Andreas Urban
Von Kriegstreibern und Lumpenpazifisten
Rezension zu:
Gerald Grüneklee: Nur Lumpen werden überleben. Die Ukraine, der Krieg und die antimilitaristische Perspektive. Wien/Berlin: Mandelbaum, 2024
Zugleich erschienen im November 2024 in: Streifzüge Nr. 90
Der Anfang 2024 als Buch veröffentlichte Essay von Gerald Grüneklee versteht sich als Intervention in den zunehmend von Kriegsgeheul gezeichneten öffentlichen, vor allem bundesdeutschen Diskurs zum Ukraine-Krieg mit seinen propagandistisch verzerrten Narrativen über die Ursachen des Krieges sowie dessen konkreten Verlauf.
Der Titel des Essays bezieht sich auf die schon bald nach dem russischen Angriff auf die Ukraine einsetzende Denunziation von Kriegs-gegnern und (sich ohnehin nur relativ spärlich herausbildende) Friedensbewegungen als „Lumpenpazifisten“. Nun kann man an den Kriegsgegnern und ihren konkreten Positionen sicherlich so manches kritisieren – so etwa die zuweilen anzutreffende Verwechslung von Kriegsgegnerschaft mit einer mehr oder weniger offenen Parteinahme für Russland oder (speziell in Österreich) die bornierte und in letzter Instanz unheilbar staatsgläubige Beschwörung von „Neutralität“ (kritisch dazu Wallner 2023). Die herrschende Ranküne gegen die „Lumpenpazifisten“ ist jedoch Ausdruck eines in kürzester Zeit zum gesellschaftlichen Mainstream avancierten Bellizismus und Militarismus, der den Krieg in der Ukraine beharrlich auf immer neue Eskalationsstufen hebt – inzwischen bis an die Schwelle eines nuklearen Schlag-abtauschs (vgl. Urban 2024). In diesem Sinne sind das Buch und sein Titel letztlich auch gemeint: Am Ende sind es die „Lumpen“ und deren strikte Ablehnung des Krieges sowie deren Plädoyers für eine Deeskalation des Konflikts, die am ehesten die Chance am Leben halten, den Krieg ohne Zivilisationsbruch zu beenden. Die zu offenen Kriegstreibern gewendeten aggressiven Moralisten, vor allem aus linksliberal-grünen Milieus, die in der Ukraine „westliche Werte“ verteidigt sehen (wollen), wenn nicht gar einen notwendigen „Verteidigungskrieg“ gegen einen größenwahnsinnigen, von großrussisch-imperialistischen Eroberungsfantasien getriebenen „neuen Hitler“, schicken sich hingegen an, in einen menschheitsbedrohenden Dritten Weltkrieg zu stolpern.
Das Buch enthält – mit wenigen, dafür durchaus substanziellen Abstrichen – alles, was es aus gesellschaftskritischer Sicht zu diesem Krieg zu sagen gibt: Es kritisiert die bodenlose Heuchelei des in „Solidarität“ mit der Ukraine gegen den russischen Aggressor vereinigten Westens, etwa hinsichtlich der fraglosen Völkerrechtswidrigkeit des russischen Angriffs (dem jedoch allein in den vergangenen Jahrzehnten mehrere westliche, nicht weniger völkerrechtswidrige „humanitäre Interventionen“ in Jugoslawien, Afghanistan, Irak etc. gegenüberstehen) oder hinsichtlich der permanenten Dämonisierung Russlands als „Autokratie“ oder gar „Diktatur“ (so als sei der sich selbst immer autoritärer gebärdende „demokratische“ Westen nicht selbst seit Jahr und Tag mit autokratischen Regimes verbündet, die nicht selten überhaupt erst durch westliche Regime-Changes installiert wurden); es thematisiert die im westlichen Ukraine-Diskurs beharrlich geleugnete „rechte Traditionspflege“ (S. 29 ff.) in der Ukraine und die systematische Durchsetzung des ukrainischen Staats- und Militärapparats mit Neonazis (Prawyj Sektor, Regiment Asow etc.); zur Sprache kommt ebenso die seit Jahren betriebene Zurichtung der Ukraine als „Labor des Neoliberalismus“ (S. 36 ff.) im Dienste des westlichen Kapitals und zwangsläufig damit einhergehende soziale Grausamkeiten, wie etwa der massive Abbau von Arbeitsrechten (S. 44 ff.).
Unmissverständlich wird der Krieg in der Ukraine dargestellt als das, was er ist: ein Stellvertreterkrieg, in dem die Ukraine auf dem Altar der aufeinanderprallenden geopolitischen Interessen des Westens, insbesondere der USA, und Russlands geopfert wird. All dies wohlgemerkt, ohne die darin angelegte Kritik am Westen und dessen Mitverantwortung am stetig weiter eskalierenden Kriegszustand zu einer impliziten oder expliziten Parteinahme für Russland zu wenden. Es gehört generell zu den Absurditäten des öffentlichen und politischen Diskurses über den Krieg, dass jegliche Kritik am Westen und seinem nicht gerade gering zu gewichtenden Beitrag zu den Entwicklungen in der Ukraine reflexartig als „prorussische Propaganda“ denunziert wird. Nicht verschwiegen werden von Grüneklee in diesem Zusammenhang auch die kaum zu übersehenden Parallelen zwischen Ukraine-Krieg und Corona (S. 97 ff.), was etwa die Rolle staatlicher und medialer Propaganda und die massiv vorangetriebene Zerstörung öffentlicher Debattenräume betrifft, die das Ihre dazu beigetragen haben, Protest gegen ein irrationales und hochgradig destruktives „Pandemiemanagement“ ebenso zu unterbinden oder im Keim zu ersticken wie gegen Waffen-lieferungen und eine permanente Verlängerung des verheerenden Krieges.
Nicht oder jedenfalls nicht systematisch zur Sprache kommen im Buch Zusammenhänge vor dem Hintergrund der in wertkritischen Kontexten im Zentrum stehenden fundamentalen Kapitalismuskrise und hier vor allem die sich immer deutlicher darstellenden, spezifisch westlichen Krisen- und Verfallsprozesse. Nicht nur ist der Stellvertreterkrieg in der Ukraine in besonderem Maße auch ein Kampf des Westens bzw. der USA gegen ihren geopolitischen Abstieg und wurde von westlicher Seite, rückblickend betrachtet, offensichtlich von langer Hand vorbereitet oder zumindest über Jahre hinweg provoziert (NATO-Osterweiterung, vom Westen herbeigeführter bzw. unterstützter Regime-Change in der Ukraine 2014, massive Hochrüstung der ukrainischen Streitkräfte unter Einbindung von Naziregimentern etc.). Der für den Westen desaströse Verlauf des Krieges hat diesen Abstieg noch zusätzlich beschleunigt und darüber hinaus ein beeindruckendes Ausmaß an Realitätsverlust, Irrationalität und Inkompetenz aufseiten des westlichen Führungspersonals offenbart (vgl. Urban 2022/23). Pars pro toto zu nennen sind hier die in hohem Maße selbstzerstörerische antirussische Sanktionspolitik der EU, die offenkundige Fehl-einschätzung Russlands, vor allem was militärische Fähigkeiten und ökonomische Resilienz betrifft, das lange Zeit (und teilweise bis heute) gegen jede Evidenz aufrechterhaltene und dabei allem Anschein nach nicht nur auf gezielter Propaganda, sondern tatsächlich auf Glauben beruhende Narrativ, wonach die Ukraine den Krieg gewinnen werde, oder das trotz aller Rückschläge und der absehbaren Niederlage beharrliche Festhalten an den schon bisher kläglich gescheiterten Strategien und die ganz im Gegenteil sogar noch immer weiter betriebene Eskalation des Konflikts bis hin zu einem drohenden Atomkrieg. Derart eklatante Fehlleistungen verweisen auf fortgeschrittene Erosionsprozesse im westlichen Institutionengefüge, die als Symptome einer tiefen Krise der westlichen Hegemonie und als neuer Höhe- und möglicherweise auch Kipppunkt der finalen Krise des Kapitalismus verstanden werden können. Nicht zuletzt das von Grüneklee am Beispiel der Grünen akkurat beschriebene Auftreten der zu offenen Bellizisten mutierten (links-)liberalen Milieus (S. 67 ff.) wird wohl letztlich nur erklärlich vor dem Hintergrund besagter gesamtgesellschaftlicher Krisentendenzen, die ihre Spuren gerade auch auf der Ebene des bürgerlichen Subjekts hinterlassen und – in Verbindung mit den seit Jahren wirksamen zersetzenden Effekten postmodernen Denkens auf die intellektuellen Kapazitäten – mit einer Neigung zu irrationalen und autodestruktiven Reaktionen einhergehen.
Insgesamt kann das Buch dennoch als ein weitgehend gelungener Versuch einer Kritik des Ukraine-Kriegs, der Rolle des Westens und der öffentlichen Debatte vor allem in Deutschland aus einer linken, antimilitaristischen Perspektive betrachtet werden. Man möchte es besonders denjenigen zur Lektüre empfehlen, die unkritisch die Erzählung vom „gerechten Verteidigungskrieg“ reproduzieren und davon abweichende Positionen pauschal für „russische Propaganda“ zu halten gelernt haben. Freilich werden gerade diese um ein solches Buch den größtmöglichen Bogen machen. Für den Zweck der „Desinformation“ – wenn als „Information“ der in jeder Hinsicht verzerrte Mainstream-Diskurs über jenen Krieg gilt – würde sich das Buch bereits deshalb gut eignen, weil es von überschaubarer Länge, gut geschrieben und darüber hinaus reich an Quellen und Belegen ist.
Literatur
Urban, Andreas (2022/23): Realitätsverlust und suizidale Drift. Der Abstieg des Westens im Viruswahn und „Krieg gegen Putin“ (in 3 Teilen), wertKRITIK.org
Urban, Andreas (2024): Atomarer Todestrieb, wertKRITIK.org
Wallner, Gerold (2023): Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin, wertKRITIK.org