Andreas Urban
Atomarer Todestrieb
Geringfügig veränderter und aktualisierter Auszug aus: Realitätsverlust und suizidale Drift. Teil 3: Mit wehenden Fahnen in den Dritten Weltkrieg
Legt schon die ökonomische Selbstzerstörung, die Europa mit seiner dysfunktionalen Sanktionspolitik gegen Russland an sich exekutiert, und mehr noch die Beharrlichkeit und fast schon Begeisterung, mit der dies betrieben wird, ein beredtes Zeugnis über die „suizidale Drift“ ab, die den Spätkapitalismus auf dem mittlerweile erreichten Stand der Krisenreife heimzusuchen scheint, so wird diese vollends kenntlich an den permanenten Bemühungen vor allem des westlichen Führungspersonals und der von ihm auf „Solidarität“ und einen „Sieg über Russland“ eingeschworenen Teile der Bevölkerung, den Krieg trotz (oder vielmehr: wegen) seines desaströsen Verlaufs zu einem Dritten Weltkrieg und damit wohl oder übel zu einem weltvernichtenden atomaren Schlagabtausch zu eskalieren. Man kann die Gelegenheiten schon gar nicht mehr zählen, bei denen eine vor Bellizismus geifernde Medienmeute oder vor blaugelber „Solidarität“ kaum noch einen geraden Satz herausbringende public intellectuals in den vergangenen zwei Jahren sprichwörtlich auf Knien um einen Atomkrieg zu betteln schienen, insbesondere in Gestalt der unaufhörlichen Rufe nach immer neuen Waffensystemen für die Ukraine, mittlerweile sogar nach Langstreckenraketen und einem Einsatz von NATO-Truppen, was einer offenen Kriegserklärung an Russland gleichkäme. In guter Erinnerung ist etwa noch ein besonders symptomatisches Beispiel aus dem Herbst 2022, als westliche Medien versuchten, den Einschlag einer ukrainischen Luftabwehrrakete in Polen als russischen Angriff darzustellen, was einen NATO-Bündnisfall und damit eine enorme Eskalation des Krieges hätte provozieren können.[1] Gar nicht zu sprechen von Aktionen wie den wahrscheinlich von den USA verantworteten Nord-Stream-Anschlägen. War schon während der Corona-Krise, die überhaupt erst „durch das Portfolio an (gemessen an den vorgeblichen Zielen) irrationalen und kontraproduktiven Maßnahmen zu [deren] Bekämpfung“ (Urban/Uhnrast 2023, S. 95) zu jener historisch beispiellosen Gesellschaftskatastrophe werden konnte, kaum noch zu übersehen, dass das postmoderne Krisensubjekt – wie es Robert Kurz einmal in einem anderen Zusammenhang formulierte – endlich wieder einmal „Geisterbahn fahren“ wollte (vgl. Kurz 2009, S. 356), so erscheint diese soziopsychische Disposition im westlichen Stellvertreterkrieg mit Russland endgültig zur Kenntlichkeit entstellt. Die „Geisterbahn“ genügt längst nicht mehr, mittlerweile scheint es das Artilleriefeuer zu brauchen, von dem ebenfalls Robert Kurz einmal sinngemäß sagte, dass es eine der Minimalanforderungen sei, die der westlich-kapitalistische Durchschnittsbürger für die Wahrnehmung einer „Krise“ veranschlage. Um beim erreichten Stand der finalen Krise noch bei sich selbst bleiben zu können, nimmt das verwilderte Krisensubjekt also zunehmend die vollständige Welt- und Selbstvernichtung ins Visier.
Robert Kurz hat seine Thesen eines „Todestriebs“ des Kapitalismus und seines bürgerlich-modernen Subjekts u.a. in seinem Buch Weltordnungskrieg entfaltet (Kurz 2003). Darin spricht er ausdrücklich auch von einem „atomaren Todestrieb“ (ebd., S. 425ff.), der sich in der möglichen finalen Entfesselung der in den vergangenen Jahrzehnten aufgehäuften nuklearen Vernichtungskapazitäten Ausdruck verschaffe. Kurz hat diese Thesen noch unter dem Eindruck von 9/11 und den daran anschließenden Weltordnungskriegen der USA in Afghanistan und im Irak entwickelt. Das Szenario, das Kurz hier primär vor Augen hat, ist das einer zunehmend zerfallenden und in Anomie, Fundamentalismus und Bürgerkriegen versinkenden kapitalistischen Peripherie, die vom „Weltpolizisten“ USA mit immer desperateren Mitteln unter Kontrolle oder zumindest in Schach gehalten werden muss. Gerade auch die Anschläge auf die Twin Towers am 11. September 2001 waren für ihn „Teil einer nicht abreißenden Serie von Manifestationen des kapitalistischen Todestriebs, die den Zusammenbruch der modernen Subjektform im planetarischen Maßstab anzeigen; nicht nur in der spezifischen Weise des islamistischen ‚Dürstens nach dem Tod‘, sondern in einer weit darüber hinausgehenden Welle von bis zum Äußersten aggressiver Lebensmüdigkeit, die sich inzwischen fast schon im Wochentakt in herostratischen Akten der inszenierten Vernichtung und Selbstvernichtung entlädt“ (ebd., S. 425). Dieser „manifeste Todestrieb kapitalistischer Vernunft“ (ebd.) beschränke sich aber nicht nur auf die Barbarisierungsprozesse in der Peripherie, sondern zeige sich auch in einer „rapide fortschreitende[n] Anomisierung seitens der offiziellen Macht in den Weltordnungskriegen“ (ebd., S. 426). Die Differenz zwischen Zentrum und Peripherie werde zusehends eingeebnet:
„Die Irrationalität des Ganzen war auf der offiziellen Seite von Anfang an nicht nur an sich indirekt-systemisch präsent, sondern auch unmittelbar in den versuchten Gewaltlösungen und im realen Einsatz von Hightech-Massenvernichtungswaffen. Schon jetzt hat der demokratische Gesamtimperialismus weitaus mehr Menschenleben auf dem Gewissen als sämtliche Warlords, Gotteskrieger, Neonazis, Selbstmordattentäter und Amokläufer zusammengenommen.“ (ebd.)
Eine „neue Qualität der imperialen Gewalt“ (ebd., S. 430) erkennt Kurz vor allem darin, dass die USA damals offenbar konkrete Pläne hatten, in den von ihnen geführten Weltordnungskriegen auch Nuklearwaffen einzusetzen und mithin „die aus dem Ruder laufende Welt durch Atomexplosionen zur Räson zu bringen“ (ebd.). Die nukleare Gefahr lauere demnach also nicht primär in der zerfallenden Peripherie, etwa in Gestalt möglicher Terroranschläge mit Nuklearsprengköpfen, die todesverliebten „Märtyrern“ in die Hände fallen könnten, oder von völlig maroden, von Widersprüchen zerrissenen und religiösen Fundamentalismen durchseuchten Atommächten wie z.B. Pakistan, sondern gehe gerade von einer selber immer mehr verwildernden demokratischen „Weltpolizei“ aus. Hatten die USA schon 1945, mitten in ihrem Aufstieg zur Weltmacht und am Ende eines bereits gewonnenen Krieges, nicht gezögert, Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abzuwerfen, was ca. 150.000 Menschen das Leben kostete, so müsse die heutige „Bereitschaft zum nuklearen Präventivschlag ins Leere“ (ebd., S. 432) umso ernster genommen werden, zumal diese „an den Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise und damit der modernen Weltmachtfähigkeit“ aufscheine (ebd.). Dass die USA überhaupt atomare „Präventivschläge“ in Erwägung ziehen, zeigt laut Kurz nicht nur „den Grad von Verderbtheit der letzten Weltmacht“ (ebd.) an, sondern verweise eben auch auf den manifest werdenden Todestrieb in den kapitalistischen Zentren. Denn
„mit der ersten Atomwaffe, die sie [die USA, A.U.] im nicht gewinnbaren Weltordnungskrieg gegen die Krisengespenster des Kapitalismus einsetzen, [besiegeln] sie auch ihre Selbstvernichtung […]. Die letzte Weltmacht und der westliche ‚ideelle Gesamtimperialismus‘ […] werden damit den Untergang ihres Realitätsprinzips nur beschleunigen; sie werden die sekundären Wirkungen der atomaren Vernichtung nicht von sich selbst fernhalten oder überhaupt ‚kalkuliert‘ damit umgehen können; und sie werden vor allem den grenzenlosen und unstillbaren Hass einer überwältigenden Mehrzahl der Menschheit auf sich ziehen, der Mittel und Wege zur Rache finden wird, und sei es einer ebenso entmenschten und infernalischen.“ (ebd., S. 434)
Die Lektüre dieses Buches und insbesondere eine Diskussion der darin entfalteten Thesen eines „atomaren Todestriebs“ lohnen gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen im Kontext des westlichen „Krieges gegen Putin“ – wenngleich die Situation heute eine andere ist als noch vor zwanzig Jahren und manche Einschätzungen von Kurz mittlerweile nicht mehr aktuell sind oder zum Teil schon damals unzutreffend waren. So sitzt Kurz etwa noch dem westlichen Mythos von den USA als „Supermacht“ auf, die „militärisch schon jetzt so überlegen“ sei „wie kein anderer Staat der Weltgeschichte“ (ebd., S. 431). Diese Einschätzung mag vor zwanzig Jahren vielleicht noch eine gewisse Gültigkeit gehabt haben, war aber streng genommen schon damals eine Übertreibung, wenn man bedenkt, dass die USA praktisch keinen der von ihnen gegen zweit- und drittklassige Armeen geführten Kriege der vorangegangenen Jahrzehnte hatten gewinnen können (siehe Vietnam oder Afghanistan), oder dass Russland, das dem Westen derzeit eine strategische Niederlage nach der anderen zufügt, noch in seiner desolatesten Phase nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das einzige Land der Welt war, das den USA glaubhaft mit vollständiger nuklearer Vernichtung drohen konnte. In Kurz’ Buch kommt Russland als ökonomisch, geopolitisch oder militärisch relevanter Akteur, geschweige denn als Atommacht, nicht einmal vor, sondern lediglich als „riesige[r]Raum der auseinandergebrochenen ehemaligen Sowjetunion“, in dem „genügend ‚verschollene‘ taktische Atomwaffen“ (ebd., S. 425) herumlägen, die allenfalls irgendwelchen Terroristen in die Hände fallen könnten. Die heutige geopolitische und krisenimperialistische Konfliktkonstellation dürfte es aus dieser Perspektive also eigentlich gar nicht geben. Auch diese marginale Behandlung Russlands hatte damals ihre (eingeschränkte) Berechtigung, da Russland ökonomisch tatsächlich danieder lag und die unter Putin ins Werk gesetzte autoritär-etatistische Systemstabilisierung ganz am Anfang stand bzw. die daraus folgenden Entwicklungen noch nicht vorhersehbar waren. Heute ist diese Einschätzung – auch und gerade auf militärischem Gebiet – aber ganz sicher nicht mehr haltbar, wie nicht zuletzt das westliche Debakel im aktuellen Krieg eindrucksvoll veranschaulicht. Hier ist zudem zu berücksichtigen, dass die Militärmacht der USA nicht nur schon seit langem, wie noch von Kurz, deutlich überschätzt wird, sondern in der Zwischenzeit noch weiter heruntergekommen ist, insbesondere unter (waffen-)technologischen Gesichtspunkten. Mit Ausnahme einiger klar abgrenzbarer Waffengattungen (etwa der Unterwasserflotte) sowie des Atomwaffenarsenals ist es also mit der „Überlegenheit“ der US-Militärmaschinerie heute wohl nicht mehr allzu weit her.[2]
Auch die krisenimperialistische Gesamtsituation ist im heutigen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, wie gesagt, nicht mehr dieselbe wie vor zwanzig Jahren. Ein wesentlicher Unterschied zu damals – abgesehen von der von Kurz nicht vorhergesehenen Konsolidierung Russlands als geopolitische und militärische Großmacht – besteht darin, dass die USA ihren Status als Welthegemon und ihre damit einhergehende Funktion als „Weltpolizei“ weitgehend verloren haben und inzwischen tendenziell selbst zu jenen „Krisengespenstern“ gehören, die sie bisher in ihren Weltordnungskriegen bekämpft haben. Der von Russland so genannten „militärischen Spezialoperation“ inhäriert nicht nur bereits terminologisch dieselbe Anmaßung wie den bisher nur dem Westen vorbehaltenen, euphemistisch so bezeichneten „humanitären Interventionen“ in zahlreichen Ländern der vom Krisenkapitalismus verheerten Welt, sondern sie ist vielleicht auch faktisch so etwas wie „die russische Variante eines Weltordnungskrieges“ (Bedszent 2022, S. 6) – nur dass es diesmal (auch) die spezifisch westlichen Verfallserscheinungen sind, gegen die zu Felde gezogen bzw. „interveniert“ wird, und dass es diesmal nicht der Westen bzw. die USA sind, die die alleinige Definitionsmacht darüber haben, wer oder was als zu bekämpfender „Schurkenstaat“ zu bezeichnen ist. Für die Russen sind die USA der „Schurkenstaat“, und im Unterschied zu Letzteren und all ihren militärischen „Interventionen“ der letzten Jahrzehnte, könnte Russland in seinem „Weltordnungskrieg“, wie es aussieht, sogar einen Sieg davontragen.
Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ohne Frage markiert die gegenwärtige Situation einen neuen Höhe- und Kulminationspunkt im globalen Krisenprozess des warenproduzierenden Systems und ist daher auch Russland selbstverständlich nicht von der Kritik und den hier vorgetragenen krisentheoretischen Überlegungen auszunehmen. Auch Russland hat schon durch den Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 das seine zur Eskalation des Konflikts beigetragen, wie es auch heute mit seinen Drohungen eines Einsatzes taktischer Atomwaffen gegen die voll auf Kriegskurs befindliche NATO kräftig daran beteiligt ist, den westlich-russischen Stellvertreterkrieg in der Ukraine über die Schwelle zu einem globalen Flächenbrand zu heben. Aus denselben, der eskalierenden Krise des kapitalistischen Weltsystems geschuldeten Gründen würde selbst eine wahrscheinliche Niederlage der USA im aktuellen Stellvertreterkrieg keine neue Ära des Friedens einläuten und erst recht keine Bewältigung der fundamentalen Krise des kapitalistischen Weltsystems bringen, wie sich das vielleicht ein plumper Anti-Amerikanismus oder manche (zu Recht) unter der Schuldknechtschaft des Dollars stöhnende Länder im Globalen Süden erhoffen mögen. Genauso wenig wird ein russischer Sieg im derzeitigen „Weltordnungskrieg“ dazu führen, dass Russland oder irgendein anderes Land (z.B. China) die vakant gewordene Position eines neuen Welthegemons übernehmen können wird. Selbst wenn sie es könnten, wäre deren „Weltordnung“ von keiner per se anderen Qualität als die des im Niedergang befindlichen Westens und daher genauso wenig wünschenswert – wenngleich es mit dem demokratischen Westen, wie Robert Kurz zu Recht betonte, punkto „Verderbtheit“, Unmenschlichkeit und Destruktivität so schnell wohl niemand aufnehmen kann. Das Ende der US-Hegemonie ist jedoch gleichbedeutend mit einer neuen Eskalationsstufe im finalen Krisenprozess, die das Ende aller modernen „Weltmachtfähigkeit“ schlechthin anzeigt (dazu auch Urban 2023a). Im besten Fall werden wir eine „globale Blockbildung“ (Konicz 2022) erleben, etwa mit Eurasien (Russland, China, Iran etc.) auf der einen und den USA samt ihren atlantischen und pazifischen Bündnissystemen auf der anderen Seite – dies aber auch nicht im Sinne einer neuen „multipolaren Weltordnung“, wie sie heute gerne beschworen wird, sondern in Form globaler Verteilungskämpfe, die mit weiterem Fortschreiten des kapitalistischen Krisenprozesses ebenso an Intensität und Brutalität gewinnen dürften.
Gerade vor dem Hintergrund der sich heute vollziehenden Entwicklungen erweisen sich einige von Kurz’ Ausführungen aus dem Weltordnungskrieg aber nach wie vor als von hoher Aktualität, teilweise auch als außerordentlich hellsichtig, und zwar insofern, als er den heute kaum noch zu negierenden Verfall des Westens und insbesondere der USA bereits vorzeichnet und damit eine Tendenz beschreibt, die schließlich zu den Ereignissen der letzten Jahre führen sollte. So identifiziert er etwa als eine spezifisch politische Dimension der von ihm diagnostizierten „Transformation der demokratisch-imperialen Weltpolizei in den offenen Vernichtungswahn“ die
„wachsende Neigung der US-Administration zu Alleingängen unter offenem Bruch aller Regeln, auch den eigenen ‚Verbündeten‘ gegenüber. Diese Tendenz liegt in der Natur der Sache: Je unhaltbarer und gefährlicher die Weltsituation wird, desto stärker tritt der militärische Aspekt in den Vordergrund und desto niedriger wird die Hemmschwelle, Hightech-Gewalt im großen Maßstab einzusetzen, ohne noch lange zu fragen. […] Deshalb muss in den USA mit zunehmender Krise auch die Neigung wachsen, mit allen Mitteln der Hightech-Gewalt loszuschlagen, eben weil man sich am Drücker dieser Mittel weiß und sonst vielleicht bald gar nichts mehr in der Hand hat.“ (Kurz 2003, S. 429)
Man muss dabei nicht erst an die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines denken, um zu erahnen, auf welches Niveau die von Kurz angesprochene Bereitschaft zum „Bruch aller Regeln“, auch und gerade „den eigenen ‚Verbündeten‘ gegenüber“, zwischenzeitlich geklettert ist. Die gesamte Vorgeschichte des Ukraine-Krieges und insbesondere seiner maßgeblich von den USA provozierten und von langer Hand vorbereiteten Eskalation besteht zu großen Teilen aus systematischen Regel- und Vertragsbrüchen seitens der USA. Dies beginnt mit der nicht eingehaltenen Zusicherung an Russland noch unter Gorbatschow, keine Erweiterung der NATO in den postsowjetischen Raum zu betreiben, geht über den 2014 in der Ukraine durchgeführten Regime Change, in dessen Zuge ein prowestliches Marionettenregime installiert und die ukrainischen Streitkräfte vom Westen massiv aufgerüstet und darüber hinaus mit Naziregimentern angereichert wurden, und führt schließlich bis zur Provokation eines russischen Präventivschlags am 24. Februar 2022 durch die Vorbereitung einer ukrainischen Großoffensive (vgl. ausführlicher Urban 2023b, S. 19f.; zur Vorgeschichte des Ukraine-Krieges vgl. auch Konicz 2023). Es ist in diesem Zusammenhang generell bemerkenswert, dass just von den USA als Verbreitern der regellosesten Unordnung seit einiger Zeit geradezu manisch eine „rules-based order“ eingefordert wird. Diese tritt dabei gleichsam an die Stelle des Völkerrechts, statt Recht gelten „Regeln“. Diese „Regeln“ haben freilich die Eigenschaft, nirgends geschrieben zu stehen und daher nach Belieben geändert werden zu können (diese Eigenschaft teilen sie vielleicht mit den „westlichen Werten“).
Die „Hemmschwelle“ der USA ist also auf praktisch allen Ebenen, nicht nur hinsichtlich des Einsatzes von Hightech-Gewalt, gesunken, und sie ist im Laufe der Zeit in dem Maße immer niedriger geworden, wie ihr eigener geopolitischer Abstieg fortgeschritten und zu einem zumindest diffusen Wissen herangereift ist, „vielleicht bald gar nichts mehr in der Hand“ zu haben, wenn nicht geopolitisch gegengelenkt wird. Damit stieg wiederum die Bereitschaft „loszuschlagen“, ggf. auch mit hochriskanten „Strategien“ und unter Einsatz unverhältnismäßiger, nicht selten auch absurder Mittel. Dieser krisenbedingte Wahn, der zu einem immer direkteren Konfrontationskurs mit den geopolitischen Hauptkonkurrenten (oder von einflussreichen Kreisen in den USA zumindest als solche wahrgenommenen) Russland und China führte, fiel wiederum zusammen mit der altbekannten westlichen Hybris und der freilich in den USA besonders virulenten Überschätzung des eigenen militärischen Pouvoirs. Das, in Kombination mit einem im Laufe der letzten Jahre offenbar besonders im Westen auf neue Höhen gekletterten Realitätsverlust, führte schließlich „zur wohl fatalsten Fehleinschätzung der westlichen Politik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts“ (Uhlschütz 2023, S. 205), deren Folgen wir derzeit in der Ukraine besichtigen dürfen. Der sich schon bald abzeichnende desaströse Kriegsverlauf ließ endgültig alle „Sicherungen durchbrennen“ (Kurz 2003, S. 429) und setzte eine fatale Eskalationsspirale in Gang, die den Krieg seither stetig an die Schwelle zu einem Dritten Weltkrieg befördert. Es ist dabei, wie gesagt, in erster Linie der Westen, der im Angesicht der drohenden Niederlage immer kopfloser und irrationaler agiert und damit den Krieg auf immer höhere Eskalationsstufen hebt. Deshalb bleibt auch gültig – und gilt heute mehr denn je (allen aktuellen russischen Drohgebärden zum Trotz) –, was Robert Kurz im Weltordnungskrieg über die Gefahr eines Nuklearschlags schreibt: „Die größte Bedrohung geht […] von den USA aus, die unter dem Druck der Krise inzwischen ihre Bereitschaft zum einseitigen Einsatz von Nuklearwaffen auch gegen Nicht-Atommächte deutlich gemacht haben.“ (ebd., S. 430) Der damalige „Druck der Krise“ ist nichts gegen die Situation, in der sich die USA heute befinden. Und je mehr sie im Krieg gegen Russland mit dem Rücken zur Wand stehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand auf den Knopf drückt – zumal das westliche Führungspersonal in diesem Krieg schon bisher wenig Bereitschaft zur nüchternen Analyse seiner strategischen Fehler erkennen ließ. Wenn
Joe Biden, wie im Herbst 2022, vor einem nuklearen „Armageddon“ warnt, weil „Putin verzweifelt“ sei[3], so ist das ein klassischer Fall einer Projektion. Wenn sich jemand am Rande der Verzweiflung befindet, dann der „kollektive Westen“ unter Federführung der USA. Und damit steigt wiederum die Gefahr eines „weltpolizeiliche[n] Amoklauf[s], der weltvernichtende Ausmaße anzunehmen droht“ (Kurz 2003, S. 430), zumindest aber die Gefahr, durch einen immer aggressiveren Konfrontationskurs, der womöglich in absehbarer Zeit in einem offenen Kriegseintritt der NATO münden könnte, Russland zum Einsatz von taktischen Nuklearwaffen zu provozieren.
Kaum etwas von ihrer Aktualität eingebüßt haben auch Kurz’ Einschätzungen über den jämmerlichen Zustand der US-amerikanischen Vasallen, insbesondere Europas. „Dass der Rest der demokratisch-kapitalistischen Welt immer zögerlicher folgt und sich am liebsten verkriechen möchte, je hemmungsloser die paranoide Gewaltbereitschaft der US-Administration wird“ (ebd., S. 429f.), kann man zwar angesichts der „Geschlossenheit“, mit der der „kollektive Westen“ in das Debakel in der Ukraine marschiert ist, nicht gerade behaupten. Vor allem Europa wird sich noch innig wünschen, sich rechtzeitig verkrochen zu haben. Kurz macht dies in seinem Buch noch daran fest, dass z.B. Frankreich und Deutschland den Irakkrieg 2003 nicht mittragen wollten. Im Krieg gegen Russland verhält sich dies jedoch anders und sieht man sich als „Juniorpartner“ der USA nach wie vor nicht nur auf Seite der demokratischen „Werte“, sondern auch der stärkeren Bataillone und erhofft sich so die Aufrechterhaltung der eigenen imperialen Stellung (nebst der ökonomischen Profite, die bisher abgefallen sind). Wahrscheinlich sind aber auch unter den Vasallen inzwischen Paranoia und Realitätsverlust schon so groß, die Hörigkeit gegenüber dem „großen Bruder“ in Übersee so übermächtig[4] und die ansonsten so beschworenen „westlichen Werte“ bereits so erodiert, dass sie ohnehin in so ziemlich jeden Krieg ziehen würden, den man ihnen als gerechten Kampf für die „Demokratie“ und die „westlichen Werte“ verkauft und vor allem unter dem Label der „Solidarität“ anpreist. Deutschland lässt sich mittlerweile sogar kritische Infrastruktur in die Luft sprengen und so endgültig von russischem Erdgas abschneiden, ohne dass auch nur der leiseste Verdacht in Richtung jenes Staats geäußert würde, der am ehesten die Fähigkeiten zu einer solchen Tat hat, am meisten von der Sabotage der Pipelines profitiert und darüber hinaus im Vorfeld angekündigt hat, im Falle einer „russischen Invasion“ alles zu unternehmen, um Nord Stream ein Ende zu machen. Insofern stimmt es vielleicht, wenn Robert Kurz von einer „Paralyse der Subalternen“ spricht, „denen der ersichtlich die Selbstkontrolle verlierende ‚große Bruder‘ allmählich genauso viel Angst einjagt wie die unheilbaren Krisenerscheinungen, die in diese Situation geführt haben“ (ebd., S. 430). Eine Paralyse ist es allemal, zumal eine intellektuelle. Durch krisenbedingte Ängste verursacht ist sie fraglos auch. Gut möglich also, dass auch die Angst vor der rapide voranschreitenden Verwilderung der US-amerikanischen Hegemonialmacht eine Rolle spielt, zumal diese stets auch auf die eigene Krise verweist.
Ganz bestimmt zutreffend ist aber die düstere Zukunftsaussicht, die Kurz skizziert: „Alle wollen nur das machen, was nicht mehr geht, nämlich marktwirtschaftlich-demokratisch weiterwursteln; und deshalb müssen zuletzt auch alle die ultima ratio der kapitalistischen Unvernunft akzeptieren und irgendwie mittragen.“ (ebd.) In der gegenwärtigen Situation, in der sich der demokratische Westen befindet, konfrontiert mit der drohenden Niederlage im selbst(mit)verschuldeten militärischen und ökonomischen Konflikt mit Russland, heißt diese ultima ratio: Atomkrieg.
Literatur
Bedszent, Gerd (2022): Krise und Krieg der Oligarchen,wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)
Konicz, Tomasz (2022): Eine neue Krisenqualität. Wieso es nach dem Ende des Krieges um die Ukraine keine stabile Nachkriegsordnung geben wird, exit-online.org
Konicz, Tomasz (2023): Zerrissen zwischen Ost und West. Kurzer historischer Überblick über den Weg in den Ukraine-Krieg vor dem Hintergrund der Weltkrise des Kapitals, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 20, S. 117-158.
Kurz, Robert (2003): Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef.
Kurz, Robert (2009): Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/Main.
Martyanov, Andrei (2018): Losing Military Supremacy. The Myopia of American Strategic Planning, Atlanta.
Martyanov, Andrei (2021): Disintegration. Indicators of the Coming American Collapse, Atlanta.
Uhlschütz, Kurt B. (2023): Inkompetenzgesellschaft. Konturen einer Zeitdiagnose, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 195-218.
Urban, Andreas (2023a): De-dollarization und das Ende von US-Weltmacht und Weltgeld, wertKRITIK.org
Urban, Andreas (2023b): Realitätsverlust und suizidale Drift – Der Abstieg des Westens im Viruswahn und „Krieg gegen Putin“. Teil 1: „Killervirus“ und „Mad Vlad“ – Die postmoderne Krisenwelt als Wille und Irrenhaus, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)
Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2023): Die Gesundheitskrise. Thesen zu Ursachen und Bedingungen eines historischen Nervenzusammenbruchs, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 69-96.
[2] Interessantes Material und eindrucksvolle Belege für den insbesondere militärischen Niedergang der USA liefern – trotz unbestreitbarer konservativer Bornierungen und anachronistischer Nationalstaatsillusionen des Autors – die Veröffentlichungen des russisch-amerikanischen Militärexperten Andrei Martyanov (z.B. Martyanov 2018 & 2021). Selbst auf nuklearem Gebiet sind die USA heute angreifbarer als noch vor 20 Jahren. So scheinen die USA, nach dem Rückzug aus dem sogenannten ABM-Vertrag über die „Abwehr von ballistischen Flugkörpern“ noch unter George W. Bush, mittlerweile nicht einmal mehr über ein Raketenabwehrsystem zu verfügen, mit dem ein russischer Nuklearschlag erfolgreich abgewehrt werden könnte (vgl. „Putin’s nuclear power cruise missile is bigger than Trump’s“, foreignpolicy.com, 1.3.2018).
[3] „Biden warns risk of nuclear ‚Armageddon‘ is highest since Cuban Missile Crisis“, nbcnews.com, 7.10.2022
„Biden’s ‚Armageddon‘ nuclear warning builds on increasing worries about a desperate Putin“, news.yahoo.com, 13.10.2022
[4] Das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassende Cover hierzu lieferte der Stern in seiner Ausgabe Nr. 10 von Anfang März 2023 (https://www.amazon.de/STERN-2023-grosse-Bruder-zur%C3%BCck/dp/B0BX951C98).