Druckversion/PDF

Gerd Bedszent


Krise und Krieg der Oligarchen

 



 „Kein Zweifel darf aufkommen. Man wird zum Krieg gezwungen werden. So begannen alle bisherigen Kriege der Menschheit. Parolen prasseln auf das Volk und höhlen die Hirne aus.“

 Hans-Eckardt Wenzel, 29. Januar 2022[1]

 

 

Seit dem Jahre 2014 toben in den östlichen Grenzregionen der Ukraine bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen ukrainischen und russischen Ethnomilizen, zumindest zeitweise unter Beteiligung international zusammengewürfelter Söldnerverbände sowie ukrainischer Militärs.[2] Versuche einer Beilegung des Konfliktes sind gescheitert. Dies lag auch daran, dass die Milizen außerhalb der Kontrolle der jeweiligen Regierung agieren – diese also gar nicht die Macht besaß, durchzusetzen, was sie in Verhandlungen zugesichert hatte.

Der ukrainische Bürgerkrieg war lange Zeit nur einer von vielen Konfliktherden der zerbröselnden kapitalistischen Weltordnung. Am 24. Februar 2022 ist der Bürgerkrieg in einen Krieg umgeschlagen. Der unmittelbar folgende Entsetzensschrei der internationalen Öffentlichkeit ist mittlerweile ganz offen propagiertem Bellizismus gewichen. Westliche Kommentatoren überschlagen sich darin, eine Wiederkehr des „Sowjetimperialismus“ oder des russischen Zarenreiches an die Wand zu malen. Eine Analyse sozioökonomischer Hintergründe dieses (scheinbar unvermittelt losgebrochenen) Krieges findet man in den Medien höchst selten.


 

Folge des Crashs

 

Tatsächlich ist die Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen eine Spätfolge des Zusammenbruchs der sich selbst als sozialistisch betrachtenden „etatistischen Kommandoökonomien“ (Kurz 1991(2), S. 148) in Osteuropa. Auf diesen Crash folgte in den Nachfolgestaaten der zerbrochenen Sowjetunion – allerdings in unterschiedlicher Intensität – ein Siegeszug des Marktradikalismus samt damit verbundener sozialer Grausamkeiten.[3]

Der schmutzige Weg der ex-sowjetischen Wirtschaft in den Kapitalismus bestand im Wesentlichen darin, die bis dahin fast ausschließlich staatseigenen Industriebetriebe für einen meist nur symbolischen Preis zu privatisieren. Horden von Universitätsabsolventen sowie ehemaliger Partei- und Komsomolfunktionäre wurden auf Industriebetriebe und Landwirtschaft losgelassen, bar jeder naturwissenschaftlicher oder technischer Grundkenntnisse, dafür bis zum Rande abgefüllt mit marktradikalen Dogmen von der Schädlichkeit jeder Art staatlicher Wirtschaftslenkung – und zudem getrieben von dem unstillbaren Drang, sich selbst schrankenlos zu bereichern. Aus dem Nichts wurden im Eiltempo gigantische Vermögen zusammengerafft und wieder verloren. Im Windschatten dieser Entwicklung tobten kriminelle Verteilungskämpfe, gegen die selbst die Bandenkämpfe in den USA während der Prohibition fast schon als ruhig und gesittet durchgehen könnten.


Da die meisten frischgebackenen Kapitalisten der Meinung waren, dass nur Dummköpfe Steuern bezahlen und der Markt alles schon von selbst richten würde, taten sich im jeweiligen Staatshaushalt gigantische Finanzierungslücken auf.[4] In der Folge wurden große Teile der staatlichen Infrastruktur wegen Geldmangel entweder stillgelegt oder stark heruntergefahren. Die Folgen waren entsprechend. Parallel zum Verfall der öffentlichen Infrastruktur brachen binnen weniger Jahre auch Industrie- und Agrarproduktion massiv ein; nicht wenige Industrieobjekte verwandelten sich in Ruinenlandschaften. Die Mehrheit der Bevölkerung verarmte in erschreckendem Tempo – zugleich rafften einige wenige Leute im Blitztempo Milliardenvermögen zusammen. Für diese Schicht skrupellos agierender Neureicher hat sich in Osteuropa der Begriff „Oligarchen“ durchgesetzt.


Handelt es sich bei diesen Leuten um eine Handvoll Bösewichte, die es nur zu beseitigen gilt, um ein „normales“ Funktionieren der Gesellschaft herzustellen? Gewiss nicht. Das Entstehen dieser sehr spezifischen Schicht hat erstens strukturelle Ursachen und zweitens sind diese Leute letztlich auch nur Getriebene äußerst brutal ausgetragener Verteilungskämpfe (ausführlicher siehe Bedszent 2017(2), S. 126ff).

Im Zuge der international so bezeichneten „Russlandkrise“ der Jahre 1998/99 stand die russische Wirtschaft kurz vor dem Zusammenbruch. Der damalige Präsident Jewgeni Primakow ordnete ein rigides Sparprogramm an, das die ohnehin gebeutelte Bevölkerung heftig traf. Die 90er Jahre sind als Albtraum in das Bewusstsein der russischen Bevölkerung eingegangen. Das dann ab 2000 schrittweise installierte autoritäre Präsidialregime wird in Russland mehrheitlich als notwendiges Übel angesehen.


Der ehemalige Geheimdienstoffizier Putin – er gilt als Werkzeug des Oligarchen Roman Abramowitsch[5] und war zwischenzeitlich Schwiegervater des Oligarchen Oleg Deripaska[6] – machte nie ernsthafte Anstalten, Hand an das unter Jelzin installierte Kleptokraten-System zu legen. Oligarchen landeten unter Putin im Regelfall nur dann vor Gericht oder im Exil, wenn sie die Staatsgewalt offen in Frage stellten. Es handelt sich bei dem postsowjetischen Russland um die Eroberung der Staatsgewalt durch eine Schicht schwerstkrimineller Neureicher.


Russland ist seit den 90er Jahren keine wirtschaftliche Großmacht mehr – auch wenn solche Behauptungen noch immer durch die Presse geistern. Das Regime finanziert sich im Wesentlichen durch Rohstoffexporte – in der Hauptsache Erdöl und Erdgas – in Richtung Westeuropa und China. Spötter bezeichneten in den Nullerjahren Russland gern als „Ölkonzern mit angehängtem Staat“. Der Absturz der internationalen Rohstoffpreise des Jahres 2008 brachte Russland erneut an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Seitdem gilt die russische Wirtschaft westlicherseits als hochgradig instabil. Im Land herrscht Inflation –  die Staatseinnahmen sinken. Die Mehrheit der russischen – und auch anderer osteuropäischen – Oligarchen ist schon seit geraumer Zeit dazu übergegangen, sich selbst samt ergaunertem Vermögen in Richtung westlicher Steueroasen in Sicherheit zu bringen.

 


Die Ukraine – nach dem Schlachtfest

 

Auch bei der Ukraine handelt es sich um ein postsozialistisches Oligarchenregime. Allerdings ist dieses Land noch instabiler als sein östlicher Nachbar. Die Ukraine hat überhaupt erst mit dem Zerfall der Sowjetunion eine Nationalstaatsbildung hinbekommen – erste Anläufe waren Anfang des vorigen Jahrhunderts gescheitert.[7] Seit Proklamation der Unabhängigkeit hat das Land mit heftigen wirtschaftlichen Verwerfungen zu kämpfen.

Durch das Zerreißen traditionell gewachsener Handelsbeziehungen mit russischen Wirtschaftsstandorten sowie krimineller Verteilungskämpfe ist ein Großteil der aus Sowjetzeiten ererbten – ohnehin nie bedeutenden – ukrainischen Industriekapazität zusammengebrochen. Über wesentliche Rohstofflagerstätten verfügt das Land nicht. Die weitgehend agrarisch geprägte Ukraine bildete daher schon Anfang der 90er Jahre eine Art „Armutsinsel“ zwischen den verbliebenen Industriegebieten Tschechiens, Ungarns und Polens und den weiter östlich gelegenen Industriezentren Russlands.


Die in den 1930 Jahren, also in der Sowjetzeit, mit rabiaten Methoden durchgesetzte Kollektivierung der ukrainischen Landwirtschaft – also die erzwungene Zusammenfassung bäuerlicher Kleinproduzenten in großflächige Genossenschaftsbetriebe (Kolchose) oder in ebenso großflächige Staatsgüter (Sowchose) – hatte aber zunächst Bestand. Die Kappung von in der Sowjetära gewachsenen Wirtschaftsbeziehungen hatte zwar auch die Landwirtschaft heftig getroffen (beispielsweise gab es zwischenzeitlich kaum Ersatzteile für Traktoren und andere Geräte sowjetischen Typs). Entgegen der offiziellen Propagierung bäuerlicher Kleinproduktion kam es jedoch nicht zu deren Renaissance. Die Mehrheit der ukrainischen Dorfbevölkerung zeigte nur geringe Ambitionen, ihre zwar vergleichsweise arme, jedoch relativ gesicherte Existenz als Genossenschaftsbauer oder Landarbeiter den Wechselfällen des kapitalistischen Marktes unter der Regie politisch gewendeter Staatsbürokraten anzuvertrauen. Noch 1997 waren 54,9 Prozent der ukrainischen Agrarflächen in staatlichem und 41,0 Prozent in genossenschaftlichem Besitz. Nur 4,1 Prozent der Flächen entfielen auf private Eigentümer (siehe Bedszent 2000).


Eine Ende der 90er Jahre in der Ukraine tätige deutsche „Beratergruppe“ empfahl demzufolge, sämtliche staatliche Subventionen und Schutzmaßnahmen rigoros zu streichen (ebenda). Was auch geschah. In der Folge brach die Agrarproduktion massiv ein und die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe. Der Großteil der ukrainischen Landwirtschaft geriet schließlich in die Hände westlicher Agrarkonzerne, die die Produktion rabiat durchrationalisierten und alle in ihrem Sinne „überflüssigen“ Leute hinauswarfen. Die Ukraine exportierte daraufhin wieder bedeutende Überschüsse an Agrarprodukten – hauptsächlich Getreide. Die übergroße Mehrheit der einstigen Genossenschaftsbauern stürzte jedoch in die Armut ab.


War die soziale Lage der Bevölkerung in Russland vor Kriegsbeginn schon schlecht, so konnte man sie für die Ukraine nur als ganz schlecht bezeichnen. Hier einige aktuelle Zahlen zur Verdeutlichung der Situation:

 

                            Durchschnittlicher Monatsverdienst    durchschnittliche Lebenserwartung

                                                                                            männlich         weiblich

Ukraine                                260 Euro      (2018)              66,9                 77,0 (2019)

Russland                              632 Euro      (2019)              68,2                 78,2 (2020)

Deutschland                    4.100 Euro      (2021)               78,6                83,4 (2018/2020)


Andererseits konnte auch in der Ukraine parallel zum Absturz der Bevölkerungsmehrheit eine Handvoll Privatisierungsgewinner Riesenvermögen zusammenraffen. Die Methoden, mit denen diese vorgingen, waren ebenfalls unfein. Aus den 90er Jahren ist folgender Spruch überliefert: „Eines Tages gab es keine Banditen mehr, sondern nur Geschäftsführer“. Ukrainische Oligarchenclans, die sich aus der Konkursmasse des sowjetischen Staatseigentums auf schamlose Weise bedient hatten, rauften sich sowohl untereinander als auch mit den nicht minder kriminellen russischen Oligarchenclans um Besitzansprüche und Marktanteile. Robert Kurz beschrieb damals die kriminellen Verteilungskämpfe in Zusammenbruchsregionen unserer schönen Neuen Welt als „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln" (Kurz, 2000, S. 691).

Wobei die jeweiligen Sieger dieser Bandenkriege im Regelfall nicht nur Milliardenvermögen einsackten, sondern diese auch noch in diversen Offshoreparadiesen vor dem jeweiligen Fiskus in Sicherheit  brachten. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Der derzeitige ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte sich bei der letzten Wahl als Vorkämpfer gegen Korruption und Kriminalität präsentiert und dadurch haushoch gegen den Amtsinhaber, den schwerreichen und hochgradig unbeliebten Oligarchen Petro Poroschenko[8], gewonnen. Wie sich kürzlich herausstellte, parkte Selenskyj aber selbst einen zweistelligen Millionenbetrag steuergünstig in einem Offshoreparadies (ausführlich siehe Rushton 2021). Zudem ist er nachweislich wirtschaftlich verbunden mit dem hochkriminellen Oligarchen Ihor Kolomojskij.[9] Ein noch absurderes Beispiel ist allerdings die hochdotierte Beschäftigung von Hunter Biden, Sohn des derzeitigen US-Präsidenten, im Management eines dubiosen ukrainischen Gasproduzenten (Der Spiegel vom 25.09.2019).


 

Gescheiterter Staat

 

Von der heftigen sozialen Ausdifferenzierung in eine immer weiter verarmende Bevölkerungsmehrheit und eine Handvoll Gewinner profitierte in der Ukraine – wie in allen Staaten Osteuropas und auch weltweit – nicht die Linke, sondern die nationalistische Rechte. Diese nutzte die komplizierte und zeitverzögerte Nationalstaatwerdung des Landes, um die ukrainische Bevölkerung als Opfer perfider russischer Machtpolitik zu präsentieren. Dass die Ukrainer sich mit der Unabhängigkeit des Jahres 1991 auf das Deck eines leckgeschlagenen Schiffes gerettet hatten, wird von den Nationalisten entweder nicht wahrgenommen oder aber bewusst ausgeblendet.


Eine vorübergehende Stabilisierung des Landes durch ein autokratisches Präsidialregime hat es in der Ukraine – anders als in Russland – nicht gegeben. Das Land ist bis heute geprägt durch Auseinandersetzungen konkurrierender Oligarchenclans, die sich zum Teil rechtsradikal geprägter Milizen als Privatarmeen bedienen. Der gewaltsame Umsturz des Jahres 2014 lieferte letztlich die noch ausstehende Entscheidung, ob sich die Ukraine künftig ausschließlich in Richtung Westeuropa orientiert oder ob sie zumindest teilweise ein Anhängsel der russischen Wirtschaft bleibt.

Aus der rabiat durchgesetzten Westorientierung resultierte in der traditionell in Richtung Russland orientierten Ostukraine ein bis heute andauernder Bürgerkrieg. Die russischsprachige Minderheit wird gezielt diskriminiert und Opfer von Pogromen. Wohngebiete und Industrieobjekte liegen in den umkämpften Regionen weitgehend in Trümmern – ein Großteil der Bevölkerung ist ins benachbarte Russland geflüchtet.


Der weitaus größere Teil der Ukraine ist seitdem ein Hinterhof des Westens. Die Wirtschaft beruht hauptsächlich auf Transitgebühren für russische Rohstoffe in Richtung Westeuropa, auf Überweisungen der nach West- und Mitteleuropa abgewanderten Billiglohn-Gastarbeiter sowie (in vergleichsweise geringem Umfang) auf der Besteuerung von im Lande ansässiger Billiglohn-Zuliefererbetriebe westlicher Großunternehmen.

Dass auf die wirtschaftliche Durchdringung des Landes über kurz oder lang auch eine politische in Gestalt eines EU- und/oder NATO-Beitritts erfolgen wird, pfeifen mittlerweile sämtliche Spatzen von den Dächern. Auf einen solchen Beitritt wird von Seiten der US-Regierung und westeuropäischer Regierungen heftig hingearbeitet. Die politische Elite Russlands betrachtet dies als Bedrohung, der man begegnen muss.

 


Krieg als Versuch einer Krisenbewältigung

 

Der jetzt losgetretene Krieg hat einen ganzen Komplex von Ursachen. Zum Teil handelt es sich um einen Wirtschaftskrieg zwischen Russland und seinen westlichen Handelspartnern. Überdies ist es wahrscheinlich, dass sich Russland vor Beginn der militärischen Eskalation der Rückendeckung Chinas versichert hatte. Sollte diese Vermutung zutreffen, ist ein weiterer Hintergrund des Krieges der seit Jahren schwelende Dauerkonflikt zwischen der wirtschaftlichen Großmacht China und den hochverschuldeten, im wirtschaftlichen Niedergang begriffenen USA.


Die seit dem 24. Februar weltweit kursierende Empörung anlässlich der militärischen Eskalation ist in großen Teilen Heuchelei. Gewiss: Für diesen Krieg gibt es keine Rechtfertigung. Kriege sind vom Grundsatz her abzulehnen; Armeen und militärische Einrichtungen gehören ausnahmslos aufgelöst. Von dieser Forderung werde ich nie abgehen – ungeachtet dessen, dass die Verwirklichung wohl in sehr weiter Ferne steht. Und für Kriegsverbrechen – ganz gleich, durch wen – gibt es schon gar keine Entschuldigung. Wobei unmöglich zu unterscheiden ist, wieviel Tote dieses Krieges auf das Konto der auf beiden Seiten kämpfenden Militärs und wieviel auf das Konto von im Windschatten des Krieges plündernden und mordenden Banditen kommt. Letztlich ist dies aber zweitrangig.[10]

Robert Kurz meinte schon 1991 zum islamischen Fundamentalismus, dieser sei „kein Traditionalismus, sondern eine ‚postmoderne‘ Erscheinung, die zwangsläufige ideologische Reaktion auf die gescheiterte westliche Modernisierung“ (Kurz 1991, S. 150). Eine ganz ähnliche ideologische Gegenreaktion auf die westliche Modernisierung war das Aufkommen scheinbar anachronistischer nationalistischer bis offen faschistischer politischer Strömungen. 1993 beschrieb Kurz die damalige Welle von Rechtsradikalismus und Ethno-Nationalismus als „Geschwüre auf dem eigenen Gesicht“ des demokratischen Westens (Kurz 1993(2), S. 11). Und brachte die Entwicklung in Abwandlung eines Brecht-Zitates wie folgt auf den Punkt: „Die Demokratie ist selbst der Schoß, aus dem das kroch.“ (ebenda)


Haben wir es im Zuge des Ukraine-Krieges nun tatsächlich mit einem Kampf des demokratischen Westens gegen ein repressiv-faschistoides Regime zu tun? Das ist eine arg verkürzte Ansicht. Die westliche Demokratie als „historischer Alleskleber“ (ebenda, S. 12) hat im Vorfeld der finalen Krise des warenproduzierenden Systems ihre Aufgabe der ideologischen Unterfütterung eben dieses Systems weitgehend eingebüßt. Die Folge ist, dass formell demokratische Staaten zunehmend repressiv agieren. Es handelt sich also derzeit um Auseinandersetzungen zwischen verschiedene Erscheinungsformen einer Krisenverwaltung.

Dass große Teile der russischen und ukrainischen Öffentlichkeit und ihrer jeweiligen Staatsspitze unter dem Einfluss faschistoider und/oder klerikal-monarchistischer Ideologien stehen, ist ebenfalls eine Folge des Crashs der Sowjetunion. An die Stelle des unsterblich blamierten Modernisierungs-Marxismus (Kurz, 1993, S. 45) traten zunächst marktradikale, später stockreaktionäre, zumeist klerikal-monarchistische Ideologien.[11] Besonders nach den marktradikalen Exzessen der 90er Jahre samt ihrer grausigen sozialen Auswirkungen erlebten Letztgenannte einen Siegeszug. Der Vormarsch autoritärer Ideologien ist allerdings ein weltweites Phänomen – auch das sich immer noch demokratisch gerierende Westeuropa ist von dieser Entwicklung keineswegs verschont geblieben.


Die fortlaufende Ausplünderung durch kriminelle Clans und eine parasitäre Bürokratie hat die osteuropäischen Staaten mittlerweile an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs gebracht und die Bevölkerung massiv verarmen lassen. Die nunmehrige militärische Eskalation von Seiten des russischen Militärs ist wohl auch eine Reaktion auf das im ukrainisch-russischen Grenzgebiet tobende bewaffnete Banditentum.

Westliche Staaten haben in der Vergangenheit mehrfach widerspenstige, sich „Reformen“ verweigernde Regimes in ein Bürgerkriegschaos gestürzt. Auf Staatszusammenbrüche folgten dann „Weltordnungskriege“ (Kurz 2003)[12] westlicher Militärs. Vermutlich beabsichtigt die russische Staatsführung als gelehriger Schüler des Westens mit der Ukraine etwas Ähnliches. Die ukrainische Regierung hatte jedoch ebenfalls auf eine Zuspitzung des Konfliktes hingearbeitet – offenbar in der verzweifelten Hoffnung auf weitere westliche Kredite. Anzunehmen ist auch, dass Rüstungsunternehmen auf beiden Seiten heftig auf eine militärische Eskalation hingearbeitet haben.


Die russische Variante eines Weltordnungskrieges dürfte ebenso wenig von Erfolg gekrönt sein wie die Einsätze westlicher Truppen in anderen Zusammenbruchsregionen unserer schönen neuen Welt (Huxley). Kriege beendet man nicht, indem man Rüstungsprogramme auflegt und Waffen in Krisengebiete exportiert. Genau das passiert aber derzeit – und die Proteste dagegen halten sich sehr in Grenzen.

Angesichts der heranrollenden Wirtschaftskrise ist zu befürchten, dass sowohl Teile westlicher Kapitalgruppen in Bezug auf Russland eine ähnliche Anti-Krisen-Strategie verfolgen wie verschiedene russische Oligarchen in Bezug auf die Ukraine: eine kreditfinanzierte militärische Hochrüstung, die dann aus der Konkursmasse des Besiegten getilgt werden soll. Eine solche verquere Krisenstrategie – sollte sie tatsächlich umgesetzt werden – dürfte nicht nur langfristig gesehen grausige soziale Auswirkungen haben; sie kann mit hoher Wahrscheinlich auch zu einem atomaren Konflikt eskalieren. Schließlich ist Russland bis heute eine Atommacht und mehrere NATO-Staaten sind es auch.

 


Irrationalität als System

 

Als Folge der schon seit Jahrzehnten abgeschlossenen globalen Vernetzung der verschiedenen Volkswirtschaften zur Weltwirtschaft kann es das von rechten Ideologen angepriesene Zurück in die voneinander abgeschotteten Nationalökonomien des 19. und 20. Jahrhunderts gar nicht geben.

Die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen werden nicht nur Russland, sondern die Weltwirtschaft insgesamt schwer treffen und die bereits anrollende Krise verstärken. Und sollten der anlaufende Wirtschaftskrieg und die noch territorial begrenzte militärische Eskalation in eine weltweite militärische Auseinandersetzung umschlagen, wird es erst recht heftig.

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass sogar führende Manager westlicher Großunternehmen derzeit in den Medien vor einer weiteren Eskalation der Auseinandersetzungen und einem drohend nahenden Wirtschaftskollaps warnen.[13] Wobei Krieg und Sanktionspolitik diesen Wirtschaftskollaps dann keineswegs verursacht, sein Herannahen allerdings beschleunigt haben. Für die Bevölkerungsmehrheit unserer „Einen Welt“ sind die sozialen Auswirkungen der herannahenden Krise jedenfalls heute schon deutlich zu spüren.

Noch ernster zu nehmen sind allerdings Warnungen des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen: Auf Russland und auf die Ukraine entfielen bisher 29 Prozent des weltweiten Weizenhandels, das kriegs- und embargobedingte Ausbleiben der Weizenexporte würde die Preise gravierend in die Höhe treiben.[14] Hilfsorganisationen befürchten Hungerkatastrophen in verschiedenen Armutsregionen unserer Welt.


Der Ukrainekrieg ist allein schon deshalb irrational, weil es keine Sieger geben kann. Ist er aber nur – wie es derzeit durch verschiedene Medien geistert – allein auf ideologische Verblendung und den prekären Geisteszustand eines osteuropäischen Potentaten zurückzuführen? Natürlich nicht. Der Siegeszug rechter Ideologien bildet nur die äußere Hülle für eine barbarische Raubökonomie, die zunehmend an die Stelle „normaler“ kapitalistischer Geschäftstätigkeit tritt und sich in Gestalt von Rassismus und Ethnonationalismus dazu passende Legitimationsideologien geschaffen hat. Robert Kurz nannte diese Entwicklung eine Rückkehr des Nationalismus in einer „allerdings völlig veränderten (…) Gestalt auf den Boden des verwildernden Verteilungskrieges“ (Kurz 1993 (2), S. 43).

Wie Robert Kurz weiter schrieb, ist der von rechtsradikalen Ideologen propagierte Irrationalismus „nur die dunkle Kehrseite der westlichen Rationalität" (Kurz, 1993 (2), S. 21). Und er ergänzte dies wie folgt: „Jede Demokratie bringt am Ende des Modernisierungsprozesse mit logischer Gesetzmäßigkeit den neuen Rechtsradikalismus in irgendeiner Variation als immanente Reaktion hervor. Die heuchlerische Maske der Liberalität läd zum Dreinschlagen ein, aber es ist die Faust desselben unheimlichen Fetischwesens, die in blindem Wahn zuschlägt.“ (ebenda, S. 22)

Der Kapitalismus in seiner heutigen Gestalt entstand bekanntlich auf den rauchenden Trümmern der Formierungskriege des 17. und 18. Jahrhunderts. Es ist zu befürchten, dass er in einem noch schlimmeren Kriegschaos, in Pogromen und Ethnogemetzeln enden wird.

 


Literatur

 

Bedszent, Gerd „Wer Armut sät – Deutsche Berater und die Neustrukturierung der ukrainischen Landwirtschaft“ (Ost-West-Information Nr. 3-2000)


Bedszent, Gerd „Zusammenbruch der Peripherie. Gescheiterte Staaten als Tummelpatz von Drogenbaronen, Warlords und Weltordnungskriegern“, Horlemann Verlag, Berlin 2014


Bedszent, Gerd „Die Ukraine – Dualität von Nationalismus und Staatszerfall“ “, in: „Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft“ Nr. 12, Horlemann Verlag, Angermünde 2014 (2)


Bedszent, Gerd „Oligarchie als Erscheinungsform erodierender Staatsmacht“, in: „Exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft“ Nr. 14, Horlemann Verlag, Angermünde 2017


Bedszent, Gerd „Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten“, Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2017 (2)


Kurz, Robert „Die Krise, die aus dem Osten kam“, in: Helmut Thielen (Hg.) „Der Krieg der Köpfe. Vom Golfkrieg zur Neuen Weltordnung“, Horlemann Verlag, Bad Honnef 1991


Kurz, Robert „Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie“, Eichborn Verlag; Frankfurt am Main 1991 (2)


Kurz, Robert „Der Letzte macht das Licht aus“, Edition Tiamat, Berlin 1993


Kurz, Robert „Die Demokratie frisst ihre Kinder“, in: Krisis (Hg.) „Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen.“, Horlemann Verlag, Bad Honnef 1993 (2)


Kurz, Robert „Schwarzbuch Kapitalismus“, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000


Kurz, Robert „Weltordnungskrieg“, Horlemann Verlag, Bad Honnef 2003


Kurz, Robert / Scholz, Roswitha / Ulrich, Jörg „Der Alptraum der Freiheit. Perspektiven radikaler Gesellschaftskritik, Verlag Ulmer Manuskripte, Blaubeuren / Ulm 2005


Rushton, Elisabeth „Wolodymyr Selenskyj: Der ukrainische Präsident und sein peinliches Netzwerk“, Berliner Zeitung vom 16.10.2021



[2] Zur Vorgeschichte des 2014 offen ausgebrochenen Bürgerkrieges siehe Bedszent 2014 (2)

[3] In Russland wurden die Grundlagen dieses Siegeszuges bezeichnenderweise durch einen neoliberalen Staatsstreich geschaffen: Als im Jahre 1994, also zu Beginn der marktradikalen Welle, die Mehrheit der russischen Duma-Abgeordneten dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin die Gefolgschaft verweigerte, ließ dieser (unter dem Beifall westlicher Beobachter) das Parlamentsgebäude von Panzern zusammenschießen. Jelzin erzwang so eine Verfassungsänderung, aus der letztlich die  bis heute andauernde Machtfülle des russischen Präsidenten resultiert.


[4] Wie Robert Kurz schon im Jahre 2004 schrieb, handelt es sich bei infrastrukturellen Einrichtungen nicht um Marktunternehmen. Diese seien ihrem Wesen nach vielmehr „gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen der marktwirtschaftlichen Unternehmens-Wirtschaft.“ Die „Flucht transnationaler Unternehmen vor dem steuerlichen Zugriff des Staates“ stellt die „Finanzierung der öffentlichen Dienste und Infrastruktur“ grundsätzlich in Frage. Als Folge würde die „längst schon prekäre Verschuldung der Staatsapparate“ explodieren. (Kurz/Scholz/Ulrich, 2005, S. 60-62)

[5] Abramowitsch belegt gemäß Forbes-Liste des Jahres 2021 in der Auflistung der weltweit reichsten Menschen mit 14,5 Milliarden US-Dollar derzeit Platz 142. Die Höhe von Putins Privatvermögen ist nicht bekannt; es gibt nur unbelegte Schätzungen.

[6] Deripaska galt zwischenzeitlich als reichster russischer Oligigarch, musste allerdings durch den Börsencrash von 2008 Riesenverluste hinnehmen. Sein Vermögen beträgt gemäß aktueller Forbes-Liste derzeit „nur“ 2,2 Milliarden US-Dollar.

[7] Als Bestandteil der Sowjetunion war die Ukraine eine von (zuletzt) 15 formell gleichberechtigten Unionsrepubliken.

[8] Poroschenkos Vermögen beträgt gemäß Forbes-Liste (Stand 2020) derzeit 1,6 Milliarden US-Dollar).

[9] Kolomojskij hatte sich beim Zusammenbruch und nachfolgender Verstaatlichung der zweitgrößten ukrainischen Bank im Jahre 2016 mutmaßlich Milliardenbeträge in Gestalt ungesicherter Kredite in die eigene Tasche praktiziert – siehe: Bedszent, 2017 (2), S. 121ff. Gemäß Forbes-Liste (Stand 2020) beträgt Kolomomojskijs Vermögen derzeit 1,8 Milliarden US-Dollar. Die gewiss nicht zartbesaitete US-Justiz verhängte im Jahre 2021 gegen den Kolomojskij-Clan ein Einreiseverbot wegen Korruption.

[10] Dieselben westlichen Mächte, die heute darin wetteifern, das wieder neu entdeckte „Reich des Bösen“ mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen zu überziehen, schauen allerdings seit Jahren ungerührt zu, wie beispielsweise das saudische Königreich – einer der repressivsten, aber auch reichsten Staaten der Welt – quasi gewohnheitsmäßig die Bevölkerung des im Bürgerkriegschaos steckenden Nachbarstaates Jemen mit Bombenteppichen belegt. Und angesichts des bewusst geschürten Entsetzens, dass es seit Jahrzehnten des Friedens nun wieder Krieg auf europäischem Boden gibt, sollte man die wohl unter notorischem Gedächtnisverlust leidenden Journalisten an die jugoslawischen Bürgerkriege von 1992 bis 1999 inklusive der Bombardierung Belgrads und anderer Städte durch Luftstreitkräfte der NATO erinnern.

[11] Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass der Westen die Durchsetzung ebendieser rechten Ideologien in Osteuropa jahrzehntelang ganz offen gefördert und gegen die damaligen, sich selbst als sozialistisch verstehenden etatistischen Modernisierungsdiktaturen in Stellung gebracht hat.

[12] Robert Kurz widmete damals sein Buch „Den namenlosen Opfern der demokratischen Bombergemeinschaft und des ökonomischen Terrors“.

[13] Nur als Beispiele: Martin Brudermüller, Chef des Chemiegiganten BASF, warnte kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vor einen Ausfall der Öl- und Gaslieferungen aus Russland: „Das könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen“. Und Stefan Hartung, der neue Chef des Bosch-Konzerns, meinte in einem Interview im Handelsblatt, bei einem Verzicht auf russische Gaslieferungen würden „hochrelevante Elemente der Lieferkette“ wegbrechen.

[14] „Krieg und Lebensmittelpreise - Uno warnt vor Hunger in Ukraine und weltweit“, zdf.de