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Andreas Stückler


Gesellschaftskritik und bürgerliche Kälte




Vorbemerkung:


Der folgende Text wurde erstmals im Jahr 2014 in der Zeitschrift Soziologie dem Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie als Beitrag zu einer damals in diesem Blatt ausgetragenen Debatte über das Verhältnis von Soziologie und Gesellschaftskritik veröffentlicht (Soziologie, 43. Jg., Heft 3, S. 278-299). Er widmet sich der in gesellschaftskritischen Kontexten (von der akademischen Soziologie ganz zu schweigen) notorisch ausgeblendeten Frage, wie es dazu kommt, dass Gesellschaftskritik überwiegend nicht nur mit keinerlei im Verhältnis zum quantitativen Aufkommen gesellschaftskritischer Artikulationen und den dabei geltend gemachten kritischen Ansprüchen stehenden gesellschaftlichen Wandel einhergeht, sondern jene Verhältnisse, auf die sich Kritik bezieht, zumeist selbst sta­bi­li­siert und reproduziert. Der Autor rekurriert dabei auf die besonders von Adorno geprägte moralphilosophische Metapher der bürgerlichen Kälte (Adorno erachtete die Kälte als ein wesentliches Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität“). Die im Beitrag dargelegte Kritik an verbreiteten Formen gesellschaftskritischer Praxis hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt – im Gegenteil, das Niveau dessen, was gemeinhin das Prädikat „gesellschaftskritisch“ für sich in Anspruch nimmt, hat gerade in den vergangenen Jahren neue Tiefpunkte erreicht (man betrachte allein die peinlichen „Demonstrationen gegen rechts“ der jüngsten Zeit).


Manche Denkanstöße und Diskussionsanregungen vermag der Text eventuell auch im Hinblick auf Diskussionen zu geben, die in der letzten Zeit  auch innerhalb der Redaktion geführt wurden vor dem Hintergrund der verheerenden Eskalation in Gaza. Andreas Urban hat in seinem Diskussionsbeitrag über die Nahost-Eskalation die kontroverse These verfochten, eine Parteinahme für eine der beiden Seiten ob nun für Israel oder für die Palästinenser – sei auf dem erreichten Stand der globalen Barbarisierung „nur noch eine Entscheidung für die eine oder die andere Partei auf deren Marsch in die Barbarei“. Seine Begründung, dass wahre Solidarität nicht so sehr in der unmittelbaren Solidarisierung und Parteinahme für konkret Leidende sich realisiert, sondern im Bemühen um ein hinreichendes Verständnis der gesellschaftlichen Ursachen und Voraussetzungen des Leidens“, erhält durch den vorliegenden Text eine zusätzliche kritisch-theoretische Fundierung. Das einzig Humane, so die Quintessenz der folgenden Ausführungen, besteht gerade unter den gegebenen, immer inhumaneren Verhältnissen nur noch in einer radikalen Distanzierung vom gesellschaftlichen Getriebe. Mit Adorno gesprochen: „Das Un­mensch­liche daran, die Fähigkeit, im Zuschauen sich zu distanzieren und zu erheben, ist am Ende eben das Humane, dessen Ideologen dagegen sich sträuben. [...] Unterm Bann haben die Lebendigen die Alternative zwischen unfreiwilliger Ataraxie – einem Ästhetischen aus Schwäche – und der Vertiertheit des Involvierten. Bei­des ist falsches Leben.“ 


Der Beitrag wird daher mit geringfügigen Änderungen durch den Autor an dieser Stelle wiederveröffentlicht.





Einleitung


Gesellschaftskritik scheint allgegenwärtig. Nahezu an allen Ecken und Enden wird heute, und zwar in zunehmendem Maße, Kritik an der Gesell­schaft geübt – sei es an der rücksichtslosen kapitalistischen Ver­wer­tungs­logik, an der sich in den letzten Jahren ständig zuspitzenden Konkurrenz um Karriere- und Lebenschancen, an prekären Arbeitsverhältnissen, an Ras­­sismus und Fremdenfeindlichkeit, an der fortschreitenden Zerstörung von Natur und Umwelt, an der nach wie vor bestehenden Ungleichheit zwi­­schen den Geschlechtern oder an einengenden bzw. ausgrenzenden Ge­schlechter- und Sexualitätsnormen. Zahlreiche ältere und neue soziale Be­wegungen wie Occupy, diverse Menschenrechts- und Um­welt­schutz­grup­pen, queere und feministische Bewegungen u.v.m. zeugen von einem schier unermesslichen und sogar noch weiter anwachsenden Unbehagen in der kapitalistischen Gesellschaft.


Es ist von daher kein Zufall, dass Gesellschaftskritik zuletzt auch (wie­der) verstärkt ein Thema der Soziologie geworden ist, wobei sich hier zwei ver­schiedene Varianten ausdifferenziert haben, die insbesondere auch den jün­geren Diskurs innerhalb der deutschen Soziologie maßgeblich geprägt haben (vgl. Lessenich 2014): Auf der einen Seite steht eine eher nüchtern-dis­tanzierte »Soziologie der Kritik«, die sich, dem Gebot der Wert­urteils­frei­heit verpflichtet, empirisch mit Gesellschaftskritik auseinandersetzt. Ohne selbst einen gesellschaftskritischen Anspruch vertreten zu können oder zu wollen, steht bei ihr die soziologische Betrachtung gesell­schafts­kri­ti­scher Artikulationen im Mittelpunkt (vgl. Vobruba 2013). Auf der an­de­ren Seite – und deutlich davon abgegrenzt – steht eine »kritische So­zio­lo­gie«, die explizit die Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen zu ihrer ur­eige­nen Sache macht (z.B. Wehling 2014). Unter anderem orientiert an einem Verständnis, das Kritik als eine Praxis der »Entunterwerfung« (Fou­cault 1992, S. 15) auffasst, wird nachgerade eine Veränderung bestehender ge­­­sellschaftlicher Strukturen angestrebt, zu der eine kritische Soziologie bei­­tragen soll.


Gelegentlich konstatiert, jedoch kaum näher behandelt, geschweige denn plausibel erklärt, wird dabei ein Sachverhalt, der sowohl ob seiner Sinn­fäl­lig­keit als auch ob seiner Widersprüchlichkeit eigentlich im Zentrum einer je­den soziologischen Auseinandersetzung mit Gesellschaftskritik ste­hen müss­te. Für den unvoreingenommenen Beobachter ist es wohl eine kaum von der Hand zu weisende Tatsache, dass der vielen Kritik allerorten eine bemer­kens­werte Wandlungsresistenz gesellschaftlicher Strukturen ge­gen­übersteht. Trotz des doch offenbar so weit verbreiteten und viel­fach offen be­kun­de­ten Unbehagens an und in der Gesellschaft scheint sich, jedenfalls substantiell,

vergleichsweise wenig zu ändern und die so aus­giebig kritisierten ge­sellschaftlichen Verhältnisse sich im Kern er­staun­lich reibungslos und un­ge­brochen reproduzieren zu können. Dass weder eine Soziologie der Kritik noch eine ausdrücklich gesellschafts­kritisch orien­tierte Soziologie sich näher mit diesem Sachverhalt befasst, dürfte frei­lich bereits unmittelbar in deren dichotomen Positionen begründet lie­gen: Für erstere stellt besagter Sach­ver­halt vermutlich, in Ermangelung eines gesellschaftkritischen Anspruches, schlicht kein besonders

er­klä­rungs­bedürftiges Phänomen dar. Aus einer »wert­freien« Perspektive, wie sie dort gepflegt wird, ließe sich der Widerspruch zwischen Anspruch und Wir­kung von Kritik etwa auf überschießende kritische Normen auf Seiten der Kritiker zurückführen. Der Widerspruch wäre dann also relativ einfach durch gleichsam unrealistische Standpunkte und Ansprüche der Ge­sell­schafts­kritiker zu erklären.[1] Für eine kritische So­zio­logie wiederum mag dieser Widerspruch deshalb kein bevorzugtes Thema sein, weil man dort wohl tendenziell geneigt wäre zu bestreiten, dass die letzt­lich ja auch selbst betriebenen kritischen Interventionen keine grund­legend transformierende Kraft haben sollen.


Genau diese zwischen nüchtern-empirischer und betont gesellschafts­kri­ti­scher Soziologie weitgehend vernachlässigte Frage, wie es eigentlich mög­lich ist, dass die viele Kritik im Grunde mit keinerlei dazu auch nur an­nähernd in einem Verhältnis stehenden sozialen Wandel einhergeht, ja dass Kritik oft sogar jene Verhältnisse, auf die sie sich kritisch bezieht, sta­bi­li­siert und selbst reproduziert, diese Frage steht im Mittelpunkt des vor­lie­gen­den Beitrags. Eine Klärung dieses Sachverhalts birgt meines Erachtens den Schlüssel zu einem umfassenden Verständnis der Möglichkeiten und der Bedingungen allen gesellschaftskritischen Handelns. Vor allem für eine sich als kritisch verstehende Soziologie ist daher eine Auseinandersetzung mit dieser Frage von kaum zu unterschätzender Bedeutung, wird allerdings auch, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird, eine Überwindung so man­cher überkommener, (vermeintlich) kritischer Denkgewohnheiten erfor­der­lich machen.


Die im Folgenden vertretene These lautet, dass besagtes Paradox ge­sell­schafts­kritischer Praxis in der Struktur und der Dynamik von

Gesell­schafts­kritik selbst – genauer: in der Rolle und der Funktion von Kritik in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften – begründet liegt. Um dies zu ver­deutlichen, wird auf ein Konzept aus der klassischen Kritischen Theorie (Horkheimer, Adorno) zurückgegriffen, mit dem dieses paradoxe Phäno­men, wie ich meine, höchst plausibel erklärt werden kann. Es handelt sich da­bei um das Konzept der »bürgerlichen Kälte«. Bürgerliche Kälte be­schreibt gewissermaßen ein wesentliches, die bürgerliche Subjektivität maß­geb­lich bestimmendes moralisches Prinzip in der kapitalistischen Ge­sell­schaft. Bei Horkheimer und Adorno ist das bürgerliche Dasein geprägt durch eine gleichsam schizophrene Gleichzeitigkeit von Anpassung und Wi­derstand: Das bürgerliche Subjekt ist einerseits, jedenfalls dem An­spruch nach, ein autonomes, mündiges und daher auch kritikfähiges, mit hohen moralischen Werten ausgestattetes Individuum, das gesellschaftliche Miss­stände in Frage zu stellen vermag. Andererseits ist es aber auch ein Funk­tionsträger innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung und hat sich dieser, im Interesse seiner Selbsterhaltung, anzupassen und unter­zu­ord­nen. Diese hochgradige Widersprüchlichkeit bestimmt bereits auch das Kan­tische Ideal des bürgerlichen Individuums (Kant 1974). Gesell­schafts­kritik findet also immer schon notwendig in diesem Spannungsfeld aus An­pas­sung und Widerstand, Kritik und Affirmation statt. Zu einer wesent­lichen Grundvoraussetzung von Kritik wird damit, jene das eigene Han­deln unweigerlich determinierende Dialektik zum Gegenstand (selbst-)kri­ti­scher Reflexion zu machen. Wo diese Reflexion ausbleibt oder nur un­zu­rei­chend stattfindet, läuft Gesellschaftskritik Gefahr, in die Affirmation ab­zu­gleiten und unfreiwillig zu reproduzieren, was eigentlich zu kritisieren und zu verändern beansprucht wird. Dort wird dann Gesellschaftskritik selbst zu einem konstitutiven Moment des bestehenden Schlechten.


Mithilfe des Konzepts der »bürgerlichen Kälte« soll dieses Spannungs­feld kritischen Denkens und Handelns im Folgenden genauer

aus­ge­leuch­tet und dabei auch Konsequenzen für die gesellschaftskritische Praxis dis­ku­tiert werden – im Interesse einer Gesellschaftskritik, die nicht aus sich selbst heraus verfehlt, was sie erreichen möchte.



Zur Kälte als Grundprinzip bürgerlicher Subjektivität


Streng genommen handelt es sich bei der »bürgerlichen Kälte« weniger um ein Konzept im engeren sozialwissenschaftlichen Sinne als vielmehr um eine moralphilosophische Metapher, die sich gleichsam durch das gesamte Werk von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zieht. Sie findet sich be­reits 1936 in einer Abhandlung von Horkheimer über Egoismus und Frei­heitsbewegung (Horkheimer 2011b) und taucht von da an in zahl­rei­chen ihrer Arbeiten auf – von der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 2010) über Adornos Minima Moralia (Adorno 2012) bis hin zu Adornos philosophischem Hauptwerk, der Negativen Dialektik (Adorno 2003a). Bürgerliche Kälte bezeichnet bei ihnen sozusagen das moralische Grund­­prinzip in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die dort das Le­ben bestimmende kompetitive Vereinzelung und die Vergesellschaftung der Subjekte zum Kampf um Lebenschancen verlange diesen stets die Konzentration auf die individuelle Selbsterhaltung ab. Ver­bun­den damit sei nicht nur eine Entfremdung der Menschen unter- und ge­gen­einander, da diese sich nur noch als isolierte Subjekte mit ebenso iso­lier­ten Interessen begegneten, sondern auch eine tendenzielle Gleich­gültig­keit, vor allem gegenüber jenen Menschen, die dabei zum Verfügungs­objekt des eigenen Partikularinteresses gemacht werden müssen (insbeson­de­re durch Verwertung ihrer Arbeitskraft). Die erfolgreiche Selbst­be­haup­tung unter den Prämissen universeller Konkurrenz bedinge die mehr oder weniger konsequente Verdrängung der Tatsache, dass der eigene Vorteil, den es in der Gesellschaft zu suchen gilt, immer schon notwendig den Nach­teil eines anderen impliziert.


Dies ist gewissermaßen die sozial-strukturelle Dimension der Kälte: Es sind die Struktur und die materiellen Grundlagen der kapitalistischen Ge­sell­schaft, die den Menschen eine primäre Orientierung am eigenen Fort­kom­men und damit ein Handeln aufnötigen, das im Wesentlichen geprägt ist durch Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber anderen. Die Kälte besitzt aber noch eine weitere, psychologische Dimension. Diese besteht vor allem darin, dass dieselbe den Menschen strukturell aufgezwungene Kälte zu­gleich von diesen offenbar nur sehr schwer zu ertragen ist. Konfrontiert mit menschlichem Leid und gesellschaftlichem Unrecht reagieren Men­schen häufig mit dem Rückgriff auf moralische Werte, mit denen sie Ein­spruch gegen die Gesellschaft und die von ihr ausgehende Kälte einlegen: Ge­gen Wettbewerb und rücksichtslose Übervorteilung wird etwa ein soli­da­risches Miteinander gesetzt, gegen soziale Ungleichheit wird die

Gleich­heit aller Menschen postuliert und allgemeine Chancengleichheit gefordert. Ver­wiesen ist damit zunächst auf ein Bewusstsein der Subjekte von den herr­schenden gesellschaftlichen Missständen und Widersprüchen. Offen­bar wird aber auch und vor allen Dingen eine unerhörte Spannung zwi­schen ihren moralischen Ansprüchen einerseits und ihrer Alltagspraxis an­de­rerseits, die unter dem Zwang der Selbsterhaltung und der Verfolgung par­ti­kularer Interessen eine Realisierung der moralischen Norm in der Regel bereits grundsätzlich sabotiert. Es scheint insofern gerade zum We­sen der Kälte zu gehören, dass sie zwar kritisiert werden kann und üb­licher­weise auch kritisiert wird, dabei aber keineswegs praktisch negiert wer­den muss. Dass die Menschen dazu fähig sind, dass sie also den Wider­spruch zwischen moralischer Norm und gesellschaftlicher Realität aus­zu­halten und gleichsam zwischen beiden zu vermitteln vermögen – und viel­leicht sogar erst dadurch die ihnen abverlangte Funktionstüchtigkeit be­wah­ren können –, eben dafür machen Horkheimer und Adorno die bür­ger­liche Kälte verantwortlich. Um die Kälte der gesellschaftlichen Ver­hältnisse ertragen zu können, müssen die Menschen selbst kalt werden. Für Horkheimer und Adorno stellt daher die bürgerliche Kälte das »Grund­prinzip der bürgerlichen Subjektivität« (Adorno 2003a, S. 356) dar.


Wie grundsätzlich dieses Prinzip zu verstehen ist, wird vielleicht nir­gends so deutlich wie in einem von Adornos berühmtesten Vorträgen über Er­ziehung nach Auschwitz. Adorno spricht darin von der Kälte als einem »Grundzug der Anthropologie« unter bürgerlich-kapitalistischen Prä­missen, der nicht bloß mit-, sondern vielmehr hauptverantwortlich ge­we­sen sei für jenes gesellschaftliche Grauen, wie es in Auschwitz eine völ­lig neue und ungeahnte Dimension erreicht hat:


»[W]ären sie [die Menschen, A.S.] also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz unmöglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. […] Die Kälte der ge­sell­schaft­lichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schick­sal der anderen die Voraussetzung dafür, daß nur ganz wenige sich regten.« (Ador­no 1971, S. 101)


Bürgerliche Kälte ist somit nicht lediglich Resultat, sondern geradezu Er­mög­lichungsbedingung zutiefst inhumaner gesellschaftlicher

Verhält­nis­se, in welchen noch das größte menschliche Unrecht seinen Lauf nehmen kann.[2]


Als ein die bürgerliche Subjektivität als solche maßgeblich bestim­men­des moralisches Prinzip bleibt die Kälte überdies nicht nur auf die Gleich­gül­tigkeit gegenüber dem Schicksal anderer und die sture Verfolgung par­ti­ku­larer Interessen im globalen Wettbewerb beschränkt, sie ist ungleich um­fas­sender und tiefgreifender. Eindringlich und mit kompromisslosem Scharf­­blick legen Horkheimer und Adorno in ihren zahlreichen Analysen, dabei oft sogar nur an ganz trivial erscheinenden Beispielen aus dem bür­ger­lichen Leben, dar, wie die Kälte nicht bloß die unmittelbar wirt­schaft­liche Sphäre als den Hauptschauplatz der allgemeinen Kon­kurrenz be­herrscht, sondern wie sie letztlich auch von solchen Bereichen Besitz er­greift, die von der Kälte gerade frei zu sein beanspruchen und von den Men­schen um jeden Preis vor ihr beschützt werden wollen. Wenn etwa Adorno in seinen Minima Moralia das Erkalten der Liebe beschreibt (Ador­no 2012, S. 190ff.), die Ehe als eine ökonomisch erzwungene Inter­essen­gemeinschaft (ebd., S. 32f.), oder an etwas vermeintlich so Banalem wie der sozialen Praxis des Grüßens gar ein umfassendes Erkranken des zwi­schen­menschlichen Kontakts diagnostiziert (ebd., S. 44ff.), wird deutlich, dass die Kälte des gesellschaftlichen Verwertungs- und Konkurrenzprinzips selbst die privatesten und intimsten Formen des menschlichen Lebens affi­ziert. Sie nistet sich noch in den zartesten Regungen des Zwischen­mensch­lichen ein. Die Kälte wird so ohne Aus­nahme, und wie es scheint auch ohne greifbaren Ausweg, zu einem das ganze Leben in der bürgerlich-ka­pi­ta­listischen Gesellschaft prägenden Prinzip. Es ist ein Prinzip, dem die Men­schen einerseits ihre ganze bürgerliche Existenz verdanken, aber auch eines, das mit unendlich vielen Entbehrungen, insbesondere an Solidarität und mitmenschlicher Wärme, verbunden ist und unter dem sie daher immer auch leiden. Die Kälte ist der Preis, den die Menschen für ihr gesell­schaftliches Fortkommen, ihre bürgerliche Selbstbehauptung zu bezahlen haben – und zu dieser gibt es schlechterdings keine Alternative. Denn den kapitalistischen Gesetzen von Ware, Wert, Geld, Arbeit etc. müssen sich letztlich alle unterwerfen, »wenn sie nicht zugrunde gehen wollen« (Adorno 2003b, S. 14). Eben das macht am Ende die Universalität und damit die Unhintergehbarkeit der Käl­te aus.



Reaktionsformen auf und gegen die Kälte: Hitze und Wärme


Die Metapher der bürgerlichen Kälte wurde später vor allem von Andreas Gruschka aufgegriffen. Für ihn stellt die bürgerliche Kälte gar den »zen­tra­le[n] moralphilosophische[n] Topos« (Gruschka 1994, S. 36) in den Schriften von Horkheimer und Adorno dar. Gruschka hat die zahlreichen, über ihr ge­samtes Werk verstreuten Hinweise auf die Kälte erstmals zusammen­ge­tra­gen und der bürgerlichen Kälte nicht nur ein eigenes Buch (Bürgerliche Kälte und Pädagogik, Gruschka 1994), son­dern in weiterer Folge auch einen großen Teil seiner Forschungsarbeit ge­widmet. Er hat im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von empirischen Unter­suchungen vorgelegt, in denen er – gleichsam die Arbeit von Horkheimer und Adorno weiterführend – den komplexen Wirkungs- und Re­pro­duk­tions­mechanismen der Kälte nachging. Dabei ist es ihm gelungen, die Metapher der bürgerlichen Kälte zu einer äußerst frucht­­baren kritisch-sozialwissenschaftlichen Kategorie weiterzuent­wickeln. In gewisser Weise kann also, soweit im vorliegenden Beitrag von einem »Konzept« der bür­ger­lichen Kälte die Rede ist, Andreas Gruschka als dessen eigentlicher Be­grün­der gelten. Als Erziehungswissenschaftler legte er in seinen Studien den Fokus besonders auf einen Bereich, der im Hinblick auf die An­eig­nung und Inkorporierung der Kälte als zentral angenommen werden kann: näm­lich jenen der öffentlichen Erziehung. In einer Reihe von sogenannten »Kältestudien« konnten Gruschka und seine Mitarbeiter recht ein­drucks­voll zeigen, wie Menschen bereits von klein auf durch Erziehung (im All­ge­meinen) und Schule (im Besonderen) tendenziell zur Hinnahme der

ge­sell­schaft­lichen Widersprüche disponiert werden und so bürgerliche Kälte – auch oder vielmehr sogar gerade gegen alle pädagogischen Ansprüche – sys­te­matisch (re)produziert wird (siehe dazu vor allem Gruschka 1994; zur On­­to­­genese der Kälte siehe auch Gruschka 1997; Heinrich 1999[3]).


Aufschlussreich sind Gruschkas Arbeiten zur bürgerlichen Kälte vor allem aber auch insofern, als er sich darin – quasi zur näheren Bestimmung der Dimensionen bürgerlicher Kälte – intensiv mit den Reak­tions­for­men auf und gegen die gesellschaftlich verordnete Kälte beschäftigt, also nach­gerade mit solchen Handlungsorientierungen, die ein Unbehagen der Men­schen an der Kälte der gesellschaftlichen Verhältnisse wie auch unter­schied­liche Strategien zu ihrer Überwindung dokumentieren. Hier ergeben sich also bereits ganz unmittelbare Einsichten in den Zusammenhang von bür­ger­licher Kälte und Gesellschaftskritik. Gruschka unterscheidet zwei Typen von Reaktionen, die er – im Bild der Kältemetapher bleibend – mit »Wär­me« und »Hitze« bezeichnet und ausführlich in ihrem Verhältnis zur bür­gerlichen Kälte beleuchtet. Sehr anschaulich legt er dar, dass und auf wel­che Weise letztlich beide Reaktionsformen kontraintentional in die eigent­lich zu überwindende Kälte einmünden und in diesem Lichte – wie dies bei Horkheimer und Adorno bereits angedeutet wurde – selbst we­sent­liche Bestandteile der bürgerlichen Kälte darstellen.


Unter »Hitze« fasst Gruschka verschiedene Formen der moralischen Em­pö­rung und des Protests gegen gesellschaftliches Unrecht. Hitze als Re­ak­tion auf und gegen die Kälte findet sich überall dort, wo Menschen sich nicht mit dieser abfinden wollen und in vielfältiger Weise dagegen auf­be­geh­ren. Die Problematik dieser Reaktionsform und ihr Unvermögen zur Über­windung der Kälte verdeutlicht Gruschka dabei nicht bloß an Bei­spielen, an denen sich dieses Unvermögen noch relativ leicht ablesen lässt – etwa an der moralischen Empörung gegen konkrete persönliche Un­rechts­erfahrungen, die stets Gefahr läuft selbstgerecht zu werden, weil und wo sie in die krude Durchsetzung partikularer Interessen umschlägt, oder, noch eindeutiger, an Beispielen des Abdriftens moralischen Protests in oft menschenverachtenden Fanatismus –, sondern gerade auch an sol­chen Bei­spielen, in denen Kälte prima vista erfolgreich überwunden zu werden scheint. So kämen wahrscheinlich nur wenige auf den Gedanken – vielen er­schiene es vielleicht, im Gegenteil, sogar als zynisch und insofern fast wie­der unmoralisch – etwa in öffentlichen Kundgebungen und der Soli­da­ri­sierung von Menschen gegen Rassis­mus und Fremdenfeindlichkeit nach Spuren von Kälte und der Repro­duktion der dadurch eigentlich gerade zu überwindenden gesellschaftlichen Un­mo­ral zu suchen. Ein kritischer Blick vermag jedoch, wie Gruschka zeigt, über eine wesentliche Dialektik solch moralisch motivierten Massenprotests zu be­lehren. So sei nämlich festzustellen, dass im Rahmen solcher Proteste viel­fach nicht zuletzt auch »die moralische Salvierung« vieler Menschen er­folge, »deren bessere gesellschaftliche Lage ursächlich zusammenhängt mit der orien­tie­rungs- und hoffnungslosen der Aktivisten und der Claqueure des explodierenden Frem­denhasses. Das zu unterschlagen und statt dessen massenhaft Distanzierung zu demonstrieren […], enthält selbst ein Moment der Kälte« (Gruschka 1994, S. 98). Die Solidarität mit den Opfern (in diesem Fall: des Fremdenhasses) kon­kre­tisiert sich in erster Linie in einer Solidarität gegen die Täter. In dieser Per­sonalisierung des Problems richtet sich jedoch der Protest nicht (mehr) gegen die dafür verantwortlich zu machenden gesellschaftlichen Ver­hält­nisse. Unfreiwillig wird dadurch also die zu überwindende Kälte sogar noch bekräftigt.


Auch die konkrete Form vieler öffentlicher Massenproteste verweist laut Gruschka im Kern auf unüberwundene Kälte und damit auf das Schei­tern des Protests am eigenen Anspruch. Gerade zu der Zeit, als die hier zi­tierte Arbeit von Andreas Gruschka veröffentlicht wurde (1994), traten einige neue, inzwischen längst zum Standardrepertoire öffentlichen Pro­tests gehörende und in ihrer konkreten Gestalt heute noch wesentlich aus­dif­ferenziertere Formen des aktionistischen und öffentlichkeits- bzw. me­dien­wirksamen Massenprotests in Erscheinung. Besonders populär waren damals zum Beispiel Menschen- und Lichterketten.[4] Gruschka konstatiert hier, insbesondere im Vergleich zu früheren Protestformen, etwa den Stu­den­tenprotesten der 1960er Jahre, eine seltsame und letztendlich ver­rä­te­ri­sche Verbindung von Empörung und Fröhlichkeit:


»Gegen den Imperialismus wurde noch verbissen fanatisch agitiert. Es wurde gleich­sam im Galopp und schreiend über die Boulevards gelaufen. Nun wird der Pro­test zu einem anderen, vor allem ästhetisch zu Herzen gehenden Ereignis. Pro­te­stierer beweisen sich gegenseitig durch kollektive Riten des Protestes ihre mo­ra­li­sche Erregtheit, man gestaltet Versammlungen mit viel Spaß, in jüngster Zeit or­ga­ni­siert man sich den Genuß eines optischen Spektakels (Lichterketten). So sehr sich in diesen Formen auch das utopische Bedürfnis nach Harmonie und Fried­fer­tig­keit ausdrücken mag, dialektisch enthält es die Brechung, Umformung und Do­­me­s­ti­fikation der Wut: Protest als Teil der Kulturindustrie.« (Gruschka 1994, S. 100)


Mehr als »das große Gefühl, die Kälte in diesem Augenblick überwunden zu haben« (ebd., S. 103) vermag diese Form des Protests nicht zu vermitteln:


»Die Ersetzung realer Gemeinsamkeit durch das Symbol der Kette schafft eine Fik­tion solidarischer Gemeinschaft moralisch Gleichgesinnter. Aus dem Sich-an-der-Hand-Halten und dem hunderttausendfachen Hintereinander von Individuen erwächst noch nicht ein Protest, der die Menschen wirklich eint. In Wahrheit wird für ein paar Stunden eine ›Massenaktion‹ organisiert. Menschlich genug bestimmt die Individuen der Wunsch, nicht mehr allein zu sein und auch nicht mehr ohn­mäch­tig gegen das Unrecht. In der Masse scheint eine potentielle Macht des als gut Be­werteten auf und damit ein Stück Utopie. Aber schon die Rede davon, daß es ›ein unheimlich gutes Gefühl‹ gewesen sei, zu wissen, da reiche eine Kette von hun­derttausend Menschen von Ulm bis Mutlangen[5], ist in sich problematisch. Die schiere Quantifizierung von Empörung macht den einzelnen nur bedeutsam,

so­fern er als disziplinierter Teil einer Masse auftritt. Diese Instrumentalisierung des In­dividuums für ein Massen­spektakel verweist auf eine Form der Sozialität, gegen die die Kritik an der Kälte sich richten müßte.« (ebd.)


»Hitze« als Reaktion auf die gesellschaftlich vorherrschende Kälte – so zeigt sich in diesen Beispielen aus der Welt des zivilgesellschaftlichen Pro­tests – bedeutet also nicht die gelingende Negation von Kälte. Das Pro­blem der sich so artikulierenden moralischen Empörung besteht laut Grusch­ka darin, dass sie entweder von der Kälte eingeholt wird oder aber dieser – etwa durch die Personalisierung gesellschaftlicher Problemlagen – un­freiwillig in die Hände spielt. Obgleich sie gegen die Kälte gerichtet ist, führt sie nicht zu einem Zustand, »in dem die Kälte ihre Basis verloren hät­te« (ebd., S. 99).[6]


Aber auch die andere Reaktionsform gegen die strukturell bestimmende Kälte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – »Wärme« – erweist sich am Ende als machtlos. Gruschka fasst unter »Wärme« solche Hand­lungs­orien­tierungen und Strategien, mit denen Menschen versuchen, der Kälte durch Akte des Mitgefühls, der Solidarität und der empathisch-zwischen­menschlichen Zuwendung entgegenzuwirken: durch Anteilnahme am Glück und Unglück anderer Menschen, durch Unterstützung Hilfs­be­dürf­tiger, durch das Bemühen um warmherzige, solidarische zwischen­mensch­li­che Beziehungen etc. Kälte setzt sich dabei in dem Maße durch, wie Mit­gefühl und Solidarität durch die Zentrierung auf konkrete Opfer letztlich die gesellschaftlichen Ursachen des Leids ausblenden oder aber sich oft­mals überhaupt nur noch gebrochen durch das je partikulare, isolierte Le­bens­interesse der einzelnen Menschen ausdrücken können. Wie sehr wir etwa in unserem Mitleid mit anderen Menschen in erster Linie bei uns selbst sind – und wie wenig also Mitgefühl sich als Akt interesseloser Zu­wendung konkretisiert – veranschaulicht Gruschka unter anderem am ganz all­täglichen Beispiel des Umgangs mit Bettelnden:


»Wir sind betroffen, wenn uns ein Stadtstreicher oder die Zigeunerin mit ihrem schla­fenden Säugling im Arm um Geld anbetteln. Sie machen die Differenz zu unserem Wohlergehen deutlich. Aber die Betroffenheit währt wohl in der Regel nur solange, wie sie uns gleichsam überfallartig erfaßte. Wo der Bettler Teil des Stra­ßenbildes ge­wor­den ist, ändert sich bereits unsere Reaktion. Wir mögen aus Barm­herzigkeit von dem abgeben, was wir zuviel haben, anhaltend erschrocken über das Elend und weil es uns über eine konkrete Person vermittelt wird. Wer sich nicht mehr überrumpeln lassen will, reguliert seine Empfindungen ggf. da­durch, daß er einer Hilfsorganisation einen großen Betrag spendet.« (ebd., S. 109)


Auch wenn wir immer wieder durch seine unerwartete Erscheinung an­ge­rührt sein mögen, so habe doch der Umgang mit dem Bettler mehr von der Kälte, als wir in der Regel bereit seien uns einzugestehen. Dem Zu­sam­men­treffen von Bettler und Geber sei ein Tauschverhältnis eingeschrieben: Wir erleichterten unseren Geldbeutel und der Bettler unser schlechtes Ge­wissen.


»Wir können das Elend des Bettlers schlechter ertragen als ihn selbst, eben weil wir nicht an seiner Person interessiert sind, sondern nur von seiner Situation betroffen wer­den. In seinem Unglück beweist sich die Brüchigkeit der Legitimation des eigenen relativen Glücks. Indem wir das Markstück in den Hut werfen, unter­bre­chen wir flüchtend die Distanz, die die Kälte zwischen den Menschen, denen es gut, und Menschen, denen es schlecht geht, längst geschaffen hat. Mit der sym­bo­li­schen Handlung wird der Status quo hingenommen. Mit ihr problematisieren wir weder den Bettler als Ausgegrenzten, noch bekämpfen wir das Betteln. Der Bettler bleibt für sein Schicksal verantwortlich und angewiesen auf das Markstück des Passanten.« (ebd., S. 110)


Bereits Horkheimer und Adorno haben dieses Kältemoment des Mitleids ein­drücklich herausgearbeitet. So heißt es etwa in der Dialektik der Auf­klä­rung:


»Es [das Mitleid, A.S.] bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Aus­nah­me, die es praktiziert. Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Näch­sten­liebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen Ent­frem­dung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin. […] Nicht die Weichheit, son­dern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig. […] Die narzißtischen Deformationen des Mitleids, wie die Hochgefühle des Phi­lan­thropen und das moralische Selbstbewußtsein des Sozialfürsorgers sind noch die verinnerlichte Bestätigung des Unterschieds von arm und reich.« (Horkheimer/Adorno 2010, S. 110)


Von der Kälte bedroht und daher chronisch prekär ist das Mitleid, Grusch­ka zufolge, aber auch deshalb und insofern, als es heute immer weniger einem nahen, konkret hilfsbedürftigen Menschen gilt, sondern vorwiegend öffentlich und medial inszeniert wird. Es vergeht mittlerweile kaum eine Zeit, in der nicht auf eine Solidaritätskampagne sogleich das nächste Cha­ri­ty-Event folgt. Prominente demonstrieren darin geschlossen Solidarität mit Katastrophenopfern, krebskranken Kindern oder von Abschiebung be­droh­ten Flüchtlingen und fordern das Publikum auf, es ihnen gleich zu tun. Die Kälte lauert dabei nicht erst dort, wo das Leiden von Menschen mitunter recht unverhohlen für die Selbstdarstellung prominenter Wohl­tä­tig­keits-Idole instrumentalisiert wird und nur den willkommenen Anlass für ein schillerndes Event zu liefern scheint, sondern sie liegt bereits – ähn­lich wie schon in der Reaktion auf den Bettler – in der bloß symbolischen Funk­tion der Inszenierung begründet. Durch diese werde nämlich etwas sug­geriert, so Gruschka, »was auf diese Weise nicht wirklich möglich ist: die Überwindung der Kälte durch welt­umspannende Solidarität. Nach erfolgreicher Aktion in den Medien kehrt re­gel­mäßig wieder Stille um die Opfer ein. Die Politik, die von der Aktion be­ein­druckt werden sollte, reagiert darauf ebenfalls symbolisch. Dort bereitet man sich auf die nächste Aktion vor. Indem eine Politik des Mitleids betrieben wird, statt einer Politik, die die Probleme zu lösen erlaubte, setzt sich Kälte in ›Soli­da­ri­täts­kam­pagnen‹ durch« (Gruschka 1994, S. 108).


Die Ohnmacht der Wärme als Reaktion gegen die Kälte des bürgerlichen Le­bens demonstriert Gruschka schließlich auch an einer der Öffentlichkeit und damit der gesellschaftlichen Kälte vermeintlich entzogenen Sphäre, der sich früher bereits auch Adorno gewidmet hat: nämlich der Liebe. Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Gruschka, wie selbst dort sich im­mer wieder die Kälte durchzusetzen vermag:


»Man beobachte z.B. Paare, die sich trennen. Sie klagen mit der Rede vom man­geln­den Verständnis des Partners nichts anderes an als die Kälte in der Intimität der Ehe. Sogar solche Paare, die als ehemals Liebende am Tag der Scheidung, vom Ge­fühl übermannt, einander nochmals weinend in den Armen halten, zeugen vom Sieg der Kälte. Sie halten sich fest als Subjekte, und gleichzeitig verhalten sie sich vor dem Scheidungsrichter als Objekte ihrer Geschichte. Ihre traurige Zuwendung drückt das ohnmächtige Einverständnis damit aus, man habe das alles nicht ge­wollt, aber es sei doch so geschehen. In den Schmerz mischt sich die Er­leich­te­rung, es hinter sich gebracht zu haben und damit aus der moralischen Ver­ant­wor­tung füreinander entlassen zu sein. Als schier hermetisch verhängte setzt sich die Käl­te noch in dem Augenblick durch, der sie transzendieren könnte.« (ebd., S. 110)


Die Menschen seien durch Kälte so gezeichnet, dass sie sie im Umgang mit­einander nicht mehr loswerden könnten. Deshalb müssten sich letztlich so­gar jene trennen, die sich für die Kälte schämten, mit der sie einander ver­letzt haben. Ihr Bewusstsein dementiere die Kälte, aber den Gefühlen wer­de nicht mehr die für die Versöhnung notwendige Wärme zugetraut: »Das Wieder-gut-Werden der Dinge und Beziehungen scheint nur dann möglich zu sein, wenn die Geschichte des Schlechten ganz durchgestrichen wird. Ob dies gelungen ist, soll sich am neuen Partner beweisen. Was wie die Freiheit zur neuen Wahl aussieht, steht vielleicht nur für die Kälte, einen anderen zum gefälligen Projektionsobjekt gemacht zu haben.« (ebd.) Generell hätten Kälte und die vielfältigen mit ihr verbundenen Krän­kun­gen, die Menschen von früh auf erführen, zur Folge, dass immer weniger von ihnen überhaupt zur Liebe fähig werden: »Sie haben nur noch Mitgefühl mit sich selbst, kreisen um das Leiden ihrer Be­zie­hungs­losigkeit. Voller Selbstmitleid ziehen sie sich schützend in das Schnecken­haus zurück. Andere erleben sie dann als unnahbar. Der Verlust von Wärme schlägt in Kälte um. Zum Fluchtpunkt für die uneingelöste libidinös besetzte Be­zie­hungssehnsucht wird die bedenkenlose Selbstentfaltung an Orten, wo man mit Kälte sich sicher fühlen kann.« (ebd., S. 111)


Wärme, so scheint es, ist unter den Bedingungen universeller Kälte schlicht nicht zu haben. Je weniger sie sich realisieren lässt, desto größer wird die Sehn­sucht der Menschen und umso angestrengter und zwanghafter ihre Suche danach. Daher belegt vielleicht gerade ihre Sehnsucht – fast paradox – das volle Ausmaß ihrer Ohnmacht und damit das begrenzte Potenzial der Wärme als Reaktionsform gegen die vorherrschende Kälte:


»Wer sich so auf die Wärme stürzt, will die Kälte ignorieren, die dennoch weiter­be­steht. Das Wissen um die Zerbrechlichkeit des Glücksgefühls treibt die Menschen da­zu, fanatisch und mit viel rituellem Aufwand die tote Form, etwa des Feierns oder des Kunstgenusses, zu pflegen. Sie tun dies in der Hoffnung, das einmal als schön Erlebte auf Dauer stellen zu können. Aus der spontanen Empfänglichkeit für sozial geteiltes Glück wird organisierende Geschäftigkeit.« (ebd., S. 106)


Selbst dort, wo es gelingen mag, ein Stück echter Wärme zu leben – etwa in Form inniger persönlicher Freundschaften – handelt es sich letztendlich bloß um »bedrohte Inseln in einem Meer der Kälte« (ebd.: 113). Von der Käl­te eingeholt wird dieses relative Glück spätestens dann, wenn es zum Re­fugium wird, in das sich die Menschen zurückziehen. Auch sie be­stä­ti­gen am Ende nur die Kälte, die rund um sie weiter beherrschend bleibt.

 

Die Reaktionsformen Wärme und Hitze, so das Fazit von Gruschka, »verweisen auf moralische Ansprüche. Sie berichten zwar vom Widerstand gegen die Kälte, zugleich aber belegen sie die Ohnmacht, von ihr loszukommen und sie zu überwinden. Weder Empörung noch Wärme können strukturell etwas gegen Kälte ausrichten, jedenfalls unter den obwaltenden Strukturen nicht« (ebd., S. 115). Dass selbst Wärme in der Gefahr steht, gegen ihre Absicht zu affirmieren, was sie überwinden soll, ist für Gruschka sogar noch wesentlich schmerz­haf­ter nachzuvollziehen als das Eingeständnis, dass die Hitze, als Empö­rung und erregter Protest, im Medium der Kälte verbleibt. »Das Bewußtsein, daß Wärme oft mit Kälte zusammengeht, daß Mitleid nicht nur als spöttisches, verächtliches kalt sein kann, nimmt uns fast die Hoffnung darauf, wir könnten uns mit konkreter Mitmenschlichkeit gegen die Kälte schützen.« (ebd.)



Gesellschaftskritik und bürgerliche Kälte


Die Metapher der bürgerlichen Kälte, wie sie hier nur ganz grob entfaltet wer­den konnte, handelt im Prinzip von der Moral und der Möglichkeit mo­ralischen Handelns in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die Moral steht dort immer schon in Spannung zu den gesellschaftlichen Funk­tionsstrukturen, die über weite Strecken zu einem Handeln nötigen, das den moralischen Normen eines humanen gesellschaftlichen Mitein­an­ders oft diametral widerspricht. Dies ist der zentrale Widerspruch bür­ger­li­cher Gesellschaften, auf den Horkheimer und Adorno mit ihrem Befund der »bürgerlichen Kälte« abzielten. Gerade an den von Andreas Gruschka be­schriebenen Gegenbildern zur Kälte – »Hitze« und »Wärme« – wird je­doch auch sehr deutlich, dass die Kälte nicht nur wirksam ist in der lücken­losen Anpassung an jene kalten gesellschaftlichen Strukturen und der offen affirmativen Verkörperung von Gleichgültigkeit und Kälte in den sozialen Umgangsformen – eine Verhaltensdisposition, wie sie in dieser Reinform wahr­scheinlich nur in den allerseltensten Fällen auftritt –, sondern beson­ders auch in Einstellungen und Handlungen, die der gesellschaftlich ver­ord­neten Kälte, zumindest auf den ersten Blick, entgegengesetzt sind. Da­mit lenkt die Metapher die Aufmerksamkeit und liefert zugleich auch eine recht plausible Antwort auf die eingangs formulierte Frage, wie es möglich ist, dass trotz aller Kritik und des doch offenbar so weit verbreiteten Un­be­ha­gens an und in der Gesellschaft so erstaunlich wenig sich ändert und die inhumanen gesellschaftlichen Verhältnisse sich fortwährend re­pro­du­zie­ren können. Kritik steht immer schon selbst in derselben Spannung zwi­schen moralischem Anspruch und gesellschaftlichem Realitätsprinzip, die das ganze Leben in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bestimmt. Diese Spannung wird geradezu zur zentralen Bedingung von Kritik, sie bil­det gleichsam, und zwar ohne Alternative, den strukturellen Rahmen jeden kritischen Denkens und Handelns. Ob Kritik zu einer Veränderung dessen füh­ren kann, was sie verändern möchte, muss daher in allererster Linie da­von abhängen, ob und inwieweit es ihr gelingt, mit dieser Spannung um­zu­gehen. In diesem Punkt entscheidet sich, ob Kritik die Kälte der ge­sell­schaft­lichen Verhältnisse abzuschütteln und ein emanzipatorisches, trans­for­matives Potenzial zu entfalten vermag, oder ob sie die kritisierten Ver­hält­nisse sogar noch zusätzlich abstützt und stabilisiert und so lediglich zu einem Moment des bestehenden Schlechten wird. Was Horkheimer und Ador­no als »bürgerliche Kälte« beschrieben haben, kann in diesem Lichte also auf alle Formen von Gesellschaftskritik bezogen werden.


Gesellschaftskritik hat stets eine moralische Dimension. Egal ob sich die Kritik gegen die fortschreitende Vernichtung der ökologischen Lebensgrundlagen, gegen Rassismus, Homophobie, gegen Armut und soziale Ungerechtigkeit oder die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern richtet – immer und ge­ra­de­zu notwendig ist damit, und sei es nur implizit, die Idee eines besseren gesellschaftlichen Zustandes verbunden, an dem das Falsche festgemacht und im Grunde sogar überhaupt erst als solches abgeleitet werden kann. Aus einem an der bürgerlichen Kälte geschulten Blickwinkel wäre nun ge­wis­sermaßen alle Kritik an ihren eigenen Ansprüchen zu messen und zu

prü­fen, ob mit ihr tatsächlich kritisiert wird, was sie zu kritisieren vorgibt, und das heißt vor allen Dingen: ob sie an die Wurzel des Problems her­an­reicht. Denn nur so und nicht anders könnte durch die Kritik überhaupt erst eine Perspektive eröffnet werden, durch die es potentiell möglich wür­de, eine Überwindung des kritisierten Zustandes und mithin eine echte Ver­änderung herbeizuführen. Wo Kritik dies nicht oder nur unzureichend leistet, läuft sie tendenziell Gefahr, in die Affirmation und damit in Kälte um­zuschlagen. Dort bleibt ihr mangels analytischer Tiefe oft nur die per­so­na­lisierende Anklage. Aus Moral wird dann Moralisieren. Es wird dann etwa die Unmoral von Menschen und ihren Handlungen angeprangert, ohne damit jene gesellschaftlichen Verhältnisse zu treffen, in deren Struk­tu­ren das der moralischen Norm widersprechende Handeln ursächlich be­grün­det liegt. Unfreiwillig affirmativ wird die Kritik ebenso, wo und weil sie sich im bloß symbolischen Protest verliert. Selbst und vor allem dann, wenn damit – wie es heute die bevorzugte Strategie im Umgang mit

ge­sell­schaft­lichen Problemen zu sein scheint – zunächst gar nichts anderes er­reicht werden soll, als die Menschen für bestimmte Problemlagen und Miss­stände zu »sensibilisieren«, so ist damit im besten Falle die Benennung des Problems geleistet. Es geht damit noch keine Einsicht in seine tieferen gesellschaftlichen Ursachen einher, geschweige denn erwächst daraus eine trag­fähige Basis für eine politisch verändernde Praxis.[7]


Gesellschaftskritik ist also, insbesondere im Hinblick auf die Beur­tei­lung ihres kritischen und gesellschaftsverändernden Potenzials, in erster Li­nie an sich selbst zu messen. Bürgerliche Kälte stellt hierfür ein ungemein taug­liches Konzept dar, insofern es einen theoretischen Bezugsrahmen lie­fert, der per se im Spannungsfeld zwischen Anspruch und realer Praxis ope­riert und mit dem vor allem auch ein Scheitern der Kritik am eigenen kri­tischen Anspruch plausibel erklärt werden kann. Kälte besteht dabei nicht im bloßen Scheitern von Kritik, das heißt, im faktischen Verfehlen einer Veränderung zum Besseren – das ist das unvermeidliche Risiko jeder Kri­tik –, sondern vor allem in der Desensibilisierung, quasi im Blind­wer­den für das Scheitern und die eigenen, der konkreten Form wie auch dem In­halt der Kritik immanenten Anteile daran. Erfüllt ist der Tatbestand der bür­gerlichen Kälte dort, wo die in Anschlag gebrachte kritische Norm am En­de der Idealisierung einer (vermeintlich) kritischen, verändernden Pra­xis dient, die eine echte Veränderung – in Ermangelung dafür essenzieller, ana­lytisch hinreichend fundierter gesellschaftskritischer Einsichten – be­reits aus sich selbst heraus vereitelt und so zur Stabilisierung und Re­pro­duk­tion dessen beiträgt, was doch eigentlich, dem Anspruch nach, ver­än­dert werden soll. Gerade im Interesse einer wahrhaft verändernden gesellschaftskritischen Praxis, wie sie auch eine kritische Soziologie nachdrücklich anstrebt, er­scheint eine solche (selbst-)kritische

Auseinan­der­setzung mit den Be­din­gun­gen der Möglichkeit von Kritik nicht nur von hoher Relevanz, sondern eigentlich geradezu unumgänglich.[8]



Wege aus der Kälte? – Konsequenzen für die gesellschaftskritische Praxis


Die hier anhand des Konzepts der »bürgerlichen Kälte« skizzierte Dialektik von Kritik und Affirmation, dieses Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerstand, das jede Artikulation von Gesellschaftskritik notwendig be­­stimmt, bringt freilich gravierende Konsequenzen für eine kritische Pra­xis mit sich, die nicht hoffnungslos hinter ihren eigenen kritischen An­sprü­chen zurückbleiben soll. Unter den gegebenen gesellschaftlichen Ver­hält­nis­sen ergibt sich, wie gezeigt werden sollte, die paradoxe Situation, dass Kri­tik unfreiwillig und/oder unbewusst unkritisch sein kann und daher stän­dig in der Gefahr steht, ausgerechnet jene Strukturen zu stützen, die sie eigent­lich zu kritisieren beansprucht. Kritik ist also, salopp formuliert, nicht gleich Kritik, und ein kritischer Anspruch beinhaltet nicht not­wen­di­ger­weise schon ein kritisches, geschweige denn ein veränderndes Potenzial. Da­raus folgt als eine erste, zunächst wahrscheinlich banal erscheinende

Kon­sequenz, dass diese Dialektik bewusst gemacht werden muss. Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass Gesellschaftskritik eine Praxis ist, die einer analytisch hinreichend fundierten Einsicht in gesellschaftliche Zu­sam­menhänge bedarf, und dass Kritik sich sogar in ihr Gegenteil ver­keh­ren kann, wenn sie unreflektiert vonstatten geht. Dies ist vor allem deshalb nicht banal, weil eine solche Reflexion – und hier kommen wir bereits zur zweiten Konsequenz – eine grundlegende Veränderung bzw. Schärfung der kritischen Perspektive bewirken und in weiterer Folge auch die Wahl kon­kreter kritischer Formen und Praxen beeinflussen müsste. Ins­be­son­de­re in der Erörterung der »Hitze« als Typus des empörten Protests dürfte deut­lich geworden sein, dass ein Großteil der heute gängigen und po­pu­lä­ren Formen gesellschaftskritischer Praxis tendenziell nicht dazu taugt, tat­säch­lich eine transformative Wirkung zu entfalten und die Kälte der bür­ger­lich-kapitalistischen Gesellschaft zu überwinden. Im Prinzip besteht die Un­tauglichkeit der Hitze darin, dass sie letztlich eine Allgemeinheit einer Moral in Anspruch nimmt (bzw. nehmen muss), die empirisch – und aus Grün­den, die mit der Struktur der Gesellschaft gegeben sind – keine Gül­tig­keit besitzt, ja deren Nicht-Gültigkeit gerade jeden Tag erfahren wird. Eben diese Nicht-Gültigkeit des Geltung Beanspruchenden ist es ja, wo­rauf sich sowohl der »hitzige« Protest als auch die Reaktion der Wärme be­zieht. Auf diese Weise nimmt jedoch die Moral eher den Charakter einer schützenden Zuflucht an, als dass mit ihr aus dem kritisierten Zustand herausgetreten, geschweige denn dieser transzendiert werden könnte. Das macht es der Kritik am Ende unmöglich, die Kälte nachhaltig ab­zu­schüt­teln. Gesellschaftskritik, die ein wirklich veränderndes, emanzipatorisches Po­tenzial haben soll, muss daher eine Form annehmen, die all das ver­mei­det. Andreas Gruschka bringt dies in einem, in seiner dialektischen Gestalt gleichermaßen schönen wie für die Sympathisanten des hitzigen Protests und der warmen Solidarität ver­mutlich äußerst unbefriedigenden Satz fol­gen­dermaßen auf den Punkt: »Die Befreiung von Kälte ist erst im Durch­gang durch Kälte zu erreichen.« (Gruschka 1994, S. 58). Nicht durch Hitze oder Wärme also, sondern nur durch Kälte ist die Kälte zu überwinden. Kon­kret bedeutet das gerade den bewussten Verzicht auf die meisten Stra­te­gien und Praktiken, die heute gemeinhin mit kritischem Handeln, nämlich im Sinne einer eingreifenden Praxis, assoziiert werden. Die für die Über­win­dung der Kälte erforderliche Kälte besteht dagegen vielmehr in einer

kon­sequenten Distanzierung vom gesellschaftlichen Getriebe, aus der die Kraft zu einer Kritik, die gesellschaftlich veränderndes Handeln überhaupt erst er­möglichen könnte, erwachsen soll.


»Zwar wird mittels der Distanzierung […] die Kälte keineswegs überwunden, aber deren Bann doch so weit gemildert, daß der Mensch Gelegenheit bekommt, ›ohne Angst der Nichtigkeit der Existenz inne(zu)werden‹.[9] Die Distanziertheit des Zuschauers wird zur Alternative des zwanghaften, durch Affekte bestimmten Mit­ma­chens. Was auf den ersten Blick bloß wie eine weitere Variante von Kälte wirkt, näm­lich Verzicht auf eingreifendes Handeln bzw. bloßes Hinnehmen, besitzt noch am ehesten ein humanes Potential.« (Gruschka 1994, S. 57)


Allerdings entfaltet sich dieses Potenzial erst dort, »wo die Distanz als Voraussetzung von Aufklärung benutzt wird« (ebd.). Es gehe darum, so Gruschka, »die Chance, die in der kühlen Distanzierung vom Getriebe für die Aufklärung liegt, zu nutzen. Erst wo die Menschen nicht von ihrer allgemeinen Angst über­wäl­tigt werden, erhalten sie die Möglichkeit eines humanen Verhältnisses zur Kälte« (ebd., S. 58). Damit ist daher auch alles andere als eine kritische Verhaltenslehre oder eine Anleitung für moralisches Handeln beschrieben, sondern allein »die dialektisch verstandene Tugend aus der Not: Das Humane ist nur noch denk­bar im Medium des Inhumanen. Wer Kälte studieren will, muß sich selbst kalt

ma­chen. Die Moral der Kritik überlebt allein in der unbedingten Radikalität der Analyse der Kälte« (ebd.). Oder, um es mit Adorno nochmals dialektisch zuzuspitzen: Sie lebt »einzig in den Extremen, in der spontanen Regung, die, ungeduldig mit dem Argu­ment, nicht dulden will, daß das Grauen weitergehe, und in dem von keinem An­be­fohlenen terrorisierten theoretischen Bewußtsein, das durchschaut, warum es gleichwohl unabsehbar weitergeht. Dieser Wider­spruch allein ist, angesichts der re­alen Ohnmacht aller Einzelnen, der Schauplatz von Moral heute.« (Adorno 2003a, S. 281f.)


Das heißt, es braucht einerseits die »Hitze«, die moralische Erregung, das ve­hemente Nichtduldenwollen gesellschaftlichen Unrechts als kritischen Im­puls. Nur wer sich von der gesellschaftlichen Kälte noch nicht voll­kom­men hat kalt machen lassen, ist überhaupt noch zur Kritik fähig. Für die Kri­tik selbst jedoch, für die notwendige analytische Durchdringung der ge­sell­­schaft­lichen Verhältnisse und der von ihnen abstrahlenden Kälte, be­darf es der kühlen Distanzierung. Hier helfen weder Hitze noch Wärme wei­ter, hier bedarf es unabdingbar der Kälte.

Deutlich wird in diesen Überlegungen – auch dies ein Widerspruch zum verbreiteten Kritikverständnis – die Notwendigkeit, wenn nicht sogar der Primat einer theoretischen Kritik. Damit sind wir bei der dritten Kon­se­quenz angelangt, die im Interesse einer wahrhaft kritischen

Gesell­schafts­kritik zu ziehen wäre. Unmittelbar praktisch orientierte Kritik – so wenig diese deshalb per se gering zu schätzen ist – bezahlt ihre praktische Orien­tierung notwendig mit dem Preis des tendenziellen Verlustes kritischen Po­ten­zials. Damit sie überhaupt, im Dienste einer konkret herbeizuführenden Ver­änderung, praktisch werden kann, ist sie stets zur Kommensurabilität mit den bestehenden Verhältnissen gezwun­gen. Was also für eine Gesell­schafts­kritik, welche die Chance eines substanziellen gesellschaftlichen Wan­dels nutzen oder überhaupt nur am Leben halten möchte, unbedingt notwendig wäre – die Distanzierung vom Getriebe –, ist gerade das, was der Praxis aufgrund ihrer eigenen Logik verbaut bleiben muss. Nur eine von Handlungs- und Recht­fertigungszwängen entlastete Theorie ist dazu in der Lage.


Daraus ergeben sich wiederum gravierende Konsequenzen für das Verhältnis von Theorie und Praxis. Das Theorie-Praxis-Verhältnis ist heute weitgehend, auch und gerade in den Sozialwissenschaften, von einer sehr unglücklichen Arbeits­teiligkeit geprägt. Theorie ist demnach stets mit praktischen Erkenntnisinteressen verkoppelt und beinhaltet daher notwen­dig auch eine praktische Handlungsperspektive, wie umgekehrt die Praxis in der Regel (auch) auf theoretische Einsichten zurückgreift. Unglücklich ist diese arbeitsteilige Konzeption insofern, als dabei ein Kontinuum von Theorie und Praxis unterstellt wird, das unter den gegebenen gesell­schaft­lichen Bedingungen schlechterdings nicht unterstellt werden kann[10] – je­den­falls nicht, ohne dass die Theorie dabei ihren größten (und vielleicht ein­zi­gen) Vorteil verspielt: eben die Möglichkeit zur kritischen Distanz. Im Be­mü­hen um praktische Umsetzbarkeit theoretischer Kritik (so sie sich nicht über­­haupt an genuin praktischen Erkenntnisinteressen orientiert) muss die Theorie etwas von den Zwängen der immer schon unausweichlich ins Be­ste­hende involvierten Praxis annehmen – damit untergräbt sie ihr eigenes kri­tisches Potenzial. Das Theorie-Praxis-Verhältnis wäre in diesem Lichte neu zu überdenken.[11] Aufgabe der Theorie sollte es, auch im eigenen Inter­esse, gerade nicht sein – jedenfalls nicht unmittelbar –, die Praxis mit pra­xis­tauglichen und konkret umsetzbaren theoretischen Einsichten zu ver­sor­gen. Ihre Aufgabe hätte vielmehr in der konsequent kritischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse zu bestehen, und dies implizierte un­be­dingt auch eine kritische Distanz zur Praxis und deren Akteuren. Die Pra­xis wäre selbst zum Gegenstand der kritischen Analyse zu machen und ge­ge­benenfalls mit aller gebotenen Vehemenz zu kritisieren und über sich selbst aufzuklären. Wo Theorie dies nicht oder nur unzureichend leistet, wird mit Theorie und Praxis zwanghaft und künstlich etwas zu­sam­men­ge­bracht, was unter den bestehenden Ver­hält­nissen notwendig aus­ein­an­der­fällt – und dort lauert statt der ersehnten gesellschaftlichen Veränderung die Gefahr einer ideologischen Verklärung einer sich als kritisch be­grei­fen­den Praxis, die konsequent verfehlt, was sie erreichen möchte.




Literatur


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Adorno, T. W. (2003b/1965): Gesellschaft, in: Gesammelte Schrif­ten 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 9–19.


Adorno, T. W. (2003c/1969): Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Ge­sammelte Schriften 10.2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 759–782.


Adorno, T. W. (2012/1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Le­ben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.


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Gruschka, A./Pollmanns, M./Leser, C. (Hg.) (2021): Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Zur Ontogenese des moralischen Urteils. Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich.


Heinrich, M. (1999): Zum Stand einer Theorie der Ontogenese bürgerlicher Kälte. Oder: »Wie man kalt wird«, in: Pädagogische Korrespondenz, Heft 24, S. 5–31.


Horkheimer, M. (2011a/1937): Traditionelle und kritische Theorie, in: ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze. Frankfurt am Main: Fischer, S. 205–259.


Horkheimer, M. (2011b/1936): Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthro­po­lo­gie des bürgerlichen Zeitalters, in: ders.: Traditionelle und kritische Theo­rie. Fünf Aufsätze. Frankfurt am Main: Fischer, S. 43–122.


Horkheimer, M./Adorno, T. W. (2010/1947): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main: Fischer.


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Kurz, R. (2007): Grau ist des Lebens goldner Baum und grün die Theorie. Das Praxis-Problem als Evergreen verkürzter Kapitalismuskritik und die Geschichte der Linken, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Heft 4, S. 15–106.


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Panagl, O./Gerlich, P. (Hg.) (2007): Wörterbuch der politischen Sprache in Öster­reich. Wien: Österreichischer Bundesverlag.


Vobruba, G. (2013): Soziologie und Kritik. Moderne Sozialwissenschaft und Kritik der Gesellschaft, in: Soziologie, 42. Jg., Heft 2, S. 147–168.


Wehling, P. (2014): Soziologische (Selbst-)Kritik und transformative gesellschaftliche Praxis, in: Soziologie, 43. Jg., Heft 1, 25–42.


 


Endnoten


[1] Dass eine solche wertfreie Perspektive freilich nicht annähernd so wertfrei ist, wie sie sich gerne gebärdet, weil sie nämlich im Grunde mit einer Parteinahme für den ge­sell­schaft­lichen Status quo verbunden ist, ist eine altbekannte und an dieser Stelle nur bei­läu­fig erwähnte Tatsache, die kritisch orientierte Theoretikerinnen und Theoretiker der »ob­jektiven« und »wertfreien« Sozialwissenschaft schon sehr lange (offenbar erfolglos) ent­­gegenhalten (vgl. Horkheimer 2011a).


[2] Adorno hat daher auch bis zuletzt keinen Zweifel daran gelassen, dass, solange es zu keinen grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen kommt, Auschwitz auch weiterhin möglich bleibt. Solange die Menschen zu Kälte und gleich­gültiger Selbstbehauptung genötigt sind, gibt es nichts, was der absoluten Barbarei im Ernstfall entgegenstünde und das verhindern könnte, dass Menschen sich ihr oppor­tu­nistisch fügen.


[3] Wesentliche Beiträge zur Ontogenese der bürgerlichen Kälte liegen mittlerweile auch gesammelt in einem Band vor (vgl. Gruschka et al. 2021).


[4] Eine in die österreichische Geschichte eingegangene Massenprotestaktion war etwa das so­genannte »Lichtermeer«, bei der am 23. Januar 1993 als Protest gegen ein frem­den­feindliches Volksbegehren der rechtspopulistischen FPÖ rund 300.000 Menschen mit Ker­zen und Fackeln durch die Wiener Innenstadt zogen. Das »Lichtermeer« zählt bis dato zu den größten De­mon­strationen, die jemals in Österreich organisiert wurden (vgl. Panagl/Gerlich 2007). Ähnliche Protestaktionen fanden zu dieser Zeit auch in Deutschland statt.


[5] Gruschka bezieht sich hier auf eine Massendemonstration, bei der im Oktober 1983 als Protest gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Baden-Württemberg – so zum Beispiel auch auf der »Mutlanger Heide« – eine mehr als hun­dert Kilometer lange Menschenkette von Stuttgart bis Neu-Ulm gebildet wurde.


[6] Die Dialektik des hitzigen Protests mag vielleicht besonders durch die Schwierigkeit be­wusst werden, sich eine Protestaktion vorzustellen, die auf eine moralische Anklage ver­zichtet und stattdessen analytisch gesättigte Gesellschaftskritik übt. Der Protest lebt ge­ra­dezu von der moralischen Anklage, diese bedarf aber eben auch notwendig des Mittels der Personalisierung. Wen sollte man sonst konkret anklagen? »Die Gesellschaft« ist für eine moralische Anklage ein zu abstrakter und daher ungeeigneter Adressat. Noch dort, wo der Protest gewissermaßen die ganz großen Probleme und Widersprüche der ka­pi­ta­lis­tischen Gesellschaft (und dabei vermeintlich die Gesellschaft als solche) anvisiert – etwa den Hunger im Globalen Süden oder den Klimawandel – richtet er sich notgedrungen gegen konkrete be­nenn­bare und damit anklagbare Instanzen. Adressiert werden dann in der Regel globale Konzerne, die »fossile Industrie«, die geldgierigen Manager auf den globalen Finanzmärkten, die untätigen Po­li­tiker etc.


[7] Es drängt sich die Vermutung auf, dass Kritik nicht zuletzt deshalb so häufig und vor allem dort auf einer symbolischen Ebene verbleibt, weil bzw. wo eine radikal ana­ly­tische Durchdringung gesellschaftlicher Zusammenhänge nicht stattfindet. Dadurch wer­den die Potenziale einer verändernden Praxis gar nicht zureichend ausgelotet, und die Möglichkeit einer solchen bleibt daher weitgehend verstellt. Es lässt sich dies also womöglich im wahrsten Sinne des Wortes als eine Flucht in die symbolische Form interpretieren, welche die Illusion erzeugt, hier handle es sich bereits um eine gesellschaftlich verändernde Praxis. Dabei ist es gerade das drängende Bedürfnis nach einer unmittelbar prak­tisch orientierten Kritik, das dazu führt, dass eine dafür unabdingbare ge­sell­schaftstheoretisch fundierte Analyse ausbleibt und oft sogar, in einem gleichsam anti-in­tel­lektualistischen Reflex, als bloße Theorie abgetan, wenn nicht überhaupt als ab­ge­ho­ben oder elitär denunziert wird – ein fataler Zirkel.


[8] Eine ähnliche Sicht dürfte (jedenfalls dem Anspruch nach) auch Stephan Lessenich (2014) vertreten, wenn er jen­seits einer »Soziologie der Kritik« und einer »kritischen Soziologie« für eine »kritische So­ziologie der Kritik« plädiert, welche die Kritisierenden selbst der Kritik aussetzt und da­bei gleichsam über sich selbst aufklärt. Der vorliegende Artikel kann explizit als ein Bei­trag in diese Richtung verstanden werden. 


[9] Gruschka zitiert hier aus der Negativen Dialektik von Adorno: »Re­flek­tierte Menschen, und Künstler, haben nicht selten ein Gefühl des nicht ganz Dabeiseins, nicht Mitspielens aufgezeichnet; als ob sie gar nicht sie selber wären, sondern eine Art Zu­schauer. Die anderen stößt das vielfach ab […] In dem ›Es ist gar nicht so wichtig‹, das seinerseits freilich gern mit bürgerlicher Kälte sich verbündet, kann das Individuum am ehesten noch ohne Angst der Nichtigkeit der Existenz innewerden. Das Un­mensch­liche daran, die Fähigkeit, im Zuschauen sich zu distanzieren und zu erheben, ist am Ende eben das Humane, dessen Ideologen dagegen sich sträuben. […] Wohl sind die Menschen ausnahmslos unterm Bann, keiner zur Liebe schon fähig, und darum meint ein jeder sich zu wenig geliebt. Aber die zuschauerhafte Haltung drückt zugleich den Zweifel aus, ob dies denn alles sein könne, während doch das Subjekt, in seiner Ver­blen­dung sich so relevant, nichts anderes hat als jenes Arme und in seinen Regungen tierhaft Ephemere. Unterm Bann haben die Lebendigen die Alternative zwischen unfreiwilliger Ataraxie – einem Ästhetischen aus Schwäche – und der Vertiertheit des Involvierten. Bei­des ist falsches Leben.« (Adorno 2003a, S. 356)


[10] Dass Theorie und Praxis – wie übrigens auch Adorno stets betont hat – »sich nicht in ein Kontinuum eintragen lassen« (dazu z.B. Adorno 2003c), dafür gibt vielleicht gerade die hier diskutierte Dialektik gesellschaftskritischen Handelns ein vor­treffliches Beispiel ab: Wo es möglich ist, dass Kritik affirmativ sein kann, da kann schwer­lich von einem kontinuierlichen Verhältnis zwischen kritischer Theorie und Praxis ausgegangen werden.


[11] Aus wertkritischer Sicht hat sich mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis in ähnlicher Weise und mit vergleichbarer Stoßrichtung Robert Kurz auseinandergesetzt in seinem Grundsatztext Grau ist des Lebens goldner Baum und grün die Theorie (Kurz 2007).