das Ziel. Abgesehen von sehr wenigen und unzusammenhängenden Ausnahmen konnten sich alle Sozialdemokraten und Sozialisten, Kommunisten und sogar Anarchisten nicht wirklich vorstellen, aus der auf Wert, Ware und Geld basierenden Gesellschaft auszusteigen – oder erst in sehr ferner Zukunft. Die Arbeit wurde überall geheiligt und als eine zu „befreiende“ Kraft betrachtet (außer in einigen künstlerischen und literarischen Avantgarden), ohne eine wirkliche Unterscheidung zwischen konkreter Tätigkeit und abstrakter Arbeit zu treffen. Statt um eine Kritik der Wertproduktion handelte es sich dann lediglich um eine Kritik der Verteilung des Werts. Ihr explizites oder implizites Ziel war es, immer breitere Bevölkerungsschichten in die Warengesellschaft einzubeziehen. Einige wollten dies durch Wahlen oder Kooperativen erreichen, andere durch die Errichtung von Barrikaden oder die Erschießung von Gegnern. Ihr gemeinsamer Horizont blieb jedoch eine bessere Verwaltung der Arbeitsgesellschaft. Die Abschaffung des Marktes und des Privateigentums an Produktionsmitteln galt als die radikalste Intervention, die möglich war – ohne in Frage zu stellen, was der Markt verteilt. Die radikale und „revolutionäre“ Linke in all ihren Varianten gelangte ebenso wenig wie die „Gemäßigten“ oder „Stalinisten“ zu einer Kritik der grundlegenden Kategorien des Kapitalismus. Sie ersetzte sie durch eine Soziologie der Herrschaft. Dies war sehr offensichtlich in dem lange Zeit regelrechten Kult um die „Arbeiterselbstverwaltung“ (in der Art von Lip[5]): Das Hauptübel wurde in der ungleichen Verteilung von Macht und Einkommen innerhalb der Produktionseinheit lokalisiert. Wenn diese Produktionseinheit jedoch die Aufgabe hat, eine Wertmenge zu schaffen, die auf einem Markt – sei er nun anonym oder „geplant“ – gegen andere Mengen getauscht werden muss, dann führt dies unweigerlich dazu, dass die Arbeiter der Logik der Rentabilität untergeordnet werden. Die selbstverwaltete Fabrik kann dann in demokratischer Freiheit entscheiden, wer entlassen wird, damit das Unternehmen „wettbewerbsfähig“ bleibt...


Wenn man unter „Revolution“ einen echten Bruch mit der Arbeit als fetischisiertem und verselbständigtem Ausdruck des gesellschaftlichen Lebens versteht, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass es in der Geschichte des Kapitalismus noch keine Revolution gegeben hat. Ein solcher Ausstieg aus der kapitalistischen „Zivilisation“ wurde nicht einmal ernsthaft in Erwägung gezogen. Er tauchte nur hin und wieder als Blitz des Möglichen am Horizont auf. Auch die Kritik am technologischen Apparat, der das unverzichtbare Medium der abstrakten Arbeit ist, wurde in der Geschichte der Protestbewegungen weitestgehend umgangen. Ein Bruch dieser Art kann jedoch nicht als rein „utopisch“ oder „unrealistisch“ betrachtet werden: Der Kapitalismus, in dem abstrakte Arbeit, Wert und Geld die Instanzen der gesellschaftlichen Vermittlung darstellen, ist ein historisches Phänomen. Er ist nicht Teil des menschlichen Lebens schlechthin. Die Mehrheit der Menschheit hat ihn erst in den letzten Jahrzehnten kommen sehen.


Wenn ein solcher Bruch möglich und gleichzeitig notwendig ist, so bedeutet das nicht, dass er von selbst eintreten wird. Es gibt kein „historisches Gesetz“, das garantiert, dass die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise eine bessere Gesellschaft (wie auch immer sie heißen mag) hervorbringen werden. Die Krise der Warengesellschaft ist in vollem Gange und unumkehrbar. Alle Lösungen, die sich auf die noch vorhandenen Spielräume innerhalb der Warenproduktion stützen (wie die Wiederbelebung keynesianischer Maßnahmen), erschöpfen sich früher oder später mit der Entsubstantialisierung des Werts als Folge des unaufhörlichen Ersatzes von Arbeit durch Technologien.


Es geht also weniger darum, den Kapitalismus zu „besiegen“, als vielmehr zu verhindern, dass sein bereits im Gange befindlicher Zerfall nur in Barbarei und Ruinen mündet. Soziale Bewegungen, die sich allein gegen die Banken oder die „korrupte“ politische Klasse richten, sind eine völlig unzureichende Antwort, weil sie das Symptom für die Ursache halten, die alten Stereotypen von „ehrlichen“ Arbeitern, die von „Parasiten“ ausgebeutet werden, wiederbeleben und Gefahr laufen, in Populismus und Antisemitismus zu entarten. Generell ist jeder Rückgriff auf die „Politik“ (und erst recht auf den Staat) unmöglich, wenn das Ende der Akkumulation und damit des „echten“ Geldes der öffentlichen Hand jedes Mittel zur Intervention entzieht. Der Staat war nie der Gegner des Kapitals oder des Marktes, sondern hat ihnen immer die Grundlagen und die Infrastruktur bereitet. Er ist keine „neutrale“ Struktur, die in den Dienst der Emanzipation gestellt werden könnte. Es wird unvermeidlich sein, sowohl den Markt als auch den Staat – die beiden gleichermaßen fetischistischen Pole der Wertvergesellschaftung – hinter sich zu lassen, um eines Tages eine echte, direkte Vereinbarung zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft zu erreichen. Wenn auch eine postkapitalistische Gesellschaft selbstverständlich Vermittlungsinstanzen beibehält, wird sie ihr Schicksal nicht mehr von den unkontrollierbaren Automatismen einer verselbständigten fetischistischen Vermittlung wie der abstrakten Arbeit abhängig machen.


Es reicht nicht aus, die Revolten und Unzufriedenheiten, die derzeit die ganze Welt erschüttern, zusammenzuzählen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Revolution vor der Tür steht. Der Zerfall des Kapitalismus als solcher führt nur zu Anomie. Die „Barbarisierung“, die er mit sich bringt, verschont nicht einmal immer die Oppositionsbewegungen. Seit langem ist „der Kapitalismus“ nicht mehr nur ein Teil der Gesellschaft (die Kapitalisten, die Bourgeoisie), der sich einem anderen Teil (dem Volk, dem Proletariat) entgegenstellt, der außerhalb des Kapitalismus bleibt und ihm nur auf eine äußerliche Art und Weise „unterworfen“ ist. Die Warengesellschaft, vor allem in ihrer Form als Konsumgesellschaft, hat weitgehend Besitz von den Individuen, von allen Individuen, bis in die intimsten Fasern ergriffen. Die Ausgebeuteten von einst organisierten sich, um ihre Interessen zu verteidigen, selbst wenn sie im Rahmen des Systems blieben: Die Wut der „Überflüssigen“, die Verzweiflung derer, die das System nicht mehr braucht, droht hingegen blind zu werden. Man darf sich nicht täuschen lassen: Es wird immer schwieriger, emanzipatorische Inhalte in den Protesten, die um die Welt gehen, zu erkennen.


Doch diese Schwierigkeit, eine kohärente Opposition auszudrücken, beinhaltet kein „Ende der Geschichte“ oder einen „Sieg des Kapitalismus“. Zur gleichen Zeit, in der der Kapitalismus den Menschen in den Homo oeconomicus verwandelt hat, bricht die Wirtschaft zusammen. In dem Moment, in dem es ihm gelungen ist, potenziell alle Menschen auf dem Globus in Wesen aus Arbeit und Geld zu verwandeln, nimmt er ihnen weitgehend die Möglichkeit zu arbeiten und verwandelt Geld in Fiktion. Hinter diesen Entwicklungen steckt keine Strategie: Das Schiff fährt noch eine Weile weiter und verbrennt dabei seine eigenen Bestandteile im Heizkessel.


Die „politische“ Frage besteht dann also nicht mehr darin, wie man einen Kapitalismus in voller Stärke, der mangels eines ebenbürtigen Gegners seine Expansion endlos fortsetzen könnte, in die Flucht schlagen oder verändern kann. Die Frage ist nun, wie man auf den allgemeinen Ruin reagieren soll, der durch den Zusammenbruch der Wertproduktion bewirkt wird. Wie kann man die Initiativen und Versuche schützen, die überall auftauchen und sich zum Ziel gesetzt haben, soziale Beziehungen aufzubauen, die nicht mehr auf Ware und Arbeit basieren? Wie kann man sie gegen den so häufig anzutreffenden wilden Willen verteidigen, sich an alles zu klammern, um inmitten der fortschreitenden Katastrophen noch ein wenig zu überleben, selbst um den Preis, die schlimmsten Verbrechen zu begehen? Wir müssen weit über einen „politischen“ Ansatz im herkömmlichen Sinne hinausgehen: Eine echte „anthropologische Revolution“ muss sich der vom Kapital betriebenen anthropologischen Revolution entgegenstellen. Diese birgt, vor allem in ihrer Verbindung mit der Technologie, das Risiko, jede mögliche Zukunft der Menschheit und des Planeten selbst zu verscherbeln, um die Akkumulation von Wert noch ein paar Jahre zu verlängern.


Theorie allein reicht nicht aus, aber Militanz ohne Konzept ist noch weniger hilfreich. Um eine Alternative zum Kapitalismus zu finden, muss man zunächst das Wesen von Ware und Geld, Arbeit und Wert verstehen. Diese Kategorien scheinen sehr „theoretisch“ zu sein, aber ihre Konsequenzen bestimmen letztlich jede unserer täglichen Handlungen. Ein Teil von Marx‘ Werk mag heute veraltet erscheinen. Aber selbst wenn man von seinem Werk nur die Kritik der politischen Ökonomie im engeren Sinne beibehalten wollte, wäre diese immer noch die beste Quelle, um die heutige Situation zu verstehen und zu vermeiden, dass man sich – wie es die verschiedenen Protestbewegungen über ein Jahrhundert lang getan haben – auf Wege begibt, die, selbst ohne es zu merken, im Rahmen der Warengesellschaft bleiben.




Endnoten


[1] Zu Kurz‘ Hauptwerken zählen insbesondere Kollaps der Modernisierung (1991), Schwarzbuch Kapitalismus (1999), Marx lesen (2000), Weltordnungskrieg (2003), Das Weltkapital (2005) und Geld ohne Wert (2012).


[2] Siehe vor allem Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003 (zuerst 1993).


[3] Kurz nennt ihn „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ und Postone „traditionellen Marxismus“.

[4] Fast alle antistalinistischen Kritiken konzentrierten sich auf die Kontrolle einer bürokratischen Kaste über den Produktionsapparat. Diese war zwar real, aber nur die unvermeidliche Folge der fortgesetzten Warenproduktion, die ihrerseits fast nie thematisiert wurde.


[5] Anmerkung der Redaktion: Lip ist ein französischer Uhrenhersteller, der Anfang der 1970er Jahre zeitweilig unter kollektiver Selbstverwaltung der Arbeitnehmer stand. Der Lip-Arbeitskampf erlangte größere Bekanntheit unter dem Motto „C‘est possible: on fabrique, on vend, on se paie!“ (Es ist möglich: Wir machen sie, wir verkaufen sie, wir zahlen uns!)