Gerold Wallner
Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin
In gekürzter Form erschienen auf keinzustand.at
Dieser Bert Brecht fälschlicherweise zugeschriebene (und in der Folge noch dazu verfälschte) Ausspruch konnte in den Jahrzehnten vor dem Ukrainekrieg in den verschiedensten Abwandlungen gefunden werden und zählte zu einer beschaulichen Folklore der Linken. Allerdings ist durch die übermäßige Verwendung, Zitierung und Abwandlung des ursprünglichen „Sometime they’ll give a war and nobody will come“ der Charakter eines Pazifismus von unten, eines deklarierten „Das geht uns nichts an“, leider schon verloren gegangen. Angesichts des aktuellen Kriegs zwischen der Ukraine, der Russischen Föderation und der westlichen „Wertegemeinschaft“ ist dieser Slogan überhaupt verschwunden. In den Kommentaren der letzten Zeit zum Krieg (Stand 29. September 2022) konnte ich nur zwei (nur zwei!) finden, die diesem Pazifismus von unten ihre Stimme gaben, der sich nicht um die ohnehin vorgeblichen „Gründe“ für einen Krieg kümmert, sondern schlicht dem Grauen entgehen will, das durch diese „Gründe“ nicht zu legitimieren ist.
Unerwartet war der eine Franzobel, der sich sonst durch eher opportunistisches Schreiben auszeichnet: Was gerade diskutiert wird, ist auch schon Vorwand für eine künstlerische Offenbarung, so, als würde begattet, was sich bewegt. Aber seine klare Stellungnahme in der Tageszeitung Der Standard (wenn auch als „Kommentar der anderen“ rubriziert, 27. März 2022) mit dem Titel „Lob der Feigheit“ und dem Schlusssatz: „Darum meine ich, besser feig als tot“, nach einigen Abwägungen, wie sich zum Krieg zu verhalten wäre, ist Ausfluss dieses Pazifismus, der die körperliche Unversehrtheit des eigenen Lebens zum Mittelpunkt macht, nicht die territoriale Unversehrtheit eines Kunstprodukts, wie der Nationalstaat eines ist. Die zweite war, etwas weniger unerwartet, die Autorin Melisa Erkurt, die in ihrer wöchentlichen Kolumne in der Zeitschrift Der Falter (9. März 2022) unter dem Titel „Lieber einen Vater als einen Helden“ unumwunden dafür schrieb, dass Männer nicht bewaffnet im Krieg kämpfen sollten, nicht nur um ihr Überleben zu sichern, sondern auch, um ihre psychische Gesundheit und ihr normales Sozialverhalten zu bewahren.
Es ist umso trauriger, dass dieser Pazifismus von unten in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um den Krieg auf dem Staatsgebiet der Ukraine so gar keine Rolle spielt, umso mehr, als ja politische und literarische Vorbilder immer vorhanden waren und sind. So etwa ist das berühmte Gedicht „Kriegslied“ von Matthias Claudius durchaus dazu angetan, immer wieder zitiert und in Erinnerung gerufen zu werden, vor allem mit dem Ausruf der ersten und letzten Strophe: „’s ist leider Krieg und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.“ Zwischen diesen Strophen beschreibt er die Verwüstungen, Verheerungen, Seuchen und Katastrophen, die der Krieg mit sich bringt, und dass er deswegen an Krieg nicht schuld sein will, wenn er dann den vom Krieg Getroffenen und Geschädigten gegenübertreten müsste. Er sieht keine Begründung für Krieg und kann keine Rechtfertigung dafür liefern außer dem politischen Streben der Herrschenden, was er aber auch nicht gelten lassen kann.
Dieser Pazifismus von unten, dessen Merkmal ist, dass sich die Leute der Politik verweigern und ihr eigenes Leben und das der Kriegsgegner, denen sie im Feld gegenübertreten müssten, als hohes Gut achten, ist leider in der Linken in Österreich nicht wahrzunehmen, wenn es darum geht, Stellung zum Krieg in der Ukraine zu beziehen. Eine klare Aussage, wie sie seinerzeit Muhammed Ali getroffen hat: „I ain’t got no quarrel with them Viet Cong“, gibt es nicht. Auf Marlene Streeruwitz’ Handbuch gegen den Krieg gehe ich noch weiter unten ein. Aber auch Werner Pirchners Lied vom guten ausländischen Kameraden, mit dem er vom Kriegsschauplatz ins nächste Wirtshaus verschwindet und gemeinsam Uniform und Gewehr versäuft, fällt in diese Kategorie, die heutigentags nicht mehr geachtet wird.
Als Beispiel möge die Zweimonatsschrift Volksstimme dienen, in deren Schwerpunktnummer zum Krieg in der Ukraine (Nr. 4 aus 2022) Saša Hrnjez den serbischen Politiker Dušan Popović zitiert, der im Jahr 1914 argumentierte: „Für uns“ (die serbische Sozialdemokratie) „war klar, dass, was den Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn betraf, unser Land offensichtlich in einer Verteidigungsposition war. […] Und wenn die Sozialdemokratie irgendwo ein legitimes Recht hatte, für den Krieg zu stimmen, dann war das sicher vor allem in Serbien der Fall. Entscheidend war für uns aber, dass der Krieg zwischen Serbien und Österreich nur ein kleiner Teil eines Ganzen war, nur der Prolog zu einem universellen, europäischen Krieg, und dieser konnte – davon waren wir zutiefst überzeugt – nur einen deutlich ausgeprägten imperialistischen Charakter haben. Deshalb hielten wir – als Teil der großen sozialistischen, proletarischen Internationale – es für unsere Pflicht, uns dem Krieg entschlossen entgegenzustellen.“
Nach diesem Zitat aber fährt der Autor fort: „Wir können dies auf die aktuelle Situation übertragen: Die Ukraine verteidigt ihr Leben und ihre Souveränität und hat das legitime Recht, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, wie jedes Land, das angegriffen wird. Aber die entscheidende Tatsache ist, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland nur ein kleiner Teil einer toxischen Gemengelage ist, die zu einem globalen Krieg mit unvorhersehbaren Folgen führen kann, der definitiv imperialistischen Charakter haben wird. Deshalb müssen wir in einem breiteren – internationalen – Maßstab denken, wie es die Antikriegspolitiker*innen vor einem Jahrhundert getan haben.“ Sich entschlossen gegen den Krieg zu stellen, wie der zitierte Popović es getan hat, kommt dem Redakteur aber nicht in den Sinn, ebenso wenig, wie dass der Krieg schon seit seinem Ausbruch imperialistischen Charakter hat und nicht erst „haben wird“.
Der Rest der Beiträge der Schwerpunktnummer beklagt etwa den Ausschluss russischer Künstlerinnen und Künstler von europäischen Bühnen und Veranstaltungen und Redaktion und Partei rufen nach einer aktiven Neutralitätspolitik. Dass hier eigenständige linke Politik aufgegeben wird und stattdessen Appelle an den Nationalstaat gerichtet werden, der sich der Kriegspolitik von westlichen und östlichen „Werten“ entgegenstellen und „vermitteln“ soll, dass hier Politik verfassungs- und völkerrechtlicher Kompetenz und nationalen österreichischen Prestiges betrieben und gepredigt wird, kommt den Vertretern und Vertreterinnen dieser Forderungen gar nicht in den demokratischen Sinn. Wenn Hrnjez Popović zitiert, so nicht als Gewährsmann einer antiimperialistischen Linken, sondern bloß zur Verschleierung der eigenen Position, wie sie von Teilen der KPÖ vertreten wird.
Popovićs „Pflicht, uns dem Krieg entschlossen entgegenzustellen“, wird nicht weiter ausgeführt. Zur Zeit ihrer Formulierung bedeutete dies, die Politik der revolutionären Teile der Sozialdemokratie zu verfolgen, was sich in den Losungen ausdrückte, dass der Feind im eigenen Land stehe und die Gewehre umzudrehen wären, Krieg müsste also gegen den Krieg geführt werden. Viele meiner linken Freunde und Freundinnen meinen, dass es angesichts der Schwäche der Linken schon ein Anfang wäre, wenn von Österreich wenigstens eine strikte Neutralitätspolitik verfolgt würde. Dem mag so sein, aber deswegen gleich auf programmatische Grundlagen, Erfahrungen und Prinzipien in der Auseinandersetzung, in den Diskursen und in antiimperialistischer Politik zu verzichten und sie durch Appelle an den Staat zu ersetzen, ist schon ein starkes Stück. Letztlich wird ja an eine Kriegspartei appelliert, wo doch Kriegsmaterialien durch Österreich transportiert werden. Zwar wird das so argumentiert, dass Waffen von einem NATO-Land in ein anderes durch Österreich verbracht werden, also nicht in kriegsführende Staaten, und so auch das Neutralitätsgesetz nicht verletzt werde, aber dass die Waffentransporte schließlich in Kriegsgebieten landen, kann angenommen werden. So gesehen handelt es sich um die Unterstützung kriegerischer Handlungen und dem gegenüber wäre statt Appellen an Staat und Regierung eine authentische, eigene linke Position angebracht, die für einen Pazifismus von unten und für eine aktive Antikriegspolitik eintritt.
Am 11. Mai 2022 ist aber auch Marlene Streeruwitz’ Handbuch gegen den Krieg im Bahoe-Books-Verlag erschienen, dessen Lektüre dringend angeraten wird. Darin sind Perlen wie die folgenden zu finden: „Pseudoempathie ist Empathie, die große Gruppen betrifft. Nationalismus ist so eine Pseudoempathie. Pseudoempathiker behaupten Empathie für große Gruppen und verwandeln so die Empathie zu einem Instrument der jeweiligen hegemonialen Ziele. […] Kriegserklärer und Kriegsbefürworter gehen in der gleichen Weise vor. Sie werben um Sympathie für den Krieg, den aber jede Person einzeln und ungeschützt durchleben muss.“ (S. 41f.) Oder dies hier: „Aber. Es sind alle Versuche gescheitert, das Sprechen und Wiedergeben von Krieg in anderen Sprachen als der der Unterhaltung beginnen zu wollen. […] Aber. Sobald eine entsprechendere Sprache für die Darstellung von Leid als die der Unterhaltung gewählt wird, sind alle kulturellen Vereinbarungen über die Wirkung und die Wirksamkeit von Text aufgehoben. […] Es herrscht Zensur gegenüber dem Sprechen von Leid.“ (S. 46f.)
Hier wird also Anklage erhoben und der Fokus auf das Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und Krieg gelegt; das eine sei ohne das andere nicht zu haben, beide bedingen einander und treten gemeinsam auf, von den privatesten Verhältnissen über die Verletzungen der Kinder und ihre Zurichtungen für diese Gesellschaft und für ihren Krieg bis hin zum Erhalt der gegenwärtigen herrschenden Verhältnisse durch permanenten Krieg. Streeruwitz macht diese beängstigend hellen Ausführungen und Analysen, ohne dabei auch nur das Geringste an Rechtfertigung für Gewalt zu erlauben. Ihre Stellungnahme gegen Krieg geht untrennbar mit einer Stellungnahme gegen die bürgerliche Gesellschaft einher und lehnt jede Parteinahme ab, es sei denn eine Parteinahme für andere gesellschaftliche Verhältnisse. Dies sollte für Linke Vorbild sein zu einer Stellungnahme gegen den Krieg.
Auch wenn das wohlfeile Argument daherkommt, eine österreichische Neutralitätspolitik sei schon sehr viel, muss gesagt werden, dass diese nicht durchsetzbar ist. Selbst wenn politische Forderungen dieser Art erfüllt würden, wären sie kein Sieg einer Linken, die sich dem Bruch mit der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft und Macht verschrieben hat. Sie wären nichts als der Sieg bürgerlicher Vernunft, erkauft durch Hunderttausende Tote, maskiert durch eine Ideologie von so genannten Werten, die „erfolgreich verteidigt“ wurden. Dazu sollte sich eine Linke, die diesen Namen noch verdienen will, nicht hergeben. Auch und vor allem in einer Situation gesellschaftlicher Schwäche nicht, in der an ein Durchsetzen politischer Forderungen wohl schwerlich gedacht werden kann; dann doch lieber gleich die genuin linken, revolutionären Forderungen hochhalten und nicht in bequemer Realpolitik entsorgen, die letztlich in der Unterstützung einer Kriegspartei enden muss.