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Andreas Urban


Realitätsverlust und suizidale Drift
Der Abstieg des Westens im Viruswahn und „Krieg gegen Putin“



Teil 3: Systemische Lebensmüdigkeit – Mit wehenden Fahnen in den Dritten Weltkrieg



Zu Teil 1: "Killervirus" und "Mad Vlad" – Die postmoderne Krisenwelt als Wille und Irrenhaus

Zu Teil 2: Systemische Lebensmüdigkeit Die "Pandemie" als krisenkapitalistische Abrissbirne

 













 


Bei allen Unterschieden, die schon in der Natur der Sache begründet sind – das eine ist ein Virus bzw. eine „Pandemie“, das andere ein militärischer Konflikt –, gibt es eine unübersehbare Parallele zwischen dem „Krieg gegen Corona“ und dem „Krieg gegen Putin“: In beiden Fällen wurde (nicht nur, aber besonders) von den Ländern des Westens mit einer dysfunktionalen und in hohem Maße (auto)destruktiven „Strategie“ reagiert, und diese Strategie wurde beharrlich und in sogar noch intensivierter Form weiterverfolgt, als ihre Dysfunktionalität und Schädlichkeit immer deutlicher zutage traten. Bei Corona war es eine „Strategie“ der radikalen Viruseindämmung mittels Lockdowns, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Maskenpflichten, anlasslosen Massentests und schließlich, als ultimative „Wunderwaffe“, Massenimpfungen mit neuartigen, genetischen Impfstoffen.[1] Im Krieg gegen Russland – der ja inzwischen von westlichen Akteuren mehr oder weniger offen auch als solcher bezeichnet wird[2] – sind es eine sowohl in ihrem Ausmaß als auch in ihrer selbstschädigenden Wirkung historisch beispiellose Sanktionspolitik sowie das ständige und mit jedem strategischen Rückschlag und dem immer ungünstigeren Kriegsverlauf stets noch aggressiver betriebene Eskalieren des Konflikts, etwa durch immer neue Waffenlieferungen in die Ukraine, mittlerweile sogar von modernstem westlichen Kriegsgerät (z.B. Kampfpanzer oder NASAMS- und Patriot-Luftabwehrbatterien).


„Strategie“ steht an dieser Stelle nicht zufällig unter Anführungszeichen, denn von einer „Strategie“ kann in beiden Fällen angesichts der in hohem Maße selbstzerstörerischen Outcomes wahrlich kaum die Rede sein. Unter Strategie versteht man die Definition eines bestimmten Zwecks, zu dem wiederum bestimmte Mittel entsprechend eingesetzt werden. Strategisch ist ein Handeln mithin dann, wenn ihm eine adäquate (oder überhaupt eine) Zweck-Mittel-Abwägung zugrunde liegt und es auf ein klar formuliertes Ziel hin ausgerichtet ist, das mit den eingesetzten Mitteln, zumindest potentiell, erreicht werden kann. Von einem solchen Begriff und Verständnis von „Strategie“ ausgehend, zeichneten (und zeichnen) sich die von den Staaten implementierte Seuchenbekämpfung und der aktuell gegen Russland geführte Krieg im Grunde durch die vollständige Abwesenheit einer Strategie aus. Nicht nur, dass die Mittel, die eingesetzt wurden und werden, kaum zur Erreichung der ausgegebenen Ziele taugen und, im Gegenteil, überwiegend schädliche Effekte zeitigen; diese haben sich darüber hinaus in der Corona-Krise wie im aktuellen Ukraine-Krieg rasch verselbständigt und gerieten letztlich zu einer Art Zweck in sich. Deutlich abzulesen ist dies etwa an der auf allen Ebenen des Maßnahmenregimes zu beobachtenden „Pseudoaktivität“ (Adorno) sowie an der damit einhergehenden Mentalität, unbedingt „etwas tun“ zu wollen und zu müssen. Diese Mentalität scheint sich seit den Zeiten Adornos, der dem bürgerlichen Subjekt eine entsprechende Neigung bereits in den 1950er und 1960er Jahren bescheinigte, beinahe epidemisch ausgebreitet zu haben und heute geradezu charakteristisch zu sein für die in der Krise umgehenden Degenerationsformen des Homo Faber. Dass es unter Umständen klüger sein könnte, nichts zu tun, als einfach irgendwas, müsste angesichts der massiven „Kollateralschäden“ des eigenen Handelns eine der großen Lehren aus der Corona-Krise sein, will jedoch gerade den für die „Gesundheitspolitik“ der letzten drei Jahre Verantwortlichen und ihren „solidarisch“ Mitgelaufenen bis heute partout nicht einleuchten. Beim sich immer weiter zuspitzenden Ukraine-Krieg verhält sich dies daher kaum anders als bereits während der „Pandemie“: Wir können ja nicht einfach nichts tun! Wie wär’s also mit Atomkrieg?


Zum Teil dürfte das krasse Missverhältnis zwischen Mitteln und Zwecken und die daraus resultierende, der Tendenz nach immer weiter gesteigerte Dysfunktionalität der westlichen „Strategien“ in den Kriegen gegen Virus und Putin aber auch schlicht dem Umstand geschuldet sein, dass die ins Werk gesetzten „Maßnahmen“ (zumindest zeitweise bzw. in zunehmendem Maße) auch andere Zwecke verfolgten als eine effektive Pandemiebekämpfung bzw. „Schwächung Russlands“. Da ist zum einen die bereits per se prekäre Situation, mit der sich ja zumeist sehr bald herausstellenden Dysfunktionalität der „Maßnahmen“ und den damit einhergehenden „Kollateralschäden“ umgehen und irgendwie darauf reagieren zu müssen. Einmal in eine extrem riskante Lockdown- bzw. Sanktions- und Eskalationspolitik hineingelaufen, war es für die politischen Entscheidungsträger jedoch extrem schwierig bis unmöglich, aus der Sackgasse wieder herauszufinden – und zwar selbst dann, wenn ihnen die Unangemessenheit und Schädlichkeit der ergriffenen Maßnahmen irgendwann klar zu Bewusstsein gekommen sein sollte. Es blieb ihnen daher, wie so häufig, nur die Flucht nach vorn. Diese war wiederum motiviert zum einen durch die Vermeidung eines politischen Gesichtsverlusts, den ein Eingeständnis des Scheiterns der zumeist als „alternativlos“ propagierten „Maßnahmen“ nach sich gezogen hätte. Die Ablenkung der Bevölkerung von der Untauglichkeit und Schädlichkeit der implementierten „Strategien“ legte sich also zunehmend über die eigentlichen, ursprünglichen „Kriegsziele“ und wurde sozusagen zum neuen „Zweck“ eines umso beharrlicheren Festhaltens am dysfunktionalen Maßnahmenportfolio, das in weiterer Folge nicht selten sogar um noch absurdere und dysfunktionalere „Maßnahmen“ ergänzt wurde. So folgten in der Corona-Krise auf den ersten, schon unübersehbar nutzlosen wie schädlichen Lockdown noch mehrere weitere Lockdowns, kombiniert mit einer Ausweitung von Maskenpflichten und immer noch größer dimensionierten Massentestungen, und dies steigerte sich schließlich in Deutschland zu (auch sprachlichen) Absurditäten wie z.B. der „Bundesnotbremse“ oder in Österreich zur beispiellosen Farce um eine allgemeine Impfpflicht und einen „Lockdown für Ungeimpfte“. Zum anderen dürfte der an den Tag gelegte Aktivismus und die sture Fortsetzung der immergleichen, ihre Schädlichkeit bereits hinlänglich unter Beweis gestellt habenden „Politik“ aber wohl nicht zuletzt auch den Zweck erfüllt haben, sich selbst über das Scheitern der „Strategien“ hinweg zu lügen und die autodestruktiven Effekte des eigenen Agierens zu verdrängen. Hier wären wir also wieder einmal beim Thema Realitätsverleugnung und Realitätsverlust angelangt (siehe ausführlich Teil 1 des Beitrags). Folgerichtig konnte die Reaktion der Funktionseliten nur in der stets noch starrsinnigeren Anwendung der bereits implementierten „Maßnahmen“ nach dem Muster „more of the same“ bestehen: noch mehr Lockdowns, noch mehr Impfen, noch mehr Sanktionen, noch mehr Waffen.


Schließlich besteht noch die Möglichkeit, dass einige der „Maßnahmen“ bereits von vornherein andere Ziele verfolgten als die, mit denen sie begründet worden waren, so etwa wenn die Lockdowns auch oder vorrangig dazu dienten, den drohenden Zusammenbruch des Finanzsystems zu bewältigen und durch die „kontrollierte Zerstörung“ der Realwirtschaft eine Hyperinflation zu verhindern (vgl. Vighi 2023). Oder wenn die beispiellose Sanktionspolitik gegen Russland, nachdem schon der russische Angriff auf die Ukraine nicht unwesentlich durch die USA provoziert worden war, einem „höheren“ geopolitischen Ziel folgte, für das die Eskalation des Krieges in der Ukraine nur als willkommener Vorwand bzw. Anlass diente, um Russland im krisenimperialistischen „Great Game“ (Konicz 2022a) nachhaltig zu schwächen und die Satelliten in der EU gleichzeitig an die kurze Leine zu nehmen. In diesem Fall hätten wir es also durchaus mit einer gewissen Binnenrationalität der westlichen „Strategien“ zu tun – allerdings mit einer Rationalität, die in Anbetracht der unübersehbar negativen und selbstschädigenden Effekte auf das klägliche Scheitern jener „Strategien“ verweist und daher selbst als in hohem Maße dysfunktional zu bezeichnen ist.


„Hütet euch vor den Gerüchten, die in Umlauf sind, und tretet denselben tunlichst entgegen. Es ist der tückische Plan der Feinde, Verwirrung in eure Reihen zu bringen, aber es wird ihnen nicht gelingen. Verschließet euer Ohr den Ausstreuungen, als ob wir nicht bis zum gedeihlichen Ende durchhalten könnten und daß bei uns Hungersnot herrsche. Wer ist denn schuld an derselben als die Feinde? […] Der Feind will, da er uns im Felde nicht besiegen kann, unsere Kraft im Hinterlande zermürben. Darum seid auf der Hut vor den Gerüchten! Beteiliget euch auf das energischeste an deren Unterdrückung. Sie gehören in das Arsenal unserer Feinde […].“


Ein Lehrer in Die letzten Tage der Menschheit (Kraus 2017, S. 180f.)

So oder so scheint sich mit Blick auf das westliche Agieren in den vergangenen drei Jahren und die zugrunde liegenden „Strategien“ (oder vielmehr deren Abwesenheit) auf eindrucksvolle Weise ein Satz des legendären chinesischen Militärstrategen Sunzi zu bewahrheiten, den dieser bereits vor 2.500 Jahren prägte: „Taktik ohne Strategie ist der Lärm vor der Niederlage.“ Besser und treffender könnte man die Performance des Westens in den Kriegen gegen Corona und Russland und das mit der Zeit hier wie dort immer kopfloser und absurder gewordene Maßnahmenregime kaum beschreiben.[3]



1. Neue Höhen des Realitätsverlusts und Bellizismus


Bevor auf einige der autodestruktiven Effekte des westlichen „Krieges gegen Putin“ und deren potentiellen Zusammenhang mit einem immer deutlichere Formen annehmenden „Todestrieb“ der kapitalistischen „Zivilisation“ im Allgemeinen und ihrer westlichen Ableger im Besonderen eingegangen wird, ist es erforderlich, zumindest kursorisch auf einige Entwicklungen der letzten Zeit einzugehen und sozusagen ein „Update“ vorzunehmen. Denn seit der Veröffentlichung des ersten Teils der vorliegenden Abhandlung sind einige Monate vergangen und hat sich nicht nur der Kriegsverlauf, wie abzusehen war, weiter zuungunsten der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten zugespitzt, sondern Hand in Hand damit auch der Realitätsverlust im Westen neue Höhen erklommen. Seit der ukrainischen „Herbstoffensive“, die besonders in westlichen Medien zu einer bevorstehenden Trendwende im Krieg gegen Russland hochgejubelt wurde[4], in Wahrheit jedoch strategisch nur wenig relevante Gebietsgewinne brachte, dafür aber für die Ukraine extrem verlustreich verlief, sind selbst diese minimalen Erfolge großteils wieder zunichte gemacht worden und hat Russland nicht nur seine Luftangriffe auf ukrainische Städte intensiviert, sondern auch an der Front beträchtliche Fortschritte erzielt. Mitte Januar 2023 ist mit Soledar eine strategisch wichtige Stadt auf der Verteidigungslinie der ukrainischen Streitkräfte gefallen und von russischen Truppen eingenommen worden. Dasselbe scheint nun auch in der schwer umkämpften Stadt Bachmut bevorzustehen.[5] Damit wäre der Weg für Russland frei zur Einnahme der restlichen Regionen im und zur vollständigen Kontrolle über den Donbass.


Im Westen reagiert man auf diese herben Rückschläge und die sich immer deutlicher abzeichnende Niederlage im Krieg gegen Russland wie schon in all den Monaten zuvor: mit Verleugnung und der sturen Fortsetzung der schon bisher kläglich versagenden „Strategien“ und „Maßnahmen“. Zunächst einmal wird unbeeindruckt und völlig konträr zum bisherigen Kriegsverlauf am Narrativ festgehalten, dass „Russland verliert“ und die „Ukraine gewinnt“. Man entblödet sich dabei nicht einmal, in den Medien auch heute noch bei jeder Gelegenheit Selenskyjs Halluzinationen über eine Rückeroberung der Krim und einen bald zu erringenden Sieg über Russland zu verbreiten.[6] Mittlerweile ist die reale Situation freilich schon so trist, dass nur wenige Tage später über das Eingeständnis des ukrainischen Präsidenten berichtet werden muss, dass die Lage an der Front „immer schwieriger und schwieriger“[7] wird. Der für die Ukraine und den Westen schlicht desaströse Kriegsverlauf wird sodann als eine „Pattsituation“[8] schöngeredet, in der beide Seiten gleichermaßen hohe Verluste erleiden würden. Über die tatsächliche Höhe der Verluste besteht freilich große Unsicherheit, zumal beide Seiten unaufhörlich mit Propaganda um sich werfen und daher weder den Angaben der Ukraine noch jenen Russlands umstandslos zu trauen ist. So wie der Krieg bisher verläuft und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich speziell die ukrainische bzw. westliche Propaganda praktisch seit einem Jahr permanent an der Realität blamiert und sich in immer kürzeren Intervallen als massive Fehleinschätzung, Lüge oder Hirngespinst erweist, erscheint es sicherer, sich tendenziell an die vom russischen Militär veröffentlichten Zahlen zu halten, die das Verhältnis der ukrainischen und russischen Verluste im Bereich von 10:1 veranschlagen.[9] Sollte dies auch nur annähernd zutreffend sein, muss davon ausgegangen werden, dass die Ukraine in absehbarer Zeit kampfunfähig sein und militärisch kollabieren wird. Dafür spricht nicht zuletzt, dass inzwischen die Rekrutierungspraxis in der Ukraine beinahe schon „Volkssturm“-artige Dimensionen angenommen zu haben scheint und bereits Männer über 60 eingezogen werden.[10]


Vor diesem Hintergrund ist es nur mit galoppierendem Realitätsverlust zu erklären, wenn ein Sieg der Ukraine prophezeit wird, und das womöglich noch im Laufe der kommenden Monate. Dergleichen sagt etwa ein „Militärexperte“ der ETH Zürich voraus, der dies – wen überrascht es? – „errechnet“ haben will und auf dieser Grundlage behauptet, dass die Ukraine „Russland im Oktober besiegen“ wird.[11] Wir begegnen hier mithin derselben „mathematisierten Scharlatanerie“, in Kombination mit derselben Abgehobenheit von jeglicher objektiven Wirklichkeit, wie schon bei den notorischen Rechenkünstlern der „Pandemie“-Modellierung, deren „Modelle“ und daraus abgeleitete Prognosen sich in aller Regel als wenig aussagekräftig und oft genug als grotesk falsch erwiesen haben. Auch die „Modellannahmen“ sind hier so hanebüchen wie dort und bauen vor allem auf dem seit Kriegsbeginn erzählten Märchen auf, wonach den Russen demnächst – jetzt aber wirklich! – die Munition ausgehen werde. Selbst wenn man einmal annehmen wollte, dass dies zuträfe und der russische Verbrauch an Munition irgendwann in nächster Zeit die Produktionskapazitäten übersteigen sollte, so stünde die Ukraine immer noch schlechter da, da diese von westlichen Lieferungen abhängig ist, die jedoch langsam aber sicher im Versiegen begriffen sind, weil die westlichen Verbündeten gar nicht so viel an Munition nachproduzieren können, wie die Ukraine innerhalb von Wochen und Monaten verschießt, sodass sogar schon deren eigenen Bestände weitgehend aufgebraucht sind.[12] Wie die Dinge tatsächlich liegen, kann sogar in westlichen Medien nachgelesen werden: Laut Süddeutscher Zeitung vom 7. März 2023 plant die EU, für eine Milliarde Euro Artilleriegeschoße zu kaufen – und zwar „sowohl um die Ukraine damit zu beliefern als auch, um die eigenen, weitgehend geleerten Bestände wiederaufzufüllen.“[13] Der Artikel enthält auch Angaben über die ukrainische im Vergleich zur russischen Feuerkraft: Die russischen Streitkräfte könnten demnach täglich ca. 20.000 Artilleriegranaten abfeuern, während der Ukraine lediglich 4.000 bis 6.000 Schuss pro Tag zur Verfügung stünden. Dem ukrainischen Verteidigungsminister Resnikow zufolge benötige die Ukraine, „um militärisch effektiv zu sein“, mehr als 350.000 Schuss pro Monat. Das übersteigt freilich, wie selbst dem Autor jenes Artikels nicht verborgen bleiben kann, die Möglichkeiten der EU bei weitem. Hier schlägt wohl auch der bereits an früherer Stelle (siehe Teil 1 des Beitrags) erwähnte Umstand zu Buche, dass das im Westen produzierte Kriegsmaterial nicht nur in vielerlei Hinsicht dem russischen qualitativ unterlegen, sondern darüber hinaus auch überteuert ist. So rechnet die Süddeutsche in ihrem Artikel vor, dass eine „einfache 155-Millimeter-Granate, die zum Beispiel nicht über eine Laser- oder GPS-Lenkeinheit verfügt – mithin eine sogenannte ‚dumme Bombe‘ – […] um die 3000 Euro pro Stück [kostet]. Mit einer Milliarde Euro lassen sich also etwas mehr als 330 000 Geschosse beschaffen – weit weniger, als die Ukraine nach eigenen Angaben benötigt.“ Völlig offen lässt der Artikel (wie auch die EU) dabei die Frage, wer die Munition in ausreichender Menge herstellen soll, zumal fraglich ist, ob Europa aktuell überhaupt über die dafür erforderlichen Rüstungskapazitäten verfügt. Nicht zufällig sieht der „Plan“ der EU als eigenen Punkt vor, „langfristig die Rüstungskapazitäten in Europa [zu stärken]. Vor diesem Hintergrund kann also kaum ein Zweifel bestehen: Wenn jemandem demnächst die Munition ausgeht, dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Ukraine noch lange vor Russland.


Angesichts der zahlreichen Rückschläge und der drohenden Niederlage im selbst maßgeblich mit vom Zaun gebrochenen Krieg erklärt der Westen den Realitätsverlust übrigens bereits zur Tugend. In einem Meinungsartikel in der Washington Post schlägt etwa der frühere Chefredakteur des Blatts vor, angesichts des rasch voranschreitenden Vertrauensverlusts, den Politik und Medien durch die Blamage, die die von ihnen in die Welt gesetzten und propagierten „Narrative“ in zunehmendem Maße an der Realität erleiden, künftig in der öffentlichen Kommunikation auf „weniger Objektivität“ zu setzen.[14] Gemeint ist damit natürlich in erster Linie auch und vor allem: mehr Zensur. „Wenn es evident ist“, so heißt es in dem Artikel, „sollten wir unserem Publikum klar und deutlich sagen, dass wir nicht glauben, dass es mehrere Seiten in dieser Frage gibt, sondern dass dies eine Unwahrheit ist. Und die Person, die diese Unwahrheit immer wieder wiederholt, macht sich der Lüge schuldig.“ Einen Vorgeschmack darauf konnte man nicht nur bereits während der „Pandemie“ bekommen, als es im Prinzip genau ein Narrativ gab, das als die „richtige“ und „wissenschaftliche“ Position zum Thema Corona und Impfung galt – nämlich das der Regierungen[15] –, sondern können auch Kriegsgegner und Friedensaktivisten hierzulande zum Teil schon heute genießen: So wurde im Januar 2023 ein Friedensaktivist vom Amtsgericht Berlin nach einer Anti-Kriegs-Rede wegen angeblicher „Billigung“ des „völkerrechtswidrigen Überfalls Russlands auf die Ukraine“ zu einer Geldstrafe verurteilt, u.a. mit der (bereits sprachlich entgleisten) Begründung, damit „das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern und das psychische Klima der Bevölkerung aufzuhetzen“.[16] Sorge bereitet dem Westen freilich auch, dass weite Teile des Planeten die westliche Position zum Ukraine-Krieg nicht teilen und die „Skepsis gegen den Westen“ im Zuge des Krieges (warum nur?) weiter zunimmt. Da im Westen die Welt bzw. die Wirklichkeit primär aus „Narrativen“ besteht, ist es nur folgerichtig, dass die Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), um dem „Auseinanderdriften der Welt“ entgegenzuwirken, für ein „neues Narrativ“ plädiert, das auch solche, dem Westen gegenüber misstrauische Länder „anspricht“.[17] „Die Welt als Wille und Design“ (Kurz 2013) – und entsprechendes „Narrativ“; mit den Mitteln, die den Westen in die Misere hineingeritten haben, versucht er so borniert wie erfolglos sich aus selbiger wieder herauszuziehen. Am Ende vergrößert er damit freilich nur den Hiatus, der zwischen seinen „Strategien“ und der objektiven Wirklichkeit aufklafft und schraubt darüber hinaus die Fallhöhe ins Unendliche.


Auch auf praktisch-politischer Ebene bleibt der Westen beim „bewährten“ Maßnahmenportfolio, d.h. es werden immer neue Sanktionen verhängt, die schon bisher nicht die Wirkung gezeigt haben, die man sich von ihnen versprochen hatte, dafür aber nicht geringe ökonomische „Kollateralschäden“ nach sich zogen. Die EU verabschiedete etwa am 24. Februar 2023, also exakt am ersten Jahrestag des „russischen Angriffskrieges“, ihr insgesamt zehntes Sanktionspaket.[18] Unbeirrt festgehalten wird auch an der „Strategie“ immer neuer Waffenlieferungen in die Ukraine. Wie groß die Verzweiflung (aber auch der Wahnsinn) im Westen inzwischen ist, kann insbesondere daran abgelesen werden, dass immer mehr rote Linien überschritten werden, die das Potenzial haben, den Konflikt endgültig zu einem Dritten Weltkrieg zu eskalieren. Darunter fällt vor allem die Entscheidung etlicher westlicher Länder, Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Mittlerweile, nachdem sich die Panzerlieferungen als die Farce erwiesen haben, als die sie von Anfang an erkennbar waren, wird sogar (wenn auch noch etwas verhalten) über die Lieferung von Kampfjets diskutiert.[19] Vielleicht verweist die aktuell noch bestehende Zurückhaltung in der Kampfjet-Frage darauf, dass manchen inzwischen dämmert, welch gefährlicher Weg damit beschritten würde und de facto bereits mit der Lieferung von Panzern eingeschlagen wurde. Man kann es nur hoffen, andernfalls darf erwartet werden, dass in nicht allzu ferner Zukunft womöglich auch noch der vom ukrainischen Vizeregierungschef Kubrakow auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 erhobenen Forderung nach Streumunition[20] nähergetreten werden könnte – womit der Westen immerhin seinen Willen zum Kriegsverbrechen bekunden würde. Gegen das rechtzeitige Aufblitzen einer wie auch immer rudimentären Restvernunft spricht aber ohnehin, dass die USA kürzlich ankündigten, Langstreckenraketen an die Ukraine liefern zu wollen, was den Krieg zweifellos auf eine weitere Eskalationsstufe heben würde.[21]


Gerade die vom Westen abgelieferte Kampfpanzer-Farce gibt übrigens einmal mehr eine eindrucksvolle Lektion sowohl über den Irrsinn als auch über den grassierenden Realitätsverlust, gepaart mit einem geradezu erschreckend hohen Grad an Inkompetenz, in den Reihen der politischen und militärischen Personnage sowie deren medialen und wissenschaftlichen Sekundanten. Allen voran die zu Kriegsherren gewendeten Schreiberlinge in den Redaktionsstuben linksliberaler Zeitungen wie dem Standard konnten sich kaum halten vor Begeisterung über den Ende Januar 2023 gefällten Beschluss zur Lieferung von Kampfpanzern in die Ukraine und gaben umgehend als „Ziel“ der ganzen Operation nichts Geringeres als den „Sieg“ über Russland aus. Wahrscheinlich sah man schon die Siegesparade der deutschen „Leoparden“ auf dem Roten Platz in Moskau vor dem geistigen, von Tränen der Rührung leicht wässrig-trüben Journalistenauge. Mit den Kampfpanzern der NATO, die in den kommenden Wochen und Monaten an die Front gelangen würden, sei „die Schlacht um die Rückeroberung der besetzten Gebiete eröffnet, und diese wird, wenn es militärisch möglich ist, auch vor der Halbinsel Krim nicht haltmachen. Wenn die Panzer, die bisher zugesagt wurden, nicht reichen, dann wird der Westen weiter aufstocken, auch die Lieferung von Kampfjets wird von Tag zu Tag
wahrscheinlicher.“
[22] Getrübt wurde die Freude allenfalls durch das bereits obligatorische Lamento Selenskyjs, der – vielleicht schon ahnend, wieviel derartige Zusagen aus dem Westen unter den sich zusehends verschlechternden Bedingungen wert sind –, betonte, sich nicht auf „Bemühungen, Worte, Versprechen“ verlassen zu wollen, und seine Verbündeten daran erinnerte, dass es „nicht um fünf oder zehn oder 15 Panzer [geht]. Der Bedarf ist größer“.[23] Aber alles in allem, so verkündete der ORF (das Magazin Politico zitierend) in der postmodern verkommenen, infantilen Sprache von Teambuilding-Seminaren: Das „Team Ukraine“ ist „überglücklich“.[24] Im selben ORF-Beitrag kann man dann wenige Absätze später lesen, dass es „Monate, wenn nicht Jahre dauern“ könnte, bis die Panzer – konkret geht es hier um die von den USA zugesagten Abrams-Panzer – zum Einsatz kämen. Es sei daher „unwahrscheinlich, dass die Fahrzeuge zum Frühjahr in der Ukraine ankommen, wenn mit der Offensive Russlands beziehungsweise einer Gegenoffensive der Ukraine zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete gerechnet wird.“ Monate bis Jahre! Man kann nur staunen über solch eine Nonchalance, mit der über den Faktor Zeit hinweggegangen wird, als sei dieser im Krieg, zumal bei einem mit dem gegenwärtig zu beobachtenden Verlauf, eine Nebensächlichkeit. Dabei ist hier noch gar nicht berücksichtigt, dass sich die Panzer nicht selber steuern, also zu deren Bedienung, selbst wenn sie in kurzer Frist geliefert werden könnten, hinreichend ausgebildetes Personal in ausreichender Zahl erforderlich ist – das zu gewährleisten würde allein Monate in Anspruch nehmen. In Anbetracht des Kriegsverlaufs und der gegenwärtigen militärischen Lage, in der sich die Ukraine befindet, sind die westlichen Panzer-Zusagen also in etwa vergleichbar damit, einem Verblutenden die Übersendung der notwendigen Blutkonserven und des für die Verabreichung ausgebildeten Personals für die kommenden Tage und Wochen in Aussicht zu stellen. Die von Anfang an zögerliche Haltung der USA in dieser Angelegenheit[25] und die bestenfalls langfristige Perspektive, die sie stets anbieten, haben ihren Grund vielleicht auch darin, dass sie wissen, dass sie die versprochenen Abrams-Panzer gar nicht in ausreichender Menge produzieren können, zumal die Produktion vor einigen Jahren praktisch stillgelegt wurde und die entsprechenden Kapazitäten derzeit gar nicht existieren.[26] Auch seitens anderer westlicher Länder sind die Taten, die den Worten folgen sollten, bislang überschaubar geblieben. Deutschland hat z.B. anstatt der zugesagten Leopard-2-Panzer zunächst nur ausgemusterte Leopard 1 geschickt.[27] Inzwischen ziehen immer mehr europäische Länder (z.B. Niederlande, Finnland, Dänemark) ihre ursprünglich gemachten Zusagen zurück und ist in manchen Medien bereits von einem „Panzer-Fiasko“ und von der „europäischen Panzer-Allianz“ als einem „Rohrkrepierer“ die Rede.[28]


Man könnte sich über solche offenen Zurschaustellungen von Welt- und Realitätsfremdheit amüsieren, und in der Tat haben die westlichen „Strategien“ und die sich daraus ergebenden Szenen oft genug kabarettistische Qualitäten. Allerdings geht die vom Westen mit absurdesten Mitteln betriebene Verlängerung eines längst verlorenen Krieges auf Kosten zahlloser Menschenleben, insbesondere in der ukrainischen Bevölkerung und unter den unnötig und in immer größerer Zahl an der Front verheizten Männern und Frauen.[29] Der ganze Zynismus der westlichen „Strategie“ kommt in der medial und politisch herumgereichten Vokabel des „Abnutzungskriegs“[30] zum Ausdruck: „Abgenutzt“ wird hier vor allem die Ukraine, die „bis zum letzten Ukrainer“ einen nicht mehr zu gewinnenden Stellvertreterkrieg kämpfen soll und dafür mit Waffen, Munition, Finanzmitteln etc. ausgestattet wird, in der irrealen und desperaten Hoffnung, Russland damit letztendlich doch noch zur Kapitulation zu zwingen oder zumindest eine Verhandlungsposition zu erringen, in der der Westen dem Gegner im alles andere als nach Plan verlaufenen Konflikt alle möglichen „Maximalforderungen“ oktroyieren kann. All dies wird im Grunde sogar offen zugegeben: Erst wenn Putin am Ende sei, könnten die Waffen ruhen und sei an Verhandlungen überhaupt zu denken.[31] Nichts davon ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt und nach dem bisherigen Kriegsverlauf auch nur annähernd realistisch. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter wird die (inzwischen ohnehin kaum mehr als solche zu bezeichnende) ukrainische Verhandlungsposition werden und desto größer und umfassender werden die schon heute massiven Zerstörungen ausfallen. Die westlichen Projektionsleistungen machen daraus freilich einen Abnutzungskrieg Putins[32], garniert mit der üblichen Dämonisierung und Psychopathologisierung des russischen „Autokraten“, dem Menschenleben schlicht „gleichgültig“ seien[33] – als hätte man sich im Krieg (zumal in den westlichen Weltordnungskriegen von Jugoslawien über Afghanistan und Irak bis Libyen und Syrien) jemals um „Menschenleben“ geschert, und als trage der Westen durch seine beharrliche Eskalationspolitik und seine stets erweiterte Waffenhilfe nicht ebenfalls maßgeblich zu der immer desolateren Situation in der Ukraine bei. Das will sich der gute, „solidarische“ Bürger hierzulande freilich nicht sagen lassen und wird ungehalten, wenn man ihn mit dem Kopf auf die krassen Widersprüche seiner Haltung und den nicht gerade geringen Anteil des Westens am unausgesetzten Grauen in der Ukraine stößt (so etwa jüngst der ZDF-Moderator Markus Lanz, als in seiner Talkshow ein Politologe davon sprach, in der Ukraine würden Soldaten „verheizt“[34]).


Darüber hinaus darf trotz des durchaus nicht geringen Unterhaltungswerts, den so manche kabarettreifen Einlagen der westlichen Funktionseliten ohne Zweifel haben mögen, nicht übersehen werden, dass davon ein ungeheures Eskalationspotenzial ausgeht, das mit Leichtigkeit bis hin zur Provokation eines menschheitsbedrohenden Atomkriegs gehen könnte. Auf der doomsday clock steht der Zeiger bei 90 Sekunden vor Mitternacht – die Gefahr einer globalen Katastrophe ist demnach so groß wie nie zuvor.[35] Gerade die Lächerlichkeit und Wahnwitzigkeit vieler westlicher Aktionen im „Krieg gegen Putin“ verweisen letztlich auf den hochgradig desolaten Zustand, in dem sich der „kollektive Westen“ samt seiner „reduzierten kapitalistischen Funktionsintelligenz“ (Kurz 2003, S. 425) mittlerweile zu befinden scheint: Er riskiert eine immer weitere und immer größere Eskalation des Krieges mit Maßnahmen, die im Endeffekt zu kaum mehr als einer zahnlosen Symbolpolitik taugen, aber in ihrer Signalwirkung an den Kriegsgegner allemal dazu angetan sind, den Konflikt über die Schwelle zum Dritten Weltkrieg zu heben. Etwa, wenn der Westen mit der Lieferung von Kampfpanzern de facto eine Handlung setzt, die der Gegner ohne weiteres als Kriegserklärung auffassen und ihm damit unter Umständen die völkerrechtliche Legitimation geben könnte, westliche Stützpunkte anzugreifen, auf denen z.B. ukrainische Soldaten für die Bedienung der Panzer ausgebildet werden. Angesichts des bestenfalls symbolpolitischen Charakters solcher westlicher PR-Stunts sollte man im Übrigen auch nicht allzu überrascht sein, wenn sich die Kampfpanzer-Farce in nicht allzu ferner Zukunft als Teil einer perfiden Exit-Strategie erweisen sollte, die darauf abzielt, die Ukraine unserer unerschütterlichen „Solidarität“ zu versichern und auch den eigenen Bevölkerungen zu signalisieren, dass „wir“ alles tun, was in unserer Macht steht, um anschließend, wenn getan wurde, „was getan werden konnte“, die Reißleine zu ziehen und die Ukraine, die man als Stellvertreter in diesen Krieg geschickt hat, ihrem Schicksal zu überlassen (und am Ende womöglich auch noch, im Sinne einer Neuordnung der geopolitischen „Einflusssphären“, zwischen dem Westen und Russland aufzuteilen und von der Ukraine nur einen Rumpfstaat übrig zu lassen). Es wäre historisch nicht der erste für einen Stellvertreterkrieg gepäppelte Staat, den der Westen bzw. die USA fallen lassen.[36] So gesehen könnte auch hier wieder eine gewisse Binnenrationalität am Werk sein, jedoch wiederum eine, die angesichts ihres gemeingefährlichen eskalatorischen Potenzials in hohem Maße irrationale Züge trägt und letztlich auch nur von der weit gediehenen Dysfunktionalität des Westens und seiner „Strategien“ kündet.


Demselben Panoptikum des Irrsinns entspringt die ad nauseam propagierte und prolongierte Sanktionspolitik, die ihre bescheidene Wirksamkeit, dafür aber umso größere Schädlichkeit längst unter Beweis gestellt hat. Auch hier ist der „Zweck“, in Anbetracht der überwiegend autodestruktiven Effekte der Sanktionen, wohl in erster Linie ein symbolischer: Solidarität demonstrieren, Flagge zeigen und – in zunehmendem Maße – vom Scheitern der eigenen „Strategien“ ablenken („der eingeschlagene Weg ist der richtige“). Anders als die Sanktionspolitik selbst, verbleiben die verursachten Schäden jedoch nicht auf einer symbolischen Ebene, sondern fallen auf einer ganz handfesten materiellen Ebene an. Die westliche Sanktionspolitik ist also nicht nur virtuell, sondern wirklich zerstörerisch. Noch gelingt es den Funktionseliten, wenn auch nur mit äußersten Verrenkungen, sich an den materiellen Effekten ihres Handelns einigermaßen vorbeizumogeln – oder zumindest so zu tun, als ob. Die beharrlich verleugnete materielle Realität schlägt aber auch hier zusehends zurück (Inflation, Flüchtlingskrise, Energiekrise, drohende Rezession etc.), und der Tag ist wohl nicht mehr fern, an dem die Funktionseliten und die derzeit noch im Kriegstaumel befindlichen Teile der Bevölkerung auf den harten Boden derselben zurückgeholt werden.


Auf neue Höhen geklettert ist in den letzten Wochen und Monaten, neben dem Verlust des Realitätsbezugs, nicht zuletzt auch die westliche Kriegshetze und die damit einhergehende Verrohung des öffentlichen Diskurses, insbesondere unter den linksliberalen und grünen „Wohnzimmergenerälen“. Freilich war der Umgangston schon unmittelbar nach Kriegsbeginn nicht gerade zimperlich und hat etwa der sich für einen Punk haltende Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo – der schon während der „Pandemie“ durch übelste Hetze gegen „Maßnahmengegner“ und „Ungeimpfte“ sowie durch besonders schwere Formen von Realitätsverlust aufgefallen war[37] – bereits im April 2022 Kriegsgegner und Friedensaktivisten als „Lumpenpazifisten“ verunglimpft.[38] Der Kriegsverlauf und das kaum noch zu leugnende Zerschellen der eigenen „Narrative“ an der objektiven Wirklichkeit haben jedoch deutliche Spuren am Nervenkostüm der „solidarischen“ Bellizisten hinterlassen und das Aggressionslevel nochmals beträchtlich nach oben geschraubt. So beschimpfte der Standard-Blogger Christian Kreil Ende Februar 2023 auf Twitter die Initiatorinnen des „Manifests für Frieden“, Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, als „Putinfotzen“ und – um nicht in die „Genderfalle“ zu tappen – andere sich gegen den Krieg positionierende Prominente männlichen Geschlechts ganz gendergerecht als „Putinschwanzlutscher“.[39] Bereits im Januar hatte der bis Herbst 2022 in Deutschland als ukrainischer Botschafter sein Unwesen treibende Andrij Melnyk Sahra Wagenknecht als „widerliche Hexe“ bezeichnet.[40] Die ZDF-Komikerin Sarah Bosetti, die ebenfalls bereits während der „Pandemie“ in Erscheinung getreten war, als sie z.B. „Ungeimpfte“ mit einem für den Gesamtorganismus entbehrlichen Blinddarm gleichsetzte[41], ließ am 1. März 2023 den „Friedenstauben“ Schwarzer und Wagenknecht via Twitter ausrichten, sie würden auf ukrainische Gräber „schei*en“.[42] Den vorläufigen Höhepunkt in diesem zumindest schon verbal angetretenen Marsch in die Barbarei markierte aber sicherlich ein Gastbeitrag der israelisch-französischen Soziologin Eva Illouz in der Zeit, in dem sie sich ausdrücklich „einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine“ wünschte.[43] Der Beitrag erschien zunächst am 16. Februar 2023 in der Print-Ausgabe, zwei Tage später auch online – also exakt am 80. Jahrestag der berühmt-berüchtigten Rede von Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 („Wollt ihr den totalen Krieg?“).


Solche unüberhörbaren und geradezu unverhohlenen Anklänge an die Sprache des Faschismus vermögen selbst den so einiges gewöhnten und gewiss nicht irgendwelchen Illusionen über die „Zivilisiertheit“ moderner, demokratischer Bürgerlichkeit aufsitzenden Wertkritiker sprachlos zu machen. Es scheint sich heute auf so eindrucksvolle wie schauderhafte Weise zu bestätigen, was bereits Adorno über das Fortwesen des Faschismus konstatierte und wovon das sich traditionell als „antifaschistisch“ verstehende, sich immer und überall im Kampf gegen „Nazis“ und „Demokratiefeinde“ wähnende, heute jedoch allerorten zum Vernichtungskrieg gegen alle möglichen äußeren wie inneren Feinde blasende linksliberale und linksakademische Milieu schon längst nichts mehr wissen will: „Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.“ (Adorno 1971, S. 28) Die Ursachen für den bis heute nicht gebrochenen „Bann“ des Faschismus liegen nicht in der Ewiggestrigkeit, Unbelehrbarkeit, Dummheit oder gar generellen Bösartigkeit von „Rechten“, „Nazis“, „Verschwörungsideologen“ usw., sondern gerade in jener „Demokratie“, in deren Namen der heute nur noch zu einer hohlen Phrase verkommene „Antifaschismus“ in den Krieg zieht und dabei selbst vor immer faschistoideren Methoden nicht zurückschreckt. Man kann im Angesicht solcher massiv fortgeschrittenen Verwilderungstendenzen auch nur immer wieder darüber staunen, dass weite Teile der Wert- und Wert-Abspaltungskritik ihre Zeit und ihre Aufmerksamkeit auf eine Kritik an den fraglos in einem historischen Anachronismus befangenen, aber sich immerhin jener bizarren und gemeingefährlichen Kriegstreiberei verweigernden Antiimperialisten verschwenden (vgl. Konicz 2022b). Denn die „Avantgarde der Barbarei“ (ebd., S. 15) – das verdeutlichen die mittlerweile zur Regel gewordenen diskursiven Entgleisungen in der öffentlichen Debatte und in sozialen Medien – wird in der gegenwärtigen Situation bestimmt nicht von den „Antiimps“ gebildet, ja wahrscheinlich nicht einmal von den „Rechten“ (oder was mittlerweile alles darunter subsumiert wird), sondern vor allem von jener völlig verwilderten, nun ihre letzten bürgerlich-demokratischen Masken fallen lassenden „linksliberalen“ Intelligentsia.[44]


Erwähnenswert sind im Rahmen dieses „Updates“ schließlich noch so manche Ereignisse der letzten Monate, über die sich die westlichen Medien beharrlich ausschweigen – wohl weil sie das Potenzial haben, das „Narrativ“ vom „Krieg gegen Putin“ als eines Kampfes für die „westlichen Werte“ und eines gerechten „Verteidigungskrieges“ erheblich zu beschädigen. So etwa ein Interview mit Angela Merkel in der Zeit vom 7. Dezember 2022, in dem sie in entwaffnender Offenheit ausspricht, dass das Minsker Abkommen, mit dem der seit 2014 tobende Bürgerkrieg in der Ukraine hätte beigelegt werden sollen, von westlicher Seite nur dazu diente, der Ukraine Zeit zu verschaffen, um „stärker“ zu werden und quasi gegen Russland aufzurüsten.[45] Dieses „Geständnis“ ist unter dem in diesem Beitrag primär interessierenden Aspekt der wachsenden Dysfunktionalität des Westens und seiner Institutionen unabhängig davon relevant, ob Merkel in diesem Interview die Wahrheit sagt oder nicht. Treffen sie zu, sind solche Worte nachgerade Wasser auf die russischen Mühlen, wo ohnehin (nicht zu Unrecht) ein Bild des Westens und seiner politischen Vertreter als Akteure vorherrscht, die sich an ihre eigenen „Regeln“ nicht halten und Vereinbarungen brechen, wo immer es ihnen gelegen kommt. In Russland existiert dafür sogar ein eigenes Wort (недоговороспособны, was so viel bedeutet wie „not agreement capable“ oder, in einer unzulänglichen deutschen Übersetzung, „nicht abkommens-“ oder „vereinbarungsfähig“).[46] Damit wären die Türen für alle möglicherweise noch folgenden und irgendwann wohl auch notwendigen Verhandlungen mit Russland nachhaltig zugeschlagen, ganz zu schweigen von allfälligen späteren „internationalen Beziehungen“. Entsprechen Merkels Aussagen nicht der Wahrheit oder sind sie zumindest als übertrieben zu qualifizieren, stellt sich die Frage, was sie damit bezweckte. Ging es ihr womöglich bloß im Sinne des heute ubiquitären virtue signalling darum, aus ihrer Politpension heraus und möglichst medienwirksam ihre „Solidarität“ mit der Ukraine zu bekräftigen? In dem Fall wäre dies abermals nur ein Indiz für die Dysfunktionalität der (jegliche Realpolitik zunehmend ersetzenden) westlichen Neigung zu Symbolpolitik und dabei im Übrigen auch ein Hinweis auf einen bemerkenswerten Mangel an politischer Kompetenz bei der deutschen Ex-Kanzlerin. Einen Beitrag zur Inkompetenzthese (dazu Uhlschütz 2023) lieferte Merkels Interview freilich auch dann (und erst recht), wenn ihre Aussagen den Tatsachen entsprechen. Denn was außer Inkompetenz könnte sie dazu veranlassen, eine derartige geopolitische Dummheit zu begehen und offen zuzugeben, dass der Westen niemals vorhatte, sich an das Minsker Abkommen zu halten, und damit den „Feind“ dermaßen unnötig zu brüskieren?[47]


In einem anderen Interview vom 4. Februar 2023 plauderte sodann der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett so manche Details über die im März 2022 von ihm geführten Vermittlungsgespräche zwischen Russland und der Ukraine aus.[48] Bennett war am 5. März 2022, also relativ kurz nach dem Angriff Russlands, nach Moskau gereist, um sich mit Putin zu treffen und über die Bedingungen eines baldigen Waffenstillstandes zu verhandeln. Dieses Treffen sei mit den USA, Frankreich, Deutschland und dem Vereinigten Königreich koordiniert gewesen. Beide Seiten, so Bennett, hätten dabei Bereitschaft zu weitgehenden Zugeständnissen signalisiert. Die russische Seite habe z.B. zugesagt, auf die Entwaffnung der Ukraine als Grundlage für einen Waffenstillstand zu verzichten. Für die ukrainische Seite habe wiederum Selenskyj zugestanden, keine NATO-Mitgliedschaft mehr anzustreben, was letztlich auch eine der Hauptforderungen Russlands und einen der Gründe für seine „militärische Spezialoperation“ darstellt. Bekanntlich scheiterten die Verhandlungen letztlich, und zwar, wie Bennett sagt, auf Druck des Westens, insbesondere Großbritanniens. Im April 2022 habe der britische Premierminister Boris Johnson Kiew besucht und Selenskyj nachdrücklich aufgefordert, nicht mit Russland zu verhandeln. Damit bestätigt Bennett im Prinzip die russische Version über den Abbruch der damaligen Verhandlungen, die im Westen, wie vieles andere auch, als „russische Propaganda“ abgetan wurde und wird. Freilich konnte schon im Mai 2022 etwa in der Ukrainska Pravda, nicht gerade einem russischen Propagandablatt, nachgelesen werden, dass es Boris Johnson war, der bei seinem Besuch in Kiew dem ukrainischen Präsidenten zu verstehen gab, dass die westlichen Unterstützer einem Abkommen mit Russland keinesfalls zustimmen würden, selbst wenn die Ukraine bereit sein sollte, ein solches zu unterzeichnen.[49] Solche „Enthüllungen“ sind im Übrigen auch ein Hinweis darauf, dass es sich mit der „russischen Propaganda“ mit der Zeit ähnlich verhalten könnte wie mit so manchen „Verschwörungstheorien“ im Kontext der Corona-Krise: Das eine oder andere entpuppt sich nach und nach als ganz und gar nicht abwegig und wird womöglich in absehbarer Zeit auf vergleichbare Weise in den Rang von Common-Sense-Wissen aufsteigen wie so manches „Geschwurbel“ über die Schädlichkeit von Lockdowns oder das fragwürdige Nutzen-Risiko-Profil der Corona-Impfung (zumindest aber wird man es mit noch größerem Aufwand aus selbigem fernhalten müssen).


Ein besonders interessantes Beispiel für eine „Verschwörungstheorie“ und „russische Propaganda“ hat ebenfalls erst vor kurzem einiges an Aufsehen erregt. Der US-amerikanische investigative Journalist Seymour Hersh – eine Art Legende seines Fachs, die sich bereits bei zahlreichen anderen Gelegenheiten als „Aufdecker“ verdient gemacht hat (etwa im Watergate-Skandal oder im Zusammenhang mit Folterpraktiken des US-Militärs in Abu Ghraib) – ist Anfang Februar 2023 mit einer aufschlussreichen „Story“ über die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines an die Öffentlichkeit getreten.[50] Dass die USA hinter diesem Anschlag stecken dürften, pfiffen freilich schon längst sämtliche Spatzen von den Dächern. Anfangs hatten westliche Medien noch recht verkrampft und ungeschickt versucht, Russland für die Zerstörung der Pipelines verantwortlich zu machen. Schon bald war man jedoch in betretenes Schweigen übergegangen – es war einfach zu offensichtlich, dass nicht die Russen für diesen Terrorakt verantwortlich waren, sondern der oder die Urheber eher unter den westlichen Verbündeten selbst, insbesondere in den USA, zu suchen waren, aber niemand schien es aussprechen zu können oder zu wollen. Die von Hersh im Februar veröffentlichte Recherche legt nun relativ detailreich dar, dass und wie die Zerstörung der Pipelines auf Geheiß der US-Regierung mit Unterstützung Norwegens herbeigeführt worden war. Auch wenn damit noch kein zweifelsfreier Beweis erbracht ist und sich westliche Medien redlich bemühten, Hersh und seine Recherche mit den altbekannten Methoden unglaubwürdig zu machen[51], erscheint die Rekonstruktion des „Tathergangs“ nicht unplausibel. Demnach seien die Sprengladungen bereits im Juni 2022 während einer NATO-Sommerübung („BALTOPS 22“[52]) durch Tiefseetaucher der US Navy platziert und am 26. September 2022 mittels einer von einem norwegischen Flugzeug abgeworfenen Sonarboje zur Detonation gebracht worden. Brisant ist diese „Verschwörungstheorie“ nicht zuletzt deshalb, da vor diesem Hintergrund auch so manche Ereignisse im Vorfeld des Krieges in einem neuen Licht erscheinen, so etwa die Aussage von US-Präsident Joe Biden während einer Pressekonferenz mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz am 7. Februar 2022, also etwas mehr als zwei Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, man werde dem Projekt Nord Stream 2 „ein Ende setzen“, falls Russland eine Invasion beginnen sollte – und auf Nachfrage einer Journalistin, wie die USA dies bewerkstelligen wollen, zumal das Projekt unter deutscher Kontrolle stehe: „Ich verspreche, dass wir in der Lage sein werden, es zu tun.“[53] Ebenso die noch etwas früher gemachte Aussage der Unterstaatssekretärin im US-Außenministerium Victoria Nuland, Nord Stream 2 werde bei einer Invasion Russlands „auf die eine oder andere Weise“ gestoppt werden.[54] Die Brisanz dieser Aussagen läge – wenn Hershs Enthüllungen der Wahrheit entsprechen sollten – nicht nur in ihrer keineswegs zu gering zu gewichtenden Bedeutung für die Indizienkette einer führenden Beteiligung der USA an diesem beispiellosen Sabotage- oder vielmehr Terrorakt. Um die Tatsache, dass die USA über die Zerstörung der Pipelines sehr erfreut sind und nicht zuletzt ökonomisch davon zu profitieren hoffen, da sie damit zum führenden Anbieter von Flüssiggas in Europa werden könnten, machen sie ohnehin kein großes Geheimnis.[55] Die Brisanz bestünde noch viel mehr in der beeindruckenden Indiskretion, auf die die Aussagen von Biden und Nuland verweisen würden. Im Kontext der in diesem Beitrag im Zentrum stehenden Frage nach einer fortschreitenden Dysfunktionalität des Westens und seiner Institutionen wäre dies daher auch (und abermals) unter dem Gesichtspunkt der offenkundig auf allen Ebenen um sich greifenden Inkompetenz, insbesondere unter der an den Schalthebeln der Macht sitzenden Personnage, ein weiteres Mosaiksteinchen von einiger Aussagekraft.[56]


Die Nord-Stream-Causa ist, während dieses „Update“ verfasst wird, übrigens noch um eine weitere Wendung reicher geworden und gleichsam in die nächste Runde gegangen. Am 7. März 2023 berichtet die New York Times, laut US-Geheimdienst sei die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines durch eine „pro-ukrainische Gruppe“ verübt worden.[57] An dieser Meldung ist mehrerlei bemerkenswert: Zunächst einmal rücken die USA damit praktisch offiziell von der ohnehin unglaubwürdigen Version ab, wonach Russland der Urheber der Zerstörung gewesen sei. Dass dies wenig plausibel ist, wird nun auch von der NYT explizit zugegeben, denn es sei ja unklar, „welche Motivation der Kreml haben könnte, die Pipelines zu sabotieren, da sie eine wichtige Einnahmequelle und ein Mittel Moskaus sind, um Einfluss auf Europa auszuüben.“ Bemerkenswert ist jedoch auch, dass die eine unplausible, aber immerhin geopolitisch genehme Version durch eine andere, nicht minder unplausible Geschichte ersetzt wird. Die Art und der Umfang der Schäden, die an den Pipelines verursacht wurden, lassen auf eine äußerst anspruchsvolle Operation schließen, die den Einsatz hochqualifizierter und ausgebildeter Tiefseetaucher, unterstützt von einem U-Boot oder Spezialschiff, erfordert. Nicht einmal die Ukraine dürfte derzeit über die Mittel für eine solche Operation verfügen, geschweige denn irgendeine „pro-ukrainische Gruppe“. Auch Russland hält diese Version, wenig überraschend, nicht für glaubwürdig.[58] Bemerkenswert, trotz oder vielleicht gerade wegen der Unplausibilität der von der NYT lancierten Geschichte, ist schließlich, drittens, dass implizit eine ukrainische Beteiligung angedeutet und so der Schwarze Peter fast unmerklich, aber doch in Richtung des Verbündeten in Osteuropa geschoben wird, denn die US-Beamten, so die NYT, hätten „die Möglichkeit offen [gelassen], dass die Operation inoffiziell von einer stellvertretenden Kraft mit Verbindungen zur ukrainischen Regierung oder ihren Sicherheitsdiensten durchgeführt worden sein könnte.“ Die Ukraine beeilt sich freilich, jede Beteiligung an dem Terrorakt zu dementieren.[59] Berücksichtigt man hier noch die Tatsache, dass die im Artikel zitierten „U.S. officials“ zu einem Zeitpunkt mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, an dem die militärische Lage in der Ukraine mit jedem Tag trister wird, so könnte man dies eventuell als erste Anzeichen einer sich anbahnenden Absetzbewegung der USA interpretieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dies freilich kaum mehr als gewagte Spekulation. Zumindest so viel steht fest, dass es den USA mit einer derart fadenscheinigen Geschichte kaum gelingen wird, den durchaus begründeten Verdacht, hinter den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines zu stecken, zu zerstreuen. (Immerhin in dieser Hinsicht wäre die Behauptung, die Anschläge gingen auf das Konto einer „pro-ukrainischen Gruppe“, nicht gänzlich falsch.)



2. Ökonomisches Harakiri


Wenden wir uns nach diesem „Update“ einzelnen Dimensionen der Dysfunktionalität der westlichen „Strategien“ im „Krieg gegen Putin“ zu, so etwa der durch und durch selbstschädigenden Sanktionspolitik, die der Westen seit etwas mehr als einem Jahr in Szene setzt und, aller evidenten Autodestruktivität zum Trotz, auf immer neue und absurdere Höhen treibt. Die Ignoranz gegenüber elementaren „Naturgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise“ (Marx), die die Funktionseliten dabei in beeindruckender Weise an den Tag legen, wie auch die damit verursachten massiven Schäden auf ökonomischer Ebene sind von der gleichen Qualität wie im Rahmen der Lockdown-Politik, mit der sie zwei Jahre früher auf die „Pandemie“ reagiert haben. Gerade aus einer kapitalismuskritischen Perspektive waren und sind diese Reaktionen mit ihren unübersehbar selbstzerstörerischen ökonomischen Effekten besonders schwer zu begreifen. Zu irrational – selbst gemessen an der per se irrationalen, von „metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischen Mucken“ (Marx 1972, S. 85) konstituierten Binnenlogik des warenproduzierenden Systems – und zu sehr wider jede kapitalistische Verwertungsrationalität scheinen derartige „Maßnahmen“ zu sein. Kurt B. Uhlschütz fasst die „Unbegreiflichkeit“ des (vor allem westlichen) Maßnahmenregimes in Corona-Krise und Ukraine-Krieg trefflich wie folgt zusammen:


„Aus welchen Gründen begehen die Länder der Europäischen Union derzeit ökonomischen Suizid? Welches sind die Motive, starrsinnig einen Konfrontationskurs gegen das militärisch überlegene, bislang stets politisch verständigungsbereite und ökonomisch resiliente Russland sowie gleichzeitig gegen das ebenfalls höchst potente China zu verschärfen, der außer der Vorrangstellung des Westens auch das Überleben der Menschheit gefährdet? Warum haben die westlichen Staaten – bemerkenswerterweise aber auch zahlreiche weitere, darunter China, dem man üblicherweise die Beachtung harter betriebswirtschaftlicher Rationalität ohne weiteres zubilligen würde – das Coronavirus mit Maßnahmen zu bekämpfen versucht, die nicht nur im gesundheitspolitischen Sinn nutzlos bis schädlich, sondern hinsichtlich der wirtschaftlichen Basis ihrer Gesellschaften zerstörerisch sind? Es drängt sich der Eindruck auf, dass bis zur Corona-Krise noch eine gewisse, wenn auch interessenbedingt bornierte instrumentelle Rest-Rationalität zu konstatieren war, diese jedoch seit Frühjahr 2020 von der kompletten, nicht mehr von betriebswirtschaftlicher Logik gebändigten Irrationalität abgelöst worden ist.“ (Uhlschütz 2023, S. 209)


Was hier auf den ersten Blick das „Unfassbarste“ und „Erklärungsbedürftigste“ an den Geschehnissen der vergangenen drei Jahre zu sein scheint (und durchaus auch ist) – die Irrationalität und Autodestruktivität der von den (westlichen) Staaten ins Werk gesetzten „Maßnahmen“ und „Strategien“ – ist aus krisentheoretischer Sicht und aus der Perspektive eines kapitalistischen „Todestriebs“ gerade der (oder jedenfalls ein wesentlicher) Schlüssel zu deren Erklärung. Aus dieser Sicht kann der Versuch, die Ereignisse der letzten drei Jahre rational zu erfassen und zu erklären, nur in die Irre führen. Denn wenn die in dieser Abhandlung verfochtene und ausführlich begründete These zutrifft, sind diese Ereignisse das Produkt einer weit fortgeschrittenen Erosion jener „Rationalität“ selbst. Damit ist freilich nicht gesagt, dass es in dem ganzen Spektakel nicht auch binnenrational und planmäßig vorgehende Akteure gibt, die in ihrem Sinne auf die Politik Einfluss zu nehmen versuchen und in weiterer Folge vom konkreten Verlauf, den die „Pandemie“ wie auch der aktuelle Krieg nahmen und nehmen, mitunter enorm profitieren.[60] Für die Pharmaindustrie ist die „Pandemie“ nicht schlecht gelaufen, wie auch Energie- und Rüstungskonzerne sich über den Krieg in der Ukraine bzw. die damit einhergehenden Preissteigerungen bei Öl und Gas gewiss nicht grämen. Auch die USA haben erwiesenermaßen (und aus ihrer Sicht zu Recht) ihre Freude an der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines, erlaubt ihnen dies doch, mit ihrem teuren und überdies ökologisch extrem schädlichen Fracking-Öl und -Gas in Europa Fuß zu fassen. All diese Binnenrationalitäten und vested interests sind jedoch selbst eingebannt in eine unaufhaltsame kapitalistische Krisendynamik und eine auf allen gesellschaftlichen Ebenen zunehmend eskalierende Widerspruchsentfaltung. Zwar mögen manche Akteure unter diesen sich stetig verschärfenden Krisenbedingungen in den damit einhergehenden, sich ebenfalls zuspitzenden Verteilungskämpfen vorübergehend einen Vorteil erringen können. Jede Vorteilsnahme einer bestimmten Kapitalfraktion (oder Volkswirtschaft) geht aber zulasten anderer und vergrößert auf dem bereits erreichten Krisenniveau tendenziell die Instabilität des Systems insgesamt (sei es durch die Verminderung der gesamtgesellschaftlichen Mehrwertmasse, die mit der tendenziell nur noch auf Aneignung, nicht mehr auf Produktion von Mehrwert ausgerichteten Orientierung der Kapitale in der Regel einhergeht, sei es durch die geldpolitischen und fiskalischen Folgen der horrenden Geldschöpfung und staatlichen Ausgaben, auf denen z.B. die Profite der „Pandemieindustrie“ maßgeblich beruhen). Jenseits solcher binnenrationaler Momente, die auf die eine oder andere Weise den konkreten Krisenverlauf prägen können, zeugen gerade die Corona-Krise wie auch die westlichen „Strategien“ im Ukraine-Krieg aber vor allem davon, dass die kapitalistische Binnenrationalität mittlerweile zur offenen Irrationalität hin tendiert und den Funktionseliten weitgehend sogar schon ihr borniertes betriebswirtschaftliches Realitätsprinzip abhandengekommen zu sein scheint – abzulesen etwa an der gesamtökonomisch massiv schädlichen Lockdown-Politik und an der nicht weniger selbstzerstörerischen Sanktionspolitik im „Krieg gegen Putin“.


Wie bei Corona und dem zu seiner Bekämpfung installierten „Pandemie-Management“, war auch bei der westlichen und insbesondere europäischen Sanktionspolitik gegen Russland deren Dysfunktionalität und Schädlichkeit frühzeitig, wenn nicht bereits von Anfang an absehbar. Vor allem gemessen am Ziel der ganzen Veranstaltung, das ebenfalls von Beginn an in bemerkenswerter Offenheit ausgesprochen wurde – nämlich Russland zu „ruinieren“[61] – nimmt sich die Bilanz für den Westen geradezu desaströs aus. Binnen kürzester Zeit führten nicht nur, aber vor allem die vom Westen verhängten Sanktionen zu einer erheblichen Steigerung der Inflationsraten.[62] Die Inflation war freilich bereits vor der Eskalation des Ukraine-Krieges infolge der Geldschöpfungsorgien im Zusammenhang mit der „Pandemie“ auf Rekordniveaus geklettert.[63] Seit Februar 2022 und der kaum weniger orgiastischen Sanktionspolitik im „Krieg gegen Russland“ erreichte diese jedoch immer neue Höhen. In der Eurozone explodierte die Inflation bis Oktober auf über 10 Prozent.[64] Die USA verzeichneten im Jahr 2022 mit einem Durchschnitt von 8,5 Prozent die höchste Inflationsrate seit 1982.[65] In manchen EU-Mitgliedsländern wie Ungarn erreichte die Inflation im Februar 2023 gar 26 Prozent.[66] Anfang September beschloss der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) angesichts der massiven inflationären Entwicklung zum ersten Mal in der Geschichte der Notenbank eine Zinsanhebung um 0,75 Prozentpunkte.[67] Mittlerweile ist die Inflation in der Eurozone wieder etwas gesunken. Jedoch schießen z.B. Lebensmittelpreise weiter in die Höhe. Im Dezember 2022 betrug die Inflation bei Lebensmittelpreisen in der Eurozone 16,2 Prozent.[68]


Ein besonderer Treiber der Inflation sind die enorm erhöhten Energiepreise, die durch die westlichen Sanktionen auf russisches Öl und Gas bewirkt wurden. Deutschland hat sich dabei besonders freudig vor allem von russischem Erdgas abgeschnitten bzw. wurde dies allerspätestens mit der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines im September 2022. Dies ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, da Erdgas gewissermaßen als Brückentechnologie für die seit Jahren in Deutschland propagierte „Energiewende“ fungieren sollte, um damit schädlichere Fossilenergieträger (Öl, Kohle) zu substituieren. Trug schon das gesamte deutsche Energiewende-Projekt von Anfang an die Züge einer Farce (dass das Auslaufen von Atomenergie bei gleichzeitigem Abbau der Kohlekraftwerke und deren Ersetzung durch „erneuerbare Energien“ angesichts der Abhängigkeit z.B. von Solar- und Windenergieanlagen von unberechenbaren Naturfaktoren und der gleichzeitigen Erhöhung des gesamtgesellschaftlichen Energiebedarfs alleine durch die vorangetriebene Digitalisierung und die Förderung von „Elektromobilität“ eine gewagte „Strategie“ ist, konnte sich jeder ausrechnen, der Grundrechnungsarten beherrscht), so stellt die westliche Sanktionspolitik gegen russisches Öl und Gas nur noch eine einzige Groteske dar. Wie schon bei allen anderen Sanktionen und „Maßnahmen“, wie z.B. dem Ausschluss Russlands aus dem internationalen SWIFT-Zahlungssystem[69], war die Absicht dahinter eine möglichst weitgehende ökonomische Schädigung des im Westen primär als „Energiekonzern mit angehängtem Staat“ wahrgenommenen Russland. Der Plan war mithin, über die weitgehende Zerstörung des russischen Energiegeschäfts das Land ökonomisch so zu schwächen, dass Putin (der in der westlichen Wahrnehmung des Krieges ja gleichsam als ideeller russischer Gesamtbösewicht fungiert) die finanziellen Mittel für seine „militärische Spezialoperation“ ausgehen und Russland letztlich, und zwar eher früher als später, kapitulieren muss. Diese „Strategie“ hätte sich vermutlich auch dann an der Realität blamiert, wenn die westliche Einschätzung Russlands und seiner ökonomischen Basis nicht so offensichtlich insuffizient gewesen wäre. Denn die Wirkungen und insbesondere Nebenwirkungen der Sanktionspolitik folgten im Wesentlichen den altbekannten, geradezu banalen kapitalistischen Binnenlogiken: Die auf die Sanktionen folgende bzw. von „den Märkten“ erwartete Verknappung des Öl- und Gasangebots führte unmittelbar zu einem sprunghaften Anstieg der Energiepreise, worunter besonders westliche Unternehmen und Haushalte stark zu leiden hatten (und bis heute haben), während Russland von der Preisexplosion profitierte und seine Einnahmen aus dem Energiegeschäft trotz eines geringeren stofflichen Umsatzes sogar signifikant steigern konnte.[70] Hinzu kam, dass die bisher von westlichen Ländern gekauften, nun jedoch verschmähten Öl- und Gasmengen zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil andere Abnehmer in anderen Weltregionen fanden, z.B. China und Indien. Indien machte gar ein Geschäft daraus, in Europa sanktioniertes russisches Öl zu kaufen und teuer nach Europa weiterzuverkaufen und rief damit Empörung unter den „solidarischen“ Verfechtern rigider Sanktionen hervor.[71] Auch dies hätte man im Westen leicht antizipieren können, bestünde dort nicht eine historisch tief eingewachsene Neigung, sich selbst mit der „Welt“ schlechthin zu verwechseln – eine Neigung, die mit dem durch den Krieg neu angefachten Wir-Gefühl und der auf penetrante Weise propagierten westlichen „Geschlossenheit“ nochmals beträchtlich zugenommen hat und den Blick auf die Realität empfindlich trübt.


Spätestens seit Herbst 2022 lässt sich auch im Westen das ökonomische Desaster, das mit einer so unüberlegten wie dysfunktionalen Sanktionspolitik verursacht wurde, nicht mehr hinreichend aus der eigenen Wahrnehmung fernhalten. Die Sanktionspolitik hat sich damit de facto noch schneller an der Realität blamiert als das „Pandemie-Management“ – hier hat es immerhin mehr als zwei Jahre gedauert, bis über Schäden von Lockdowns und Co. nicht mehr völlig hinweggesehen werden konnte. Am 13. Oktober 2022 verkündet der Economist, dass Europa in eine Rezession stürzt, während Russland – man lese und staune – dabei sei, sich wieder zu erholen.[72] Das Wirtschaftsmagazin Forbes sieht Europa gar ins „Mittelalter“ zurückkehren angesichts der tiefen Rezession und des massiven Deindustrialisierungsschubs, den der Kontinent infolge der horrenden Energiepreissteigerungen in naher Zukunft zu gewärtigen habe.[73] Die durch hohe Energiepreise schwer bedrohte „Wettbewerbsfähigkeit“, so wird befürchtet, könnte dazu führen, dass europäische Unternehmen in die USA
abwandern.[74] Kurzzeitig scheint es sogar, als würde der Profit, den die USA aus der ökonomischen Misere Europas schlagen, zu erheblichen Verstimmungen zwischen den transatlantischen Bündnispartnern führen (die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die USA herbeigeführte Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines mag hier unter Umständen auch eine gewisse Rolle gespielt haben): Ende November 2022 werfen Beamte der Europäischen Union den Vereinigten Staaten vor, vom Krieg mit Russland zu profitieren, weil sie dadurch in der Lage seien, mehr Waffen und mehr Gas zu höheren Preisen zu verkaufen, während sie zugleich mit ihrer Anti-Inflations-Politik (insbesondere dem von Joe Biden verabschiedeten „Inflation Reduction Act“) und protektionistischen „Buy American“-Bestimmungen der europäischen Wirtschaft nachhaltig schaden würden.[75] Die Auswirkungen des Wirtschaftskriegs auf die größte und wichtigste Volkswirtschaft Europas (Deutschland) lassen sich beispielsweise an der Entwicklung des German Manufacturing Purchasing Managers’ Index (PMI) ablesen, der das Aktivitätsniveau der Einkaufsmanager im verarbeitenden Gewerbe misst. Dieser ist seit Februar 2022 kräftig gesunken, was darauf hindeutet, dass deutsche Unternehmen signifikant weniger produzieren, wohl nicht zuletzt bedingt durch die hohen Energiepreise.[76] Für die Eurozone insgesamt sieht der PMI kaum besser aus.[77] Zum Teil dürfte dies übrigens auch ein Grund für die zuletzt in der Eurozone wieder etwas gesunkene Inflation sein. Diese wird durch die sinkende Nachfrage gedrückt.


Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die negativen Auswirkungen des Wirtschaftskrieges bislang zum Teil sogar durch verschiedene Faktoren gemildert werden dürften. Im Bereich der Energie z.B. dadurch, dass manche europäische Länder nach wie vor und trotz des Boykotts von russischem Öl und Gas ihre Energieträger zu erheblichen Teilen aus Russland beziehen. So wurde im Februar 2023 bekannt (und medial heftig diskutiert), dass in Österreich rund 70 Prozent des im vergangenen Dezember importierten Gases aus Russland stammte. Die österreichische Regierung versprach daraufhin, den bis 2040 gültigen Vertrag mit Gazprom zu „prüfen“.[78] Überhaupt ist für den Umstand, dass Europa bisher überraschend gut durch den Winter gekommen und die zu befürchtende Energiekatastrophe weitgehend ausgeblieben ist, u.a. zu berücksichtigen, dass der Winter in diesem Jahr vergleichsweise mild ausfiel und die erste Jahreshälfte 2022 dazu genutzt wurde, die Speicher mit russischem Gas aufzufüllen. Ob und wie gut Europa längerfristig ohne russisches Gas auskommen wird, hängt davon ab, ob dieses in ausreichendem Maße und zu vergleichbaren Preisen durch anderes Gas oder andere Energieträger substituiert werden kann. In Anbetracht der Tatsache, dass vor der Eskalation des Ukraine-Kriegs rund 40 Prozent des Gases in der EU aus Russland stammten[79], sind die Aussichten dafür eher düster – zumal der Energiebedarf, der gedeckt werden muss, stark im Steigen begriffen ist. Und selbst wenn es gelingen sollte, stellt sich immer noch die Frage, welche „Kollateralschäden“ dafür in Kauf genommen werden müssen, z.B. dauerhaft hohe Energiepreise (von den ökologischen Schäden z.B. durch US-amerikanisches Fracking-Gas gar nicht erst zu reden[80]). Ebenfalls einen gewissen „mildernden“ Effekt könnte der jüngst monierte Umstand haben, dass viele europäische Unternehmen die Sanktionen offenbar umgehen und ihre Güter via Drittländer nach Russland exportieren.[81] Erst im Januar 2023 sprach der EU-Abgeordnete und Ex-Premierminister von Belgien, Guy Verhofstadt, von der völligen Wirkungslosigkeit der EU-Sanktionen. Er wies dabei u.a. auf die seit Kriegsbeginn praktisch unverändert gebliebenen Direktinvestitionen von EU-Ländern in Russland hin.[82] Das heißt, bisher entfalten die verhängten Sanktionen ihre autodestruktive Wirkung möglicherweise noch gar nicht vollumfänglich.


Was steht hingegen auf der anderen Seite der Nutzen-Schaden-Bilanz? Wie es scheint, kommt Russland bislang relativ gut mit den Sanktionen zurecht, jedenfalls erheblich besser als von ihren Urhebern gedacht und vor allem besser als der Westen selbst, insbesondere die EU. Was wurde Russland nicht alles an ökonomischen Verheerungen vorhergesagt? Die Weltbank etwa prophezeite Anfang April 2022 einen Einbruch der russischen Wirtschaft um 11,2 Prozent bis Jahresende, und die darüber berichtende FAZ versprach: „Russland rutscht in eine tiefe Wirtschaftskrise, von der sich das Land nicht so rasch erholen wird.“[83] Manche Prognosen gingen sogar von einer noch höheren Rezession aus. Tatsächlich schloss Russland das Jahr mit einem Minus von lediglich 2,1 Prozent ab.[84] Selbst der Economist kam Ende des Jahres nicht darum herum zuzugeben, dass Russland (das zugleich zur „neuntgrößten Volkswirtschaft der Welt“ verniedlicht wird) „deutlich besser abgeschnitten hat als erwartet“.[85] Zu diesem Zeitpunkt war die Eurozone schon längst in Richtung Rezession unterwegs, wenngleich man sich dort in Zweckoptimismus übt und für 2023 ein „Mini-Wachstum“ erwartet.[86] Bei der bekannten Neigung westlicher Funktionseliten und ihrer Ökonomen, sich selber in die Tasche zu lügen und die Wirtschaftsdaten nach Belieben schönzurechnen, darf angenommen werden, dass in dieser Prognose die sinkende Nachfrage, Exportrückgänge und eine wahrscheinliche US-Rezession[87] nicht oder nicht adäquat eingepreist sind und diese daher im Laufe der Zeit noch beträchtlich nach unten korrigiert werden muss. So treibt es der Westen ja z.B. auch mit der überwiegend selbstverschuldeten Rekordinflation: Da verpasst man dem Verbraucherpreis-Index eine neue Basis und ändert damit die Berechnungsgrundlage – und schon ist die Rekordinflation keine mehr.[88]


Die Arbeitslosigkeit ist in Russland bis Januar 2023 auf ein Allzeittief von 3,6 Prozent gesunken – wenngleich hier sicherlich dieselbe Vorsicht angebracht ist, wie bei den in aller Regel massiv frisierten westlichen Arbeitslosenstatistiken, und darüber hinaus in Rechnung zu stellen ist, dass dies zu einem beträchtlichen Teil wohl auch auf die russische Kriegswirtschaft und die Ausweitung der Rüstungsproduktion zurückzuführen ist. Gleichwohl ist sie damit immerhin fast nur halb so hoch wie die Arbeitslosenrate der EU.[89] In Großbritannien blickt man mittlerweile ungläubig auf Bilder von prall gefüllten russischen Supermarktregalen, während heimische Supermärkte aufgrund von Engpässen Eier und diverse Obst- und Gemüsesorten rationieren. „Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, dass die Sanktionen Russland nicht schaden“, wird ein in Russland lebender Brite zitiert in einem Artikel der Daily Mail. „Die Menschen auf der Straße bemerken kaum etwas. Die Geschäfte sind voll mit allem, was sie wollen oder brauchen.“ Die Autorin des Artikels erblickt in den sich in britischen Geschäften abspielenden Szenen gar schon „eine Umkehrung der Situation von vor 40 Jahren, als viele von uns im Fernsehen mitleiderregende Bilder von Russen unter dem kommunistischen Regime sahen, die für Grundnahrungsmittel wie Brot und Eier Schlange standen.“ Worauf der Artikel außerdem hinweist: Anders als die Bevölkerung in Großbritannien und Europa insgesamt, hat die russische kein Energieproblem. Sie muss sich „keine Sorgen um die Beheizung von Häusern machen, und das Betanken von Autos mit reichlich billigem Benzin oder Diesel ist ein Kinderspiel.“ Auch die Inflation sei in Russland auf vier Prozent gesunken, während sie im Vereinigten Königreich bei über zehn Prozent liege.[90]


Die weitere Entwicklung lässt sich freilich nicht vorhersehen, und es kann nicht kategorisch ausgeschlossen werden, dass einige der westlichen Sanktionen – worauf man im Westen derzeit noch alle Hoffnungen stützt (vgl. Grauvogel/von Soest 2023) – in längerer Frist doch noch Wirkung zeigen und der russischen Wirtschaft mehr Schaden zufügen werden als bisher. Bislang hat es jedoch nicht den Anschein. Und selbst wenn sich ein gewisser Erfolg der Sanktionspolitik doch noch einstellen sollte, bleibt, erstens, immer noch die Frage, wieviel Zeit bis dahin noch vergehen wird – und die Zeit steht nicht gerade auf der Seite der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten; und zweitens, ist damit noch nichts über den wirtschaftlichen Zustand ausgesagt, in dem sich der Westen und insbesondere Europa dann befinden wird.[91]


Einstweilen reagiert man im Westen, vor allem aber in Europa, auf das Debakel der Sanktionspolitik noch auf die hinlänglich bekannte, bereits oben beschriebene Weise: mit Verleugnung, dem zunehmend verzweifelten Festhalten am eingeschlagenen Kurs, stetig absurder anmutenden Ersatzhandlungen und einer weiteren Abkoppelung von der objektiven Realität. Zunächst einmal und vor allem gibt man sich der desperaten Hoffnung hin, dass der bislang ausgebliebene wirtschaftliche Zusammenbruch Russlands jetzt aber langsam doch noch irgendwann kommen wird, und versucht diesen quasi herbeizubeten unter Verwendung von Beschwörungsformeln, die z.B. besagen, dass „Putin Russland zu einem Block geformt“ habe, „den die Weltwirtschaft nicht braucht“, weil ja die Energiepreise durch verstärkte Öl- und Gasförderung anderer Länder wieder im Sinken begriffen seien und Energieengpässe zumindest in diesem Jahr ausbleiben dürften wegen alternativer Energien, Flüssiggasimporten und eines milden Winters und so.[92] Dass man daran freilich auch selber nicht mehr so richtig glauben will, verdeutlicht vor allem die fast manisch-depressiv zu nennende Sprunghaftigkeit in der medialen Berichterstattung. So beklagt dasselbe linksliberale Käseblatt, das bereits zum Abgesang auf Russlands Wirtschaft anstimmt, nur zwei Wochen vorher, dass Öl- und Gasexporte „Putins Kassen klingeln“ lassen.[93] Besonders beeindruckt dabei die Nonchalance, mit der ganz beiläufig die verheerenden Auswirkungen des Wirtschaftskrieges auf die westlichen Ökonomien de facto offen eingeräumt und diese zugleich zu einem Erfolg der westlichen Sanktionspolitik umgedeutet werden: „Die Märkte sind trotz reduzierter Öllieferungen aus Russland gut versorgt. Die Energienachfrage geht zurück, weil die großen Volkswirtschaften – Europa ebenso wie die USA – schwächeln.“ Über die drohende (und spätestens im letzten Quartal 2022 im Grunde bereits erreichte) Rezession täuscht man sich hinweg, indem jede punktuelle Steigerung der Produktion zu einer „Trendwende“ stilisiert und auf dieser Grundlage verlautbart wird, die „Rezession könnte ausbleiben“ – selbst wenn dies sogar von Ökonomen bezweifelt wird.[94]


Eine gerne angewandte Methode, um die gravierenden Schäden der Sanktionspolitik nicht wahrhaben zu müssen, besteht darin, diese einfach wegzudefinieren. Auf das Verschwindenlassen der Rekordinflation durch eine Änderung der Berechnungsgrundlage wurde bereits hingewiesen. Eine kreative Möglichkeit, um das Problem hoher Energiepreise aus der Welt zu diskutieren und damit in einem Handstreich wiederum die Sanktionspolitik als „erfolgreich“ (oder zumindest als nicht gescheitert) erscheinen zu lassen, demonstriert etwa ein Journalist der Stuttgarter Nachrichten: Weil der Preis für einen Liter Diesel heute „nur“ um einen halben Euro höher liege als im Jahr 2019 und um ein Viertel niedriger als zur Zeit des Allzeithochs vor einem Jahr, worüber die Menschen immerhin sehr „erleichtert“ seien, seien die hohen Energiepreise eigentlich nur halb so schlimm – und eben deshalb „lagen die Pessimisten falsch“.[95]


Die Neigung zur Leugnung und zum Schönreden der durch die Sanktionspolitik verursachten ökonomischen „Kollateralschäden“ nimmt immer wieder auch offen kabarettreife Formen an. Noch lange in Erinnerung bleiben wird in dem Zusammenhang etwa der Auftritt des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck in der ARD-Talkshow Maischberger im September 2022. Darauf angesprochen, ob er angesichts der explodierenden Energiepreise eine Insolvenzwelle auf Deutschland zukommen sehe, antwortete Habeck, eine drohende Insolvenzwelle sehe er nicht. Was er sich vorstellen könne, sei allenfalls, dass „bestimmte Branchen einfach mal aufhören, zu produzieren“ oder Geschäfte wie Bäcker oder Floristen „einfach aufhören zu verkaufen“. Diese würden deshalb aber nicht insolvent.[96] Es fällt vor dem Hintergrund solcher Darbietungen wahrlich schwer, nicht von der Inkompetenz des westlichen Führungspersonals auszugehen; wobei dies freilich mehr über die Gesellschaft selbst und das erreichte Stadium des Verfalls moderner Institutionen aussagt als über die intellektuellen Defizite einzelner Politiker.


Wo sich die Dysfunktionalität und Schädlichkeit der eigenen Sanktions- und Eskalationspolitik gegen Russland nicht (mehr) umstandslos leugnen oder aus der Welt definieren lässt, wird auf eine bereits während der „Pandemie“ beliebte Strategie zurückgegriffen: Waren schon die „Kollateralschäden“ der Corona-Politik und ihres Maßnahmenregimes keine unmittelbaren Folgen eben dieses dysfunktionalen und destruktiven „Pandemie-Managements“, sondern verursacht durch das „Coronavirus“ und die „Pandemie“, so gehen heute sämtliche unerwünschte Nebenwirkung der westlichen Sanktionen auf die Kappe von „Putin“ und dessen „Angriffskrieg“. Selbst der oben zitierte Artikel aus der britischen Daily Mail (siehe Endnote 90), der die Kontraproduktivität der Sanktionen nicht mehr zu leugnen vermag, kommt nicht ohne Verweis auf „Putins Krieg“ aus („thanks in part to Putin’s war in Ukraine“).


Der Rest besteht aus Ersatzhandlungen und einem geradezu offensiv propagierten, in der Not zur Tugend gemachten Realitätsverlust. Unter die Rubrik der Ersatzhandlungen fällt u.a. bereits der Anfang Dezember von der EU verabschiedete Preisdeckel auf russisches Öl – eine Maßnahme, deren Potenzial zur Schädigung Russlands begrenzt ist, während sie Europa selbst erheblich schaden könnte.[97] Der Unsinn dieser „Maßnahme“ wird bereits daran kenntlich, dass die dahinter stehende Idee eines „Käuferkartells“ schon rein logisch nur bei überwältigender Marktmacht des Kartells funktionieren kann – eine Voraussetzung, die offenkundig nicht gegeben ist. Der Drang zu „Pseudoaktivität“ und zur Abkoppelung von der Wirklichkeit ist nach den Rückschlägen der vergangenen Monate allerdings nicht geringer geworden – eher im Gegenteil. Anfang März 2023 verfügt die EU eine Reduktion des Energieverbrauchs um 11,7 Prozent bis zum Jahr 2030. Das erscheint freilich nur logisch und folgerichtig, wenn man sich konsequent von russischen Energieträgern abzuschneiden gedenkt. Der Chefverhandler des EU-Parlaments spricht von einem „echten Wandel zum Vorteil des Klimas und zum Nachteil von Putin“.[98] Das beschließt dieselbe EU, die das aktuelle Jahrzehnt zur „digitalen Dekade“ erklärt hat und massiv in die Digitalisierung Europas investiert[99], was zu einem signifikanten Anstieg des Energiebedarfs führen wird und mit dem Vorhaben einer Reduktion des Energieverbrauchs in Konflikt steht. Good luck with that, kann man da angesichts dieser Flucht in magisches Denken nur sagen. Dänemark verkündet ebenfalls Anfang März, einen Feiertag abschaffen zu wollen, um auf diese Weise mehr Geld in die Staatskasse zu spülen. „Die Einnahmen sollen für den Wehretat ausgegeben werden, um das Zwei-Prozent-Ziel der Nato bereits 2030, statt wie ursprünglich geplant 2033, erreichen zu können. Dies sei vor dem Hintergrund der russischen Invasion in die Ukraine notwendig, argumentierte die Regierung.“[100] „Frieren gegen Putin“ war gestern – jetzt, wo der Krieg gegen Russland verlorenzugehen droht, heißt es mal wieder ordentlich in die Hände zu spucken. In Deutschland wird die Idee freilich umgehend aufgegriffen und setzt ebenfalls eine Diskussion zur Abschaffung eines Feiertags zugunsten der Finanzierung von Rüstungsausgaben ein.[101] In eine ähnliche Kategorie fällt wohl auch der in Deutschland angeblich bestehende Plan, die für den Kohleausstieg vorgesehenen finanziellen Mittel in die Rüstungsindustrie umzuleiten.[102] Nachdem Erdgas als Brückentechnologie für die angestrebte „Energiewende“ nicht mehr in Frage kommt, erscheint auch dies, schon alleine ökonomisch, im Grunde nur folgerichtig. Gleichzeitig und ebenso folgerichtig steigt der Kohleanteil an der Stromerzeugung in Deutschland wieder auf ein Drittel.[103] Aber das ist wohl der Preis, der zu zahlen ist für das übergeordnete Ziel, „Russland zu ruinieren“. Die gute Nachricht, die uns die FAZ im zitierten Artikel nicht vorenthält, lautet immerhin, dass nicht nur der Kohleanteil gestiegen ist, sondern auch die Windkraft ihren Anteil am Strommix vergrößert hat. Wer weiß – so kann vielleicht am Ende doch noch beides gelingen und sowohl der „Kampf gegen Putin“ als auch der „Kampf gegen den Klimawandel“ gewonnen werden. Ein „Leugner“, „Schwurbler“ und „Putinversteher“, wer das für die Hirngespinste und zwanghaft betriebenen Selbstbetrug realitätsfremder Spinner hält.



3. Atomarer Todestrieb


Legt schon die ökonomische Selbstzerstörung, die Europa mit seiner dysfunktionalen Sanktionspolitik gegen Russland an sich exekutiert, und mehr noch die Beharrlichkeit und fast schon Begeisterung, mit der dies betrieben wird, ein beredtes Zeugnis über die „suizidale Drift“ ab, die den Spätkapitalismus auf dem mittlerweile erreichten Stand der Krisenreife heimzusuchen scheint, so wird diese vollends kenntlich an den permanenten Bemühungen vor allem des westlichen Führungspersonals und der von ihm auf „Solidarität“ und einen „Sieg über Russland“ eingeschworenen Teile der Bevölkerung, den Krieg trotz (oder vielmehr: wegen) seines desaströsen Verlaufs zu einem Dritten Weltkrieg und damit wohl oder übel zu einem weltvernichtenden atomaren Schlagabtausch zu eskalieren. Man kann die Gelegenheiten schon gar nicht mehr zählen, bei denen eine vor Bellizismus geifernde Medienmeute oder vor blaugelber „Solidarität“ kaum noch einen geraden Satz herausbringende public intellectuals in den vergangenen zwölf Monaten sprichwörtlich auf Knien um einen Atomkrieg zu betteln schienen, insbesondere in Gestalt der unaufhörlichen Rufe nach immer neuen Waffensystemen für die Ukraine, mittlerweile sogar nach westlichen Kampfpanzern oder Kampfjets, was im Grunde einer offenen Kriegserklärung an Russland gleichkommt. In guter Erinnerung ist etwa noch ein besonders symptomatisches Beispiel aus dem Herbst 2022, als westliche Medien versuchten, den Einschlag einer ukrainischen Luftabwehrrakete in Polen als russischen Angriff darzustellen, was einen NATO-Bündnisfall und damit eine enorme Eskalation des Krieges hätte provozieren können.[104] Gar nicht zu sprechen von Aktionen wie den wahrscheinlich von den USA verantworteten Nord-Stream-Anschlägen. War schon während der „Pandemie“, die überhaupt erst „durch das Portfolio an (gemessen an den vorgeblichen Zielen) irrationalen und kontraproduktiven Maßnahmen zu [deren] Bekämpfung“ (Urban/Uhnrast 2023, S. 95) zu jener historisch beispiellosen Gesellschaftskatastrophe werden konnte, kaum noch zu übersehen, dass das postmoderne Krisensubjekt – wie es Robert Kurz einmal in einem anderen Zusammenhang formulierte – endlich wieder einmal „Geisterbahn fahren“ wollte (vgl. Kurz 2009, S. 356), so erscheint diese soziopsychische Disposition im „Krieg gegen Putin“ endgültig zur Kenntlichkeit entstellt. Die „Geisterbahn“ genügt längst nicht mehr, mittlerweile scheint es das Artilleriefeuer zu brauchen, von dem ebenfalls Robert Kurz einmal sinngemäß sagte, dass es eine der Minimalanforderungen sei, die der westlich-kapitalistische Durchschnittsbürger für die Wahrnehmung einer „Krise“ veranschlage. Um beim erreichten Stand der finalen Krise noch bei sich selbst bleiben zu können, nimmt das verwilderte Krisensubjekt also zunehmend die vollständige Welt- und Selbstvernichtung ins Visier.


Robert Kurz hat seine Thesen eines „Todestriebs“ des Kapitalismus und seines bürgerlich-modernen Subjekts u.a. in seinem Buch Weltordnungskrieg entfaltet (Kurz 2003). Darin spricht er ausdrücklich auch von einem „atomaren Todestrieb“ (ebd., S. 425ff.), der sich in der möglichen finalen Entfesselung der in den vergangenen Jahrzehnten aufgehäuften nuklearen Vernichtungskapazitäten Ausdruck verschaffe. Kurz hat diese Thesen noch unter dem Eindruck von 9/11 und den daran anschließenden Weltordnungskriegen der USA in Afghanistan und im Irak entwickelt. Das Szenario, das Kurz hier primär vor Augen hat, ist das einer zunehmend zerfallenden und in Anomie, Fundamentalismus und Bürgerkriegen versinkenden kapitalistischen Peripherie, die vom „Weltpolizisten“ USA mit immer desperateren Mitteln unter Kontrolle oder zumindest in Schach gehalten werden muss. Gerade auch die Anschläge auf die Twin Towers am 11. September 2001 waren für ihn „Teil einer nicht abreißenden Serie von Manifestationen des kapitalistischen Todestriebs, die den Zusammenbruch der modernen Subjektform im planetarischen Maßstab anzeigen; nicht nur in der spezifischen Weise des islamistischen ‚Dürstens nach dem Tod‘, sondern in einer weit darüber hinausgehenden Welle von bis zum Äußersten aggressiver Lebensmüdigkeit, die sich inzwischen fast schon im Wochentakt in herostratischen Akten der inszenierten Vernichtung und Selbstvernichtung entlädt“ (ebd., S. 425). Dieser „manifeste Todestrieb kapitalistischer Vernunft“ (ebd.) beschränke sich aber nicht nur auf die Barbarisierungsprozesse in der Peripherie, sondern zeige sich auch in einer „rapide fortschreitende[n] Anomisierung seitens der offiziellen Macht in den Weltordnungskriegen“ (ebd., S. 426). Die Differenz zwischen Zentrum und Peripherie werde zusehends eingeebnet:


„Die Irrationalität des Ganzen war auf der offiziellen Seite von Anfang an nicht nur an sich indirekt-systemisch präsent, sondern auch unmittelbar in den versuchten Gewaltlösungen und im realen Einsatz von Hightech-Massenvernichtungswaffen. Schon jetzt hat der demokratische Gesamtimperialismus weitaus mehr Menschenleben auf dem Gewissen als sämtliche Warlords, Gotteskrieger, Neonazis, Selbstmordattentäter und Amokläufer zusammengenommen.“ (ebd.)


Eine „neue Qualität der imperialen Gewalt“ (ebd., S. 430) erkennt Kurz vor allem darin, dass die USA damals offenbar konkrete Pläne hatten, in den von ihnen geführten Weltordnungskriegen auch Nuklearwaffen einzusetzen und mithin „die aus dem Ruder laufende Welt durch Atomexplosionen zur Räson zu bringen“ (ebd.). Die nukleare Gefahr lauere demnach also nicht primär in der zerfallenden Peripherie, etwa in Gestalt möglicher Terroranschläge mit Nuklearsprengköpfen, die todesverliebten „Märtyrern“ in die Hände fallen könnten, oder von völlig maroden, von Widersprüchen zerrissenen und religiösen Fundamentalismen durchseuchten Atommächten wie z.B. Pakistan, sondern gehe gerade von einer selber immer mehr verwildernden demokratischen „Weltpolizei“ aus. Hatten die USA schon 1945, mitten in ihrem Aufstieg zur Weltmacht und am Ende eines bereits gewonnenen Krieges, nicht gezögert, Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abzuwerfen, was ca. 150.000 Menschen das Leben kostete, so müsse die heutige „Bereitschaft zum nuklearen Präventivschlag ins Leere“ (ebd., S. 432) umso ernster genommen werden, zumal diese „an den Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise und damit der modernen Weltmachtfähigkeit“ aufscheine (ebd.). Dass die USA überhaupt atomare „Präventivschläge“ in Erwägung ziehen, zeigt laut Kurz nicht nur „den Grad von Verderbtheit der letzten Weltmacht“ (ebd.) an, sondern verweise eben auch auf den manifest werdenden Todestrieb in den kapitalistischen Zentren. Denn


„mit der ersten Atomwaffe, die sie [die USA, A.U.] im nicht gewinnbaren Weltordnungskrieg gegen die Krisengespenster des Kapitalismus einsetzen, [besiegeln] sie auch ihre Selbstvernichtung […]. Die letzte Weltmacht und der westliche ‚ideelle Gesamtimperialismus‘ […] werden damit den Untergang ihres Realitätsprinzips nur beschleunigen; sie werden die sekundären Wirkungen der atomaren Vernichtung nicht von sich selbst fernhalten oder überhaupt ‚kalkuliert‘ damit umgehen können; und sie werden vor allem den grenzenlosen und unstillbaren Hass einer überwältigenden Mehrzahl der Menschheit auf sich ziehen, der Mittel und Wege zur Rache finden wird, und sei es einer ebenso entmenschten und infernalischen.“ (ebd., S. 434)


Die Lektüre dieses Buches und insbesondere eine Diskussion der darin entfalteten Thesen eines „atomaren Todestriebs“ lohnen gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Kontext des westlichen „Krieges gegen Putin“ – wenngleich die Situation heute eine andere ist als noch vor zwanzig Jahren und manche Einschätzungen von Kurz mittlerweile nicht mehr aktuell sind oder zum Teil schon damals unzutreffend waren. So sitzt Kurz etwa noch dem westlichen Mythos von den USA als „Supermacht“ auf, die „militärisch schon jetzt so überlegen“ sei „wie kein anderer Staat der Weltgeschichte“ (ebd., S. 431). Diese Einschätzung mag vor zwanzig Jahren vielleicht noch eine gewisse Gültigkeit gehabt haben, war aber streng genommen schon damals eine Übertreibung, wenn man bedenkt, dass die USA praktisch keinen der von ihnen gegen zweit- und drittklassige Armeen geführten Kriege der vorangegangenen Jahrzehnte hatten gewinnen können (siehe Vietnam oder Afghanistan), oder dass Russland, das dem Westen derzeit eine strategische Niederlage nach der anderen zufügt, noch in seiner desolatesten Phase nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das einzige Land der Welt war, das den USA glaubhaft mit vollständiger nuklearer Vernichtung drohen konnte (vgl. Urban/Uhnrast 2022a). In Kurz’ Buch kommt Russland als ökonomisch, geopolitisch oder militärisch relevanter Akteur, geschweige denn als Atommacht, nicht einmal vor, sondern lediglich als „riesige[r] Raum der auseinandergebrochenen ehemaligen Sowjetunion“, in dem „genügend ‚verschollene‘ taktische Atomwaffen“ (ebd., S. 425) herumlägen, die allenfalls irgendwelchen Terroristen in die Hände fallen könnten. Die heutige geopolitische und krisenimperialistische Konfliktkonstellation dürfte es aus dieser Perspektive also eigentlich gar nicht geben. Auch diese marginale Behandlung Russlands hatte damals ihre (eingeschränkte) Berechtigung, da Russland ökonomisch tatsächlich danieder lag und die unter Putin ins Werk gesetzte autoritär-etatistische Systemstabilisierung ganz am Anfang stand bzw. die daraus folgenden Entwicklungen noch nicht vorhersehbar waren. Heute ist diese Einschätzung – auch und gerade auf militärischem Gebiet – aber ganz sicher nicht mehr haltbar, wie nicht zuletzt das westliche Debakel im aktuellen Krieg eindrucksvoll veranschaulicht. Hier ist zudem zu berücksichtigen, dass die Militärmacht der USA nicht nur schon seit langem, wie noch von Kurz, deutlich überschätzt wird, sondern in der Zwischenzeit noch weiter heruntergekommen ist, insbesondere unter (waffen-)technologischen Gesichtspunkten. Mit Ausnahme einiger klar abgrenzbarer Waffengattungen (etwa der Unterwasserflotte) sowie des Atomwaffenarsenals ist es also mit der „Überlegenheit“ der US-Militärmaschinerie heute wohl nicht mehr allzu weit her.[105]


Auch die krisenimperialistische Gesamtsituation ist im heutigen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, wie gesagt, nicht mehr dieselbe wie vor zwanzig Jahren. Ein wesentlicher Unterschied zu damals – abgesehen von der von Kurz nicht vorhergesehenen Konsolidierung Russlands als geopolitische und militärische Großmacht – besteht darin, dass die USA ihren Status als Welthegemon und ihre damit einhergehende Funktion als „Weltpolizei“ weitgehend verloren haben und inzwischen tendenziell selbst zu jenen „Krisengespenstern“ gehören, die sie bisher in ihren Weltordnungskriegen bekämpft haben. Der von Russland so genannten „militärischen Spezialoperation“ inhäriert nicht nur bereits terminologisch dieselbe Anmaßung wie den bisher nur dem Westen vorbehaltenen, euphemistisch so bezeichneten „militärischen Interventionen“ in zahlreichen Ländern der vom Krisenkapitalismus verheerten Welt, sondern sie ist vielleicht auch faktisch so etwas wie „die russische Variante eines Weltordnungskrieges“ (Bedszent 2022) – nur dass es diesmal (auch) die spezifisch westlichen Verfallserscheinungen sind, gegen die zu Felde gezogen bzw. „interveniert“ wird, und dass es diesmal nicht der Westen bzw. die USA sind, die die alleinige Definitionsmacht darüber haben, wer oder was als zu bekämpfender „Schurkenstaat“ zu bezeichnen ist. Für die Russen sind die USA der „Schurkenstaat“, und im Unterschied zu letzteren und all ihren „militärischen Interventionen“ der letzten Jahrzehnte, könnte Russland in seinem „Weltordnungskrieg“, wie es aussieht, sogar einen Sieg davontragen.


Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ohne Frage markiert die gegenwärtige Situation einen neuen Höhe- und Kulminationspunkt im globalen Krisenprozess des warenproduzierenden Systems und ist daher auch Russland keineswegs von der Kritik und den hier vorgetragenen krisentheoretischen Überlegungen auszunehmen. Aus denselben Gründen wird eine wahrscheinliche Niederlage der USA im aktuellen Stellvertreterkrieg in der Ukraine mit Sicherheit keine neue Ära des Friedens einläuten und erst recht keine Bewältigung der fundamentalen Krise des kapitalistischen Weltsystems bringen, wie sich das vielleicht ein plumper Anti-Amerikanismus oder manche (zu Recht) unter der Schuldknechtschaft des Dollars stöhnende Länder im Globalen Süden erhoffen mögen. Genauso wenig wird ein russischer Sieg im derzeitigen „Weltordnungskrieg“ dazu führen, dass Russland oder irgendein anderes Land (z.B. China) die vakant gewordene Position eines neuen Welthegemons übernehmen können wird. Selbst wenn sie es könnten, wäre deren „Weltordnung“ von keiner per se anderen Qualität als die des im Niedergang befindlichen Westens und daher genauso wenig wünschenswert – wenngleich es mit dem demokratischen Westen, wie Robert Kurz zu Recht betonte, punkto „Verderbtheit“, Unmenschlichkeit und Destruktivität so schnell wohl niemand aufnehmen kann. Das Ende der US-Hegemonie ist jedoch gleichbedeutend mit einer neuen Eskalationsstufe im finalen Krisenprozess, die das Ende aller modernen „Weltmachtfähigkeit“ schlechthin anzeigt. Im besten Fall werden wir eine „globale Blockbildung“ (Konicz 2022c) erleben, etwa mit Eurasien (Russland, China, Iran etc.) auf der einen und den USA samt ihren atlantischen und pazifischen Bündnissystemen auf der anderen Seite – dies aber auch nicht im Sinne einer neuen, „multipolaren Weltordnung“, wie sie heute gerne beschworen wird, sondern in Form globaler Verteilungskämpfe, die mit weiterem Fortschreiten des kapitalistischen Krisenprozesses ebenso an Intensität und Brutalität gewinnen dürften.


Gerade vor dem Hintergrund der sich heute vollziehenden Entwicklungen erweisen sich einige von Kurz’ Ausführungen aus dem Weltordnungskrieg aber nach wie vor als von hoher Aktualität, teilweise auch als außerordentlich hellsichtig, und zwar insofern, als er den heute kaum noch zu negierenden Verfall des Westens und insbesondere der USA bereits vorzeichnet und damit eine Tendenz beschreibt, die schließlich zu den Ereignissen der letzten Jahre führen sollte. So identifiziert er etwa als eine spezifisch politische Dimension der von ihm diagnostizierten „Transformation der demokratisch-imperialen Weltpolizei in den offenen Vernichtungswahn“ die


„wachsende Neigung der US-Administration zu Alleingängen unter offenem Bruch aller Regeln, auch den eigenen ‚Verbündeten‘ gegenüber. Diese Tendenz liegt in der Natur der Sache: Je unhaltbarer und gefährlicher die Weltsituation wird, desto stärker tritt der militärische Aspekt in den Vordergrund und desto niedriger wird die Hemmschwelle, Hightech-Gewalt im großen Maßstab einzusetzen, ohne noch lange zu fragen. […] Deshalb muss in den USA mit zunehmender Krise auch die Neigung wachsen, mit allen Mitteln der Hightech-Gewalt loszuschlagen, eben weil man sich am Drücker dieser Mittel weiß und sonst vielleicht bald gar nichts mehr in der Hand hat.“ (Kurz 2003, S. 429)


Man muss dabei nicht erst an die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines denken, um zu erahnen, auf welches Niveau die von Kurz angesprochene Bereitschaft zum „Bruch aller Regeln“, auch und gerade „den eigenen ‚Verbündeten‘ gegenüber“, zwischenzeitlich geklettert ist. Die gesamte Vorgeschichte des Ukraine-Krieges und insbesondere seiner maßgeblich von den USA provozierten und von langer Hand vorbereiteten Eskalation besteht zu großen Teilen aus systematischen Regel- und Vertragsbrüchen seitens der USA. Dies beginnt mit der nicht eingehaltenen Zusicherung an Russland noch unter Gorbatschow, keine Erweiterung der NATO in den postsowjetischen Raum zu betreiben, geht über den 2014 in der Ukraine durchgeführten Regime Change, in dessen Zuge ein prowestliches Marionettenregime installiert und die ukrainischen Streitkräfte vom Westen massiv aufgerüstet und darüber hinaus mit Naziregimentern angereichert wurden, und führt schließlich bis zur Provokation eines russischen Präventivschlags am 24. Februar 2022 durch die Vorbereitung einer ukrainischen Großoffensive (vgl. ausführlicher Teil 1 dieses Beitrags). Es ist in diesem Zusammenhang generell bemerkenswert, dass just von den USA als Verbreitern der regellosesten Unordnung seit einiger Zeit geradezu manisch eine „rules-based order“ eingefordert wird. Diese tritt dabei gleichsam an die Stelle des Völkerrechts, statt Recht gelten „Regeln“. Diese „Regeln“ haben freilich die Eigenschaft, nirgends geschrieben zu stehen und daher nach Belieben geändert werden zu können (diese Eigenschaft teilen sie vielleicht mit den „westlichen Werten“).


Die „Hemmschwelle“ der USA ist also auf praktisch allen Ebenen, nicht nur hinsichtlich des Einsatzes von Hightech-Gewalt, gesunken, und sie ist im Laufe der Zeit in dem Maße immer niedriger geworden, wie ihr eigener geopolitischer Abstieg fortgeschritten und zu einem zumindest diffusen Wissen herangereift ist, „vielleicht bald gar nichts mehr in der Hand“ zu haben, wenn nicht geopolitisch gegengelenkt wird. Damit stieg wiederum die Bereitschaft „loszuschlagen“, ggf. auch mit hochriskanten „Strategien“ und unter Einsatz unverhältnismäßiger, nicht selten auch absurder Mittel. Dieser krisenbedingte Wahn, der zu einem immer direkteren Konfrontationskurs mit den geopolitischen Hauptkonkurrenten (oder von einflussreichen Kreisen in den USA zumindest als solche wahrgenommenen) Russland und China führte, fiel wiederum zusammen mit der altbekannten westlichen Hybris und der freilich in den USA besonders virulenten Überschätzung des eigenen militärischen Pouvoirs. Das, in Kombination mit dem im Laufe der letzten Jahre offenbar besonders im Westen auf neue Höhen gekletterten, in dieser Abhandlung hinlänglich nachgewiesenen Realitätsverlust, führte schließlich „zur wohl fatalsten Fehleinschätzung der westlichen Politik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts“ (Uhlschütz 2023, S. 205), deren Folgen wir derzeit in der Ukraine besichtigen dürfen. Der sich schon bald abzeichnende desaströse Kriegsverlauf ließ endgültig alle „Sicherungen durchbrennen“ (Kurz 2003, S. 429) und setzte eine fatale Eskalationsspirale in Gang, die den Krieg seither stetig an die Schwelle zu einem Dritten Weltkrieg befördert. Es ist dabei, wie gesagt, in erster Linie der Westen, der im Angesicht der drohenden Niederlage immer kopfloser und irrationaler agiert und damit den Krieg auf immer höhere Eskalationsstufen hebt. Deshalb bleibt auch gültig – und gilt heute mehr denn je –, was Robert Kurz im Weltordnungskrieg über die Gefahr eines Nuklearschlags schreibt: „Die größte Bedrohung geht […] von den USA aus, die unter dem Druck der Krise inzwischen ihre Bereitschaft zum einseitigen Einsatz von Nuklearwaffen auch gegen Nicht-Atommächte deutlich gemacht haben.“ (ebd., S. 430) Der damalige „Druck der Krise“ ist nichts gegen die Situation, in der sich die USA heute befinden. Und je mehr sie im Krieg gegen Russland mit dem Rücken zur Wand stehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand auf den Knopf drückt – zumal das westliche Führungspersonal in diesem Krieg schon bisher wenig Bereitschaft zur nüchternen Analyse seiner strategischen Fehler erkennen ließ. Wenn Joe Biden, wie im Herbst 2022, vor einem nuklearen „Armageddon“ warnt, weil „Putin verzweifelt“ sei[106], so ist das ein klassischer Fall einer Projektion. Wenn sich jemand am Rande der Verzweiflung befindet, dann der „kollektive Westen“ unter Federführung der USA. Und damit steigt wiederum die Gefahr eines „weltpolizeiliche[n] Amoklauf[s], der weltvernichtende Ausmaße anzunehmen droht“ (Kurz 2003, S. 430).


Kaum etwas von ihrer Aktualität eingebüßt haben auch Kurz’ Einschätzungen über den jämmerlichen Zustand der US-amerikanischen Vasallen, insbesondere Europas. „Dass der Rest der demokratisch-kapitalistischen Welt immer zögerlicher folgt und sich am liebsten verkriechen möchte, je hemmungsloser die paranoide Gewaltbereitschaft der US-Administration wird“ (ebd., S. 429f.), kann man zwar angesichts der „Geschlossenheit“, mit der der „kollektive Westen“ in das Debakel in der Ukraine marschiert ist, nicht gerade behaupten. Vor allem Europa wird sich noch innig wünschen (so es das insgeheim nicht bereits tut), sich rechtzeitig verkrochen zu haben. Kurz macht dies in seinem Buch noch daran fest, dass z.B. Frankreich und Deutschland den Irakkrieg 2003 nicht mittragen wollten. Im Krieg gegen Russland verhält sich dies jedoch anders und sieht man sich als „Juniorpartner“ der USA nach wie vor nicht nur auf Seite der demokratischen „Werte“, sondern auch der stärkeren Bataillone und erhofft sich so die Aufrechterhaltung der eigenen imperialen Stellung, nebst der ökonomischen Profite, die bisher abgefallen sind. Wahrscheinlich sind aber auch unter den Vasallen inzwischen Paranoia und Realitätsverlust schon so groß, die Hörigkeit gegenüber dem „großen Bruder“ in Übersee so übermächtig[107] und die ansonsten so beschworenen „westlichen Werte“ bereits so erodiert, dass sie ohnehin in so ziemlich jeden Krieg ziehen würden, den man ihnen als gerechten Kampf für die „Demokratie“ und die „westlichen Werte“ verkauft und vor allem unter dem Label der „Solidarität“ anpreist. Auch dafür wurden im Laufe dieser Abhandlung zahlreiche Indizien gesammelt. Deutschland lässt sich mittlerweile sogar kritische Infrastruktur in die Luft sprengen und so endgültig von russischem Erdgas abschneiden, ohne dass auch nur der leiseste Verdacht in Richtung jenes Staats geäußert würde, der am ehesten die Fähigkeiten zu einer solchen Tat hat, am meisten von der Sabotage der Pipelines profitiert und darüber hinaus im Vorfeld angekündigt hat, im Falle einer „russischen Invasion“ alles zu unternehmen, um Nord Stream ein Ende zu machen. Insofern stimmt es vielleicht, wenn Robert Kurz von einer „Paralyse der Subalternen“ spricht, „denen der ersichtlich die Selbstkontrolle verlierende ‚große Bruder‘ allmählich genauso viel Angst einjagt wie die unheilbaren Krisenerscheinungen, die in diese Situation geführt haben“ (ebd., S. 430). Eine Paralyse ist es allemal, zumal eine intellektuelle. Durch krisenbedingte Ängste verursacht ist sie fraglos auch. Gut möglich also, dass auch die Angst vor der rapide voranschreitenden Verwilderung der US-amerikanischen Hegemonialmacht eine Rolle spielt, zumal diese stets auch auf die eigene Krise verweist.


Ganz bestimmt zutreffend ist aber die düstere Zukunftsaussicht, die Kurz skizziert: „Alle wollen nur das machen, was nicht mehr geht, nämlich marktwirtschaftlich-demokratisch weiterwursteln; und deshalb müssen zuletzt auch alle die ultima ratio der kapitalistischen Unvernunft akzeptieren und irgendwie mittragen.“ (ebd.) In der gegenwärtigen Situation, in der sich der demokratische Westen befindet, konfrontiert mit der drohenden Niederlage im selbstverschuldeten militärischen und ökonomischen Konflikt mit Russland, heißt diese ultima ratio: Atomkrieg.




Suizidale Drift und das nahende Ende des Kapitalismus


Realitätsverlust und selbstzerstörerische Tendenzen haben in Corona-Krise und Ukraine-Krieg ein Niveau erreicht und sich empirisch mit einer überwältigenden Wucht und in einer gesellschaftlichen Breite dargestellt, die auf einen neuen Höhe- und Kipppunkt der finalen Krise des kapitalistischen Weltsystems verweisen. Die Ereignisse der vergangenen drei Jahre sind daher auch nicht hinreichend ohne theoretischen Bezug auf diesen fundamentalen, stetig voranschreitenden und unumkehrbaren Krisenprozess zu begreifen. Man könnte mit Robert Kurz von einem „Amoklauf des ‚leeren‘ kapitalistischen Realitätsprinzips“ (Kurz 2003, S. 429) sprechen. Leer ist dieses Realitätsprinzip, da in seinem Zentrum „die metaphysische Leere der Wertform steht: die auf sich selbst bezogene Form ohne eigenen Inhalt, die Selbstzweck-Form der Verwertungsbewegung von Geldkapital, das sich in die gleich-gültigen Dinge der Welt nur ‚entäußert‘, um […] zu sich selbst zurückzukehren in einer paradoxen erweiterten Quantität von jenem ‚Nichts‘, von rein numerischem abstraktem Reichtum“ (ebd., S. 427). Die ganze Welt gilt diesem abstrakten, jedoch real wirksamen (mithin „realabstrakten“) Prinzip bloß als Material bzw. als Tragfläche für den bornierten Selbstzweck, aus einem Euro, Dollar, Yuan etc. zwei zu machen. In der Krise stößt dieser logisch auf Unendlichkeit angelegte Verwertungsprozess an seine Grenzen bzw. in eben dieser Grenze, im Erreichen der inneren und äußeren Schranken der Kapitalverwertung, besteht jene finale Krise, welche die Wertkritik dem Kapitalismus seit vielen Jahren attestiert (dazu grundlegend Kurz 1986; Ortlieb 2009; ebenso Jappe 2005). Wenn nun in der Krise der Verwertungsprozess an sein Ende kommt, wenn also „die realmetaphysische ‚Entäußerungs‘-Bewegung nicht mehr gelingt“, dann erscheinen die „realen physischen und sozialen Gegenstände als lästige, ja feindliche Umwelt für diese Realmetaphysik. Nicht der leere Selbstzweck des Kapitals, sondern die Welt soll verschwinden, nämlich sich endgültig in das ‚leere Prinzip‘ auflösen. […] Da in der dritten industriellen Revolution die ‚Entäußerung‘ der Wertabstraktion in die reale Welt endgültig an ihre Grenzen stößt, wird zwangsläufig das Weltvernichtungs-programm ebenso final abgerufen.“ (Kurz 2003, S. 427f.)


Schon lange vor Corona und Ukraine-Krieg konnte die Umsetzung dieses „Weltvernichtungsprogramms“ besichtigt werden, etwa an der Breite, in der unter der neoliberalen Doktrin der vergangenen Jahrzehnte ein „Sektor der sozialen Reproduktion nach dem anderen [zerstört wurde]: alles soll ‚stillgelegt‘ werden und verschwinden, was von der Logik des universellen Realökonomismus nicht mehr erfasst werden kann“ (ebd., S. 429). Zur Sprache kam in diesem Beitrag insbesondere die systematische Verwüstung des öffentlichen Gesundheitswesens, die im Zuge der „Pandemie“ noch weiter forciert wurde (siehe Teil 2 des Beitrags). Mit der ökonomisch massiv schädlichen Lockdown-Politik und den nicht minder autodestruktiven Sanktionen gegen Russland hat sich der krisenkapitalistische Hang zur Selbstzerstörung noch erheblich gesteigert und dabei auch hinsichtlich der darin angelegten Irrationalität unübersehbar eine neue Qualität erreicht. Das „Stilllegen“ gesellschaftlicher Institutionen und Sektoren ist mittlerweile übergangen in ihre offene Zerschlagung und hat sich darüber hinaus auf den gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhang als Ganzen ausgedehnt. Es ist vor diesem Hintergrund eigentlich kaum noch überraschend, dass dieser „demokratische Amoklauf“ (ebd.) nun auch auf der Ebene der militärischen Aktion Gestalt annimmt. Beeindruckend ist auch hier im Grunde nur das Ausmaß an Irrationalität und nicht zuletzt der Grad an Inkompetenz, den speziell der Westen im aktuellen „Krieg gegen Putin“ an den Tag legt. Letzteres deutet dabei auf weit fortgeschrittene Zersetzungsprozesse im Inneren des gesellschaftlichen Institutionengefüges hin, das mithin nicht nur abgewirtschaftet, sondern auch in intellektueller Hinsicht und mit Blick auf die Kompetenz des an den Schalthebeln der Macht sitzenden Personals weitgehend dysfunktional geworden ist, was wiederum die Wahrscheinlichkeit für irrationale und autodestruktive Handlungen weiter erhöht. Die Bestimmtheit und Konsequenz, mit denen die westlichen Funktionseliten und mit ihnen beträchtliche Teile der Bevölkerung auf eine immer weitere Eskalation dieses de facto bereits verlorenen Krieges drängen, ggf. auch bis hin zu einem weltvernichtenden Atomkrieg, erinnert zuweilen an die irrationale und letztlich in die Selbstvernichtung mündende Raserei der Nazis am Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch Robert Kurz weist explizit darauf hin, dass die sich im demokratischen Westen entfaltende Vernichtungswut „durchaus verwandt (wenn auch nicht identisch) mit derjenigen der Nazis“ sei: „Wenn die Welt nicht von uns beherrschbar ist, dann soll sie zusammen mit uns untergehen.“ (ebd.). Auch in dieser Hinsicht beweisen manche seiner schon vor zwanzig Jahren gestellten Diagnosen heute auf eine geradezu gespenstische Weise ihre Aktualität.


Die systemische Lebensmüdigkeit, die die kapitalistische „Antizivilisation“ (Kurz) auf ihre finale Selbstzerstörung zurasen lässt, findet ihre Entsprechung auf der Ebene des Subjekts. Auch auf dieser Ebene ist eine Tendenz zur Selbstzerstörung schon lange evident: Depressionen, Burn-out, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen (wozu Magersucht und Bulimie ebenso zu rechnen sind wie pathologische Fettleibigkeit), Suchterkrankungen, ein inzwischen exorbitanter Psychopharmaka-Konsum (siehe etwa die sogenannte Opioidkrise in den USA), Suizid usw. usf. Dies sind wohlgemerkt die ganz alltäglichen und längst zur „Normalität“ der krisenkapitalistischen Tagesroutine gehörenden Erscheinungen. Phänomene wie Amokläufe, Selbstmordanschläge u.ä. sind lediglich Extremformen dieser verbreiteten Disposition zur Selbstvernichtung. Es gehört dabei zu den krassen, aber notwendigen Widersprüchen postmoderner Subjektivität, dass deren selbstzerstörerische Neigungen zugleich mit einer kaum noch steigerbaren Todesangst und einer entsprechenden Verdrängung des Todes sowie der eigenen Endlichkeit Hand in Hand gehen. Insbesondere die irrationalen Reaktionen auf das Coronavirus sind zu einem gewissen Teil wohl nur durch jene Disposition zur Todesverdrängung zu erklären (vgl. Urban/Uhnrast 2022b; Samerski 2023). Beschwichtigt wird die Todesangst durch narzisstische Unsterblichkeits- und Allmachtsphantasien, weshalb es wiederum keinen oder ebenfalls nur einen „notwendigen“ Widerspruch darstellt, dass nicht geringe Teile der Bevölkerung bewusst oder unbewusst bereit zu sein scheinen, eine Eskalation des gegenwärtigen Krieges zu einem verheerenden Dritten Weltkrieg zu riskieren, und dementsprechend immer noch mehr Waffen, Panzer, Kampfjets für die Ukraine und – wer weiß – vielleicht in absehbarer Zeit sogar einen offenen Kriegseintritt der NATO fordern. Den Rest erledigt ein inzwischen ebenfalls kaum noch steigerbarer Realitätsverlust, der dem Glauben an die westliche (und damit die eigene) Überlegenheit zusätzlich Nahrung gibt, sowie peinigende identitäre Bedürfnisse der postmodern vereinzelten Einzelnen, die krisenbedingt mittlerweile selbst so „leer“ und abgehoben von jeglichem Inhalt sind, dass sie offenbar sogar durch die inkonsistentesten und plumpsten „Narrative“ eines staatlichen und medialen Propagandaapparates befriedigt zu werden vermögen. An kaum etwas anderem kann die „Null-Identität“ (Kurz 2018) des postmodernen Krisensubjekts besser abgelesen werden, als an der Nichtigkeit und oftmals auch Unsinnigkeit der Gegenstände und Inhalte, die dieses Subjekt krampfhaft zu einer „Identität“ aufbläst (und dies aufgrund seiner eigenen Leere auch muss). Auch hier ist es letztlich die Leere, welche die Erosion der bereits per se „leeren“ kapitalistischen Realmetaphysik hinterlässt, die die Krisensubjekte umtreibt und heute blind und geradezu mit Begeisterung in die (potentielle) Selbstvernichtung laufen lässt.


Die wertkritische Krisentheorie und insbesondere die These eines kapitalistischen „Todestriebs“ kann, wie in dieser Abhandlung gezeigt werden sollte, einiges zur Erklärung der Geschehnisse der vergangenen drei Jahre beitragen. Sie vermag vor allem für solche Ereignisse und Phänomene Erklärungsangebote zu liefern, die rational nicht oder schwer zu erklären sind. Denn sie geht davon aus, dass die sich darbietende Irrationalität in Corona-Krise und Ukraine-Krieg Symptom der fundamentalen Krise einer ganzen Gesellschaftsformation ist, deren Rationalität und Binnenlogik zwar im Kern schon immer eine irrationale war (Horkheimer und Adorno sprachen nicht zufällig von einer „irrationalen Rationalität“), heute in der Epoche ihres Verfalls jedoch in offene Irrationalität übergeht. Die für die kapitalistische Moderne seit jeher charakteristische Dialektik von Rationalität und Irrationalität löst sich in der Krise quasi einseitig zur Irrationalität hin auf, wodurch schließlich „Binnenrationalität und systemische Irrationalität direkt zusammenfallen“ (Kurz 2003, S. 428).


Umso schwieriger ist unter diesen Bedingungen die Ableitung einer Prognose – schon allein deshalb, weil der Krisenprozess im mittlerweile erreichten Stadium eine enorme Dynamik aufweist und dies wiederum auch kontingentere Verläufe und Entwicklungen möglich macht. Der Corona-Spuk ist mittlerweile ohnehin vorbei, zumal er quasi nahtlos durch den Krieg in der Ukraine abgelöst wurde und längst durch das sich dort abzeichnende Debakel überdeckt wird. Die durch das „Pandemie-Management“ angerichteten Schäden bleiben dadurch bislang – noch – weitgehend unterhalb der medialen Oberfläche, wenngleich inzwischen deutlich zu sehen ist, dass sie sich immer weniger verbergen lassen (vor allem was Impfschäden[108] oder die massiven „Kollateralschäden“ der Lockdown-Politik betrifft). Den „Krieg gegen Russland“ – zumindest so viel scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicher – wird die Ukraine und mit ihr der „kollektive Westen“ verlieren, und das möglicherweise noch im Laufe der kommenden Monate. Die Frage ist daher, wie der Westen mit dieser irgendwann nicht mehr durch Verleugnung und „pfiffige Narrative“ (vgl. Uhlschütz 2023, S. 217) aus der Welt zu diskutierenden Niederlage umgehen wird. Wie schon gesagt, hängt auch und gerade die Frage, ob der Krieg sich zu einem weltvernichtenden nuklearen Schlagabtausch steigert, sehr wahrscheinlich weniger von Russland als vom Westen und den dortigen Reaktionen auf den desaströsen Kriegsverlauf ab. Nicht zuletzt die weit gediehene psychische Labilität des postmodernen Krisensubjekts und insbesondere seiner westlichen Mittelschichtsexemplare lässt vermuten, dass ein erklecklicher Anteil von ihnen endgültig psychisch kollabieren wird, sobald sich ihr Narrativ des (auch moralisch) „überlegenen Westens“ und des „solidarischen Verteidigungskrieges in der Ukraine“ vollends an der Realität blamiert hat und wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist. Diese an sich schon wenig erbauliche Aussicht muss dabei fast noch als das Best-Case-Szenario erachtet werden, das der Aufprall der westlichen Bellizisten auf dem harten Boden der Realität erwarten lässt. Manche von ihnen könnten am epochalen Einsturz ihres identitär aufgeladenen Wirklichkeitskonstrukts (auch wenn das beim bereits heute grassierenden Irrsinn schwer vorstellbar und nicht mehr zu überbieten erscheint) schlicht den Verstand verlieren und objektiv verrückt werden. Damit würden auch die Paranoia und die Bösartigkeit dieses Teils der Bevölkerung, von denen wir in den vergangenen drei Jahren bereits so manche Kostprobe erhalten durften, ein neues Niveau erreichen, und da dieser „Menschenschlag“ heute den gesellschaftlichen „Mainstream“ bildet und viele der entscheidenden Stellen in Politik, Verwaltung, Wissenschaft usw. besetzt, steigt somit auch die Wahrscheinlichkeit eines „weltpolizeilichen Amoklaufs“ (Kurz), insbesondere in Gestalt eines aus Verzweiflung und wütender Raserei heraus provozierten Atomkrieges.


Mittelfristig – sofern wir dem drohenden atomaren Inferno nochmals entkommen sollten – könnte das Vakuum, das der Zusammenbruch des vor allem von Angehörigen (links-)liberaler Milieus getragenen Corona- und Ukraine-„Narrativs“ hinterlässt, zu einem Erstarken gerade solcher politischer Kräfte führen, das diese Milieus mit ihrem Feldzug gegen all die „Querdenker“, „Corona-Leugner“, „Verschwörungs-ideologen“ etc. zu bekämpfen vorgeben. Es zeichnet sich längst ab, dass im Windschatten der Corona-Krise und des Ukraine-Krieges rechte Kräfte wieder vermehrt Zulauf erfahren. Besonders der sich jeder sachlichen Corona-Debatte großteils konsequent verweigernden Linken (unter ihnen nicht wenige Wert- und Wert-Abspaltungskritiker/innen) ist ganz handgreiflich vorzuwerfen, dass sie durch ihre bornierte Verweigerungshaltung und die pauschale Denunziation jeglicher Kritik an den „Maßnahmen“ den Rechten massiv zugearbeitet haben. Für diese war es unter diesen Bedingungen ein Leichtes, die notwendige Kritik an der Corona-Politik und am destruktiven „Pandemie-Management“ zu instrumentalisieren. Da es im parteipolitischen Feld fast ausschließlich sie waren (und auch aktuell mit Blick auf den Ukraine-Krieg zu einem nicht geringen Teil sie sind), die die haarsträubenden Inkonsistenzen und Widersprüche der herrschenden „Narrative“ thematisierten, bestätigt das von Anfang an absehbare Desaster sowohl der Corona-Politik als auch des westlichen Kurses im Krieg die Rechten im Endeffekt noch dort, wo sie, wie immer und naturgemäß, Unrecht haben – in ihren auf alles andere als gesellschaftliche Emanzipation zielenden Begründungen sowie Schlussfolgerungen ihrer Kritik –, während sich die Linke mit ihrer Haltung auf Dauer unglaubwürdig gemacht und dem, was von ihr noch übrig war, wohl oder übel endgültig den Todesstoß versetzt hat (auch dies ist vielleicht unter dem hier im Mittelpunkt stehenden Aspekt der „suizidalen Drift“ zu sehen). Es ist, angesichts des schon vor der „Pandemie“ erbarmungswürdigen Zustands der Linken, gewiss nicht schade drum, aber ohne Frage hat die durch die Linke in den vergangenen drei Jahren maßgeblich mitbetriebene Zerstörung des öffentlichen Debattenraumes die ohnehin schon schlechten Voraussetzungen für eine emanzipatorische Gesellschaftskritik nachhaltig weiter verschlechtert. Die Rechten gehen hingegen nicht zuletzt deshalb gestärkt aus den vergangenen drei Jahren hervor, weil sich das heute politisch den Ton angebende linksliberal-grüne Establishment und die sich von ihm vor den Karren spannen lassende Linke so eindrucksvoll und vorhersehbar blamiert hat. Wer weiß, vielleicht ist dies auch unerheblich, bei dem autoritären und totalitären Potenzial, das weite Teile der Linken in Corona-Krise und Ukraine-Krieg an den Tag leg(t)en. Die schon lange zu beobachtende Erosion der ideologischen Differenzen zwischen Links und Rechts scheint inzwischen auf ein Niveau fortgeschritten zu sein, auf dem selbst der (während der „Pandemie“ ebenfalls gehörig missbrauchte) Begriff der „Querfront“ obsolet zu werden scheint. Auf dem aktuellen Stand der Krisenreife besteht systemimmanent die Wahl offenbar nur noch darin, ob wir mit den Linken bzw. ihren postmodernen, „woken“ Verfallserscheinungen oder mit den Rechten in die heraufdräuende Krisendiktatur marschieren wollen.


Angesichts solcher immer schlechteren Alternativen muss sich eine emanzipatorische Gesellschaftskritik darauf besinnen, was für sie ohnehin schon immer gültig war und in der heutigen Situation umso mehr gelten muss, und woran Robert Kurz ebenfalls im Weltordnungskrieg zu Recht erinnerte: „Jetzt ist es nicht mehr möglich, auf der Ebene einer historischen Binnendifferenzierung Partei zu ergreifen, weil die Subjektform als solche in Welt- und Selbstzerstörung übergeht.“ (Kurz 2003, S. 433) Dies betrifft letztlich alle Ebenen der kritischen Theorie und Praxis: Bereits während der „Pandemie“ war es geboten, eine hinreichende kritische Distanz sowohl zu „Querdenkern“ und anderen, zuweilen in abstruse Verschwörungstheorien abgleitenden „maßnahmenkritischen“ Bewegungen als auch (und erst recht) zum nicht minder paranoiden und fanatischen „Corona-Mainstream“ zu wahren. Genauso wenig ist eine Parteinahme im aktuellen Stellvertreterkrieg zwischen dem „kollektiven Westen“ und Russland möglich und wäre eine Gegenüberstellung von „westlichen Werten“ und „Putins Diktatur“ im Grunde „selber schon Bestandteil dieser gesellschaftlichen Paranoia: ein an sich wahnhafter Versuch, die kapitalistische Subjektform noch einmal vor sich selbst retten zu wollen“ (ebd, S. 434). Ähnliches gilt schließlich mit Blick auf die – angesichts des immer deutlicheren autoritären und totalitären Potenzials auch auf Seiten der Linken – offenkundig obsolet werdende Links-Rechts-Differenz. Unter diesen Bedingungen ist der Platz des kritischen Theoretikers außerhalb der Stadtmauern, und unter Umständen muss er sich sogar auf den Moment vorbereiten, an dem es für kritische Theorie erforderlich wird, zu „überwintern“[109], und ihre kritischen Einsichten, mangels eines entsprechenden gesellschaftlichen Resonanzraums, bis auf weiteres nur noch in Form der berühmten „Flaschenpost“ (Horkheimer/Adorno) ihren Weg in die Welt finden können.




Literatur


Adorno, Theodor W. (1971): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/Main, S. 10-28.


Bedszent, Gerd (2022): Krise und Krieg der Oligarchen, wertKRITIK.org


Grauvogel, Julia/von Soest, Christian (2023): Erfolge und Grenzen der Sanktionspolitik gegen Russland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10-11/2023, S. 33-39, online unter bpb.de


Jappe, Anselm (2005): Die Krise der Warengesellschaft, in: ders.: Die Abenteuer der Ware. Für eine neue Wertkritik, Münster, S. 119-154, online auf wertKRITIK.org


Konicz, Tomasz (2022a): Neoimperialistisches „Great Game“ in der Krise, exit-online.org


Konicz, Tomasz (2022b): Die Alternativimperialisten, in: konkret 9/2022, S. 13-15.


Konicz, Tomasz (2022c): Eine neue Krisenqualität. Wieso es nach dem Ende des Krieges um die Ukraine keine stabile Nachkriegsordnung geben wird, exit-online.org


Kraus, Karl (2017): Die letzten Tage der Menschheit. Bühnenfassung des Autors (7. Auflage), Frankfurt/Main.


Kurz, Robert (1986): Die Krise des Tauschwerts, in: Marxistische Kritik 1, S. 7-48.


Kurz, Robert (1993): Die Demokratie frißt ihre Kinder. Bemerkungen zum neuen Rechtsradikalismus, in: krisis (Hg.): Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen, Unkel/Rhein, S. 11-87.


Kurz, Robert (2003): Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef.


Kurz, Robert (2009): Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/Main.


Kurz, Robert (2013): Die Welt als Wille und Design. Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise (2. Auflage), Berlin.


Kurz, Robert (2018): Null-Identität, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 15, S. 157-172.


Martyanov, Andrei (2018): Losing Military Supremacy. The Myopia of American Strategic Planning, Atlanta.


Martyanov, Andrei (2021): Disintegration. Indicators of the Coming American Collapse, Atlanta.


Marx, Karl (1972): Das Kapital, Bd. 1 (MEW 23), Berlin.


Ortlieb, Claus Peter (2009): Ein Widerspruch von Stoff und Form. Zur Bedeutung der Produktion des relativen Mehrwerts für die finale Krisendynamik, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 9, S. 23-54.


Samerski, Silja (2023): „Kontraproduktiv“ und „todfeindlich“. Zur Aktualität von Ivan Illichs Nemesis der Medizin angesichts der Corona-Krise, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 219-238.


Scholz, Roswitha (2023): Editorial und Spendenaufruf zur neuen exit! Nr. 20, exit-online.org


Uhlschütz, Kurt B. (2023): Inkompetenzgesellschaft. Konturen einer Zeitdiagnose, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 195-218.


Urban, Andreas (2022): Ein Gespenst geht um in der Wertkritik. Anmerkungen zur wert(abspaltungs)kritischen Corona-„Debatte“, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022a): Down the rabbit hole. Bemerkungen zum Ukraine-Krieg und zu seiner wertkritischen Diskussion, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022b): Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Teil 2: Pandemischer Nervenzusammenbruch, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2023): Die Gesundheitskrise. Thesen zu Ursachen und Bedingungen eines historischen Nervenzusammenbruchs, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 69-96.


Vighi, Fabio (2023): Die Untergangsschleife. COVID-19 und das Zeitalter der kapitalistischen Dauerkrise, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 21-46.




Endnoten


[1] Wer bei der Impfung dagegenhält, diese sei nicht Teil einer Eindämmungsstrategie gewesen, sondern hätte primär das Ziel der Verhinderung schwerer Krankheitsverläufe verfolgt, sei daran erinnert, dass die Unterbrechung von Übertragungsketten wesentlicher Bestandteil der Impfpropaganda und nicht zuletzt ein zentrales Argument für den Ausschluss „Ungeimpfter“ aus dem sozialen Leben mittels 2G und Co. war.


[2] So hat sich etwa die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Ende Januar 2023 im Europarat – angesichts des für den Westen desaströsen Kriegsverlaufs und einer zusehends abbröckelnden „Geschlossenheit“ und „Solidarität“ innerhalb der EU – zu dem Satz hinreißen lassen: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander.“ („Baerbock fliegt Kriegs-Aussage um die Ohren“, n-tv.de, 27.1.2023)


[3] Wobei mit Blick auf die westliche Performance im Grunde schon von „Taktik“ nur in einer sehr groben Überdehnung des Begriffs die Rede sein kann. Denn für eine „Taktik“ sollten – wenn schon keine „Strategie“, im Sinne der Definition eines konkreten Zwecks für den taktischen Mitteleinsatz, vorhanden ist – wenigstens die zur Anwendung gebrachten Mittel sich durch eine gewisse, zumindest potentielle Tauglichkeit auszeichnen.


[4] „The Guardian view on Ukraine’s counteroffensive: a stunning breakthrough“, theguardian.com, 12.9.2022

„Geländegewinne der Ukraine: Wie Militärexperten Kiews Erfolge bewerten“, zdf.de, 12.9.2022

„Ukraine-Offensive Tag 261: Kiews strategische Glanzleistung in Cherson“, tagesspiegel.de, 11.11.2022


[5] „Putin closes in on his first major war victory for six months: Ukraine admits situation is ‘extremely tense’ as Russia steps up assault on Bakhmut and moves to cut off supply lines, forcing a surrender“, dailymail.co.uk, 28.2.2023

„Situation worsens for Ukraine in Bakhmut; CSIS estimates total Russian battle deaths”, cnbc.com, 28.2.2023

„Kiew gerät in Bachmut unter Druck“, orf.at, 4.3.2022


[6] „Präsident Selenskyj: ‚2023 wird das Jahr unseres Sieges‘“, br.de, 24.2.2023

„Selenskyj: Bringen ukrainische Flagge zurück auf Krim“, orf.at, 26.2.2023


[7] „Situation worsens for Ukraine in Bakhmut; CSIS estimates total Russian battle deaths”, cnbc.com, 28.2.2023, Übersetzung A.U.

[8] „Ukraine-Krieg: Heikle Pattsituation – Russland wollen Bachmut einkesseln“, rnd.de, 9.1.2023

„Ukraine-Krieg: Patt an der Front, Angriffspläne in Kiew“, nzz.ch, 28.2.2023


[9] „Withdraw from Artyomovsk!“, gilbertdoctorow.com, 21.1.2023

[10] „Entscheidende Offensive? Putins perfider Plan“, t-online.de, 6.2.2023

[11] „‚Die Ukraine wird Russland im Oktober besiegen‘“, blick.ch, 1.3.2023

[12] „The US has given Ukraine nearly 1 million 155 mm artillery shells. Now it’s looking for US companies to build more of them“, businessinsider.com,14.9.2022

„US is running low on some weapons and ammunition to transfer to Ukraine“, edition.cnn.com, 17.11.2022


[13] „EU berät über Stärkung ukrainischer Feuerkraft“, sueddeutsche.de, 7.3.2023

[14] „Newsrooms that move beyond ‚objectivity‘ can build trust“, washingtonpost.com, 30.1.2023; Übersetzungen aus dem Artikel A.U.

[15] Bis heute wird man etwa vom inoffiziellen Wahrheitsministerium YouTube – sofern beanstandete Beiträge nicht überhaupt von der Plattform gelöscht werden – auf die Seite der WHO oder der jeweiligen nationalen Gesundheitsministerien verwiesen, um über die „Wahrheit“ über das Coronavirus und die Impfung in Kenntnis gesetzt zu werden.


[16] „Skandal-Urteil in Berlin: Amtsgericht verurteilt Friedensaktivisten wegen Rede ‚Nie wieder Krieg gegen Russland‘“, nachdenkseiten.de, 25.1.2023


[17] „Skepsis gegen Westen: Krieg lässt Welt auseinanderdriften“, orf.at, 22.2.2023


[18] „Neue EU-Sanktionen gegen Russland“, orf.at, 24.2.2023

[19] „Kampfjets für die Ukraine? ‚Das ist keine Debatte, die wir führen‘“, welt.de, 1.3.2023

„‚Auf längere Sicht sollten Kampfjets an die Ukraine geliefert werden‘“, zeit.de, 2.3.2023


[20] „Ukraine plädiert für Einsatz von Streumunition“, tagesschau.de, 18.2.2023

[21] „USA liefern Langstreckenraketen an die Ukraine“, wsws.org, 5.2.2023

[22] „Panzer für die Ukraine: Das Ziel ist ein Sieg“, derstandard.at, 28.1.2023

[23] „Panzerallianz für Ukraine zeichnet sich ab“, orf.at, 25.1.2023

[24] Dieser stupide und pseudosolidarische Team-Sprech wurde bereits während der „Pandemie“ immer wieder strapaziert – vor allem in Deutschland, wo sich die Maßnahmenfetischisten rund um Karl Lauterbach beispielsweise im „Team Vorsicht“ versammelten.


[25] „USA wollten keine ‚Abrams‘-Panzer liefern“, tagesschau.de, 27.2.2023

[26] Siehe hierzu den englischsprachigen Wikipedia-Eintrag: „M1 Abrams“, insbesondere den Abschnitt „Production shutdown“.


[27] „Aus den Depots der Rüstungsindustrie“, faz.net, 8.2.2023

[28] „Panzer-‚Fiasko‘ unter Ukraine-Verbündeten? Ampel spottet nun über Leo-Forderungen“, msn.com, 2.3.2023

[29] „Frauen an der Front: Wie Ukrainerinnen für ihr Land kämpfen“, zdf.de, 9.8.2022

[30] „Wer hält länger durch im Abnutzungskrieg?, wienerzeitung.at, 23.4.2022

„Nato-Generalsekretär erwartet langen ‚Abnutzungskrieg‘ in der Ukraine“, stern.de, 2.6.2022

„‚Die Frage ist, wer schneller kollabiert‘“, tagesschau.de, 6.7.2022

„Ukraine: Abnutzungskrieg hält weiter an“, zdf.de, 28.2.2023


[31] „Putin steht mit dem Rücken zur Wand“, t-online.de, 4.1.2023

[32] „Putins Abnutzungskrieg“, zeit.de, 4.6.2022

[33] „Abnutzungskrieg: Warum Putin Menschenleben gleichgültig sind“, sueddeutsche.de, 3.2.2023

[34] „Lanz-Gast sagt, Ukraine ‚verheizt‘ Soldaten – das nimmt ZDF-Moderator nicht hin“, focus.de, 3.3.2023

[35] https://thebulletin.org/doomsday-clock/

Wenngleich man auch Initiativen wie die doomsday clock mit der gebührenden Skepsis und kritischen Distanz betrachten sollte, zumal sich dort dieselbe wissenschaftliche „Intelligenz“ tummelt, die die auf wahnwitzigen Modellierungen gegründeten und leicht als kontrafaktisch zu identifizierenden Mythen verbreitet, wonach die Corona-Impfung Millionen von Leben gerettet habe und in den USA angeblich 200.000 Menschen unnötig gestorben seien, weil sie eine Impfung verweigert hätten (vgl. „Viral spread: Peter Hotez on the increase of anti-science aggression on social media“, thebulletin.org, 30.1.2023). Auch dieser „Science“ und ihren „Fakten“ sollte man also gewiss nicht bedingungslos „folgen“.


[36] Vgl. „Ukraine’s Death by Proxy“, chrishedges.substack.com, 11.3.2023

[37] So prophezeite Lobo noch im Januar 2022, als sowohl die Pathogenität des Coronavirus durch die Omikron-Variante bereits nur noch im Bereich eines banalen Infekts lag als auch die Impfung ihre geringe Wirksamkeit längst unter Beweis gestellt hatte, dass „Ungeimpfte“ zu Zehntausenden bis zum folgenden Sommer den Corona-Tod sterben würden („Ein Ausweg für die Quergläubigen“, spiegel.de, 19.1.2022). Kurz zuvor hatte er Menschen, die in Deutschland gegen eine geplante Impfpflicht demonstrierten, eine „Denkpest“ attestiert („Die Denkpest geht um“, spiegel.de, 5.1.2022).


[38] „Der deutsche Lumpen-Pazifismus“, spiegel.de, 20.4.2022

[39] Die entsprechenden Tweets wurden inzwischen von Twitter gelöscht, waren also selbst der ansonsten punkto „Hatespeech“ keineswegs so zimperlichen Plattform (zumindest wenn es die „Richtigen“ trifft) zu heftig. Screenshots davon zirkulieren allerdings im Netz und können mancherorts noch eingesehen werden, z.B. hier: https://twitter.com/schwurbler6500/status/1627714634315595797


[41] „Omikron – und täglich grüßt das Lockdowntier“ (Bosetti will reden!, 3.12.2021), youtube.com

[42] Sarah Bosetti am 1. März 2023 auf Twitter: https://twitter.com/sarahbosetti/status/1630992427900100608

[43] „Ende des Ukraine-Kriegs: ‚Ich wünsche mir einen totalen Sieg‘“, zeit.de, 18.2.2023

[44] Allzu überraschend kommt die sonderbare Prioritätensetzung mancher Wert- und Wert-Abspaltungskritiker/innen freilich nicht – haben sich diese doch bereits während der „Pandemie“ mit Vorliebe auf die dümmsten und fragwürdigsten Erscheinungsformen des zu einem regelrechten Popanz avancierten „Querdenkertums“ gestürzt, um damit pauschal jegliche Kritik am Corona-Maßnahmenregime als „rechtsextrem“ und „verschwörungsideologisch“ zu denunzieren – selbst wertkritisch argumentierende Analysen, wie sie auf dieser Website versammelt sind (dazu Urban 2022) –, während über die schon damals deutlich erkennbaren faschistoiden Tendenzen im „Corona-Mainstream“ in der Regel stillschweigend hinweggesehen wurde. Das kürzlich veröffentlichte Editorial zur kommenden exit!-Ausgabe (Scholz 2023) ist ohne Zweifel der so unrühmliche wie endgültige Schlussstrich unter die wert(-abspaltungs)kritische Corona-Debatte und im Übrigen auch in theoretischer Hinsicht nichts Geringeres als eine Bankrotterklärung. Der einzige Konsens, der sich hier noch herstellen lässt, besteht in der von exit!-Proponent/innen in der Diskussion beinahe mantraartig wiedergekäuten und auf diese Weise fast schon selbst auf eine leere Phrase heruntergebrachten Diagnose von Robert Kurz, dass „die Demokratie ihre Kinder frisst“ (vgl. Kurz 1993). Dem kann man in der Tat nur lebhaft beipflichten – und an keinem Phänomen lässt sich dies besser ablesen, als an der galoppierenden Verwilderung und Faschisierung jenes linksliberalen Milieus vor dem Hintergrund von Corona-Krise und Ukraine-Krieg.


[45] „Angela Merkel: ‚Hätten Sie gedacht ich, komme mit Pferdeschwanz?‘“, zeit.de, 7.12.2022

„Former German Chancellor Merkel admits the Minsk agreement was merely to buy time for Ukraine’s arms build-up“, wsws.org, 21.12.2022


[46] Bereits frühere westliche Taten und Entscheidungen haben Russland in diesem Eindruck bestärkt, so etwa der einseitige Rückzug der USA aus dem Intermediate-Range Nuclear Forces (INF) Treaty im Jahr 2019. Die Beendigung dieses Vertrags, der bilaterale Vereinbarungen über die Vernichtung aller boden- bzw. landgestützten Flugkörper mit mittlerer und kürzerer Reichweite enthielt, hat gerade auch zur Eskalation in Osteuropa nicht unerheblich beigetragen, da sie dazu angetan war, in Moskau das Bedrohungsgefühl stark zu erhöhen.


[47] Nach Merkel haben sich übrigens auch François Hollande, Petro Poroschenko und, quasi als Trittbrettfahrer, Boris Johnson in diesem Sinn geäußert. Die hier in Betracht gezogene politische Dummheit beschränkte sich also nicht allein auf die deutsche Ex-Kanzlerin. Anders als im Westen wurden die Aussagen von Merkel und Co. in Russland breit diskutiert.


[48] „Bennett speaks out“, youtube.com, 4.2.2023

[49] „Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit – UP sources“, pravda.com.ua, 5.5.2022

[50] „How America Took Out The Nord Stream Pipeline”, seymourhersh.substack.com, 8.2.2023

[51] Vgl. exemplarisch: „Pulitzerpreisträger auf Abwegen“, taz.de, 10.2.2023

[53] „Biden vows U.S. will ‘bring an end’ to Nord Stream 2 pipeline if Russia invades Ukraine“, nbcnews.com, 7.2.2022, Übersetzung A.U.

[54] „US Warns: ‘Nord Stream 2 Will Not Move Forward’ If Russia Invades Ukraine“ (Forbes Breaking News, 28.1.2022, youtube.com, Übersetzung A.U.

[55] „Secretary Antony J. Blinken And Canadian Foreign Minister Mélanie Joly At a Joint Press Availability“, state.gov, 30.9.2022

„Victoria Nuland freut sich über Zerstörung von Nord-Stream-Pipelines“, berliner-zeitung.de, 31.1.2023


[56] Wenn die Inkompetenz des Führungspersonals als Indiz für den fortschreitenden Verfall des Westens und seiner Institutionen genommen wird, ist vielleicht gerade Joe Biden (ähnlich wie schon frühere US-Präsidenten auf ihre Weise, etwa George W. Bush oder Donald Trump) ein Beispiel, das das mittlerweile erreichte Verfallsstadium wie kaum ein anderes zu verkörpern vermag: Eine Person im (nach westlichem Selbstverständnis) mächtigsten politischen Amt der Welt, die offensichtlich unter einer Demenzerkrankung leidet, erhebliche Wortfindungsstörungen aufweist, häufig nicht einmal mehr richtig vom Teleprompter ablesen kann und zuweilen schwere Orientierungsprobleme beim Verlassen des Rednerpults hat. Sic transit gloria mundi, wie der Lateiner sagt – auch wenn es hier nicht die Welt schlechthin, sondern in erster Linie die westliche Welt ist, die damit auf bemerkenswert groteske Weise zu verstehen zu geben scheint, auf welchen Hund sie mittlerweile gekommen ist.


[57] „Intelligence Suggests Pro-Ukrainian Group Sabotaged Pipelines, U.S. Officials Say“, nytimes.com, 7.3.2023, Übersetzungen aus dem Artikel A.U.


[58] „Kreml glaubt nicht an einen ukrainischen ‚Doktor Evil‘“, n-tv.de, 9.3.2023


[59] „Nord-Stream-Anschläge: Selenskyj schließt ukrainische Beteiligung aus“, oe24.at, 10.3.2023

[60] Nicht zu vergessen – worauf etwa Fabio Vighi hinweist –, dass auch der Ukraine-Krieg, wie schon davor die „Pandemie“, den Notenbanken ermöglicht, ihre gigantischen Geldschöpfungs-Operationen am Krankenbett des Kapitalismus fortzusetzen und mit der Begründung „Corona“ und „Putins Angriffskrieg“ noch mehr Liquidität in das vor dem Kollaps stehende Finanzsystem zu pumpen (vgl. Vighi 2023).


[61] „‚Das wird Russland ruinieren‘. EU friert Vermögen von Putin und Lawrow ein“, n-tv.de, 25.2.2022

[62] „Rekordinflation setzt Europas Währungshüter unter Druck“, diepresse.com, 13.4.2022

„Euro zone inflation confirmed at record high 8.1% in May“, reuters.com, 17.6.2022

„US inflation at 9.1 percent, record high“, pbs.org, 13.7.2022


[63] „Neuer Rekordwert: Inflation steigt auf 5,1 Prozent“, diepresse.com, 2.2.2022

Man braucht sich hier nur vor Augen zu halten, dass die Bilanzsumme der Europäischen Zentralbank (EZB) von 4,7 Billionen Euro im Februar 2020 auf knapp 8,8 Billionen im Oktober 2022 explodierte (https://www.tagesgeldvergleich.net/statistiken/bilanzsummen-der-zentralbanken.html).


[65] „US Inflation Rate by Year From 1929 to 2023, thebalancemoney.com, 12.1.2023

[66] „Ungarn kämpft mit Rekordinflation von knapp 26 Prozent“, diepresse.com, 10.2.2023

[67] „Historische Zinserhöhung: EZB stemmt sich gegen Rekordinflation“, tt.com, 8.9.2022

[68] „Inflation in Europe is falling but food prices are rising. Who is paying the most and what for?“, euronews.com, 26.1.2023

[69] „Swift-Ausschluss russischer Banken in Kraft“, zdf.de, 2.3.2022

[70] „Öl- und Gasexporte lassen Putins Kassen klingeln“, derstandard.at, 16.1.2023

[71] „Mega-Deals: Indien kauft russisches Öl und verkauft es teuer nach Europa“, berliner-zeitung.de, 13.6.2022

[72] „As Europe falls into recession, Russia climbs out“, economist.com, 13.10.2022

[73] „Europe Is Heading For ‘Deep Recession’, Deindustrialization“, forbes.com, 11.9.2022

[74] „Soaring natural gas prices are prompting European companies to move their manufacturing operations to the US“, markets.businessinsider.com, 21.9.2022


[75] „‘Is Washington still our ally?’: EU accuses US of PROFITEERING from Ukraine war through sales of guns and gas and threatens trade war – as top diplomats moan Biden’s green subsidies mean European businesses are relocating to US“, dailymail.co.uk, 26.11.2022


[77] „The Eurozone’s Recession Will Likely Be Deeper Than Expected“, troweprice.com, 5.1.2023

[78] „Wieder 70 Prozent des Gases aus Russland“, oesterreich.orf.at, 9.2.2023

„Politische Fehler führten zu Abhängigkeit“, orf.at, 21.2.2023


[79] „Wie hoch ist der Preis für die EU-Sanktionen?“, zdf.de, 23.2.2022

Auch das Flüssiggas, mit dem Europa russisches Gas zu substituieren gedenkt, kommt zu einem erheblichen Teil aus Russland. Bis September 2022 ist der Import von russischem Flüssiggas in europäische Länder um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum angestiegen („Europa importiert Rekordmenge LNG aus Russland“, n-tv.de, 29.11.2022).


[80] Fracking erlebt durch den Wirtschaftskrieg gegen Russland derzeit generell einen Höhenflug, und in Ländern wie Deutschland wird ernsthaft diskutiert, die Gasgewinnung durch Fracking auch in der Bundesrepublik zu fördern („Fracking: Pro und contra der umstrittenen Methode“, web.de, 2.3.2023). Zumindest zeitweilig wurde auch in Österreich eine schon ältere Diskussion wiederbelebt vor dem Hintergrund von größeren Gasvorkommen im nördlichen Niederösterreich („Fracking im Weinviertel: Die zweifelhafte Hoffnung auf heimisches Gas“, derstandard.at, 17.10.2022).


[81] „Sanktionen gegen Russland: Habeck-Plan soll Umgehung von Unternehmen stoppen – ‚Nicht erfreulich‘“, merkur.de, 24.2.2023

[82] „Verhofstadt: EU-Sanktionspolitik wirkungslos“, orf.at, 4.1.2023

[83] „Zur Strafe eine Rezession“, faz.net, 10.4.2022

[84] „Russian economy shrank 2.1% in 2022, much less than expected“, aljazeera.com, 21.2.2023

[85] „In 2022 Russia kept the economic show on the road“, economist.com, 29.12.2022, Übersetzung A.U.

[86] „Euroraum schrammt an Rezession vorbei“, faz.net, 13.2.2023

[87] „US-Wirtschaft: Schlägt die Rezession jetzt doch noch zu? Mehr Angst im Markt“, wallstreet-online.de, 9.3.2023

[88] „Die Rekordinflation ist keine mehr“, faz.net, 22.2.2023

[90] „Are sanctions REALLY wrecking life in Russia? As British supermarkets ration eggs and vegetables – thanks in part to Putin’s war in Ukraine – shelves in a provincial Russian city are groaning under piles of fresh food, writes SUE REID“, dailymail.co.uk, 6.3.2023; Übersetzungen aus dem Artikel A.U.


[91] Zum Zeitpunkt, da diese Zeilen verfasst werden, machen in westlichen Medien gerade Meldungen über ein massives russisches Staatsdefizit die Runde, u.a. verursacht durch offenbar stark gesunkene Einnahmen aus dem Energiegeschäft (z.B. „Russlands Öl- und Gaseinnahmen haben sich halbiert, dazu die hohen Kriegskosten: Putins Staatsdefizit gerät außer Kontrolle“, businessinsider.de, 10.3.2022). Angesichts der geringen Halbwertszeit allenthalben verbreiteter Vorhersagen eines bevorstehenden ökonomischen Zusammenbruchs Russlands in westlichen Medienberichten der vergangenen Monate sind wohl auch diese aktuellen Meldungen mit der ihnen gebührenden Vorsicht zu genießen. Es wird sich zeigen, ob und wieviel davon den Tatsachen entspricht. Selbst wenn sich die Berichte als zutreffend erweisen sollten, ist offen, wie weitreichend die ökonomischen Turbulenzen sind (z.B. ob der Rückgang im Energiegeschäft von Dauer ist) und ob, wann und wie stark sich diese auf den weiteren Kriegsverlauf auswirken werden.


[92] „Putin – allein zu Haus“, derstandard.at, 29.1.2023

[93] „Öl- und Gasexporte lassen Putins Kassen klingeln“, derstandard.at, 16.1.2023

[94] „Deutschland: Die Rezession könnte ausbleiben“, dw.com, 8.3.2023

[95] „Die Pessimisten lagen falsch“, stuttgarter-nachrichten.de, 6.3.2023

[96] Der legendäre Auftritt von Habeck kann noch bis 6. September 2023 in der ARD-Mediathek nachgesehen werden: https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/videos/maischberger-video-266.html


[97] „Ölpreis-Deckel gegen Russland schadet vor allem Europa“, deutsche-wirtschafts-nachrichten.de, 2.12.2022


[98] „Energieverbrauch muss bis 2030 um 11,7 Prozent sinken“, news.orf.at, 10.3.2023

[100] „Dänemark schafft Feiertag ab, um sein Militär zu finanzieren“, spiegel.de, 1.3.2023

[101] „Mehr arbeiten für Rüstungsausgaben? Deutschland diskutiert über Abschaffung von Feiertag“, n-tv.de, 2.3.2023

[102] „Germany studies tapping coal-exit funds for defense projects“, bloomberg.com, 3.2.2023

[103] „Kohleanteil an Stromerzeugung steigt auf ein Drittel“, faz.net, 9.3.2023

[104] „Sicherheitsrat einberufen: Russische Raketen offenbar in polnisches Dorf eingeschlagen“, rtl.de, 16.11.2022

„Ob dieses Ereignis zu Eskalation führt, hängt von der Reaktion Russlands ab“, focus.de, 15.11.2022


[105] Interessantes Material und eindrucksvolle Belege für den insbesondere militärischen Niedergang der USA liefern – trotz unbestreitbarer konservativer Bornierungen und anachronistischer Nationalstaatsillusionen des Autors – die Veröffentlichungen des russisch-amerikanischen Militärexperten Andrei Martyanov (z.B. Martyanov 2018 & 2021). Selbst auf nuklearem Gebiet sind die USA heute angreifbarer als noch vor 20 Jahren. So scheinen die USA, nach dem Rückzug aus dem sogenannten ABM-Vertrag über die „Abwehr von ballistischen Flugkörpern“ noch unter George W. Bush, mittlerweile nicht einmal mehr über ein Raketenabwehrsystem zu verfügen, mit dem ein russischer Nuklearschlag erfolgreich abgewehrt werden könnte (vgl. „Putin’s nuclear power cruise missile is bigger than Trump’s“, foreignpolicy.com, 1.3.2018).


[106] „Biden warns risk of nuclear ‚Armageddon‘ is highest since Cuban Missile Crisis“, nbcnews.com, 7.10.2022

„Biden’s ‚Armageddon‘ nuclear warning builds on increasing worries about a desperate Putin“, news.yahoo.com, 13.10.2022


[107] Das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Cover hierzu liefert der Stern in seiner Ausgabe Nr. 10 von Anfang März 2023 (https://shop.stern.de/de_DE/einzelhefte/einzelausgaben/stern-10-2023/2114070.html).


[108] Selbst Karl Lauterbach räumt inzwischen ein, dass die „nebenwirkungsfreie“ Corona-Impfung mit einer Häufigkeit von 1:10.000 schwere Impfschäden verursacht („Lauterbach verspricht Hilfe nach Impfschäden“, zdf.de, 12.3.2023). Dabei ist auch das noch eine schamlose Untertreibung, da sogar nach den Zahlen des Impfschäden beharrlich kleinrechnenden und systematisch untererfassenden Paul-Ehrlich-Instituts die Quote gemeldeter schwerwiegender Impfnebenwirkungen fast dreimal höher liegt und sich darüber hinaus auf Impfdosen und nicht auf geimpfte Individuen bezieht (vgl. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit 4/2022, pei.de).


[109] Bleibt nur zu hoffen, dass es sich nicht um einen nuklearen Winter handelt.