Druckversion/PDF

Knut Hüller

 

VWL-Theoriegeschichte als nie endende Krisenbewältigung                                  



Kapitel XII aus dem Buch Kapital als Fiktion. Warum endloser Verteilungskampf die Profitrate senkt und „Finanzkrisen“ erzeugt, erschienen 2015 bei tredition


 

 

1. Vorbemerkungen

 

Bereits bei der Rezeption ökonomischer Theorie ist deren Doppelcharakter als Erkenntnisversuch und Apologie zu beachten. Dieser Doppelcharakter ist eng verwoben mit der Zirkularität ökonomischen Denkens, die Kapitel II[1] anhand der fundamentalen Kategorien 'Kapital' und 'Profit' darstellte, und ebenso mit der Auf­spaltung aller Vorgänge in 'wirkliche' und 'kapitalistische' Elemente.[2] Denn um die realen Probleme des Systems wenigstens entschärfen zu können, muss die Ökonomie es zumindest teilweise realistisch behandeln. Der daraus entstehende Zirkel von 'Forschung' und Beeinflussung ('Staatseingriffe') sowie die Debatte darum nimmt mittlerweile tendenziell kabarettistische Züge an, da mit zunehmender 'Praxisnähe' die Widersprüche des realen Systems in immer wirksameren Formen in seine Theorie eindringen, und die diversen Konzepte in immer schnellerer Abfolge sich zugleich angleichen und gegenseitig über den Hau­fen werfen. Verschärft wird dies dadurch, dass ökonomische Theorie zur Erfüllung ihres Apologieauftrags die sich ständig verschärfenden wirklichen Fundamental­probleme des Systems wie Sinnlosigkeit, Destruktivität und Profitratenfall ausblen­den muss, was sie dazu zwingt, sich ständig selbst zu reformieren, und zwar noch über das Maß hinaus, das bereits die Entwicklung des realen Systems erzwingt.


Dieses Kapitel betrachtet einige einflussreiche ökonomische Denkrichtungen unter dem Gesichtspunkt, wie sich in ihnen konkret Erkenntnisversuch und Apolo­gie misch(t)en, und an welchen Stellen daher die Gefahr lauert, dass die Analyse über Versuche zu einer 'Verbesserung' der Ökonomie in apologetische Denkmuster abgleitet. Zugleich soll aufgezeigt werden, wie man dem entgehen kann, nämlich durch die Einblendung der historischen Bedingtheit ökonomischer Denkformen und eine darauf aufbauende Einordnung derselben als Bestandteile der konkreten Kapitalismusgeschichte.


Eine Trennung von Apologie und Erkenntnis benötigt Kriterien, die nicht der Ökonomie selber entnommen werden können. Sie werden einer funktionalen Be­trachtung entnommen: Was müsste ein Erkenntnisversuch leisten und was müsste eine Apologie leisten? Schon das Abstellen auf einen Endzweck ist ein ökonomie­fremdes Prinzip, indem es den für ökonomische Denkformen charakteristischen selbstzweckhaften Charakter aus den Kriterien fernhält.


Ein Versuch zur Erkenntnis des Kapitalismus sollte insbes. folgendes behandeln bzw. erklären können:

 

  1. die Existenz des 'Werts'
  2. seine Rolle als Funktionsprinzip der Gesellschaft
  3. seine Tendenz, alles unter sich zu subsumieren
  4. die Hemmnisse, die dem entgegenstehen und laufend Krisen erzeugen
  5. Bewegungsformen als Folge innerer Logik und früherer Bewegungen
  6. zukünftig zu erwartende Bewegungsformen (zumindest in Umrissen)

 

Eine Apologie dagegen müsste:

 

     7. den 'Wert' als Selbstverständlichkeit einführen

     8. den aktuellen gesellschaftlichen Zustand ohne Wenn und Aber rechtfertigen

     9. zukünftige veränderte Zustände in derselben Weise rechtfertigen

     10. die Existenz von Problemen bestreiten

     11. nicht abstreitbare Probleme externen Einflüssen anlasten

     12. als Ultima Ratio gegen Kritik eine allem empirischen übergeordnete (d.h. religiöse) letzte Argumentationsebene bereithalten

 

Hiernach ist 'Apologieversuch' nicht das Gegenteil von 'Erkenntnisversuch', sondern teilweise dazu komplementär. Die Punkte 8-10 beispielsweise legen nahe, möglichst alles zu umgehen, was den Inhalt der Punkte 4 und 5 ausmacht. Aller­dings ist es schwierig, völlig Unbekanntes zu umgehen, so dass eine gute Apologie nicht umhinkommt, Elemente von Erkenntnis aufzunehmen. Die Kunst liegt darin, dies mit der richtigen Dosierung zu tun, um ein Abgleiten der Apologie in Erkenntnis zu vermeiden. Diese Gefahr bestünde z.B., wenn eine Bearbeitung der Punkte 7 und 8 sich zu lange am Inhalt der Punkte 2 und 3 aufhält, statt sich rechtzeitig in die Richtung der Punkte 11 und ggf. 12 zu orientieren. Gelingt dem Apologeten letzteres, führt dies umgekehrt den Erkenntnissuchenden in die Irre. Bewegungen in diesem Spannungsfeld machen einen wichtigen Teil der ökono­mischen Theoriegeschichte aus.



2. Das einfache Wertgesetz der Klassik

 

An der klassischen Arbeitswertlehre fallen zwei Elemente auf. Das erste ist eine verbogene Wahrnehmung der Arbeit. Sinnvoll ist, ihre Behandlung an den Beginn der Analyse zu stellen, irreführend aber ist der folgende Schritt, den logischen Zusammenhang Wert→'Wert' auf einen rein quantitativen Zusammenhang wie Wert/'Wert'=const. zu verkürzen. Daraus folgt das zweite auffällige Element: der konstruktive Inhalt. Da Waren per def. mit positivem 'Wert' ausgestattet sind, muss nach Akzeptanz des Gesetzes Wert/'Wert'=const. jeder Ware zwingend auch ein positiver Wert zugewiesen, d.h. jede Arbeit so gedacht werden, dass sie zu einem positiv denkbaren Endzweck beitrage. Damit ist man in der Apologie: Die für die Verwandlung von Tätigkeit in Arbeit wichtige Option zur Sinnlosigkeit und die darauf aufbauende weiterführende Option zur Destruktivität sind ausgeschlossen. Der erste Erkenntnisschritt (derjenige über die wesentliche Rolle der Arbeit) wird so wieder zunichte gemacht, denn die zunehmend destruktive 'Arbeit' kann nicht mehr von (als sinnvoll denkbarer) 'Tätigkeit' unterschieden werden.


Eine typische Anwendung dieser Verkürzung besteht darin, den Klassenkampf (im Marxismus den von oben und in bürgerlicher Ökonomie den von unten) als das Hauptübel des Kapitalismus hinzustellen, um so von der Fülle anderer Absur­ditäten abzulenken. In dem von Marx besonders hervorgehobenen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung wird letztere auf 'unmittelbare Inbesitznahme' reduziert, und übersehen werden viele Konsequen­zen der Tatsache, dass alle Akteure Motiven folgen, die einem eng begrenzten ('pri­vaten') Markt-Horizont entstammen. Übersehen wird insbes., dass diese Form der Beschränktheit 'wächst', wenn sich mit den Produktivkräften die Arbeitsteilung ent­wickelt. Da der Horizont des Marktakteurs beim jeweils nächsten Marktprozess liegt, umfasst sein Gesichtsfeld einen ständig kleiner werdenden Teil des Gesamt­prozesses. So entwickelt die Gesellschaft gemeinsam mit den verfügbaren materiel­len Mitteln eine zunehmende Dämlichkeit bei ihrer Handhabung. Beim Übersehen dieses Zusammenhangs und seiner Folgen hilft die 'konstruktive' Verkürzung. Denn bringt jedes Arbeitsquantum etwas hervor, das positiv und sinnvoll gedacht und in der Form m+v angegeben werden kann, dann gibt es tatsächlich nicht mehr zu tun, als dieses m+v auf beliebig niedriger (z.B. betrieblicher) Ebene 'gerecht' aufzuteilen. Über den Einzelbetrieb und die von ihm unmittelbar getätigten Markt­prozesse hinauszusehen, wird entbehrlich. Solchermaßen beschränktes Denken bringt Gewerkschafter und Betriebsräte hervor, die 'wegen der Arbeitsplätze' heute für die Produktion von Spritsuff-Vehikeln plädieren, morgen für ihr Abwracken, und übermorgen für die Umstellung der Produktionsstraße auf Panzer – dies alles ohne irgendeine Rücksicht auf die Kollateralschäden solcher 'Arbeit'.


Theoretisch bringt dieses Denken Vorstellungen hervor wie die Heinrichs (2003), ein kapitalistischer Einzelbetrieb könne durch eine grandiose Neuerung ganz aus eigener Kraft dauerhaft seine Profitrate steigern, und alle anderen könn­ten es ihm ebenso problemlos ganz aus eigener Kraft nachtun.[3] Nachdem bereits das Verständnis von 'privat' verkürzt war, wird hier das Verständnis von 'Verge­sellschaftung' entfernt. Dies führt auf die Quelle des einfachen Wertgesetzes und vieler anderer ökonomischer Simplifizierungen (mathematisch: 'Linearisierungen'); die zugehörigen Denkformen sind bereits anwendbar, bevor (im logischen Sinn) sich ein kapitalistisches System bildet. Auch der einfache Warenproduzent erzielt (ceteris paribus) bei verdoppelten Kosten und verdoppelten Erlösen das doppelte Einkommen, falls er doppelt so lange 'arbeitet'. Dies jedenfalls, solange das gesell­schaftliche Umfeld auf irgendeine Weise stabilisiert bleibt, d.h. nicht durch eine Gesamtheit von Seinesgleichen konstituiert wird. Was ihn vom Verdoppeln seiner 'Leistung' abhält, ist die Sinnlosigkeit, Lebensbedürfnisse doppelt befriedigen zu wollen. Die mit Lohnarbeit verbundene Geldwirtschaft hebt auf der individuellen Ebene diese Schranke auf, indem sie Einzelnen einen (scheinbar) unbegrenzten Zugriff auf beliebiges gesellschaftliches Endprodukt und eine (scheinbar) ebenso beliebige Verwendung desselben ermöglicht. Auf der einzelwirtschaftlichen Ebene bleibt die Linearität zwischen angewandter Arbeitskraft und Geldflüssen erhalten, solange man (Pasinetti, Heinrich oder ceteris paribus folgend) das als Preis- und/oder Mengensystem ausgedrückte ökonomische Umfeld als fixiert unterstellt. Plausibel erscheint dies, solange der Einzelne und sein Verhalten innerhalb des Systems betrachtet, dessen Konstitution durch eine Gesamtheit warenproduzieren­der Subjekte aber ausgeblendet wird. Dann kann ein Kapitalist, der doppeltes Kapital und damit doppelte Arbeit einsetzt, bei verdoppelten Kosten und Einnah­men verdoppelten Gewinn erzielen. In kapitalistischer Geldwirtschaft ermöglicht es die Lohn-Arbeit, damit auch etwas (zumindest 'kapitalistisch') sinnvolles anzu­fangen wie den Betrieb zu erweitern (um noch mehr Sinnlosigkeit zu produzieren).


Schwierig wird es erst, wenn nach Ausschöpfung aller verfügbaren Arbeitskraft immer noch alle Kapitale ihren Tätigkeitsumfang verdoppeln wollen. Solange man jedoch nicht in solcher Weise unnötig konkret wird, eignen sich das einfache Wertgesetz und sein Zubehör in ähnlicher Weise wie der Bäckereikapitalismus des neoklassischen Lehrbuchs (dazu Hüller 2006) zur Beschönigung des Kapitalismus als etwas im Kern konstruktives. Doppelte Arbeit ergibt doppeltes Einkommen und daraus folgt dop­pelter Wohlstand. Warum bürgerliche Hirne die Analyse ungern über diese Stelle hinaus weiterführen, macht ein Beispiel aus der Kapitalismusgenese deutlich: Unter sonst gleichen Umständen wird ein Konquistador mit Zugang zu doppeltem Kredit eine doppelte Zahl Schiffe ausrüsten können, und die doppelte Beute an Gold und Silber heimbringen, nachdem er doppelt so viele ungläubige Eingeborene umge­bracht hat. Denn die wirklichen Probleme des Systems tauchen erst auf, wenn man es als solches betrachtet, d.h. neben dem Räuber auch den Beraubten. Oder in den Märkten die Käufer neben den Verkäufern und umgekehrt, insbes. diejenigen von Arbeitskraft.


Dann werden Erscheinungen sichtbar, die dem heutigen selbstbezogenen Sub­jekt so unangenehm sind, dass es sie mit Un-Worten wie 'Um-Verteilung' belegt statt mit dem einfacheren Wort 'Verteilung', das den Kerninhalt des 'Werts' klarer zum Ausdruck brächte. Denn verteilt wird die weltweit kollektiv geschaffene Neuwertmasse schon seit langem nicht nur zwischen Einzelkapitalen und 'ihren' Arbeitern. Verteilt wird ebenso zwischen den Kapitalen (über den Profitratenaus­gleich), zwischen Gruppen der Lohnabhängigen ('un-gerechter Lohn'), zwischen Nationen bzw. Regionen ('schiefe terms of trade', 'Armutsgebiet'), zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, zwischen 'Fleißigen' und 'Faulen' (beides vereint sich im 'Spekulant'), und allem anderen, was der Bürger sich sonst noch an Zerspaltungen ('Bestimmungen') ausdenken kann. Dabei ist überall (nicht nur zwischen Arbeit und Kapital) letztlich ein 'Kräfteverhältnis' (Marx) maßgeblich, das sich hinter den 'Wert'-Zahlen sowohl versteckt als auch darin ausdrückt. Viele Folgen davon sind bekannt, insbes. dass die Reichtumsverteilung immer unsozialer und verrückter wird. Aber gerne übersehen wird der Aspekt, dass die Verwertung aufgrund des bereits in ihren Grundlagen enthaltenen Elements 'Sinnlosigkeit' hoffnungslos anachronistisch und destruktiv geworden ist. Daher wird etwas anderes benötigt als eine bessere 'Wissenschaft vom Wert': benötigt wird das 'Ende vom Wert'.



3. Die zwei Varianten des Profitratenausgleichs

 

Die wechselseitige Beeinflussung der Profitraten wird relevant, sobald Aktivitäten der Einzelkapitale sich in einem Ausmaß verflechten, dass der Umfang des kon­stanten Kapitals die Größenordnung des variablen erreicht. Dann unterscheiden sich gesamtwirtschaftlicher Output (V+M) bzw. Input (V) in relevanter Weise von der Summe einzelwirtschaftlicher Outputs (V+C+M) bzw. Inputs (V+C), so dass die Gesamtwirtschaft nicht mehr als vergrößerte Einzelwirtschaft behandelbar ist. Da schon die frühe Industrie den Zustand C>V erreichte, veranlassten empirische Befunde die ökonomische Klassik zur Entwicklung einer ersten Vorstellung vom Profitratenausgleich. Verblüffend ist, dass dieses Konzept im späten 20. Jhdt. von Neoricardianern und Marxisten in einer Weise neubelebt wurde, dass man es Marx  diametral entgegenstellte, obwohl sich diese Strömungen nicht nur gemeinsam auf die (durch Marx abgeschlossene!) Klassik generell berufen, sondern sogar überein­stimmend auf deren (herausragenden) Vertreter David Ricardo. Ein solcher Vor­gang ist nicht möglich, ohne dass das Konzept einen inhaltlichen Wandel durchlief. Es ist daher sinnvoll, zu Beginn die Gemeinsamkeit zwischen dem einfachen Wert­gesetz und dem Postulat des Profitratenausgleichs aufzuführen, die in der Klassik ihre Koexistenz ermöglichte. Sie besteht darin, dass beide Ansätze jedem Kapital Profit garantieren, solange gesamtwirtschaftlich Überschuss erzielt wird, d.h. die Gesamtprofitrate[4] M/(V+C) positiv ist. Dies ist eine gute Grundlage, um den Kapi­talismus als dauerhaft funktionsfähig darzustellen. Die Verfechter des einfachen Wertgesetzes sichern sie durch die Unterstellung, dass für jeden Arbeiter (oder zumindest für die Gesamtarbeitskraft jedes Einzelkapitals) das Verhältnis m/v der Mehrarbeit und notwendigen Arbeit dasselbe sei. Dies macht alle betrieblichen Ausbeutungsraten m/v untereinander und damit der globalen Ausbeutungsrate M/V gleich, wobei M bzw. V das durch Addition zu bildende gesamtwirtschaftli­che Mehrprodukt bzw. variable Kapital darstellen. Ist M positiv, muss dasselbe für jedes betriebliche Mehrprodukt m gelten, und weil Geld'wert' streng proportional zum Arbeitswert gedacht wird, kann jedes Einzelkapital sich diesen 'seinen' Beitrag zum Gesamtmehrwert M auch aneignen. Die Einzelprofitraten m/(v+c) können zwar weit um M/(V+C) streuen, aber alle müssen positiv sein, solange M dies ist.


Dass jeder Konkurs die Existenz einer solchen universellen Gesetzmäßigkeit praktisch widerlegt, weist diese Vorstellung als Idealisierung aus, was Apologeten aber nicht darin stört, ihr Idealbild als Realität aller individuellen Verwertungspro­zesse auszugeben. Neoricardianer konstruieren analog ein Preissystem, in dem alle Kapitale dieselbe Profitrate erzielen, die dann den gleichen Zahlenwert besitzen muss, den die Gesamtprofitrate M/(V+C) in diesem Preissystem besitzt. Ist letztere positiv, muss demzufolge auch jede Einzelprofitrate positiv sein. Auch hierbei lässt man sich durch gegenteilige empirische Befunde wenig stören.[5] Etwas überspitzt (aber angemessen zynisch) lässt sich die apologetische Verwen­dung der zwei Wertgesetze auf folgenden gemeinsamen Nenner bringen: Der Neo­ricardianismus standardisiert den Ausbeutungsprozess auf der Kapitalseite, indem er jedem Kapital dasselbe Geldwachstum gemäß G'=G°(1+r) garantiert, und nennt dies eine Theorie der Produktion (wovon?). Das einfache Wertgesetz dagegen stan­dardisiert denselben Prozess auf der Seite der Arbeiter: Betankt man einen von ihnen mit dem Treibstoff v, dann erzeugt er die Warenmenge v+m oder v°(1+m/v), wobei der Bruch m/v=M/V in ähnlicher Weise zur Quasi-Naturkonstanten stili­siert wird wie im Neoricardianismus die Einheitsprofitrate r. Beide Ansätze wirken wie frühe Rohentwürfe des später 'homo oeconomicus' genannten Menschenbildes.


Oberflächlich betrachtet ist der Unterschied beider Ansätze rein quantitativ: von den Sonderfällen des Nullprofits und der gleichen organischen Zusammensetzung aller Kapitale abgesehen folgern sie aus gleichen Voraussetzungen verschiedene Preissysteme und damit verschiedene Profitraten (der Marxismus auch verschie­dene für die Einzelkapitale), aber beide machen den erfolgreichen Betrieb des Kapi­talismus letztlich nur von der Bedingung M>0 abhängig. Kombiniert man diese Möglichkeit zur Reduktion des Unterschieds auf einen quantitativen mit dem Un­verständnis der Ökonomie für Quantifizierungen, wird verständlich, warum in der Klassik beide Ideale koexistieren konnten. Nicht erklärt ist damit, wie sie später in scharfen Konflikt geraten konnten. Noch weniger erklärt ist, warum eine unter der Flagge 'Theorie der Produktion' segelnde Theorie wie die neoricardianische in einer Phase entstand, in welcher der industrielle Sektor des Kapitalismus seine Vorrangrolle bei der Mehrwertaneignung an den Finanzsektor zu verlieren begann. Naiv wäre zu erwarten, dass dann die neoricardianischen Themen der 'physischen Mengen' und der 'Technik' in der Ökonomie an Bedeutung verlieren statt gewin­nen. Um eine Erklärung zu finden, muss man die gesamtwirtschaftliche Ebene von der betrieblichen trennen, und darf sich insbes. nicht auf Vorstellungen wie die vom 'typischen Kapital' (Heinrich) einlassen. Sobald die Aktivitäten der Kapitale sich verflechten, und dadurch in 'kapitalistischen' Kostenrechnungen konstantes Kapital auftritt, erlaubt das marxistische Wertgesetz sämtliche Profitraten zwischen  m/(v+0)=M/V und m/(v+C), wobei M, V und C für die gesamtwirtschaftlichen Summen von Mehrarbeit, notwendiger Arbeit und konstantem Kapital stehen, m und v aber für den Beitrag nur einer betrieblichen Arbeitskraft zu M und V, im Extremfall also für den Beitrag einer einzigen Arbeitskraft. Das Verhältnis zweier Einzelprofitraten kann damit theoretisch jeden Zahlenwert zwischen v/(v+C) und (v+C)/v annehmen, bei unbegrenztem Wachstum von C also jeden zwischen null und unendlich, ein wenig befriedigendes Resultat, will man stabile, gerechte oder anderweitig ideale Kapitalismen darstellen.[6] Dass solche Extreme auftreten können, hat nichts mit dem speziellen Inhalt des einfachen Wertgesetzes zu tun, sondern erwächst aus der Existenz des konstanten Kapitals, wie die ohne Rückgriff auf ir­gendein konkretes Wertgesetz ausgeführten Beispielrechnungen (Kapitel VI, S. 82ff.) zeigten. Zuverlässig verhindern lässt sich das Auftreten von Extremen daher nur dadurch, dass unmittelbar die Variation der Profitrate begrenzt wird. Die einfachste und wirkungsvollste Methode ist, für die individuellen Profitraten nur einen einzigen Zahlenwert zu erlauben. Welcher dies ist, ist allerdings egal, solange Apologie statt Erkenntnis das Ziel ist. Die neoricardianische Literatur führt daher unzählige Existenz- und Eindeutigkeitsbeweise, erlaubt in begleitenden Beispielrechnungen aber alle Profitraten, auch die abenteuerlichsten. Das Problem des tendenziellen Falls der Gesamtprofitrate, das im einfachen Wertgesetz direkt aus der Anwesen­heit des 'C' im Nenner der Profitratenformel folgt, wird umgangen, indem man die Quellen für die Zunahme konstanten Kapitals verstopft: Die Fixierung der Anzahl der Branchen verhindert eine Zunahme der Verflechtung, und fixes Kapital oder gar Finanzkapital lässt sich in neoricardianische Modelle nur mit Krücken einführen.


Denkt man von dieser Stelle aus einen Schritt weiter, lässt sich die in Kapitel III[7] aufgeworfene Frage beantworten, warum der Neoricardianismus sich so aggressiv als Warenproduktion 'mittels Waren' (statt mittels Arbeit) geriert, und warum er alle verfügbaren Scheuklappen gegen eine Erweiterung der von ihm verfochtenen Kausalität Mengen→Preise zu einer Kausalität Arbeit→Mengen→Preise anlegt. Das Wachsen des konstanten Kapitals relativ zum variablen reduzierte im bürger­lichen Denken schon lange vor Sraffa den klassischen Kapitalbegriff V+C auf C, und damit die klassische Profitratenformel M/(V+C) faktisch auf M/C. Damit ver­schwand aus der Theorie die Wertquelle 'lebendige Arbeit', und zurück blieb nur tote. Mit der lebendigen Arbeit verschwand die klassische Erklärung für den Profit: die Mehrarbeit. Als Ersatz dafür erscheint in der betrieblich-beschränkt denkenden bürgerlichen Ökonomie das konstante Kapital nicht nur im Nenner der Profitraten­formel (d.h. profitratensenkend), sondern es gilt in gleicher Weise wie das variable Kapital auch als (Mehr-)Wertquelle, d.h. als aktiv zum Profit beitragend. Das M im Zähler der Profitratenformel wird als abhängig vom Kapital C gedacht (statt als das Resultat gesamtwirtschaftlich begrenzter Arbeit), und müsste korrekterweise daher in der Form M(C), d.h. als Funktion von C, geschrieben werden, was die einzelwirtschaftliche Ebene (Wertverteilung) mit der gesamtwirtschaftlichen Ebene (Wertproduktion) vermengt. Extraprofitchancen für Einzelkapitale dank neuer Technik (Wachsen von C) erscheinen danach wie ein Anwachsen der Gesamt-Wertproduktion durch fiktive Aktivitäten von C, indem der Zähler M(C) der Pro­fitratenformel im Gleichklang mit der Kapitalkomponente C im Nenner wachsen kann. Für ein (rechnerisch!) durch C erzeugtes M gibt es sowenig eine absolute Obergrenze wie für die als C erfasste tote Arbeit im Nenner der Profitratenformal, womit sich zumindest in Rechenmodellen der Fall der Profitrate abwehren lässt. Am offensichtlichsten wird dies, wenn man V als sehr klein gegen C unterstellt, und mit diesem Argument die Profitratenformel zu M(C)/C modifiziert. Profit und Profitrate hängen dann nur noch vom grenzenlos wachsenden C ab – statt von der begrenzten lebendigen Arbeit V.


Den nächsten Schritt auf diesem Weg ging die Neoklassik mit ihrer weiteren Verkürzung des Kapitalbegriffs zu 'Produktionsmittelbeständen'. Dieser Kapital­begriff reduziert das aus zirkulierendem Kapital Z und fixem Kapital F bestehende konstante Kapital C=Z+F auf den fixen Anteil F, und rechnet deshalb faktisch mit der Profitratenformel M(F)/F. Korrespondierend wird F zur Haupt-Wertquelle, was noch wirksamer den Profitratenfall aus der Theorie fernhält, da mit Z nun ein weiteres Element von 'Produktion' entfernt wird. Man muss nur darauf achten, mit dem Rechnen früh genug aufzuhören. nämlich bevor die durch einen technolo­gischen Sprung auf individueller Ebene erzielbaren Extraprofiteffekte verpuffen. Inhaltlich wird die Theorie damit ein weiteres Stück absurder, weil nur noch quasi-doppelttote Arbeit in der Profiterklärung verbleibt, und die lebendige ein weiteres Stück in den Hintergrund geschoben wird. Der nächste Entwicklungsschritt dieser kapitalistischen Irrenhauslogik sollte 'Arbeit' negativ, d.h. als Störfaktor auftreten lassen. Der Neoricardianismus vollzieht diesen nächsten Schritt, indem er seine 'Mengen' genannten Ausgangsgrößen nicht nur von ihrer Ursache 'Arbeit' abtrennt, sondern ihr ausdrücklich entgegensetzt.


Ein zur beschriebenen Logik passender Weg wäre, das Explodieren des Geldka­pitals im 20. Jhdt. in der Weise zu verarbeiten, dass der klassische Kapitalbegriff V+C zunächst um Geld G erweitert wird, d.h. zu V+C+G=V+F+Z+G, um ihn dann auf G zu verkürzen statt auf C oder auf F. Die Profitratenformel würde damit auf M(G)/G verbogen, und anstelle von C bzw. dessen Teil F würde nun Geld (als 'Kapital') zur Ursache von Geld (als Produkt oder als Profit?). Dies reproduziert Marx' Formel G→Ware(Arbeit)→G' (allerdings ohne den für ihr Verständnis wich­tigen kursiv gesetzten Zwischenschritt), und realisiert den in Kapitel II beschriebe­nen Kapital/Profit-Zirkel auf der höchstmöglichen Ebene, nämlich der Geldebene. 'Erkaufen' müsste man sich dies durch ein Verbiegen des Begriffs der physischen Mengen zu 'Werten'. Als Beleg dafür, dass im Neoricardianismus das Verständnis der in ihm so zentralen 'Mengen' tatsächlich schon von 'physisch' auf 'Geldwert­träger' umgebogen ist oder gerade umgebogen wird, wiederholen wir eine in Kapitel IV (S. 45) noch unter anderen Gesichtspunkten diskutierte Formulierung des Professors Feess: „Das gesamte physische Nettoprodukt YN einer Gesellschaft ist definitions­gemäß die Differenz aus Gesamtproduktion und Rohmaterialien (also die Diffe­renz aus Output und Input) und beträgt in unserem Beispiel, ausgedrückt in Preisen...“ (Feess 2000, S. 26). Indem diese Verbiegung des Mengenbegriffs ähnlich bewusstlos abläuft wie die Verkürzung des Kapitalbegriffs von V+C zuerst auf C=Z+F und weiter auf F in der Neoklassik, erfolgt sie auf eine dem realen System adäquate Weise, und indem sie das Geld verabsolutiert, vollzieht sie einen 'Fortschritt' desselben inhalt­lich nach. Man muss deshalb die neoricardianische Theoriebildung gegenüber der Neoklassik als im 'kapitalistischen' Sinn fortgeschrittener (d.h. verrückter) ansehen, und die verbalen Rückgriffe auf den Klassiker Ricardo als Verschleierung ihrer tat­sächlichen Inhalte. Das Obsiegen der Neoricardianer über die Neoklassiker in der Kapitalkontroverse entspricht ebenso der inneren Logik des realen Systems wie die Konsequenz der Kontroverse auf der neoklassischen Seite, nämlich die weitere Ver­kürzung von deren Kapitalbegriff C=Z+F auf F ('Produktionsmittelbestände') unter dem Druck der bereits einen Schritt weiter (bis zu G) gegangenen Neoricardianer.


Wenn der Neoricardianismus eine Weiterentwicklung über die bereits zu Marx' Lebzeiten entstehende Neoklassik hinaus im Sinne von Verflachung darstellt, sollte er nicht nur alle Widersprüche ökonomischer Theoriebildung in verschärfter Form reproduzieren, sondern sich auch zu den Schriften aller Klassiker – eingeschlossen Ricardo – auf ähnliche Weise in Widerspruch setzen lassen wie zu denen von Marx. Dies macht eine Befassung mit Ricardo selber nötig. Um nicht über Ricardos Werk oder seine Rezeption im Neoricardianismus philosophieren zu müssen, las­sen wir ihn durch einen führenden Neoricardianer würdigen, nämlich den an der Universität Graz lehrenden Professor Heinz D. Kurz.[8] Dieser schreibt über Leben und Werk Ricardos u.a. folgendes: „Adam Smith lobt er ob dessen Konzentration auf die systematischen und dauerhaften im Unterschied zu den zufälligen und vorübergehen­den Einflüssen auf das wirtschaftliche Geschehen. Über letztere lassen sich keine verallge­meinerungsfähigen Aussagen treffen. Die verwendete Methode ist bekannt als Methode der langen Frist. In der Werttheorie führt sie zur Unterscheidung zwischen 'natürlichen' und 'Marktpreisen'. Erstere drücken die ständig wirksamen Faktoren aus, letztere diese sowie zudem alle möglichen Zufallseinflüsse. Erstere werden begriffen als das 'Gravitationszen­trum' der letzteren.“[9] So könnte eine Inhaltsangabe auch vieler traditionsmarxisti­scher Schriften beginnen, insbes. solcher, die auf der nächsten Stufe der Analyse stehenbleiben. Was nämlich sahen laut Heinz D. Kurz die Klassiker und insbes. Ricardo als das 'Gravitationszentrum' an? „Wie kann man heterogene Waren auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Die klassischen Ökonomen gehen die Frage über die Suche nach einem 'letzten Wertmaß' an. Ricardo entscheidet sich zugunsten von einfacher Arbeit als Maß. In der Erzeugung aller Waren wird Arbeit benötigt. Eine Ware läßt sich begreifen als die 'Verkörperung' einer bestimmten Menge an Arbeit, die direkt und indirekt in der Erzeugung der Ware aufgewandt wird. So enthält z.B. ein Paar Strümpfe die Arbeit des Strumpfwirkers, der Garnspinnerin, des Baumwollproduzenten, usw.. Die Gesamtmengen an verkörperter Arbeit, oder Arbeitswerte, erlauben es nun, die verschiedenen Waren bzw. Warenaggregate miteinander zu vergleichen.“ (ebd., S. 7) Auch dem würden noch viele Traditionsmarxisten zustimmen, obwohl (bzw. weil) hier zum ersten Mal die entscheidende begriffliche Konfusion der weiteren Debatte auftritt. Ein Maß für den Wert (oder Wertmaß) kann es nicht geben, weil Wert und 'Wert' selber Maße sind. 'Wertstandards' stellt die Ökonomie zuhauf selber her, indem sie grüne Zettel mit Symbolen wie '100€' bedruckt. Dafür ein weiteres Maß zu suchen, ist so sinnlos wie die Suche nach einem Maß für Zollstöcke oder für Meter. Bzw. es ist so sinnvoll wie das unablässige Messen des Profits am Kapital in der Profitratenformel.


Maße wie Wert und 'Wert' sind zum Quantifizieren von Objekten (hier: Waren) geeignete Qualitäten, und nur die Wahl der Qualität hat einen Inhalt, nicht die Viel­zahl der innerhalb dieses Rahmens wählbaren Einheiten. Hinge die Schwerkraft eines Himmelskörpers von seinem Volumen statt seiner Masse ab, hätte dies gra­vierende Folgen für viele astronomische Phänomene, aber es ist egal, ob man in einer Umlaufbahnberechnung alle Massen in kg oder Erdmassen ausdrückt, da die strenge Proportionalität zwischen solchen Einheiten alle Relationen unverändert lässt. Wichtige Folgen hat deshalb, dass 'kapitalistische' Entscheidungen auf einer Kostenrechnung in Geld'wert' (statt in Kalorien oder in Arbeitswert) beruhen, und ebenso wichtig ist, welches Preissystem praktisch gebildet wird. Ob man aber nach dessen Festlegung 'Werte' in €, $, Goldunzen-Äquivalenten oder irgendwelchen Cent beziffert, ist so egal, wie es egal ist, ob Arbeitszeit in Stunden oder Minuten vereinbart und gestempelt wird. Nötig wäre hier, Wert und 'Wert' durch ihre quali­tativen Inhalte abzugrenzen: in als stationär idealisierten ökonomischen Modellen sind es der erzeugte Gesamtreichtum (Wert) und dessen Verteilung ('Wert'). Nur wenn diese zwei Quantifizierungen auseinanderfallen können (wie es bei zwei verschiedenen physikalischen die Regel ist), ist ihr paralleler Gebrauch überhaupt sinnvoll, denn andernfalls wären beide identisch und innerhalb quantitativer Betrachtungen eine von beiden entbehrlich. So wie man das Kilogramm neben dem Pfund benutzen, aber auch völlig ohne das eine (oder das andere) auskommen kann. Oder im Marxismus wahlweise ohne den Wert oder ohne den 'Wert'.


Dass eine Begründung des Geld'werts' durch den Arbeitswert logischer statt quantitativer Art sein muss, umgeht Heinz D. Kurz durch das Vermengen quanti­tativer und qualitativer Aspekte in seiner genial-zweideutigen Formulierung 'auf einen gemeinsamen Nenner bringen'. Dieser Konfusion entspringt die für den Neoricardianismus charakteristische Mengenbegriffsverwirrung. Statt den Profit als eine speziell der 'Wert'- oder Geldrechnung angehörige Bestimmung zu sehen, werden alle quantitativen Bestimmungen vermengt, indem man die Unterschiede zwischen ihnen mit dem so genial-vieldeutigen wie genial-nichtssagenden Wort 'stofflich' plättet: „Die allgemeine Profitrate ist stofflich das Verhältnis zweier solcher Warenaggregate: des gesamtwirtschaftlichen Nettoprodukts, bestehend aus den Überschuß­mengen der verschiedenen Waren, und des gesamtwirtschaftlichen Kapitaleinsatzes, beste­hend aus den verbrauchten Mengen an Rohstoffen, Werkzeugen und Unterhaltsmitteln. Steigt der Reallohn (d.h. die Menge an Waren, die an die Arbeitskräfte gehen), dann steigt der Anteil der aktuellen gesellschaftlichen Arbeit, der in die Produktion des Reallohns geht, und es sinkt die Profitrate: 'Je größer der Anteil des Arbeitsergebnisses, der an die Arbeiter gegeben wird, desto kleiner ist die Profitrate, und umgekehrt.' (Bd. VIII, S.1 94)“ (ebd., S. 7).


Hiervon wären die meisten Traditionsmarxisten geradezu begeistert, obwohl (bzw. weil) die erste konkrete Folge des Unverständnisses für Quantifizierungen ('Maße') erscheint: das Unverständnis dafür, dass es 'die Profitrate' gar nicht gibt, weil sie vom Preissystem abhängt[10], welches wiederum im Regelfall davon abhängt, welcher Teil welcher Endprodukte in M bzw. in V eingeht. „Jetzt muß sich Ricardo dem ganz anderen Problem stellen, daß sich selbst unter gegebenen techni­schen Bedingungen das Werteverhältnis zweier Waren infolge einer Veränderung der Einkommensverteilung ändern kann. Ein vollkommenes Wertmaß müßte auch gegenüber Veränderungen in der Einkommensverteilung unveränderlich sein.“ (ebd., S. 11) Wir erin­nern uns daran, dass in der Realität Waren'werte' die Verteilung des materiellen Reichtums regeln. Der neoricardianische Ansatz, umgekehrt das 'Wertmaß' von einer (physisch gedachten!) Einkommensverteilung abhängig zu machen, entpuppt sich damit als weiterer Versuch zur Herstellung eines Sinnloszirkels vom Typ X→X (vgl. Kapitel III), und die Suche nach dem vollkommenen einkommensunabhängigen Wertmaß als Versuch zur Beseitigung systemimmanenter Widersprüche. An dieser Stelle dreht die neoricardianische Literatur sich endlos im Kreis, indem sie zahllose Formen von Abhängigkeit der (natürlich nicht 'stofflich' sondern in Geld angege­benen) Profit- und damit Kapitalzahlen von den ebenso unzähligen möglichen For­men von 'Verteilung' (meistens beschrieben durch einen 'Lohnsatz') debattiert. Lösen kann man das Problem des 'vollkommenen Wertmaßes' nur in ähnlicher Weise, wie der Traditionsmarxismus die Schlüssigkeit seiner Verkürzungen her­stellt: Diesem gelingt es im irrealen Fall identischer organischer Zusammensetzung aller Kapitale, und die Neoricardianer konstruieren ein nirgendwo gehandeltes Warenaggregat, die sog. 'Standardware', das genau dann existiert, wenn auch alle anderen Voraussetzungen (und damit Ergebnisse) der neoricardianischen Theorie­bildung vorhanden sind. Warum die neoricardianische Theorie-Pseudovollendung in einem ähnlichen Zirkel endet wie die marxistische, springt ins Auge, sobald das Wort 'vollkommen' im Zitat durch 'widerspruchsfrei' ersetzt ist, und 'unveränder­lich' durch 'in naturgesetzlicher Weise ewig gültig'.


Dass die so ins theoretische Boot geholten Widersprüche des Kapitalismus bis in die Fundamente der neoricardianischen Theoriebildung reichen, zeigt eine Betrach­tung dazu, wer unter gegebenen Umständen wie den Ausgleich oder wenigstens eine Ausgleichstendenz der individuellen Profitraten herbeiführen soll. Ricardos Ansicht dazu erläutert Heinz D. Kurz wie folgt: „Bei freier Konkurrenz, d.h. der Abwe­senheit nennenswerter Markteintritts- und Marktaustrittsschranken, können Arbeitskräfte und Kapital auf der Suche nach der besten Vergütung zwischen verschiedenen Wirtschafts­zweigen wandern. Der 'rastlose Wunsch aller Kapitaleigner, ein weniger profitables Gewerbe zugunsten eines vorteilhafteren zu verlassen, führt zu einer starken Tendenz zum Ausgleich der Profitrate aller.' (Bd. I, S. 88 [S.76])“ (ebd., S. 5) Dem könnten nicht nur Traditionsmarxisten zustimmen, sondern jeder, der einige Grundsätze positiver Wissenschaft beherrscht.[11] Dieses schon dem Alltagsverstand eingängige Bild ver­nebelte marxistischen Gegnern des Neoricardianismus dessen eigentliche Schwach­stelle genauso wirksam wie seinen Verfechtern. Die Schwachstelle ist nicht in den Zahlen angesiedelt, sondern in der inneren Logik. Modelle des Sraffa-Typs benöti­gen als Voraussetzung einen festen Mengenkreislauf (Sraffa beschreibt ihn noch so konkret wie '120 Scheffel Weizen'), um dazu das 'richtige' Preissystem zu konstru­ieren. Das profitratenausgleichende Preissystem kommt also nicht mehr wie in der Klassik durch die Aktivitäten der Kapitalisten zustande, wobei allerlei realistische Elemente ökonomischer Theoriebildung wie 'Jagd nach Extraprofit' oder 'Angebot und Nachfrage' eine Rolle spielen. Es entsteht stattdessen nur durch Rechnungen der Ökonomen. Damit die Rechnungen ausführbar sind, muss der Warenkreislauf strukturell fixiert werden, d.h. genau diejenigen Aktivitäten der Kapitalisten ausge­schlossen, die in der Klassik den Profitratenausgleich herstell(t)en. Auf diese Weise kann der Profitratenausgleich nicht nur vorübergehend und näherungsweise ('ten­denziell') zustande kommen, sondern dauerhaft und exakt.


Wäre den Kapitalisten aber wie in der Klassik erlaubt, auf der Jagd nach Maxi­malprofit permanent Kapitalverlagerungen vorzunehmen, würden sie fortlaufend den Mengenkreislauf und mit ihm die Voraussetzungen der neoricardianischen Rechnung verändern. Darüber hinaus würden sie fortlaufend auch noch die Aus­gangsvoraussetzungen ihrer eigenen Tätigkeit (und damit das Gleichgewichtsideal als solches) aushebeln, wie Marx in seiner Transformationsrechnung konkret vor­rechnete, auch wenn er auf diesen Aspekt kein besonderes Gewicht legte. Dies macht die klassische und die neoricardianische Vorstellung vom Profitratenaus­gleich zu Teilen einer Antinomie: Wird das von den Klassikern (darunter Ricardo) beschriebene Verhalten der Kapitalisten genehmigt, kann der fixe Warenkreislauf und damit eine notwendige Voraussetzung des neoricardianischen Preissystems nicht entstehen. Bzw. umgekehrt: Um es zu erzeugen und zu erhalten, müsste es zusammen mit dem zugehörigen Warenkreislauf von oben angeordnet, und dann allen Kapitalisten jedwedes Kapitalistentum verboten werden. Damit hebt sich die neoricardianische Theoriebildung selber auf. So verwandelt gerade die Arbeit der Ökonomen die in den realen Preisbildungsprozessen enthaltenen Widersprüche (oder das Chaos des realen Systems) in Widersprüche der zugehörigen Theorien (und diese in ein intellektuelles Chaos).


Wer an Marx' Transformationsrechnung kritisiert, dass sie die Herstellung die­ser Antinomie unterließ, feiert implizit deren Herstellung als Verdienst. Es lohnt daher, dem genauer nachzugehen. Heinz D. Kurz' Wiedergabe von Ricardos Vor­stellung des Profitratenausgleichs beinhaltet dieselbe positiv-wissenschaftliche Sichtweise, die Marx in seiner Transformationsrechnung verwendet: Die Kapitalis­ten gehen in den Markt, nehmen ihn als gegeben, und optimieren darin ihren Profit. Sie tun es, indem sie durch gezielte(!) Verlagerung von Kapital den Stoff­kreislauf verändern. Nicht mehr von ihnen beabsichtigt ist, dass dies für viele Waren die Relation von Angebot und Nachfrage verändert, wodurch eine Rück­wirkung auf die Preise und damit die Profitrate(n) entsteht, die der Ausgangs­punkt der Aktivität waren. In der Begrifflichkeit der Geldwertformel g=Q°p: Die Akteure nehmen die Preise p als gegeben und beeinflussen die Verhältnisse in ihrem Sinn, indem sie die Mengenkomponente(n) Q modifizieren. Dieser Schritt folgt einem simplem kausalen Prinzip und wird tagtäglich von der BWL prakti­ziert. Durch diese Veränderung des Mengensystems aber verändern die Akteure hinter dem eigenen Rücken einen Teil der Voraussetzungen der Preisbildung, was die bisherigen Ursachen 'Preise' zu ihrer eigenen Folge macht. Hier endet die Anwendbarkeit analytisch-kausaler (vgl. Kapitel III) Methodik, weil die Theorie die Form X→Y→X annähme, konkret Preise→Mengen→Preise. Die ökonomische Klassik konnte deshalb an dieser Stelle nur noch den qualitativen(!) Schluss ziehen, der Vorgang sollte eine Tendenz zum Ausgleich der Profitrate hervorbringen. Was sie nicht mehr (und schon gar nicht exakt) angeben konnte, sind die konkreten Preis- und Profitzahlen eines (des?) neuen Zustands.


In Marx' Transformationsrechnung stellt sich dasselbe Zirkelproblem. Sobald sich die Preise in die von ihm ausgerechnete Richtung verändern (also lange bevor seine Produktionspreise sich tatsächlich eingestellt hätten), würden schon wieder neue Entscheidungen der Modellkapitalisten ausgelöst, die den Gang der Entwick­lung modifizieren. So entstünde ein Endloszirkel Preise→Preise→Preise..., der nur in Sinnlosigkeit enden kann, weil niemand das Ende eines unendlichen Prozesses voraussagen kann. Wirft man Marx vor, seine Transformationsrechnung auf die einmalige Bestimmung von Produktionspreisen zu davon unabhängig vorausge­setzten Kostpreisen zu beschränken, so wirft man ihm indirekt vor, die Herstellung des sinnlosen Endloszirkels zu unterlassen. Der Abbruch der Behandlung am Ende des ersten Zyklus ist nicht nur immanent schlüssig, sondern ist die im positiv-wissenschaftlichen Sinn einzige schlüssige Vorgehensweise überhaupt. Marx' (noch den klassischen Grundsätzen folgende) Rechnung zum Profitratenausgleich bleibt innerhalb einer Kausalität Ausgangspreise→Produktionspreise, die zumindest eine  Aussage dazu erlaubt, in welche Richtung sich der Zustand verändern sollte: weg von der 'wirklichen' Kostenrechnung. Eine Kritik der Debatte hat sich weniger mit Marx zu befassen als mit denjenigen, die übersehen, dass Inhalte und Ergebnisse von Marx' Rechnung primär qualitativer Art sind, so wie der Schluss der Klassiker auf eine Ausgleichs-Tendenz – statt auf konkrete neue Preis- (oder Mengen-) Zahlen.


Die Neoricardianer dagegen ergänzen die reale Kausalität Preise→Mengen im Kopf um deren Umkehrung Mengen→Preise, und halten eine zahlenmäßig exakte Durchrechnung für schlüssig, weil beide Implikationen die Elemente 'Preise' und 'Mengen' enthalten und das zugehörige Denken sich um den Effekt 'Profitratenaus­gleich' dreht. Dies verunmöglicht jedes Verständnis des realen Prozesses, in dessen Teil Preise→Mengen andere Faktoren wirken als im Teil Mengen→Preise. In erste­rem dominieren einzelwirtschaftliche Profitmaximierungen, in zweiterem dagegen gesamtwirtschaftliche Verhältnisse von Angeboten und Nachfrage. Um trotz des Zirkels noch die kausale Denkform anwenden zu können, blenden die neoricardia­nischen Rechnungen den realen Teilprozess Preise→Mengen vollständig aus. Dies verlagert den Profitratenausgleich aus dem realen Markt ins Ökonomenhirn und in die dort entstehenden Formelwuste, macht ihn so zum irrealen Idealbild oder zur Fiktion, und bewirkt eine ähnliche Abkopplung von Realität, wie sie andere mit der Vorsilbe 'Neo' geschmückte Ökonomievarianten praktizieren.


Es bleibt die Frage, warum der Neoricardianismus trotz seiner inneren Wider­sprüche so viel Einfluss gewinnen konnte, und dies bis in den Marxismus hinein. Da seine Konkurrenten andere ökonomische Theoriebildungen waren, lag die Latte für 'Erfolg' zwar nicht allzu hoch, dennoch aber sollte es Aspekte geben, die er bes­ser erfasst als konkurrierende Theorien. Um ihnen näher zu kommen, fragen wir uns, wie ein Profitratenausgleich nur über die Preisbildung zustande kommen könnte. Wie können (gedachte!) Preisveränderungen bewirken, dass die anfangs höhere Profitrate des Produzenten Nr.1 (der Ware Nr.1 herstellt) und die anfangs niedrigere Profitrate des Produzenten Nr.2 (der Ware Nr.2 herstellt) sich anglei­chen? Nutzt Produzent Nr.1 die Ware Nr.2 als Vorprodukt, quantitativ beschrieben durch einen 'Verflechtungskoeffizienten' a12, kann dies geschehen, indem der Preis von Ware Nr.2 passend steigt. Es steigen dann die Einnahmen von Produzent Nr.2 und damit seine Profitrate; korrespondierend steigen die Kosten des Produzenten Nr.1, was dessen Profitrate senkt. Es ist noch nicht einmal nötig, dass Nr.2 direkt den Kollegen Nr.1 beliefert, sondern es genügt schon eine indirekte Verflechtung folgenden Typs: Produzent Nr.1 nutze Ware Nr.3, und deren Produzent nutze die Ware Nr.2. Steigt in dieser Konstellation der Preis Nr.2, muss zur Aufrechterhal­tung der Profitrate von Produzent Nr.3 der Preis der Ware Nr.3 folgen, wodurch die Wirkung sich zu Nr.1 fortpflanzt, quantitativ erfassbar über das Produkt a13°a32 der (nun zwei) Verflechtungskoeffizienten. Jede Preisveränderung wirkt zwar auf alle Kapitale, welche die betreffende Ware verwenden, aber mit einem um 1910 entstandenen mathematischen Formalismus lässt sich beweisen, dass die Einheits­profitrate bzw. ein diese erzeugendes Preissystem immer dann existiert, wenn alle Produzenten wechselseitig verflochten sind, zumindest indirekt wie oben Nr.1 mit Nr.2 über Nr.3, egal wie lang die Lieferketten werden. Ein 'ökonomisch sinnvolles' Preissystem, das eine einheitliche Profitrate erzeugt, ist dann nicht nur existent, sondern darüber hinaus auch eindeutig, und der Kapitalismus damit im Sinne des Neoricardianismus perfekt, zumindest rechnerisch.[12]


Die Erzielung eines rechnerischen Ergebnisses durch Kastration der Methodik ist nicht weiter von Interesse, wohl aber die notwendige Voraussetzung der Ver­flechtung. Denn deren Zunahme verursacht über das Wachsen des konstanten Kapitals in den 'kapitalistischen' Kostenrechnungen auch das Sinken der Gesamt­profitrate. Eine Suche, wie trotzdem noch alle Kapitale zuverlässig eine (zumindest kleine) Rendite erzielen können, knüpft damit direkt an ein ständig dringender werdendes Problem des realen Systems an, nämlich überall die Profitabilität zu erhalten. Der Neoricardianismus ist aber nicht nur ein Reflex auf das sich ent­wickelnde Profitabilitätsproblem, sondern er beinhaltet auch den inhaltlichen Fortschritt, dass er die Bedeutung des heute (im Gegensatz zu Ricardos Lebzeiten) erreichten hohen Verflechtungsgrads betont, wenn auch nicht dessen wichtigste Folge, den Profitratenverfall. Er könnte diese erzielte Teilerkenntnis in aggressiver Weise insbes. denjenigen Marxisten um die Ohren schlagen, die immer noch von 'typischen (Einzel-)Kapitalen' ausgehen – würde dies nicht direkt in das tabuisierte Thema des Profitratenfalls führen. Unter einem anderen Aspekt problematisch ist schon die Vorschrift der Einheitsprofitrate als solche, da sie auf planwirtschaftliche Beschränkungen des Kapitalismus hinausläuft, wonach nur Pseudokapitalisten (und Pseudo-Ökonomen?) noch agieren dürften. Wäre der Profitratenfall nicht auch im Marxismus schon zu einem (wenn auch weniger streng respektierten) Tabu geworden, könnte dieser für seine Replik hieraus noch schärfere Waffen schmieden. Er könnte darauf verweisen, die unterstellte vollständige Verflechtung aller Produktionen vollende theoretisch den von Marx als 'Vergesellschaftung' bezeichneten Prozess, und die Anordnung einer (egal welcher) universellen Profit­rate beinhalte Eingriffe in das Recht der 'privaten Aneignung' (Marx), wie es seit langem die Sozialisten forderten. In Marxschen Kategorien formuliert statt als 'Un­zerlegbarkeit der Verflechtungsmatrix' und 'Eindeutigkeit des Preissystems' sind beide Inhalte für bürgerliche Ökonomen rote Tücher, auf die unverzüglich mit allen verfügbaren Hörnern loszugehen ist, in diesem Fall also auch auf die Hörner­träger selber. Um überhaupt noch etwas brauchbares zustandezubringen, müssen bürgerliche Ökonomieformen anscheinend ihre Denkmuster selbst aufheben. Dies spricht dafür, dass es an der Zeit ist, dasselbe mit dem realen System auszuführen.


Die Option zur Demontage des Systems ist implizit sogar im Theoriegebäude enthalten, wie abschließend ein minimalistisches neoricardianisches Modellsystem zeigen soll. Die Musterökonomie besteht aus zwei Firmen, die unter wechselsei­tiger Nutzung ihrer Produkte je eine Ware herstellen. Anknüpfend an Samuelson und das Kapitel IV werden die Waren als Kohle und Getreide veranschaulicht, obwohl es darauf nicht ankommt (und noch nicht einmal darauf, dass eine der beiden als variables Kapital fungieren könnte). Folgende zwei Zeilen beschreiben den Gesamtprozess:

 

Produzent 1:   (500kg Getreide und   500kg Kohle)     → 1100kg Getreide

Produzent 2:   (800kg Getreide und 1200kg Kohle)     → 2200kg Kohle

 

Das(!) neoricardianische Preissystem ist leicht zu finden: Beide Produzenten erzie­len die auskömmliche Rendite von 10%, wenn sowohl der Kohlepreis als auch der Getreidepreis sich auf 1Taler/kg stellt (oder auf irgendein Vielfaches[13] davon, aber für beide Substanzen auf exakt dasselbe Vielfache). Damit erscheint zunächst ein Problem, auf das schon vorhergehende Kapitel hinwiesen: Es fehlt ein Käufer für das Mehrprodukt. Quantitativ gibt es in dieser Ökonomie ein Warenangebot im Umfang von 3300T (1100kg Getreide und 2200kg Kohle), aber nur eine Nachfrage im Umfang von 3000T (nach 1300kg Getreide und 1700kg Kohle). Weil dieses Prob­lem in jeder rein 'wert'basierten Theorie auftritt, übergehen wir es, um ein für den Neoricardianismus typisches Paradox in den Mittelpunkt rücken zu können. Die Rechnung wird nicht im geringsten dadurch beeinträchtigt, dass vom Produkt Nr.1 (Getreide) 1300kg benötigt, aber nur 1100kg erzeugt werden. Dieses System könnte  nie aus eigener Kraft durch 'Wachstum' entstehen, obwohl in der neoricardiani­schen 'Wert'rechnung alle Firmen profitabel arbeiten. Es könnte sich nicht einmal aus eigener Kraft erhalten. Denn selbst wenn 1300kg Getreide zum Start des ersten Zyklus vom Himmel geworfen würden, stünden für den zweiten Zyklus nur noch 1100kg zur Verfügung. Damit der Kreislauf fortgesetzt werden kann, müsste das System in jedem Zyklus um den Faktor 11/13 schrumpfen, d.h. der dritte Zyklus könnte nur noch etwa 930kg Getreide erzeugen usw. usw. Man erahnt jetzt das Ausmaß auch inhaltlichen Unsinns in einem Pasinetti-Zitat, das in Kapitel III (S. 25) noch ausschließlich unter logischen Aspekten betrachtet wurde: „Der Leser wird vielleicht schon ahnen, daß die Güter und Leistungsströme sich nur von Jahr zu Jahr in derselben Weise wiederholen können, wenn die verschiedenen Waren untereinander gemäß bestimm­ten Tauschverhältnissen oder 'Preisen' getauscht werden."


Obige Güter- und Leistungsströme könnten sich in der Realität ganz sicher nie wiederholen, egal wie perfekt sich welches Preissystem einstellt. Sie können es nur in Büchern von Autoren, die primär 'Ahnungen' verbreiten, weil sie sich nicht die Voraussetzungen des eigenen Denks klarmachen. Falsch ist schon die Annahme, es reiche, Tauschprozesse zu betrachten. Zumindest das Mehrprodukt muss erst un­bezahlt angeeignet werden, bevor es das erste Mal 'getauscht' werden kann. Im obigen System kommt verschärfend hinzu, dass explizite Kaufwünsche für 200kg Getreide unerfüllt bleiben müssen, was neben Waren nun auch Geldbeträge daran hindert, die Seligkeit des Getauschtwerdens zu erfahren. Nur die Gewinnrechnung geht erstaunlicherweise(?) so perfekt auf, wie sie aufgehen soll.

Zweifellos gibt es reale Situationen, in denen die Zirkulation irgendeiner Ware abnimmt und dies einen materiellen Zweck erfüllt. Ein komplexeres Modell könnte an die Stelle des Getreides Vorräte oder Anlagen einer auslaufenden Technik setzen, die schrittweise abgebaut werden. Aber dieser Prozess könnte nie 'stationär' sein. Auf das Sinken der Verfügbarkeit eines Produkts müssten andere Produk­tionen in der Weise reagieren, dass sie sich von ihm unabhängig machen, was auf eine ständige Revolutionierung der Rechenvoraussetzung 'Verflechtungsmatrix' hinausläuft. Man könnte zu diesem Zweck mehrere Zyklen von Marx' Transfor­mationsrechnung ausführen, wobei jeder weitere Zyklus die im vorherigen Zyklus hergestellten Produktionspreise und Mengenrelationen als Ausgangspunkt nimmt. Die Ökonomen könnten dann untersuchen, ob (bzw. unter welchen Umständen) ein solcher Prozess einem als Gleichgewicht darstellbaren Grenzwert zustrebt. In solche Richtungen wurde von Seiten der Neoricardianer jedoch anscheinend nie gedacht.


Der dem Paradox letztlich zugrundeliegende Sachverhalt der Einheitenabhän­gigkeit aller Quantifizierungen gewann stattdessen theoriegeschichtlich eine andere Bedeutung. Statt wie hier die Gesamtwirtschaft ein Getreidedefizit bei all­gemeinem Geldüberschuss produzieren zu lassen, konstruierte man Systeme, in denen der positive Geldüberschuss mit negativen Arbeitswerten einhergeht, und verkaufte dies als Marxwiderlegung. Da im stationären System die Mengenangabe in Arbeitswert nur eine unter vielen möglichen Formen der physischen Mengenan­gabe ist (vgl. Kapitel III), ist ein negativer Arbeitswert gleichbedeutend mit dauer­hafter(!) Erzeugung einer negativen Endproduktmenge, oben physisch dargestellt als -200kg Getreide. Würde im obigen System die Arbeit verdoppelt, erhielte man die doppelte Menge an frei verfügbarer Kohle, nämlich 1000kg statt 500kg, und dazu das doppelte Defizit an Getreide, nämlich 400kg statt 200kg. Funktionieren kann dieses System nur, wenn man auf alle Operationen darin anstelle eines endli­chen Faktors wie 2 (oder ½ oder k oder 1) den Faktor null anwendet, und damit in einem Zug alle seine Bestandteile rückstandslos beseitigt: das Getreidedefizit so wie alle positiven 'Mengen', die Gesamtarbeit so wie alles 'Kapital', und damit auch allen Profit. Bis auf diese Ebene vorzudringen und das Paradox als etwas 'wirklich' Unmögliches aufzulösen, gelang den Neoricardianern in der Wertdebatte so wenig wie ihren marxistischen Kontrahenten. Das vorgeführte Beispiel einer profitablen Produktion negativer Getreidemengen zielt daher nicht darauf ab, die neoricardia­nische oder marxistische Ausprägung der ökonomischen Wissenschaft ein Stück  voranzubringen. Es soll vielmehr aufzeigen, dass solche Formen des Unsinns nicht schulenspezifisch sind, sondern ökonomietypisch.



4. Walras' Konsumententheorie (oder 'reine' Neoklassik)

 

Eine Einordnung der Neoklassik in die Theoriegeschichte stößt auf das Problem, dass sie lange Zeit das ökonomische Denken (und noch mehr alle in der Ökonomie zu vergebenden Posten) so vollständig besetzte, dass man sie oft mit Ökonomie als solcher gleichsetzt (vgl. dazu Freeman 2006). Ihre Anfänge registrierte Marx als 'Vulgärökonomie', ihr Ende in den aktuellen Krisen deutet sich durch ein inhaltliches Zerfleddern an ihren Rändern an, und eine Abgrenzung ihrer Inhalte wird dadurch weiter erschwert, dass sie nur noch als 'Wust' zu beschreibende mathematische Formalismen nutzt. Dass weder diese Formalismen selber noch die ihnen unterliegenden Annahmen viel mit Realität zu tun haben, und wie ihre konsequente Anwendung ins Absurde führt, ist andernorts dargestellt (Ortlieb 2004a & 2004b; Hüller 2006). Im folgen­den geht es primär um dem Theoriegebäude innewohnende offene und verdeckte Basisannahmen, anhand derer sich die theoriegeschichtliche Stellung der Neoklas­sik zwischen Klassik und Neoricardianismus bestimmt. Nach einigen inhaltlichen Betrachtungen dazu wird auf die Kernelemente der neoklassischen ('marginalisti­schen') Formalismen eingegangen, um diese Elemente auf Notwendigkeiten der Apologie zurückzuführen, und ihnen so den Ruch von Erkenntnis zu nehmen.


Gegenüber der Klassik tritt in der Neoklassik in auffälliger Weise die Bedeutung der Produktion zurück, und korrespondierend dazu steigt die Bedeutung des Marktes. Zum wichtigen (wenn nicht dominierenden) Element wird die Haushalts- oder Konsumententheorie, die in der Klassik nur am Rand von Bedeutung ist. Dies lässt Kausalitäten des Typs Preise→Mengen in den Vordergrund treten, insbes. in der Haushaltstheorie, wo mit einem Budget ausgestattete Konsumenten sich endlos darüber Gedanken machen, was sie zu schon feststehenden Preisen kaufen sollen. In der neoklassischen Produktionstheorie verfügt ein Kapital dank unbegrenzten Zugangs zu Kredit über (tendenziell) unbegrenzte Geldmittel, und kann sein Han­deln darauf beschränken, den profitabelsten Produktionsumfang zu finden. Da die Technik (dargestellt durch Relationen der Inputs und Outputs) ebenso feststeht wie die Preise der Produkte und Produktionsmittel, wird neoklassisches Produzieren letztlich ebenso auf Marktprozesse reduziert wie neoklassisches Konsumieren.


Diese Gleichbehandlung in Begrifflichkeiten des Marktes von Reproduktion der Arbeitskraft (in der verbogenen Form des 'Konsums') und Warenproduktion läuft auf eine Behandlung der Arbeit(skraft) als gewöhnliche Ware oder des variablen Kapitals als konstantes hinaus. Zu großer Verblüffung der Neoklassiker ließ dies in konsequenten Ausarbeitungen ihrer Theorie den Profit verschwinden (noch nicht aber im Lehrbuch die Kapitel über 'Wachstum'). Dass ein solches Resultat achsel­zuckend akzeptiert wird, ordnet die Neoklassik logisch einer Entwicklungsphase des Kapitalismus zu, in der das Interesse des Bürgertums am Verständnis der Grundlagen seines Systems erlahmt, nachdem es vollständig durchgesetzt ist. Die Ökonomie konzentrierte sich auf seinen laufenden Betrieb und die Individuen auf Aneignung von Mehrwert. Dieser Orientierung entspricht es, als Basisvoraus­setzung Geldbeträge zu verwenden statt der (physisch gedachten) klassischen Warenmengen.


Ähnliche Wechsel des Blickwinkels zeigen sich an anderen Stellen. Betroffen ist nicht nur die Entstehung der 'Mengen' (aus Arbeit), sondern auch ihr Umfang. Egal mit welchen Budgets Neoklassiker ihre Akteure ausstatten: Letztere können sie stets ganz in Konsum- oder Kapitalgüter umsetzen, und zwar nicht in irgendwelche, sondern in genau diejenigen, die sie gerade nötig haben (Produzenten) bzw. sich aufgrund ihrer Präferenzen wünschen (Konsumenten). Das in der Klassik noch präsente Thema absoluten Mangels (Malthus) ist aus dem Denken verschwunden. Die Neoklassik entpuppt sich so als einer Entwicklungsetappe des Kapitalismus zugehörig, in der die Anfangsprobleme des Kapitalismus schon gelöst sind, und die Probleme seiner Spätphase noch nicht virulent. Die Warenwirtschaft wird nun nicht mehr als solche infragegestellt, und darin kann jedes Subjekt ungehindert von außerkapitalistischen Zwängen der Jagd auf (Mehr-)Wert nachgehen. Ganz unbe­schränkt kann es dies zwar nicht tun, aber die Neoklassik setzt Schranken anderen Typs als die Klassik. 'Wirkliche' Schranken (Malthusscher Mangel, Klassenkampf u.ä.) werden ersetzt durch 'kapitalistische' Schranken. Zwar lassen sich in einem neoklassischen Modell der Höhe nach beliebige Budgets plazieren, aber sie müssen als Voraussetzungen fix gesetzt werden, und sind danach nicht mehr veränderbar. Sobald jeder Konsument mit einem festen Budget ausgestattet ist, sind dadurch die Absatzmöglichkeiten beschränkt. Die Abwägung im Hirn der Konsumenten 'Was soll ich kaufen?' wird zum Hauptkampffeld zwischen den Produzentensubjekten. So verarbeitete bürgerliche Ökonomie das im Marxismus von Luxemburg themati­sierte 'Realisierungsproblem'. Heute gilt das Bestehen großer und einflussreicher (auch auf die Produktentwicklung) Marketingabteilungen sowie einer eigenstän­digen 'Werbewirtschaft' als eine Selbstverständlichkeit, und deren Bedeutung für das Zustandekommen des Profits wird so wenig hinterfragt wie in der Klassik die Rolle der Arbeit dabei.


Eine analoge Schranke erscheint in der neoklassischen Produktionstheorie (sie wird am Ende dieses Abschnitts noch ausführlicher umrissen). Der klassische Produzent will seine Konkurrenten aus dem Feld schlagen, indem er 'besser' oder billiger als diese produziert. Deswegen stellt die Klassik Profitrate und organische Zusammensetzung in den Mittelpunkt, also Eigenschaften des verwertenden Kapi­tals, nicht dessen Umfang. Um Absatz und maximalen Produktionsumfang machte sich die Klassik wenig Gedanken. Die Neoklassik dagegen thematisiert von Beginn an die quantitative Ausweitung des Verwertungsprozesses. Eine Technik (gewöhn­lich in Form einer 'Produktionsfunktion') wird fest vorausgesetzt, und untersucht wird, welcher Umfang der Produktion den Maximalprofit erbringt. Schon die Idee, es existiere ein quasi naturgesetzlich vorgegebener Maximalprofit, wäre Klassikern höchst seltsam vorgekommen. Als ihr Hauptergebnis errechnet die Neoklassik den Produktionsumfang zum Maximalprofit und damit letzteren selbst, beides absolut ausgedrückt als Warenmenge bzw. Geldsumme, während die Profitrate nebensäch­lich wird. Zur Nebensache wird auch die Konkurrenz. Sie erscheint erst, wenn Phä­nomene wie 'Monopol' oder 'Oligopol' auftreten, die sich nicht an ihre Produk­tionsfunktion oder sonstige Vorschriften (insbes. Preisvorschriften) halten wollen, die in neoklassisch-idealen Systemen gelten.


Zusammengefasst: Es werden in der Neoklassik nicht mehr die ('wirklichen') physischen Mengen als problematisch gesehen, sondern es rückt die ('kapitalisti­sche') Absatzproblematik als potentieller Hemmschuh in den Mittelpunkt. In Marx' Terminologie wäre diese Form von Theorie als unbewusste Reflexion des Faktums zu verstehen, dass die Produktivkräfte spürbar aus den Produktionsverhältnissen herauszuwachsen beginnen, und dass die praktischen Folgen davon nicht länger ignoriert werden können. Faktisch wird an dieser Stelle eine absolute Grenze der Verwertung akzeptiert, allerdings – subjektgerecht – nur auf einzelwirtschaftlicher Ebene, während der später entstandene Neoricardianismus sich bereits gezwungen sieht, per Einheitsprofitrate auf gesamtwirtschaftlicher Ebene zu regulieren. Diese Deutung beinhaltet eine Einordnung der Neoklassik zwischen die Klassik und den Neoricardianismus. Weiterführen lässt sich dies an der Behandlung des Profits, sofern man sich nicht dadurch irreleiten lässt, dass in Klassik und Neoricardia­nismus gleichermaßen die Profitrate zentral ist. In der Klassik interessierte die Pro­fitrate primär unter dem Aspekt, wie sich der Mehrwert unter die Einzelkapitale verteilen könne. Dass es dabei turbulent und allenfalls annähernd (tendenziell) 'gerecht' zugehe, stand für Ricardo noch ebenso außer Zweifel wie die Existenz von ausreichend Mehrwert im Gesamtsystem. Das zwanghafte Zuweisen einer exakt gleichen Profitrate an alle Kapitale und das damit verbundene Anordnen eines ein­zigen zulässigen Preissystems im Neoricardianismus dagegen ist damit zu erklä­ren, dass das Aufrechterhalten allgemeiner Profitabilität zum Problem geworden, und dies zumindest unbewusst verarbeitet worden war. Auch der neoklassische Produzent hat nicht mehr die Freiheiten des klassischen; er ist eingeengt durch eine Produktionsfunktion, die u.a. das mögliche Produktionsvolumen begrenzt. Aber er kann – im Gegensatz zum neoricardianischen Kollegen – innerhalb dieses Rahmens immer noch aus eigener Kraft seine Profitabilität aufrecht erhalten, und er ist noch nicht darauf angewiesen, dass ein bestimmtes Preissystem den Gesamtmehrwert des Systems gleichmäßig (oder gerecht?) unter alle verteilt.


Zwischen Klassik und Neoricardianismus steht auch die neoklassische Sicht auf gesamtwirtschaftliche Aspekte. Der Profitratenausgleich ist als Ideal verschwunden, aber er ist noch nicht durch den neuen Zwang zum exakten Ausgleich ersetzt. Ein Element, das die Erwirtschaftung von genügend Mehrwert global infragestellt, ist noch nicht auszumachen, wohl aber Elemente, die die Freiheiten des bürgerlichen Subjekts einschränken. Konnte der klassische Produzent noch frei in allen Märkten (alias Branchen) umherschweifen, so versklavt den neoklassischen (s)eine Produk­tionsfunktion. Während klassische Modelle den Absatz der Produkte ohne weiteres unterstellen, befassen sich in der Neoklassik alle Akteure unablässig damit, wel­ches Y sie statt welchem Z kaufen, implizit also auch damit, was sie zurückweisen sollten. Explizit ausgesprochen wird letzteres allerdings nicht, weil dies in Wider­spruch zur Produktionstheorie stünde, die unbegrenzt aufnahmefähige Märkte benötigt. Das Phänomen 'Krise' wird so auf einzelwirtschaftlicher Ebene implizit akzeptiert und (halb) eingearbeitet, aber noch nicht auf der gesamtwirtschaftlichen.


Ähnlich zwischen klassischen und neoricardianischen Denkmustern steht die neue Vorstellung von der zentralen Rolle eines 'Nutzens', der als 'Wert'erklärung die Arbeit ablöst. Zwar rückt die Vorstellung Nutzen→'Wert' von einem zentralen Inhalt der Klassik ab, nämlich der fundamentalen Rolle der Arbeit, aber sie hat mit der Vorstellung Arbeit→'Wert' noch gemein, 'Wert' durch irgendetwas allen Waren gemeinsames zu begründen, das selber kein Tauschwert ist. Der modernere Neoricardianismus leitet dagegen Preise bzw. 'Werte' aus einer Forderung an die Profitraten ab, d.h. aus Rechengrößen, die gänzlich der Geldrechnung angehören (auch wenn der konfuse Mengenbegriff dies verschleiert). Die zugehörige Logik wäre als 'Wert'→'Wert' zu formulieren. Dieser Zirkel treibt nicht nur die Auflösung der Welt in den 'Wert' ein Stück weiter, sondern gibt auch den letzten Anspruch von positiver Wissenschaftlichkeit auf. Während Neoklassiker lange Zeit versuch­ten, ihre Grundvoraussetzung 'Nutzen' (halb)empirisch oder wenigstens logisch so zu fassen, dass ihr Inhalt unabhängig vom 'Wert' wird, sind analoge Bemühungen im Neoricardianismus von Beginn an so überflüssig, wie sie unmöglich sind. Konsequenterweise vollzieht man dort als weiteren Bestandteil der Auflösung der Welt in den 'Wert' auch die vollständige Eliminierung der Gebrauchswertseite der Warenwelt in Bestimmungen wie 'Ware Nr.1', während in neoklassischen Produk­tionsfunktionen die Gebrauchseigenschaften als Relationen von Input und Output überleben, und in den 'Nutzen'-Begriff zumindest hineingedeutet werden können.


Es gibt jedoch auch ein Feld, auf dem die Neoklassik dem Neoricardianismus deutlich näher steht als der Klassik: es ist die Ersetzung von Inhalt durch Mathe­matismus. Alles an diesem Prozess wesentliche lässt sich bereits an der Keimzelle der Neoklassik demonstrieren, ihrer Haushaltstheorie. In deren einfachster Version wird ein Subjekt mit einem Budget (Geldbetrag) ausgestattet und muss entschei­den, wie es dieses auf die (mindestens zwei) verfügbaren Warensorten verteilen soll. Um diese Frage innerhalb ökonomischer Denkformen behandeln zu können, müssen zuerst die 'wirklichen' Zwecke entfernt werden, also Überlegungen und zugehörige Bestimmungen folgenden (absoluten) Typs: 'Ich benötige pro Tag 2000 kcal und kaufe daher heute Brot mit 2000 kcal. Energieinhalt'. Danach verbleiben zunächst nur die 'kapitalistischen' Bestimmungen in 'Werten'. Diese allein sind je­doch nutzlos, da ein vorhandener 'Wert'bestand durch Äquivalententausch niemals seinen Umfang verändert, sondern nur die Form, indem er z.B. aus der Form 'Geld­betrag' in die Form 'Menge z von WareZ' oder 'Menge y von WareY' wechselt. Rein an 'Werten' orientierte und nur in 'Werten' denkende Subjekte können deshalb auf Märkten unendlich viel kaufen und verkaufen, ohne dabei jemals eine Verände­rung wahrzunehmen. Um Kriterien für Kaufentscheidungen zu entwickeln, wird eine weitere Qualität benötigt, die sich den Waren zuschreiben lässt, und den End­zweck oder Gebrauchswert ersetzt. In der Haushaltstheorie heißt diese Qualität 'Nutzen' und wird beschrieben durch eine Nutzenfunktion u(x), deren Variable x für die eingekaufte physische Menge an WareX steht. Diese Nutzenfunktion soll nun unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die Theoriebildung betrachtet werden, d.h. insbes. unter dem Aspekt, welche Eigenschaften man ihr geben müsste, damit mit ihr Idealisierung des Kapitalismus betrieben werden kann. Dies wird nicht ohne einige Rechnungen abgehen; wer sie überschlagen will, kann den inhaltlichen Faden unter der Gleichung (8b) wieder aufnehmen.


Als Minimum ist erforderlich, dass die Individuen am Kapitalismus mitwirken. Es darf also nie ein Nutzen unabhängig von der Geldwirtschaft zustande kommen. Die Nutzenfunktion wird deshalb an der Stelle 0 auf null gesetzt, so dass selbst der kleinste Nutzen nicht ohne Warenkauf entstehen kann. Damit lautet die erste An­forderung an Nutzenfunktionen (für leichteres Wiederauffinden in Fettschrift): u(0)=0. Dies zwingt jedes Subjekt, mit dem Geldausgeben zumindest zu beginnen. Damit es nicht bereits vor der Ausschöpfung seines Budgets damit aufhört (weil es etwa 'satt' ist), muss jeder Warenkauf eine Nutzenmehrung bewirken, d.h. Nutzen­funktionen müssen mit wachsender Menge kontinuierlich steigen. Mathematisch: Ihre Steigung oder erste Ableitung muss überall positiv sein: u'(x)>0. Nun muss noch gesichert werden, dass jedes Subjekt jedes beliebige Budget nicht nur voll­ständig loswerden will, sondern dies auch kann. Dazu muss die Funktion zunächst für alle denkbaren physischen Mengen definiert sein, einschließlich des Grenzfalls unendlich (∞). Das Subjekt soll aber nicht nur all sein Geld ausgeben, sondern es soll auch nie dem Zwang entkommen können, jedes Geldstück mehrmals umzu­drehen, um zwischen allen verfügbaren Produkten abzuwägen. Dazu darf der Nutzen keiner Ware nach oben hin beschränkt sein. Denn gäbe es eine Menge, bei welcher der zugehörige Nutzen maximal wird, würden die Subjekte ab Erreichen dieser Menge keine weiteren Käufe der betreffenden Warensorte mehr erwägen müssen. Diese Freiheit kann ihnen die Warengesellschaft nicht einräumen. Der Ökonom schneidet sie ab, indem er den Nutzen mit der Menge unbegrenzt anstei­gen lässt. Im Grenzfall unendlicher Mengen wird er deshalb unendlich: u()=∞.


Die drei Forderungen sind nicht schwer zu erfüllen; jede simple lineare Funk­tion u(x)=a°x mit einer positiven Zahl a erfüllt sie. Hinge der Nutzen aber tatsäch­lich in solcher Weise linear mit der physischen Menge zusammen (2kg ergeben den doppelten Nutzen von 1kg), wäre er nur eine weitere Quantifizierung und theore­tisch so unbrauchbar wie der 'Wert' selbst. Denn das einzige, was sich mit Quanti­täten anfangen lässt, ist sie zu vermehren (bzw. zu vermindern), was als mögliches Ziel nur Maximierung (bzw. Minimierung) belässt. Das einen linearen Nutzen ma­ximierende Subjekt bräuchte nur nachzusehen, welche Warenform ihm pro € den größten Nutzen bietet, um dann sein gesamtes Budget auf diese Ware zu verwen­den.[14] Eine solche Theorie wäre nicht nur empirisch leicht widerlegbar, sondern widerspräche auch dem unstillbaren Bedürfnis des produzierenden Bürgers, sich laufend in Gestalt seines Produkts gegen andere Bürger aufzurechnen. Daraus ergibt sich eine weitere Anforderung an den 'Nutzen': Er muss nichtlinear mit den physischen Mengen zusammenhängen und damit auch nichtlinear mit dem 'Wert'. Aus dieser Nichtlinearität entsteht der mittlerweile auch von manchen Ökonomen kritisierte mathematische Wust. Mit dessen Handhabung kommen Ökonomen zwar nicht besser zurecht als ihre Kritiker, aber dank der in ihrer Ausbildung enthaltenen Dressur können sie dies zumindest besser verdrängen.[15]


Die Nichtlinearität des Nutzens ist also primär notwendig, um den Inhalt der weiteren Wissenschaft in Richtung des Verteilungskampfs lenken zu können, hier in der speziellen Form, welcher Produzent sein Produkt auf Kosten welcher ande­ren Produkte loswird. Damit stets jedes Produzentensubjekt einbezogen bleibt, darf insbes. kein Zustand stabil sein, in dem irgendein Konsument von irgendeiner Ware gar nichts anschafft. Gibt es nur zwei Waren Y und Z, hätte es in diesem Fall sein gesamtes Budget auf einen Bestand z der WarensorteZ verwendet, aber nichts von der WarensorteY gekauft. Damit ein solcher Zustand keinen Bestand hat, muss der Nutzen steigen, wenn das Konsumentensubjekt eine erste kleine Menge ∆y der WarensorteY erwirbt. Das dafür nötige Geld kann es nur beschaffen, indem es Bestände anderer Waren verkauft, im Spezialfall nur zweier Waren also eine Teil­menge ∆z seines Bestandes z an WarensorteZ. Jede Veränderung -∆z vermindert seinen Gesamtnutzen, jede Veränderung ∆y vergrößert ihn, und ökonomisch nötig ist, dass der Gesamtnutzen steigt, falls der Ausgangspunkt dieser Bewegung eine Stelle 'y=0 und z>0' ist. Rechnerisch: Wenn die Funktionen uy(y) und uz(z)[16] den Nutzenbeitrag der zwei Warensorten beschreiben, muss die Summe beider Verän­derungen (uy(y) wächst und uz(z) fällt) größer als Null sein, oder die (positive) Veränderung ∆uy von uy(y) muss betraglich die (negative) Veränderung -∆uz von uz(z) übersteigen. Ab hier werden Rechnungen nötig. Sie lassen sich vereinfachen, indem auch im weiteren unter Ausdrücken wie ∆uz oder ∆z stets der Betrag einer Veränderung verstanden wird (dies entfernt aus der Rechnung viele Minuszeichen, da die Ableitungen aller Nutzenfunktionen überall positiv sein müssen). Dividiert man die Veränderung ∆ux(x) einer Funktion ux(x) durch die zugehörige (als belie­big klein zu denkende) Veränderung ∆x der Variablen x, dann ist dieses Verhältnis die Steigung oder erste Ableitung der Funktion ux(x) an der betreffenden Stelle: ∆ux(x)/∆x=ux'(x). Daraus ergibt sich für ∆uz und ∆uy an den Stellen z bzw. 0:

 

∆uz(z) = ∆z°uz'(z)                                (1a)

∆uy(0) = ∆y°uy'(0)                               (1b)

 

Die erwünschte Nutzenvergrößerung tritt ein, falls ∆uz(z)<∆uy(0) gilt (man beachte: unter den mit dem '∆'-Symbol bezeichneten Veränderungen werden Beträge ver­standen!). Dies lässt sich nach (1a) und (1b) auch schreiben als:

 

∆z°uz'(z) < ∆y°uy'(0)                             (2)

 

∆z und ∆y sind nicht unabhängig voneinander, da ∆y nur aus der Geldsumme g bezahlt werden kann, die der Verkauf von ∆z einbringt. Sind py und pz die Preise der zwei Warensorten, muss also gelten:

 

∆z°pz= g =∆y°py                                  (3a)

∆z           =∆y°py/pz                                                (3b)

 

Ersetzt man in (2) ∆z gemäß (3b) durch ∆y°py/pz, wird die Wunschvorstellung zu:

 

∆y°(py/pz)°uz'(z) < ∆y°uy'(0)                (4)

 

Durch Herauskürzen von ∆y wird dies zu:

 

(py/pz)°uz'(z) < uy'(0)                           (5)

 

Die Relation (5) soll für alle Konstellationen erfüllt sein, die ein Ökonom sich ausdenken kann. Dies ist ein weites Feld, aber kein unbegrenztes. Denn wir hatten schon hergeleitet, dass zum Erreichen des gewünschten Apologiezwecks zwar der Zahlenwert von z beliebig sein kann, dass der zugehörige Zahlenwert von uz'(z) aber immer endlich und positiv sein muss. Weil in der Ökonomie auch Preise stets endlich und positiv sind, gilt dasselbe für den Zahlenwert von py/pz und für das Produkt (py/pz)°uz'(z). Damit sich (5) in allen 'ökonomisch sinnvollen' Rechnungen erfüllen lässt, muss also uy' (stellvertretend für die ersten Ableitungen aller anderen Nutzenfunktionen) über alle Grenzen wachsen, wenn sich der Warenbestand der Null nähert: u'(0)=∞. Die Unendlichkeit ist zu verstehen als Grenzfall für y→0, denn tatsächlich realisiert werden soll der Fall y=0 ja nie.


Damit ist sichergestellt, was die erste Aktion eines Subjekts sein wird, das mit einem Bestand z an WareZ und einem Bestand 0 an WareY startet: Es wird einen Teilbestand ∆z verkaufen und eine Anfangsmenge ∆y erwerben, weil dies seinen Nutzen steigert. Danach hat es die Bestände z-∆z und ∆y in seinem Besitz. Den Schritt zurück zu den Beständen z und 0 kann es nicht tun, weil dies seinen Nutzen wieder vermindern würde. Es kann möglicherweise ein Stück in gleicher Richtung weitergehen, also vom Punkt (z-∆z,∆y) zum Punkt (z-2∆z,2∆y) usw. usw. Es kann jedoch niemals den anderen Endpunkt (0,y)[17] erreichen, denn dort muss es spiegel­bildlich nutzengünstig sein, eine kleine Teilmenge ∆y zu verkaufen, um eine erste Menge ∆z von WareZ anzuschaffen. Damit ist sichergestellt, dass die Bewegung (egal von wo sie startet) immer irgendwo im Inneren des möglichen Bereichs endet, nie an einem der Ränder (z,0) oder (0,y). Zur ökonomisch gewünschten 'Eindeutig­keit' des Zielpunkts fehlt nur noch, dass von jedem der zwei Endpunkte derselbe Zielpunkt erreicht wird. Dazu betrachten wir nochmals die Bewegung von der Po­sition (z,0) in Richtung der Position (0,y). Anfangs ist der Nutzengewinn bei einem Schritt ∆y positiv, aber in der Nähe des Punkts (0,y) wird er negativ. Bei Bewegung in Gegenrichtung gilt sinngemäßes für die Schritte ∆z. Enden wird jede Bewegung dort, wo ein weiterer Schritt um ∆y (bzw. sinngemäß in Gegenrichtung um ∆z) das Vorzeichen von ∆u von positiv zu negativ verändert. Falls also dafür gesorgt wird, dass nur eine Stelle existiert, an der ∆u zu null wird, muss die Bewegung von beiden Enden der Strecke (und damit von allen Punkten auf ihr) in Richtung dieses Punkts verlaufen und immer dort enden, nie anderswo. Da für jede Gehrichtung an einem Ende der Strecke ∆u zwingend positiv und am anderen Ende zwingend negativ ist, ist dies erreichbar, indem man ∆u streng monoton konstruiert, d.h. wellenförmiges Verhalten von ∆u (mathematisch: die Existenz lokaler Maxima und Minima) ausschließt. Dann muss die Nullinie einmal durchstoßen werden, aber sie kann nicht mehrmals durchstoßen werden. Um zu sehen, welche Bedingungen dies für die Nutzenfunktionen uz(z) und uy(y) setzt, betrachten wir ein Subjekt, das sich an irgendeinem Punkt (z*,y*) aufhält und sich von dort zum Punkt (z*+∆z, y*-∆y) bewegt, weil es dadurch einen Nutzengewinn erzielt, d.h. für Bewegungen in diese Richtung ∆u (noch) positiv ist.[18] Von dort lassen wir es in gleicher Richtung einen weiteren Schritt ausführen, also zum Punkt (z*+2∆z,y*-2∆y), und schreiben für beide Fälle die Gesamtnutzenänderung auf. ∆u ist genau dann monoton, wenn ∆u in allen solchen Fällen beim zweiten Schritt kleiner ist als beim ersten. Dies ist nun noch durch die Gestaltung der Nutzenfunktion(en) sicherzustellen.


Die Gesamtnutzenänderung setzte sich aus Beiträgen zweier Nutzenfunktionen uz(z) und uy(y) zusammen, die sich nach Gl. (1a) wie folgt schreiben lassen:

 

Am Punkt (z*,y*):                        ∆u =    ∆z°uz'(z*)      +    (-∆y)°uy'(y*)           (6a)

Am Punkt (z*+∆z,y*-∆y):            ∆u = ∆z°uz'(z*+∆z)   +  (-∆y)°uy'(y*-∆y)       (6b)

 

Der Ausdruck in (6b) soll kleiner sein als derjenige in (6a). Man könnte für diesen Zweck uz' und uy' verknüpfen und damit mittelbar die Funktionen uz und uy. Dann wäre aber nicht sichergestellt, dass sich auch weitere Nutzenfunktionen (für weite­re Waren) wie gewünscht in die Rechnung einfügen. Um eine allgemeine Form für alle Nutzenfunktionen zu finden, die in allen Nutzenrechnungen wie gewünscht funktioniert, muss man auf die Verknüpfung verschiedener Nutzenfunktionen ver­zichten und stattdessen verlangen, dass der erste Summand in (6a) größer ist als der erste Summand in (6b), und dass dasselbe für die zweiten Summanden gilt:

 

 ∆z°uz'(z*)        >      ∆z°uz'(z*+∆z)                                          (7a)

 (-∆y)°uy'(y*)    >  (-∆y)°uy'(y*-∆y)                                           (7b)

 

Durch Herauskürzen der Faktoren ∆z und -∆y wird dies zu:[19]

 

 uz'(z*)  >  uz'(z*+∆z)                                                               (8a)

 uy'(y*) <  uy'(y*-∆y)                                                                (8b)

 

(8a) besagt, dass uz'(z) fallen muss, wenn z wächst, nämlich von z* auf z*+∆z. (8b) besagt, dass uy'(y) fallen muss, wenn y wächst, nämlich von y*-∆y auf y*. Zusam­men: Die erste Ableitung einer Nutzenfunktion muss überall mit wachsender Menge fallen. Die Differentialrechnung drückt dies in der Form aus, dass die zweite Ableitung überall negativ ist: u''(x)<0.


Die mit (8a/b) abgeschlossene Rechnung soll nicht als neuer Lehrtext über neoklassische Rechnungen dienen, sondern in möglichst allge­meiner Form deren Überflüssigkeit nachweisen. Denn ihr Hauptinhalt ist, dass der Aufbau neoklassischer ('marginalistischer') Formalismen vollständig aus der For­derung begründet werden kann, dass erwünschte ('ökonomisch sinnvoll' genannte) Ergebnisse entstehen. Befassung mit Details wird damit so sinnlos wie bei jedem anderen Münchhausen-Zirkel X→X. Wie primitiv die Grundstruktur der so bom­bastisch wirkenden neoklassischen Formalismen ist, zeigt eine Veranschaulichung der auf den vorstehenden Seiten fett geschriebenen mathematischen Anforderun­gen an Nutzenfunktionen. Solche Funktionen beginnen am Nullpunkt mit unend­licher Steigung (Ableitung), und flachen sich danach kontinuierlich ab, wobei im gesamten Verlauf ihre Steigung (erste Ableitung) zwar positiv bleibt, der Null aber letztendlich beliebig nahekommen muss. Nachdem schon die Funktion mit wach­sender physischer Menge alle Zahlenwerte zwischen null und unendlich durchlau­fen muss (unendlich ergäbe sich als Grenzfall für unendliche Menge, der aber nie realisiert wird), durchläuft also die Ableitung alle Zahlenwerte zwischen unendlich und null ('0' im Grenzfall Menge→unendlich, der ebenfalls nie realisiert wird).[20] Damit lässt sich jederzeit ein Zahlenwert der Funktion oder der Ableitung finden, der irgendeiner anderen für wichtig erklärten Zahl gleich ist. Weil die mathema­tische Eigenschaft u'(x)>0 ferner beinhaltet, dass die Nutzenfunktion u(x) eindeutig umkehrbar ist, und weil die mathematische Anforderung u''(x)<0 beinhaltet, dass u'(x) eindeutig umkehrbar ist, wird in beiden Fällen eindeutig eine Menge fest­gelegt. Um den auf diese Weise gefundenen Fixpunkt herum (statt um den Wert der Arbeitskraft oder die Einheitsprofitrate) konstruieren Neoklassiker ihre speziel­len Varianten des Waren- bzw. 'Wert'relativismus und nennen sie 'Gleichgewichte'. Da als Gleichgewichtspunkt alle Zahlen zwischen null und unendlich infragekom­men, kann diese Form von Ökonomie sich nie aus sich selbst heraus erschöpfen: Der Ansatz kann alles herleiten und das aus allem.


Unvermeidbarer Nebeneffekt der Primitivität ist, dass die Methodik laufend mit ihren (angeblichen) Inhalten kollidiert. Bestes Beispiel ist die neoklassische Produk­tionstheorie. Statt eines in den Mengen nichtlinearen Nutzens maximiert sie einen mit den Mengen nichtlinear zusammenhängenden Profit, wobei die Nichtlinearität des Profits analog zur Nutzen-Nichtlinearität konstruiert ist. Obwohl seit langem eine logisch wie empirisch schlüssige Definition des 'Nutzens' gesucht wird, scheint diese Analogie noch niemanden auf die Idee gebracht zu haben, 'Nutzen' mit Profit zu identifizieren. Eine neoklassische Firma nimmt im ersten Schritt Kredit auf, um ihren Input (klassisch: ihr Kapital) I zu finanzieren, wobei Sach­kapital genauso behandelt wird wie Arbeitskraft. Ist I eine Inputmenge, pI der Preis von WareI und r der Zinssatz, entstehen daraus jährlich Kosten von (1+r)°I°pI. Welche Outputmenge O aus dem Input I entsteht, beschreibt eine 'Produktions­funktion' O(I), die in gleicher Weise nichtlinear von der Menge I abhängt wie eine Nutzenfunktion. Für I=0 ist der Output null, während das Verhältnis ∆O/∆I von Outputveränderung und Inputveränderung gegen unendlich tendiert. Für ein allererstes Quantum Egalvonwas übersteigt ∆O/∆I damit stets den Ausdruck (1+r)°pI/po und der Erlös ∆O°po die Kosten (1+r)°∆I°pI, wodurch die Aufnahme jedweder Produktion rentabel ist. Mit wachsendem Input I nimmt das Verhältnis ∆O/∆I (d.h. die erste Ableitung der Funktion O(I)) stetig ab, so dass bei irgend­einem Zahlenwert I* von I und dem zugehörigen Output O* eine weitere Produk­tionsausweitung ∆O gerade noch die Mehrkosten ∆I°pI°(1+r) einbringt, also keinen zusätzlichen Profit. Ausweitung der Produktion zu Zahlenwerten I>I* (bzw. O>O*) würde sogar ein Sinken des Profits bewirken. Der Ökonom schlussfolgert, es erfolge eine Produktionsausweitung genau bis zum 'Gleichgewichtspunkt' (I*,O*), wo eine verantwortungsbewusst geführte neoklassische Firma sich dauerhaft ein­richte. Es müsste dann allerdings profitabel sein, Großbetriebe aufzuteilen, wo immer dies technisch möglich ist, so dass kapitalistische Systeme vorwiegend aus Kleinbetrieben bestehen sollten. Sucht man dazu eine empirische Bestätigung, wird man schnell fündig, zwar nicht in der Realität, aber desto schneller im neoklassi­schen Lehrbuch, Kapitel Bäckereikapitalismus. Vielleicht sollten es die Krisenbe­kämpfer angemessen gründlich lesen, bevor sie die nächste Großbank 'retten'?


Selbst die Mathematik wird bedenkenlos vergewaltigt, wenn es nützlich ist. Bestes Beispiel ist die Begründung des 'Allgemeinen Marktgleichgewichts' in Léon Walras' Buch Éléments d'économie pure ou théorie de la richesse sociale[21], das vielen Ökonomen bis heute als eine Art Bibel gilt, weil es erstmals die Leistungsfähigkeit marginalistischer Formalismen in vollem Umfang nutzte, nämlich zur Begründung von allem aus beliebigem Unsinn. Walras' angeblicher Beweis für Existenz und eindeutige Bestimmtheit des allgemeinen Marktgleichgewichts kulminiert am Ende der Lektion 11 seines Buchs in einem Gleichungssystem, das auf den ersten Blick einem linearen ähnelt, nämlich aus Gleichungen der Form a°x+b°y+c°z+...=d besteht, wobei die Variablen x,y,z... Preise sind (nach einer letzten Umschreibung: relative Preise). Einziger (aber wichtiger!) Unterschied zu diesem beliebten Objekt der Schulmathematik ist, dass a,b,c...d nicht für Zahlen stehen, sondern für nichtlineare Funktionen der Variablen: Die auf der rechten Seite (oben: d) stehen für die Gesamtnachfrage nach einer Ware, und diejenigen auf der linken Seite für Teile davon; b steht für Nachfrage nach der WareD von Seiten tauschwilliger Besitzer der WareY. Die Funktionseigenschaft und Nichtlinearität dieser Rechengrößen a,b,c...d sind inhaltlich wesentlich und werden über ca. 100 Buchseiten auf jede denkbare Weise begründet. Trotzdem soll das System eindeutig lösbar sein, nur weil die Anzahl der Gleichungen gleich der Anzahl der Unbekannten ist. Dieser Unsinn[22] ist kein Ausrutscher, sondern hat sich mittlerweile durch die gesamte moderne Ökonomie verbreitet. Eine Internetsuche nach 'economic'+'number of equations'+'number of variables'+'number of solutions' liefert aktuell etwa 6000 Texte, die in allen möglichen und unmöglichen Zusammenhängen mit Kampf und Krampf Walras' Abzählkriterium bemühen. Streicht man aus dem Suchkriterium das Element 'number of solutions', werden es etwa 50000, darunter ein Beitrag des Nobelpreisträgers Kenneth Arrow zu einem Sammelband, der nebenbei Einblicke gibt, wie die Ökonomie ihre Geschichte verarbeitet: „Walras had a slogan, repeated in different contexts: the system is determinate when the number of equations equals the number of unknowns. It is fortunate for the development of existence theorems for general equlilibrium that differential topology was unknown in the early 1950s. If the tools had been available to us, we would have simply written down a few appropriate transversality conditions and then said that Walras was right all the time.“[23] Pointiert zusammenge­fasst: 'Zum Glück waren bestimmte mathematische Sätze damals noch unbekannt. Denn sonst hätten wir sie in unserer Ahnungslosigkeit so fehlerhaft verwendet wie Walras seine dunklen Erinnerungen an Schulmathematik, und wir wären in noch mehr Fettnäpfchen getreten'.


An dieser Stelle lohnt es ausnahmsweise einmal nachzusehen, welches spezielle Fettnäpfchen auf das Hineintreten wartet. Nehmen wir an, Walras' Beweisführung sei korrekt, bis hin zu dem Punkt, dass es eine und nur eine Lösung für 'die Preise' gebe. Um zu untersuchen, welche Preise das sein könnten, ist zu klären, auf welche Typen Gleichungssysteme das Abzählkriterium überhaupt anwendbar ist. Dies ist es – wenn auch nicht in der von Walras zitierten Form[24] – auf nur einen Typ, der aus Gleichungen der Form a°x+b°y+...=0 besteht, wobei abweichend von Walras' System die Ausdrücke a, b,...  konstante Zahlen sein müssen und auf der rechten Seite ausschließlich Nullen stehen dürfen. Hier zeichnet sich bereits fundamentaler inhaltlicher Unsinn ab: Das System beschriebe einen Kapitalismus, in dem es nach keiner Ware Nachfrage gibt. Auf die nächste Unsinnsstufe gelangt man durch rein formale Betrachtungen: Hat ein solches System überhaupt eine Lösung (x*,y*,...), so sind auch (2x*,2y*,...), (3x*,3y*,...) und alle sonstigen Vielfachen Lösungen, denn man kann a°3x*+b°3y*+... umschreiben zu 3°(a°x*+b°y*+...), und dieser Ausdruck ist genau dann null, wenn die Klammer nach der '3' null ist. Gibt es also überhaupt eine Lösung mit 'ökonomisch sinnvollen' positiven relativen Preisen x*,y*..., so gibt es unendlich viele weitere Lösungen. Eine eindeutige mathematische Lösung gibt es nur in dem einen Fall, dass die stets existierende triviale Lösung (x,y...)=(0,0...) die einzige Lösung ist, denn auch dreimal null ist null und bleibt dauerhaft null.[25] Walras operiert somit in einem mathematischen Kontext, der bei fachlicher Kor­rektheit gar kein 'ökonomisch sinnvolles' Ergebnis erbringen könnte, da die einzig möglichen 'eindeutigen' Preise Nullpreise wären, zu denen null Nachfrage abge­wickelt wird. Schon eines dieser Elemente verunmöglicht jedweden Kapitalismus.


Positive Nachfrage, positive Preise, und damit einen Kapitalismus kann es um­gekehrt nur geben, falls Walras' Theorie über ihn fundamental falsch ist (egal wo!). Mit dieser Antinomie erledigt die Theorie sich schon vor weiterem Ansehen ihrer Inhalte ähnlich gründlich selbst, wie die neoricardianische es fertigbrachte. Besser als durch Walras' Vorgehen lässt sich auch kaum die Unsinnigkeit einer Reduktion von Gesellschaftstheorie auf Mathematik demonstrieren, denn alles was sich aus seinen Formeln wirklich ableiten lässt, ist die Aussage, es könnte eine Lösung, viele Lösungen oder gar keine Lösung geben. Für dieses Ergebnis braucht man nicht 100 Buchseiten mit Rechnungen zu füllen. Positiv zu folgern ist, dass mathematische und logische Fähigkeiten im neoklassischen Mathematismus nur geringe Bedeu­tung besitzen können, denn für den Nachweis der Unhaltbarkeit von Walras' Argumentation ist der tatsächliche Typ seiner Gleichungen so vollständig egal wie alle Argumente, die ihrer Aufstellung zugrundeliegen. Es reichen die Lektüre des Textes, etwas Schulmathematik und elementare Logik. Dass die Antinomie von (angeblichem) Inhalt und Methodik über 100 Jahre lang nicht als solche auffiel, son­dern allenfalls als 'Lücke in der Beweisführung' wahrgenommen wurde, provoziert die weitere Hypothese, dass neben Mathematik und Logik auch Inhalt oder sogar schon 'Lesen' der neoklassischen Wissenschaft weitgehend fremd sein müssen.[26]


Die von Walras am Ende seiner Lektion 11 vorgenommene  Zusammenfassung ist daher um ein Wort zu vervollständigen, das fettgedruckt wird, weil diese Ver­vollständigung auf das gesamte Gebäude anwendbar ist, das auf den von Walras gelegten Fundamenten errichtet wurde: 'Jetzt bleibt nur noch zu zeigen, dass das Problem des [vollständigen; K.H.] Warenaustauschs, für das wir hier die theore­tische Lösung nicht gegeben haben, genau dasselbe Problem ist, das empirisch durch den freien Wettbewerb auf dem Markt nicht gelöst wird'. Die Identifizierung der theoretischen Neoklassik als ein inhaltliches, logisches und mathematisches Nullum erlaubt es, den weiteren Umgang mit ihr sehr einfach zu gestalten, nämlich so, dass man sich mit ihr nicht weiter befasst.



5. Keynesianismus/Monetarismus (oder angewandte Neoklassik)

 

Keynes bzw. als 'Keynesianismus' bezeichnete Strömungen werden häufig als eine Alternative zum 'Neoliberalismus' verstanden, der als aktuell dominante Ausprä­gung 'der Ökonomie' alias Neoklassik gilt. Paul A. Samuelson allerdings sieht dies anders: Mit Keynes entstand eine neue Form Ökonomie, die bis heute bedeutend und im Mainstream wirksam ist. Das Neue fiel aus dem Denkerhimmel und John Maynard wirkte als sein Prophet: „Makroökonomie in moderner Form gab es gar nicht bis 1936, als John Maynard Keynes seine revolutionäre Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes publizierte.“ (Samuelson/Nordhaus 2005, S. 5) Die Stichworte Beschäftigung, Zins und Geld kann man in der Tat (in dieser Reihenfolge) als eine kürzestmögliche Beschreibung der Entwicklung des realen Kapitalismus wie des zugehörigen Be­wusstseins auffassen. Auch wenn Keynes den Titel seines Hauptwerks wohl nicht mit dieser Intention formulierte, drückt er aus, dass Anlass bestand, die Geschichte des Systems samt zugehöriger Theorien aufzuarbeiten. Samuelsons Beschreibung dagegen ist Aufklärungsideologie auf Kabarettniveau: Ein bürgerliches Subjekt denkt sich etwas aus, und siehe da, es ist die langgesuchte Wahrheit, die instantan alles Schwarz in Weiß verwandelt. Weit wird man mit einer solchen Analyse nicht kommen, und so ist schon in der Mitte des Lehrbuchs Schluss mit dem Heil: „In den Sechzigern beruhte so gut wie jede wirtschaftspolitische Analyse auf der keynesianischen Weltsicht. Danach untergruben neue Entwicklungen, die Ange­botsfaktoren, Erwartungen und neue Sichtweisen der Preis- und Lohndynamik be­inhalten, den alten keynesianischen Konsens.“ (ebd., S. 407) Immerhin aber lassen sich damit Keynes und seine Rezeption in Form des sogenannten Keynesianismus als Entwicklungsetappe der Mainstreamökonomie deuten statt als Gegensatz zu ihr.


Dies wirft die Frage auf, welche Entwicklungen den 'Keynesianismus' anstießen. In diesem Punkt hilft Samuelsons Buch weiter: „Zu jener Zeit steckten England und die Vereinigten Staaten noch in der Großen Depression der Dreißiger; über ein Viertel der amerikanischen Arbeitskraft war arbeitslos. In seiner neuen Theorie analysierte Keynes die Ursachen industrieller Zyklen mit abwechselnden Phasen hoher Arbeitslosigkeit und hoher Inflation.“ (ebd.) Das Neue bestand also darin, die Existenz von Systemkrisen zur Kenntnis zu nehmen und theoretisch zu verar­beiten. Um dies zu leisten, musste die Theorie realistische Elemente aufnehmen, darunter die Erkenntnis, dass Gleichgewichte nie erreicht werden, wodurch erst wirksame Eingriffe möglich werden. In Walras' Mathematismus wären sie nicht möglich, weil es dort für alles und jedes 'eindeutige' (und als 'optimal' gedachte) Lösungen gibt, die sich in naturgesetzlicher Weise von selbst einstellen.


Als zentrales Nichtgleichgewichtsphänomen sieht Keynes die Arbeitslosigkeit, weshalb im Zentrum des Keynesianismus die Förderung von Beschäftigung steht. Dieses Element erzeugt immer wieder neue Amalgame aus 'linkskeynesianischen' und marxistischen Ansätzen, die mit von Keynes vorgeschlagenen Methoden den Kapitalismus entschärfen oder gar überwinden wollen. Es ist deshalb nötig, den Inhalt keynesianischer Beschäftigungspolitik näher anzusehen. Keynes selber ver­deutlichte ihn in klarer und drastischer Weise mit dem sprichwörtlich gewordenen Vorschlag, notfalls sei das Aufgraben und Wiederzuschütten von Erdlöchern zu organisieren. An dieser Stelle kommt zum Vorschein, dass Beschäftigung nicht primär als Wertproduktion gesehen wird, sondern als 'Wert'produktion alias Pro­fitzuteilung, ggf. letztere auf Kosten ersterer. Praktiziert wurde es in der letzten Krise als Autoabwracken, natürlich ohne Berufung auf Keynes, und ohne zu reflek­tieren, dass ein solches Konzept nur als zynische Realsatire ernstzunehmen ist, egal was Keynes selber ursprünglich gemeint haben mag. Lebte Marx noch, hätte er dazu schreiben können: 'Erst als schwere globale Krisen die Gefahr eines Gesamt­zusammenbruchs des Kapitalismus heraufbeschworen, bequemten sich wenigstens einige Vulgärökonomen zuzugeben, die von ihnen erstellten Idealisierungen des Kapitalismus als eines statischen Systems im Gleichgewicht seien vielleicht nicht ganz richtig. Sie griffen in diesem Zusammenhang sogar die schon fast vergessene Rolle der Arbeit als der Quelle des Werts wieder auf. Aber selbst ihre fortgeschrit­tensten Vertreter waren nicht mehr in der Lage, dies in realistischer Weise zu tun.'


Die Einschätzung des letzten Satzes bestätigt Samuelson durch ein Herumirren um Themen wie 'Krise' und 'Gleichgewichtsstörung', verbunden mit Zerschlagen des Systemzusammenhangs in zahllose Einzelfragen. „Heute bearbeitet die Makro­ökonomie sehr unterschiedliche Felder; wodurch Gesamtinvestment und -konsum bestimmt sind, wie Zentralbanken Geldmengen und Zinsen steuern, was inter­nationale Finanzkrisen erzeugt, und warum manche Nationen schnell wachsen, während andere wiederum stagnieren.“ (ebd.) Man könne hinzufügen: '...und warum dieses Erdloch die erwarteten positiven Auswirkungen hatte, jenes aber negative.' Konsequenterweise beinhaltet der Folgesatz, dass das Herumirren um den Kern der Sache nicht wirklich weiterführt, egal wie fest man daran glaubt. „Obwohl die Makroökonomie seit den ersten Einsichten Keynes' große Fortschritte machte, bestimmen die von ihm aufgeworfenen Themen immer noch die Richtung der Untersuchungen.“ (ebd.) Im Grunde wird hier zugegeben, dass das Fach mit seinem Latein am Ende ist. Als zusammenfassender Schlussatz folgt: „Die zwei Zweige – Mikroökonomie und Makroökonomie – vereinigen sich, um den Kern aller modernen Ökonomie zu bilden.“ (ebd.) Egal also, ob die Wissenschaft den Kapitalismus versteht: Hauptsache ist, sie entwickelt sich weiter. Die Reihenfolge der Worte 'Mikro' und Makro' im letzten Zitat, die Inhalte der davorstehenden Zitate, die Anzahlen der BWL- und VWL-Absolventen sowie deren reale Verdienstaussichten weisen alle gleichermaßen aus, dass die mikroökonomische (betriebliche) Sichtweise nach wie vor beherrschend ist - aber man kann nun die makroökonomische (volkswirtschaftliche) Seite nicht mehr ganz ignorieren. Das ist wirklich revolutionär neu für das bürgerliche Subjekt: Nicht nur gelegentlich, son­dern sogar regelmäßig muss es den Blick anderswohin richten als auf sich selber.


Samuelsons nächste Zwischenüberschrift lautet „Die ökonomische Logik“ (ebd.). Da diese in den Kapiteln II und III behandelt wurde, nehmen wir aus sei­nem Buch nur den ersten Satz zur Kenntnis, der im wesentlichen beinhaltet, dass die Ökonomie trotz (oder wegen?) ihrer vielen Erkenntnisse weiter hoffnungslos schwimmt, wenn es darum geht, das System als Ganzes zu verstehen. „Das Wirt­schaftsleben ähnelt einem äußerst komplizierten Bienenstock, in dem alle Leute kaufen, verkaufen, Schnäppchen jagen, investieren, und andere zu irgendetwas verleiten [persuade] wollen.“ Hier wird im Grunde eingeräumt, dass der von Marx als 'Vulgärökonomie' bezeichnete Versuch einer subjekt- (statt arbeits-)basierten Begründung der Ökonomie gescheitert ist. Aber statt Gründe dafür zu suchen, begibt man sich erneut auf eine andere Ebene, um hier das verlorene Heil wieder­zufinden. In Buchteil V erscheint Keynes' Name wieder häufig, allerdings unter der einengenden Überschrift „Makroökonomie: Wachstum und Zyklen“ (ebd., S. 403). Die von Keynes begründete Makroökonomie sei „einer der größten Durchbrüche der Ökonomie im 20. Jhd.“ (ebd., S. 405; Hervorh. K.H.) Keynes' Rolle ist damit schon deut­lich kleiner geworden: Was er lt. Samuelson schuf ('die Makroökonomie'), ist nun der (welcher?) Ökonomie untergeordnet, erscheint eher als Handwerkszeug denn als Erkenntnissystem, und Keynes ist nur noch einer unter vielen, die wichtige Beiträge zur Theorie eines Systems leisteten, das im Begriff war, sich zur Finanz­ökonomie zu wandeln.


Nicht zufällig begann die von Samuelson thematisierte erste schwere weltweite Depression der Jahre 1929ff. mit einem Krach an der zur Leitbörse aufrückenden New York Stock Exchange. Theoretisch wie praktisch gewann Geld (Verteilungs­kampf) nun endgültig das Primat gegenüber Arbeit (Produktion). Wie bei Ricardo (siehe Endnote [11]) lässt sich dieses Element bis in Keynes' persönliches Leben verfolgen. Unter der Überschrift „The Patron Saint of Macroeconomics“ beschreibt Samuelson auf S. 407 das sonstige Wirken des Geldpropheten: „Keynes (1883-1946) war ein vielseitiges Genie, das sich Ansehen auf den Gebieten der Mathematik, der Philosophie und der Literatur verschaffte. Daneben fand er Zeit, eine große Versi­cherungsgesellschaft zu leiten, an der Leitung der Bank von England mitzuwirken, eine weltberühmte ökonomische Fachzeitschrift herauszugeben, moderne Kunst und seltene Bücher zu sammeln […] Er war darüber hinaus Investor und wusste, wie sich mit geschickten Spekulationen Geld machen ließ, sowohl für sich selber als auch für sein College, das King's College in Cambridge.“

Wie Ricardo hatte Keynes also Erfahrungen gesammelt auf anderen Gebieten, darunter das zeitgenössische Finanzwesen, bevor er als Ökonom hervortrat. Im Gegensatz zu Ricardo aber ist auch sein Theoriebeitrag praktisch ausgerichtet. Dies erklärt, wie sich zwischen Theoretikern vom Format Ricardos und Keynes' ein so platter Unsinn ausbreiten konnte wie der von Léon Walras und Gefolgsleuten. Zu Walras' Zeit waren Inhalte schlicht und einfach irrelevant. Der Kapitalismus brauchte nicht mehr erklärt zu werden, weil er sich als Selbstverständlichkeit etabliert hatte, und in seinen laufen­den Betrieb brauchte noch nicht nennenswert eingegriffen zu werden. Völliges Fehlen von Verständnis war somit tragbar, und das Vertrauen 'in den Markt' nicht annähernd so absurd, wie das gebetsmühlenartige Nachbeten einschlägiger Flos­keln aus dem Mund heutiger Marktillusionisten klingt. Begleitende Ideologie mag nützlich gewesen sein, zwingend nötig war sie aber nicht, und sachlich reichte ein Systemverständnis auf dem Niveau des mechanischen Sachverstands heutiger Autofahrer. Unter diesen Umständen konnte auch der größte denkbare Unsinn nur wenig Schaden anrichten. Walras' Lebenslauf fügt sich in dieses Schema so perfekt ein wie die Lebensabschnitte Ricardos und Keynes' als erfolgreiche Investoren. Zuerst scheiterte er wiederholt an der Aufnahmeprüfung zum Studium der Natur­wissenschaften an der École Polytechnique in Paris. Um der wohlsituierten Familie keine Schande zu machen, beschloss er, sich an der Ökonomie zu versuchen. Aufgrund eines bestandenen mathematischen Vorexamens und eines abgebroche­nen Bergbaustudiums sah er sich speziell dazu berufen, die Ökonomie in den Rang einer mathematischen Wissenschaft zu erheben.[27] Zu Keynes' Zeit war solches Halbwissen bei Spitzenakteuren nicht mehr tragbar. Verstand wurde nun wieder wichtig, wenn auch ein anderer als zur Zeit der Klassik. Es ging nun weniger um ein Grundverständnis des Kapitalismus als um dessen Rettung vor sich selber.


Die nachfolgenden Seiten von Samuelsons Buch sind daher gespickt mit einem Wort, das früher Neoklassik noch völlig fremd war, und das ihre allervulgärsten Fortsetzungen heute als Antithese zu 'ökonomisch' verstehen. Es ist das Wort 'poli­tisch' (und verwandtes). Sobald auf
S. 408ff. die reale Praxis(!) der 'Makroökonomie' behandelt wird, wimmelt es von solchem Vokabular. In den Zwischenüberschriften häufen sich Formulierungen wie 'makroökonomische Ziele und Instrumente' sowie 'monetäre Politik' und 'Fiskalpolitik' dazu 'die[!] Werkzeuge makroökonomischer Politik', 'andere Zeiten, andere Politik', und im Text tummelt sich penetrant die 'Regierung'. Bei Ricardo waren solche Elemente noch Beiwerk zur wissenschaft­lichen Analyse des Kapitalismus. Er betrieb zwar viele anspruchsvolle Aktivitäten (darunter praktische Politik), Ökonomie aber betrieb er primär mit dem Ziel allge­meingültiger Erkenntnis, weniger mit der Intention, Werkzeuge für andere (wie politische) Aktivitäten zu beschaffen. Bei Walras drückt schon die Formulierung 'économie pure' aus, dass Praxisbezug aus dieser Theoriebildung so abwesend ist wie inhaltlicher Sinn, aber seit Keynes stellt Praxis einen Hauptinhalt dar. Schon der Anstoß für sein Werk kam daraus, und Anwendung ist immer präsent. Welche Instrumente in der Praxis der 'Makroökonomie' zentral sind, umreißt Samuelson durch die Worte „Fiskalpolitik“ und „Geldpolitik“ (ebd., S. 412f.). Dazu heißt es im Text: „Die genaue Wirkung [exact nature] der Geldpolitik zu verstehen, gehört zu den wichtigsten Feldern der Makroökonomie. Im Zeitraum 1979-1982 trieb eine Politik des 'knappen Geldes' in den USA die Zinssätze hoch, verlangsamte das Wirtschaftswachstum und steigerte die Arbeitslosigkeit. Danach, nämlich von 1982 bis 2000, unterstützte das sorgfältige Geldmanagement der Federal Reserve den längsten Aufschwung in der amerikanischen Geschichte. Im letzten Jahrzehnt [d.h. 1995-2005; K.H.] wurde die Geldpolitik zur wichtigsten Waffe der US-Regierung bei der Bekämpfung der Wirtschaftszyklen.“ (ebd., S. 413)

So gelangt man bruchlos aus der 'keynesianischen' Ära in die 'monetaristische' des Milton Friedman und seiner Anhänger. Die Ereignisse der Jahre 2007ff. konnte die 2005 erschienene Lehr­buchausgabe noch nicht kommentieren, daher hier ein Vorschlag für den Folgesatz in zukünftigen Ausgaben: 'Kurz nach der Aufnahme dieser Erkenntnisse in eine frühere Auflage zerplatzte jedoch die monetaristische Illusion noch gründlicher als ihre Zwillingsschwester, die keynesianische'.


Inhaltlich reduziert der Monetarismus von Beginn an Keynes' Anspruch einer 'Allgemeinen Theorie...' auf kurzfristigen und in der Realität immer planloseren Aktionismus. Erklärbar ist es daraus, dass der Monetarismus ein direktes Produkt der schon reichlich platten universitären Ökonomie ist, während Keynes' Ideen auch aus Praxis entwickelt wurden. Sie enthalten daher mehr Elemente ordentli­cher positiver Wissenschaft, insbes. die Akzeptanz für empirische Fakten wie das immer häufigere Auftreten von Nichtgleichgewichtsphänomena. Praktisch wurde dies aber schnell nebensächlich, da pragmatischer Aktionismus auch in Keynes' Ansatz angelegt ist, die Eingriffe an aktueller Notwendigkeit zu orientieren. Das Wachsen der Hektik (bereits auf der Zeitskala von Monaten mit einer Tendenz zu Wochen) in der 'nachkeynesianischen' Phase ist nur eine quantitative Entwicklung, nichts qualitativ Neues, wodurch Samuelson Keynesianismus und Monetarismus als 'Makroökonomie' zusammenfassen kann. Dass Keynes' theoretische Schriften im Gegensatz zu den 'monetaristischen' ausdrücklich die Beschäftigung betonen, wird dadurch irrelevant, dass keynesianische Politik (egal ob sie den Lehrherrn damit 'richtig' interpretiert oder nicht) sich wenig für die Zwecke von Beschäftigung interessiert, sondern primär für ihren Umfang, d.h. die Höhe 'kapitalistischer' Um­sätze (Geldbewegungen), und allenfalls sekundär für 'wirkliche' Umsätze (Endpro­dukte). Davon unterscheidet sich der Monetarismus nur insoweit, als er sich von vornherein auf Geldaspekte beschränkt: Eine Steuerung der Geldmenge soll die als Geldumsätze verstandenen wirtschaftlichen Aktivitäten krisenfrei gestalten.


Wenn Keynes noch betont, es müsse zum richtigen Zeitpunkt an richtiger Stelle eingegriffen werden statt über Geldmengen und ähnliches global zu steuern, wird dies dadurch irrelevant, dass auch monetaristisch orientierte Regierungen schnell von der Ideologie rein globaler Steuerung abrückten, sobald sich diese als anachro­nistischer Rest von Marktillusionismus entpuppte. Stattdessen nahmen sie in ihr Werkzeugarsenal zahllose adhoc konzipierte Formen von Subvention und Steuer­vergünstigung auf. Dies selbstverständlich nicht, ohne solche Abweichungen von der reinen Lehre dem politischen Gegner anzulasten, so dass dieser als Hauptver­ursacher der vielen Krisenerscheinungen anzusehen sei, die trotz intensivster Interventionen in alle freien Märkte nicht mehr verschwinden wollen. Mittlerweile wird die erste monetaristische Generation der Ökonomen bereits verdrängt durch reine Pragmatiker, die jeden theoretischen Anspruch fallen lassen, so dass ihre Tätigkeit mit der einer Politik verschwimmt, die nur noch einen Grundsatz kennt: 'Dieser Verwertungsprozess braucht mehr Geld; woher könnten wir es holen?' Den sachlichen Grund dafür benannte Kapitel X: Der Profitratenfall lässt den Spielraum für das Preissystem verschwinden. Will das reale den immer engeren Rahmen der Systemverträglichkeit verlassen, muss der Staat die notwendigen (alternativlosen) 'Wert'relationen mit seinen Mitteln (Steuern, Subventionen und ggf. Aufträge) wie­der herstellen. In der Ökonomie bewirkt dies eine weitere inhaltliche Verflachung, ähnlich wie von der Klassik zur Neoklassik. Selbst eine wissenschaftliche Bezeich­nung dafür gibt es schon: 'Neoklassische Synthese' oder 'Neo-Keynesianismus'.


Herausarbeiten lassen sich die verdeckten Gemeinsamkeiten auch und gerade auf dem Gebiet, das rhetorisch zum Hauptkampffeld gemacht wurde: die angebli­che Schuld der Keynesianer an Inflation. Keine Strömung der Ökonomie streitet ab, dass Schöpfen und In-Verkehr-Bringen von Geld Inflation verursachen kann, aber warum soll dieser Effekt bei einer Schöpfung über den Staat(skredit) stärker sein als bei einer Schöpfung im privaten Kreditwesen dank niedriger Leitzinsen der No­tenbank ('lockere Geldpolitik')? Da Geld gleich Geld ist, sobald es einmal umläuft, kann hinter diesem Streit keine Realität stehen, weder 'kapitalistische' noch 'wirk­liche', sondern nur verbogenes Denken, nämlich eine neue Form der Illusion, mit der Zahl der Mehrwertabgriffspunkte (privatwirtschaftlicher Aktivitäten) wachse die Gesamt-Mehrwertmasse. Den konkreten Gedankengängen (und darin enthalte­nen Widersprüchen) kommt man näher über das Argument der Monetaristen, warum ihre Methode der globalen Steuerung inflationsfrei funktionieren könne: indem die 'Geldmenge' an das 'Wirtschaftswachstum' angepasst werde. Dies ver­mengt die Rollen von bestehender Geldmenge und jährlicher Schöpfung: Nicht erstere sondern letztere muss zum Wachstum passen, um das Mehrprodukt zu realisieren. Diese monetaristische Verdrehung ist eine weitere Variante der Illusion vom perfekten Kreislauf vorhandener gewöhnlicher Waren (nun unter Einschluss der Geldware), deren Produktion man ausklammern könne. Sie stapelt wie alle Varianten dieser Illusion mehrere Widersprüche übereinander. Bereits eine Not­wendigkeit zu steuern widerspricht der neoklassischen Ideologie vom spontan entstehenden allgemeinen Marktgleichgewicht, und der Zwang zur Ausrichtung an Elementen ('Wachstum') des Kreislaufs macht ein Steuerungsinstrument un­brauchbar, indem er die nötige Freiheit zur Bedienung des Instruments beseitigt.


Der nicht im ökonomischen Elfenbeinturm geborene Keynesianismus ist an die­ser Stelle fortgeschrittener: Er erkennt an, dass der Regelfall das Nichtgleichgewicht sei, und dass man genau deshalb überhaupt steuern könne, indem man nämlich Mittel einsetzt, die nicht der Sphäre des selbstregulierenden ('freien') Marktes entstammen, sondern derjenigen des als Gegensatz dazu verstandenen Staates. Er verzichtet auf das Ziel, Inflationsfreiheit herstellen zu können, weil er dieses Ideal als eine illusionäre Ideologie erkennt. Der Monetarismus erkennt Inflationsfreiheit nicht als Illusion, sondern postuliert sie unbegründet als realisierbar. Eine dazu analoge Physik der Vorgänge auf einer Tischplatte bestünde aus zwei Hauptsätzen. Der erste lautet 'Die Platte ist immer exakt horizontal, wenn die Objekte darauf sich optimal arrangiert haben'. Der zweite lautet: 'Die Objekte auf der Tischplatte arran­gieren sich optimal, wenn die Platte exakt horizontal bleibt.' Das keynesianische Analogon wäre: 'Die Platte neigt sich ständig unvorhersehbar in alle denkbaren Richtungen, aber man kann das Herumrutschen der Objekte auf ihr begrenzen, indem man sie beim ersten Anzeichen von Rutschen durch ein kleines Motörchen schnell genug in die entgegengesetzte Richtung kippt.'


Gemeinsam ist beiden Strömungen wieder die Unfähigkeit zu erkennen, wes­halb Inflation und andere Krisenerscheinungen nicht verschwinden. Ihn benannte Kapitel IX[28]: Es ist tendenziell immer zuviel 'Geld da', da die Realisierung des Mehr­werts permanente Schöpfung von Geld (Kaufkraft) außerhalb der Warenmärkte erfordert.[29] Ist es geschöpft und in einer der unzähligen Geldformen anwesend ('angelegt'), entwickelt es eine Eigendynamik exponentiellen Wachstums, so dass sein Gewinnanspruch in Formen wie Zins irgendwann die Möglichkeiten zur Pro­duktion von (Mehr-)Wert übersteigt. Spätestens an diesem Punkt müsste es wieder beseitigt werden. Aufgrund der Eigenschaft der Märkte als Nullsummenspiel ist dies nur möglich, indem Geldware in ähnlich marktferner Weise zerstört wird, wie sie zuvor geschöpft wurde. Die am wenigsten dramatische Form der Zerstörung ist die schleichende Inflation. Ihre Wirkung beruht darauf, dass die exponentiell wachsenden Zinsansprüche 'kapitalistisch' erhalten und befriedigt, zugleich aber 'wirklich' entwertet werden. Dies wird im Spätkapitalismus zur 'alternativlosen' Notwendigkeit, die aber der Ökonom nicht erkennen kann, weil er 'Wert' (auch den eines Geldscheins) als Objektivum im naturwissenschaftlichen Sinn ansieht.


Bewusste Inkaufnahme kontinuierlicher Preissteigerung aller zirkulierenden Waren, der gewöhnlichen Waren und der Arbeitskraft, könnte sowohl 'sozialer' als auch für das Überleben des Systems günstiger sein als sog. 'Stabilität'. Monetaristen widerstrebt dieser Gedanke aus ideologischen Gründen, und Keynesianer können ihn aus anderen Gründen nicht offensiv vertreten. Ein fundamentaler Grund wird sichtbar, sobald man das notwendige Ausmaß an Inflation überlegt. Um eine kon­fliktfreie Realisierung des in irgendeinem Zeitraum anfallenden Mehrprodukts zu sichern, müsste eine ihm 'wert'mäßig gleiche Geldmenge in dieser Periode in den Markt einströmen. Zuverlässig sicherstellen lässt sich das nur, indem dieses Geld aktuell passend geschöpft, jedes Einströmen weiterer Geldmengen aber verhindert wird. Die Kaufkraft der Zinsen auf alles zuvor geschöpfte Geld müsste also bereits auf null gesunken sein, was auf eine tendenziell unendliche Inflationsrate hinaus­läuft. Lange vor dem Erreichen eines solchen Zustands käme die Geldfunktion des Wertmaßstabs unter die Räder. Noch früher wird ein zweiter Faktor wirksam, der eine solche Entwicklung verhindert: Sie beinhaltet neben der Abkehr vom subjekt­beschränkten Denken auch massive Eingriffe in das Heiligtum des Geldbesitzes, die Geldbesitzern als eine negativ konnotierte ('sozialististische') Art Umverteilung erscheinen, weil sie zu ihren Lasten statt zu ihren Gunsten gehen. So musste die keynesianische Politik unter dem Druck von Glaubens- wie Machtstrukturen in die monetaristische umkippen, die über Inflationsfreiheit die Geldfunktion des Wert­maßstabs optimieren will, dadurch aber das 'wirkliche' Wachsen der vom Zins ausgehenden Ansprüche und alle damit verbundenen (gravierenderen) Probleme vergrößert. Irgendwo dazwischen, zwischen den Inflationsraten von null und unendlich, zwischen der Gerechtigkeit für Geldeigentümer und dem Überleben der Arbeitskraft, muss das reale System sich seinen Weg suchen. Daran arbeiten in der Praxis Keynesianer und Monetaristen gemeinsam. Einig sind sie sich auch darin zu verdrängen, dass 'Wachstum' die letztendliche Ursache für das Ausufern der Geld­kapitalbestände ist, denn deren Auffinden ließe sämtliche diskutierten Probleme als immanent unlösbar erscheinen und den Kapitalismus als auf Dauer unhaltbar.


Als Notlösung betreibt man die Abschiebung überschüssiger Geldbestände in eine möglichst abgeschottete Sphäre von Finanzmärkten. Solange dieses Geld sich aus dem Markt 'wirklicher' Waren fernhält, wird das Problem der exponentiell wachsenden Mehrwertansprüche durch Verschiebung in die Zukunft zumindest scheingelöst. Diese Geldmassen in ein Finanzsystem zu sperren, ist aber keine Dauerlösung. Denn die einzige systemgerechte Weise, Kapital an einer bestimmten Stelle zu binden, ist die, ihm dort überdurchschnittlichen Profit zu bieten. Dies un­terhöhlt traditionelle Funktionen des Finanzsystems, insbes. die Kreditvergabe an Mehrwertproduzenten, und erzeugt inmitten der Geldschwemme 'Kreditklemmen'. Logisch sprengt die Privilegierung des Geldkapitals diverse ökonomische Ideale, insbes. diejenigen der freien Konkurrenz und des Profitratenausgleichs. Quantita­tiv wird das Wachsen des Geldkapitals samt seiner latenten 'wirklichen' Ansprüche beschleunigt, wodurch die kurzfristige Problem(schein)lösung zur langfristigen Problemvergrößerung wird. Dieser reale Münchhausen-Zirkel X→X zieht nach der ökonomischen Theorie nun auch das reale System in Richtung des Abgrunds. Dagegen kämpfen Keynesianer und Monetaristen mit allerlei Improvisationen an, die praktisch kaum unterscheidbar sind, während auf theoretischer Ebene beide Parteien lautstark reklamieren, als einzige über die richtige Technik zu verfügen.


Gemeinsam ist beiden Strömungen nicht nur die Auffassung von Geld (statt Arbeit) als Substanz und Triebkraft des Verwertungssystems, sondern auch eine Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Funktion der überbordenden Geldkapitalbe­stände und ihres Gegenpols, der 'Schulden'. Stattdessen wird zwischen (Links-)­Keynesianern und Monetaristen ein sinnloser Streit geführt, ob der Staat durch Kreditaufnahme Geld beschaffen und 'in die Wirtschaft pumpen', oder ob man Banken über die Zinspolitik der Notenbank zu mehr Kreditvergabe bewegen solle. Beides führt(e) letztlich in dasselbe Desaster. Die keynesianische Illusion eines Schuldenabbaus im Aufschwung nach dem Schuldenmachen in der Rezession musste daran scheitern, dass auch und gerade(!) bei guter Konjunktur Mehrwert zu realisieren ist. Die Illusion der Monetaristen von der nur an Geldwertstabilisierung orientierten Zinspolitik der Zentralbank beruht auf der Borniertheit, Kreditverträge als Tauschoperationen zu sehen statt als Bezifferung von zukünftig zu leistender (Mehr-)Arbeit. Sie musste daran scheitern, dass Wert und damit Mehr-Wert im Finanzwesen schon allein deshalb nicht geschaffen werden kann, weil aus dessen Realverkürzung aller kapitalistischer Formen zu G→G' kein investierbares oder (als Luxus) konsumierbares Endprodukt entsteht, sondern ausschließlich Geld, d.h. Ansprüche auf etwas, das sich nicht 'schöpfen' oder überweisen lässt, sondern anderswo(!) erarbeitet werden müsste. Soweit das heutige Finanzwesen dazu noch Beiträge leistet, sind diese im Begriff, in die Bedeutungslosigkeit abzusinken. Die kurze Blüte der Finanzindustrie in der 'monetaristischen' Epoche war daher von Beginn an eine auf Selbstbetrug basierende Scheinblüte, die Selbständigkeit dieser Industrie nur eine Scheinselbständigkeit, und die Bankenrettungen der neuesten Zeit haben das Problem wieder dorthin befördert, wo es hingehört: in die Gesell­schaft als Ganzes, vertreten durch den bürgerlichen Staat in dessen Funktion als ultimativer Schutzherr des Kapitalismus. Das hätten die 'Keynesianer' genausogut fertiggebracht, hätten sie auf ihre eigene Weise weiterwursteln dürfen. Aber man wollte halt partout nicht die (mittlerweile unter dem Druck der Realität verflo­genen) Illusionen von der finalen Rettung des Kapitalismus durch ein perpetuum mobile der Verwertung im Finanzsektor aufgeben.


Für die Bedienung der Gesamt-Schulden ist letztendlich irrelevant, wer genau die Gläubiger- und die Schuldnersubjekte sind (welche Finanzinstitutionen mit welchen anderen wieviele und welche Finanzgeschäfte abschließen); relevant ist, ob gesamtwirtschaftlich (egal wo) genügend (Mehr-)Arbeit geleistet wird. Erst danach (im logischen Sinn) kann 'Geldpolitik' eingreifen und ihre eigene Funktion erfüllen, die nicht in der Erstellung des Mehrwerts liegt, sondern in seiner system­verträglichen Verteilung, in der Endphase des Profitratenfalls also in einer mög­lichst gleichmäßigen Verteilung unter alle Mehrwertjäger. Die Vorstellung, daran ließe sich durch eine Rückkehr von der 'monetaristischen' zur 'keynesianischen' Politik etwas ändern, läuft auf die Vorstellung hinaus, die Religion zu überwinden, indem man Martin Luther statt dem Papst folgt. Oder indem man eine Gegenre­formation ausführt?



6. Econophysics: Geld'wert' als fiktive Substanz

 

Die Abschnitte 2 bis 5 diskutierten Theorieansätze, die zumindest ihrem Anspruch nach auf Erkenntnis des Kapitalismus als eines Ganzen abzielen. Damit befasst sich allerdings nur eine Minderheit der Bürger und Ökonomen. Die Mehr­heit der Ökonomen und die überwältigende Mehrheit der Bürger befasst sich nicht mit einem Verständnis des Werts, sondern mit der Aneignung von Werten. Auf quantifizierbare Weise trennt sich beides im Wissenschaftsbetrieb, wo man neben einer Volkswirtschaftslehre eine deutlich mehr Zuspruch findende Betriebswirt­schaftslehre findet. Die Befassung mit BWL lohnte bisher (gemeint sind sowohl die Geschichte der Ökonomiekritik als auch die Gliederung dieses Buchs) aus zwei Gründen nicht: Der erste Grund ist die Plattheit der BWL, und der zweite ist ihre unklare Verhaftung im 'wirklichen'. Beides hängt eng zusammen, denn Praktikern ist es egal, ob sie 10% Einsparung durch physische Verminderung eines Material­einsatzes oder durch Herabdrücken des Materialpreises erzielen. Die bewusstlose Gleichsetzung beider Vorgänge erzeugt eine inhaltliche Plattheit, die bisher nur unter dem Aspekt interessierte, wie die Beschränktheit der einzelbetrieblichen Sicht unsinnige Denkmuster vom Typ der Mengenbegriffsverwirrung erzeugt, und wie solche Denkmuster ökonomische Theoriebildungen in widersprüchlichen Unsinn verwandeln.

An dieser Ausgangslage änderte sich etwas wesentliches mit dem Einrücken des Finanzsystems ins Zentrum der Mehrwertaneignung. Das Abstreifen des materiel­len Beiwerks aus den Aneignungsprozessen lässt viele der Krücken verschwinden, mit deren Hilfe traditionelle Ökonomie den 'Wert' als etwas quasiphysisches zu verkleiden versucht. Es lässt sich danach nicht mehr umgehen, ihn in nackter Form und in seiner Haupteigenschaft als Selbstzweck zur Kenntnis zu nehmen, auch und gerade in Zusammenhängen wie Börsenhandel, wo seine praktische Handhabung  im Mittelpunkt steht. Das Verschwinden der Bindungen an 'wirkliches' lässt seine eigene (Pseudo-)Substanz erscheinen. Dies stellt neue Anforderungen an das Abstraktionsvermögen. Daneben wird es nötig, das Handwerk positiver Wissen­schaft ordentlich zu erlernen, sowohl wegen des Verschwindens ablenkenden Beiwerks als auch aufgrund der rein technischen Anforderungen der immer aberwitzigeren Formen von Börsenbetrieb.[30] Mit beidem ist der nur ökonomisch Trainierte heillos überfordert, weshalb mit dem globalen Finanzmarktkasino in vielen Finanzinstitutionen eine Tendenz entstand, die praktische Anwendung von Ökonomie und insbes. ihrer rechnerischen Teile angewandten Mathematikern und theoretischen Physikern zu übertragen. Als Folge entstand unter dem Namen 'Econophysics'[31] eine neue ökonomische Unterdisziplin, die teilweise außerhalb der ökonomischen Fakultäten angesiedelt ist, die vorwiegend von Nichtökonomen betrieben wird, und die das Element positiver Wissenschaft in der Ökonomie neu belebt, wenn auch in der verqueren Weise, dass ihr Gegenstand nichts 'wirkliches' mehr ist wie Arbeit oder Arbeitsergebnisse, sondern etwas im naturwissenschaft­lichen Sinn Fiktives.


Ausgangspunkt dieser Entwicklung war nicht mehr wie in der Klassik das Streben nach einem Verständnis des Kapitalismus als System, sondern das verfolg­te Ziel wäre eher mit dem Bild zu erfassen, dass Strategien für das Überleben eines Subjekts in der dritten Natur der modernen Börsenwelt gesucht wurden. Es liegt allerdings in der Natur der untrennbar mit positiver Wissenschaft verbundenen Dialektik von Deduktion und Induktion, dass solche Beschränkungen nicht lange respektiert werden. Also begann man, erarbeitete Börsenstrategien zur Kapitalis­muserklärung zu verallgemeinern, ähnlich wie es der Debitismus mit dem von 'Verschuldung' geprägten Weltbild untergehender Kleinbürger praktiziert.[32] Ein solches Vorhaben kann naturgemäß nur in neuen Wider­sprüchen enden. Der ausufernde Einsatz von (nun 'wirklicher') Mathematik in öko­nomischen Untersuchungen provozierte von Seiten der traditionellen Ökonomen, immanent-kritische eingeschlossen, insbesondere den Vorwurf, die neue Methodik negiere den Charakter der Ökonomie als einer Gesellschaftswissenschaft.

Auf die Details solcher Diskussionen einzugehen, würde hier zu weit führen. Bemerkenswert ist aber, dass sich in solchen Debatten ein ähnlich beschränkter Horizont der Kritik zeigt wie in den Debatten der debitistischen und anderen 'geld­kritischen' Außenseiter des Ökonomiebetriebs. Dies zeigt sich insbes. an Themen wie der 'Erhaltung' des Pseudo-Naturstoffs 'Wert' alias Geld: „Die Modelle beruhen im wesentlichen auf denen der Statistischen Physik, wo in Austauschprozessen die Energie erhalten ist.“[33] Dem wird zu Recht entgegengehalten: „Aber in industriellen kapitalistischen Wirtschaftssystemen ist Einkommen ganz sicher keine Erhaltungsgröße. Verantwortlich dafür ist der Pro­duktionsprozess, nicht der Austausch.“ (ebd.) Das Zitat demonstriert erneut die ökonomische Unfähigkeit, Bestände (wie Kapital, Ersparnisse oder Energie) von Flüssen (wie Mehrwert, Einkommen oder physikalische 'Leistung') zu unterschei­den. Besonders überzeugt, dass den zitierten traditionellen Ökonomen dies zwar an den Schriften der Econophysiker auffällt, nicht aber an ihren eigenen. Trotzdem kommt der Folgesatz noch einen Schritt näher an die wesentliche Erkenntnis heran: „Modelle, die ganz[!] auf Tausch statt auf Produktion fokussiert sind, können deshalb per def. keine realistische Beschreibung der Entstehung von Einkommen in industriellen kapitalistischen Wirtschaftssystemen liefern.“ (ebd.) Dass aber auch die Autoren des Zitats die Rollen von Tausch und Produktion nicht ganz begriffen haben, zeigt sich im Wort 'ganz', das faktisch ihre Vermischung fordert, und damit vom entscheidenden Aspekt ablenkt, nämlich von dem durch Lohn-Arbeit produ­zierten Mehr-Wert, dessen Nicht-Bezahlung in allen auf Tausch abstellenden Theorien unauflösbare Widersprüche erzeugen muss. Wie müsste der folgende Satz lauten? Etwa so: 'Da offenbar keiner von uns wirklich die Rolle von Arbeit und damit den Wert und insbes. den Mehrwert begriffen hat, und weil deshalb keiner von uns aus den Widersprüchlichkeiten dieses Systems und seiner Denkfor­men herauskommt, sollten wir jetzt unsere und eure Geistesprodukte gemeinsam aus dem Warenverkehr ziehen.' Diese Konsequenz wird allerdings nicht mehr gezogen, und so fällt der Gegenseite eine Replik nicht allzu schwer.[34]


Wo und warum der Erkenntnisprozess stockt, schimmert durch, wenn man die drei gerade zitierten Sätze zur kompletten Passage vervollständigt, so wie sie im Originalartikel steht. Dort steht zwischen dem ersten und zweiten zitierten Satz noch ein weiterer, der oben ausgelassen wurde. Dieser weitere Satz lautet: „There are examples in economics where the principle of conservation may be a reasonable appro­ximation to reality, such as primitive hunter-gatherer societies.“ Nach Einfügung seiner Übersetzung (wieder kursiv hervorgehoben) lautet die vollständige Passage: „Die Modelle beruhen im wesentlichen auf solchen der Statistischen Physik, wo in Austauschprozessen die Energie erhalten bleibt. In der ökonomischen Wissenschaft [economics] gibt es Beispiele wie primitive Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, wo ein

Er­haltungssatz eine brauchbare Annäherung an die Realität sein mag. Aber in industriellen kapitalistischen Wirtschaftssystemen [economies] ist das Einkommen ganz sicher keine Erhaltungsgröße. Verantwortlich dafür ist der Produktionsprozess, nicht der Austausch. Modelle, die ganz auf Tausch statt auf Produktion fokussiert sind, kön­nen deshalb per def. keine realistische Beschreibung der Entstehung von Einkom­men in industriellen kapitalistischen Wirtschaftssystemen [economies] liefern.“ Hier wird der Bürger im Ökonomen sichtbar; um seinen Erkenntnisgegenstand 'Wirtschaftssysteme' [economies] bemüht er sich erst, nachdem er sein Eigentum gesichert hat, die ökonomische Wissenschaft [economics]. Für diesen Zweck ist der Inhalt des kursiven Satzes in ökonomietypischer Weise ahistorisch, und wirft ebenso ökonomietypisch das reale System [economies] mit der Wissenschaft davon [economics] durcheinander, indem er die Jäger und Sammler in zweiterem statt in ersterem leben lässt.[35] Noch deutlicher kommt die Furcht vor Enteignung auf der zweiten Artikelseite zum Ausdruck: „Die Autoren dieses Artikels sind Ökonomen, die einem Großteil des Mainstreams kritisch gegenüberstehen. Aber die ökono­mische Wissenschaft ist keineswegs ein völlig unbeschriebenes Blatt [empty box], sondern sie hat Fortschritte darin gemacht zu erkennen, wie soziale und wirtschaft­liche Systeme [worlds] funktionieren. Ein großer Teil der econophysikalischen Literatur nimmt nicht zur Kenntnis, was in der Ökonomie schon erreicht wurde.“ Im Zweifelsfall fühlt man sich im Bestehenden (economics oder economies?) eben doch wohler als in dessen Kritik.


Durch die gegen die 'Econophysik' gerichteten Vorwürfe schimmert ständig die Befürchtung durch, das Betreiben mathematischer Modellierung auf solider Basis, was insbes. laufende Überprüfung von Annahmen und Ergebnissen an Empirie beinhaltet, könnte noch mehr von den überkommenen Glaubenssätzen der Ökono­mie wegfegen. Eines der ersten prominenten Opfer ist die Gleichgewichtsillusion: Die an heutigen Börsen in Hülle und Fülle produzierten Kursdaten passen nicht zur These, dass Marktpreise zufällige Oszillationen um Gleichgewichtspunkte herum ausführen. Dass große Fluktuationen relativ zu kleinen viel häufiger auftreten, als durch Zufall erklärt werden kann, hat nicht nur die praktische Folge, dass die (spe­kulationsrelevante!) Wahrscheinlichkeit des Rückschwingens nach einem extremen Ausschlag viel kleiner ist, als gängige, auf der Gleichgewichtsillusion beruhende Rechenmodelle vorhersagen. Dieser mittlerweile unstrittige und mit dem Fachbe­griff 'fat tails' (der Verteilungskurve) bezeichnete Fakt entzieht dem Mythos einer Selbstregulierung der Märkte die Grundlage. Auf Ablehnung, auch wenn dies em­pirisch weniger gut begründet ist, stößt bei Econophysikern ferner die Vorstellung, das Kollektiv der Wirtschaftssubjekte agiere rational. Stattdessen sollen Verhaltens­weisen des Gesamtsystems ähnlich unbewusst aus dem Wechselspiel der Akteure 'emergieren' wie Druck und Temperatur aus dem Wechselspiel der Gasmoleküle in einem Behälter – oder wie der kollektive Selbstmord aus der Lemmingherde. Ein Tageszeitungsartikel zum Thema referiert die Reaktion des Fachs darauf wie folgt: „Bei solchen Analogien packt die meisten Ökonomen das Entsetzen.“[36]


Sich mit Details der genutzten Formalismen[37] zu befassen, hat wenig Sinn; an­ders verhält es sich mit den Grundannahmen. Man betrachtet ausschließlich noch Märkte und die dort erzielbaren Gewinne, d.h. 'Wert'flüsse, deren Quelle gar nicht mehr gesucht wird. Damit hat die angewandte Ökonomie die theoretische Ökono­mie incl. ihrer neoricardianischen Variante nicht nur eingeholt, sondern überholt: Die 'physischen Mengen' sind als überflüssiges Beiwerk gänzlich verschwunden, 'Werte' vermehren sich ohne deren Dazwischentreten (und ohne Arbeit) gemäß G→G' aus eigener Kraft, und selbst die Worte 'Mengen' und 'Arbeit' sind so konse­quent entsorgt wie alle damit überkommenen Ideologien. Es fällt schwer, sich theo­retische Weiterentwicklungen vorzustellen, die ohne eine Abschaffung des 'Werts' selbst auskämen. Denn neben ihm gibt es nun nichts mehr, das sich als nächster Schritt zum Abplatten der Gedankenwelt noch beseitigen ließe. Damit vollzieht diese aus dem Finanzkapitalismus entstandene Strömung nicht nur bemerkenswert schnell und präzise dessen neueste Entwicklung nach, sondern sie deutet auch schon den noch anstehenden letzten Schritt an: die Selbstabschaffung.


Weil dieser Schritt noch nicht vollzogen ist, bleibt ein wichtiger Unterschied zu der mit Erhaltungssätzen operierenden Naturwissenschaft bis zum Schluss. Er ist versteckt im mathematisch-harmlos klingenden Wort 'lognormal', das die gesamte econophysikalische Literatur durchzieht. Seine Bedeutung erschließt sich durch eine Betrachtung der Optionen, wie Preisfluktuationen im Markt beurteilt werden könnten. Soll man es als 'gleich' ansehen, wenn Kapitale von 100€ und 1000€ einen Kursgewinn von 10€ erzielen? Oder soll man diese zwei Vorgänge als 'verschieden' beurteilen, und es stattdessen als 'gleich' ansehen, wenn das Kapital von 100€ einen Gewinn von 10€ erzielt und das Kapital von 1000€ einen Gewinn von 100€? Anders ausgedrückt: Sollen 'Wert'veränderungen absolut (in €) oder relativ (zum 'Kapital') erfasst werden, bzw. welche Variante soll als 'normal' gelten? Das kapitalistische Renditeprinzip legt die zweite Option nahe, und der einfachste Weg zu ihrer Reali­sierung ist, anstatt einer Statistik absoluter 'Werte' eine Statistik ihrer Logarithmen zu betreiben. Denn die Differenz der Logarithmen von 110 und 100 ist größer als die Differenz der Logarithmen von 1010 und 1000, aber sie ist identisch mit der Differenz der Logarithmen von 1100 und 1000. Nach dem Logarithmieren würde also ein 10%iger Profit des kleinen Kapitals rechnerisch stets so gewertet wie ein 10%iger Profit des großen Kapitals, absolut gleichgroße Profite beider Kapitale aber würden als etwas 'verschiedenes' erscheinen. Die noch verdeckten Folgen dieses so 'natürlich' erscheinenden Prinzips erscheinen, sobald man Verluste einbezieht. In der üblichen Zufallsverteilung (Stichwort: Gauß- oder Glockenkurve) treten gleich häufig gleichgroße Abweichungen nach oben und unten vom Mittelwert auf. Da die Differenz der Logarithmen von 20 und 10 gleich der Differenz der Logarithmen von 10 und 5 ist, kompensiert nach der Logarithmierung ein Verlust von 5€ eines 10€-Kapitals rechnerisch 10€ Gewinn eines anderen 10€-Kapitals, bzw. es gilt als normal, dass beides gleich häufig auftritt. Treten Kapitalverdoppelungen so oft auf wie Kapitalhalbierungen (allgemeiner: Vermehrungen um einen Faktor a>1 gleich häufig wie Verminderungen um den Faktor 1/a), muss das Gesamtkapital kontinu­ierlich wachsen. Anders ausgedrückt: In einer 'lognormalen' Verteilung der Speku­lationsergebnisse übersteigt die Summe der absoluten Gewinne stets die Summe der absoluten Verluste. Die Eigenschaft 'lognormal' (statt absolut-normal) zum Kriterium für Normalität zu machen, unterstellt als natürlich, dass die Gesamtheit der Börsianer kontinuierlich Gewinn erzielt. Auf diese Weise schleust die Econo-Physik die unendliche 'Wert'-Selbstvermehrung als Grundannahme ein. In Anleh­nung an Adam Smith und Karl Marx formuliert: Es gilt als 'natürlich', dass irgend­wo im Hintergrund Unsichtbare Arbeiter endlos Mehr-Arbeit leisten. Es sei denn, die Börsianer insgesamt wollten niemals ihre Gewinne 'wirklich' realisieren.


Damit deutet sich ein Weg an, wie die ökonomisch-physikalische 'Wert'-Theorie auf ein sinnvolleres Gleis geleitet werden könnte: durch die Zusammenführung zweier Ansätze, die schon seit dem 19. Jhdt. nebeneinander existieren. Einer davon ist der ökonomische Gehalt des 'Kapital', und der andere ist die klassische Thermo­dynamik. Damit lassen sich die ökonomisch-physikalischen Analogien wie folgt auf einfache und allgemeinverständliche Weise zu Ende denken. Im ersten Schritt wäre der 'Wert' als Gegenstück der Dampfenergie zu identifizieren, und im zwei­ten Schritt das Finanzwesen mit dem Dampfkessel. Im dritten Schritt wäre die Dampfenergie auszustatten mit einer Eigenschaft, die in der Physik so selten ist wie in der Ökonomie allgegenwärtig, nämlich mit der Fähigkeit, sich aus eigener Kraft unbegrenzt exponentiell zu vermehren.[38] Vierter und letzter Schritt wäre die Berechnung des finalen (Gleichgewichts-?)Zustands, dem ein derartiger Kessel zustrebt, wenn er sich selbst überlassen bleibt. Sollte die Rechnung schwieriger werden als erwartet, könnte man sie als Doktorarbeit vergeben. Vielleicht erbrächte diese auch noch Erkenntnisse hinsichtlich des sachgemäßen Umgangs mit einem solchen Kessel?


 

 

Literatur


Eberhard Feess, Grundzüge der neoricardianischen Preis- und Verteilungstheorie, Marburg 2000


Alan Freeman, Die Himmel über uns. Über die Bedeutung des Gleichgewichts für die Wirtschaftswissenschaft, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 3, S. 212-241


Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, 3. korr. Auflage, Münster 2003


Knut Hüller, Des Bäckers umwerfende Theorie vom Gleichgewicht, 2006, exit-online.org


Claus Peter Ortlieb, Markt-Märchen. Zur Kritik der neoklassischen akademischen Volkswirtschaftslehre und ihres Gebrauchs mathematischer Modelle, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 1, 2004a, S. 166-183

 

Claus Peter Ortlieb, Methodische Probleme und methodische Fehler der mathematischen Modellierung in der Volkswirtschaftslehre, 2004b, mathuni-hamburg.de


Luigi Pasinetti, Vorlesungen zur Theorie der Produktion, Marburg 1988


Paul A. Samuelson und Wiliam D. Nordhaus, Economics, 18th Edition, New York 2005


Piero Sraffa, Production of Commodities by Means of Commodities, Cambridge University Press 1960 (deutsch: Warenproduktion mittels Waren, Ostberlin 1968).



Endnoten


[1] „Der Kapitalbegriff stellt die Logik von ‚Tätigkeit‘ auf den Kopf“, S. 16-23

[2] Anmerkung der Redaktion: Die Unterscheidung zwischen „wirklichen“ und „kapitalistischen“ Elementen entspricht in etwa der Marx’schen Unterscheidung zwischen „abstrakt“ und „wirklich“ bzw. „stofflich“ mit Blick auf die Doppelnatur des gesellschaftlichen Reichtums in warenproduzierenden Gesellschaften (siehe hierzu Claus Peter Ortlieb [2009]: Ein Widerspruch von Stoff und Form, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 6, insbesondere S. 27ff.).

Darauf bezieht sich auch die im gesamten folgenden Text anzutreffende Differenzierung zwischen Wert und „Wert“. Knut Hüller erläutert dies in Kapitel II des Buches und gibt dabei im Prinzip bereits das Programm für die im vorliegenden Beitrag im Mittelpunkt stehende Auseinandersetzung mit der Theoriegeschichte der VWL vor: „Um nicht in dem (…) begrifflichen und quantitativen Wirrwarr [der ökonomischen Wert- und Kapitalbegriffe] zu versinken, wird im weiteren nur der positiv-wissenschaftlich definierbare und (zumindest prinzipiell) per Stechuhr erfassbare Arbeits-Wert als Wert bezeichnet. Der die kapitalistische Oberfläche sowie die ökonomischen Gedankengebäude beherrschende Geld- bzw. Tausch-„Wert“ wird begrifflich davon unterschieden und dies durch Anführungszeichen kenntlich gemacht, wo es auf den Unterschied ankommt. Widersprüche, die bürgerliche und/oder marxistische ökonomische Schulen sich gegenseitig vorhielten und vorhalten, werden danach als Spezialfälle der unendlich vielen Widersprüche zwischen den unendlich vielen quantitativen „Wert“-Begriffen mit ihren unendlich vielen Zahlenwerten erscheinen, welche ökonomische Denkschemata zulassen. Der Kerninhalt des Konzepts „Wert“ wird sich an ganz anderer Stelle lokalisieren lassen als in den zahllosen Zahlenwerten, die er in Theorie- oder Kaufhausgebäuden annehmen kann. Die Geschichte ökonomischer Theoriebildungen und insbes. der „Wert“-Begriffe wird sich als Geschichte der Versuche verstehen lassen, die im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus zunehmenden Widersprüche zwischen dem „Wert“ und seiner Substanz, dem Wert, zuzudecken. Damit verbunden ist ein Wandel der Politischen Ökonomie vom Erkenntnisversuch am frühen funktionierenden Kapitalismus zum Gesundbetungsversuch am Spät- oder Krisenkapitalismus.“ (S. 14f.)


[3] Dazu Kapitel X des Buches („Gibt es ein Mittel gegen den Fall der Profitrate?“, S. 205-235)

[4] Zu diesem Begriff vgl. Kapitel X des Buches

[5] Siehe Kapitel XI des Buches („Wie man Marx gründlich missverstand“, S. 236-254)

[6] Das vom einfachen Wertgesetz vorhergesagte Sinken der Profitrate bei Wachsen des konstanten Kapitals steht auch empirisch in Widerspruch zu den Verhältnissen in der ersten Hälfte des 20. Jhdt., die durch massive Akkumulation und zugehörige Machtausweitung hochprofitabler industrieller Großkonzerne geprägt war. Der Widerspruch löst sich, wenn man Dynamik und Statik (d.h. realen und Gleichge­wichts-Kapitalismus) unterscheidet. Die Profite globaler Konzerne aus weltweiter Expansion gingen auf Kosten anderer Sektoren (insbes. in der sog. 3. Welt), hatten also den Charakter von Extraprofiten. Der Profitratenverfall wurde wieder sichtbar, als dieser Prozess der Weltmarktaufteilung dem Ende zuging. Das Versiegen der Extraprofite aus weltweiter Umverteilung erzeugte neuartige Krisenerscheinungen und damit einen Bedarf für neue 'Theorien der (industriellen) Produktion'.

[7] „X→Y→X: Ursachen und Wirkungen tanzen Ringelreihen“, S. 24-34

[8] Heinz D. Kurz schrieb mit seinem Kollegen Neri Salvadori ein Buch, das neben Pasinettis 'Vorlesungen zur Theorie der Produktion' den Status eines komplemen­tären (stärker mathematisch ausgerichteten) Lehrbuchs des Neoricardianismus hat: Theory of Production, Cambridge University Press 1995.

[10] Vgl. Kapitel IV des Buches („Wer ‚mehr‘ will, der sollte zuvor lernen, was ‚viel‘ ist“, S. 35-54)

[11] Die Leichtigkeit, Ricardo als Marxisten zu lesen, zeigt zunächst einen Mangel des Marxismus auf: er vergaß beim Versuch einer Beschreibung des Kapitalismus die 'kategoriale Kritik' (Robert Kurz) daran. Sie weist aber auch auf ein bemerkenswertes Niveau in Ricardos Rezeption der kapitalistischen Realität hin. Besonders deutlich wird dies aus einer Passage auf S. 5 von Heinz D. Kurz' Artikel, wo aufscheint, wie Ricardo schon über den gerade entstehenden industriellen Kapitalismus hinaus­dachte: „Diese Tendenz [zum Ausgleich der Profitrate; K.H.] wird durch Geldbe­sitzer und Bankiers verstärkt, die über große liquide Fonds – ein 'flüssiges Kapital' – verfügen, das sie Investoren auf der Suche nach der besten Anlageform zur Verfü­gung stellen. Die Bestimmung der allgemeinen Profitrate zu einer gegebenen Zeit sowie ihres Trends über die Zeit hinweg stehen fortan im Zentrum der Analyse Ricardos und der Politischen Ökonomie schlechthin. Die Profitrate entscheidet über die Geschwindigkeit, mit der Kapital akkumuliert wird und die Wirtschaft wächst. Sie ist die Schlüsselgröße des Systems.“

Wie konnte Ricardo schon im 19. Jhdt. eine wesentliche Rolle des Finanzsystems erkennen, während der ökonomische Main­stream eine solche bis heute in seinen Lehrbüchern ignoriert (und ganz besonders der von Heinz D. Kurz vertretene Neoricardianismus)? Eine Erklärung findet sich, wenn man die Zersplitterung bürgerlicher Wissenschaft überwindet, indem man von der Theoriegeschichte kurz in Ricardos Lebensgeschichte wechselt: „Er betei­ligte sich schon im Knabenalter an Börsengeschäften, und kam dabei im Laufe seines Lebens zu Ansehen und Reichtum. In den Wissenschaften war er Autodi­dakt. Er beschäftigte sich ab dem 25.Lebensjahr mit mathematischen, chemischen und mineralogischen Studien. Während eines Badeurlaubs las er Adam Smiths Schrift 'The Wealth of Nations', durch die seine Begeisterung für die Politische Ökonomie geweckt wurde. Ab 1809 trat er mit eigenen Schriften zu ökonomischen Tagesfragen an die Öffentlichkeit.“ (Hans-Joachim Stadermann, in: Lexikon ökono­mischer Werke, Hrsg. Dietmar Herz und Veronika Weinsberger, Düsseldorf 2006, S. 417f.).

Zu Ricardos erstem Werk unter dem sehr aktuellen Titel 'The High Price of Bullion – A Proof of the Depreciation of Bank Notes' schreibt auf der Folgeseite des­selben Bandes der Rezensent Martin Hebler: „Es liegt nahe, daß die erste wissen­schaftliche Arbeit des Börsianers[!] Ricardo der Geldtheorie zuzuordnen ist, da Großbritannien sich seinerzeit in einer schweren Währungskrise befand. Im Zuge der Etablierung einer Papierwährung durch die Ausgabe von Kassenscheinen der privaten Bank of England war es bereits 1721 und 1745 zu krisenhaften Zuständen gekommen, die jedoch ohne strukturelle Reformen überwunden wurden. Nach einem erneuten Banken-Run im Februar 1797 konnte sich das System erstmals nicht mehr von selbst stabilisieren, so dass zum 3. Mai 1797 die Goldeinlösungspflicht der Banknoten der Bank of England durch den Bank Restriction Act supendiert werden mußte.“

Vielleicht sollten Börsenpraktika mit eigenem Geld Pflichtteil der Ausbil­dung zum Ökonomen werden? Neben vielen unsinnigen theoretischen Inhalten und der Praxis der 'Rettungsschirme' verschwänden dann vielleicht auch viele der Unsinnproduzenten auf die im Kapitalismus natürliche Weise: durch Pleite.


[12] Für Mathematiker: Die Gleichung für Preise und Profitrate ist eine Eigenwertglei­chung, worin die Preise den Eigenvektor bilden, und die Profitrate r im Eigenwert 1/(1+r) enthalten ist. Die Matrix der Gleichung besteht aus den Verflechtungskoef­fizienten. Sie muss aus ökonomischen Gründen semipositiv sein, und unter den im Haupttext genannten Voraussetzungen ist sie unzerlegbar. Die unbekannte Anzahl Eigenvektoren mit Nullpreisen sowie mit positiven und negativen Preisen neben­einander schließt man aus ökonomischen Gründen aus, wonach der eine Eigenvek­tor zum betraglich maximalen Eigenwert übrigbleibt, dessen Komponenten nach Perron-Frobenius alle dasselbe Vorzeichen haben, und somit ein 'ökonomisch sinn­volles' Preissystem bilden können. Die Eindeutigkeit ist letztlich also nicht rein mathematisch begründbar!

[13] Wie generell in der Ökonomie kommt es nicht auf absolute Mengen oder gar physi­sche Formen der Waren an, sondern auf Relationen, hier auf folgende: Produzent 1 nutzt 5/11 seines eigenen Ausstoßes und 5/22 vom Ausstoß des Produzenten Nr.2, und Produzent Nr.2 nutzt 12/22 des eigenen Ausstoßes sowie 8/11 des Ausstoßes von Produzent Nr.1. Daraus folgt im Modell zwingend eine Profitrate von 10%, und dass der 'Wert' des Gesamtausstoßes von Produzent Nr.2 doppelt so hoch sein muss wie der 'Wert' des Gesamtausstoßes von Produzent Nr.1. Entweder physische Mengen oder Preise (im neoklassischen Sinn) kann man sich danach frei aussuchen; die getroffene Wahl fixiert die jeweils andere Größe. Würden alle Getreidemengen (der Ausstoß und die Verbrauchsmengen) verzehnfacht, müsste der Getreidepreis von 1T/kg auf 0.1T/kg gesenkt werden, damit die 'Wert'relationen erhalten blei­ben. Die Profitrate bliebe unverändert. Oder man könnte die 1100kg Getreide ohne weiteres durch '1100 Flaschen Luxusparfüm' oder '1100 Tonnen Schwefelsäure' ersetzen – solange das Parfüm bzw. die Säure in gleichen Proportionen an gleicher Stelle verwendet werden wie das Getreide, und der Geldwert einer Flasche Parfüm bzw. einer Tonne Säure derselbe ist wie zuvor derjenige von 1kg Getreide.

[14] Die analoge Verhaltensweise eines massenmaximierenden (d.h. Ballast suchenden) Subjekts wäre, diejenige Ware zu wählen, von der ein € die meisten kg kauft, d.h. die Ware mit dem niedrigsten Kilopreis.

[15] Das Kernproblem des sog. 'Marginalismus' liegt darin, die über 'Nutzen' (nichtline­ar in den Mengen) begründeten Geldausgaben der Individuen (linear in den Men­gen) zu einem Gesamtsystem zu addieren, in dem wieder derselbe Typ Relationen gilt wie auf der Ebene der Individuen. Das läuft darauf hinaus, dass Ausdrücke des Typs (a°x)/(b°x²) Konstanten (d.h. unabhängig von x) sein müssten. Da dies nicht der Fall ist, kann eine marginalistische Rechnung i.A. immer nur für einen einzigen Zahlenwert ihrer Basisvariablen schlüssig gemacht werden. Durch Betrachtung der ökonomischen Seite solcher Rechnungen kommt Steve Keen daher in seinem Buch Debunking Economics (London und New York 2004) auf S. 46 formal zum selben Ergebnis, das schon elementare Logik erwarten lässt: „Individuelle Nutzenfunktio­nen können zu einer gesamtgesellschaftlichen Nutzenfunktion [social utility] hoch­gerechnet werden, wenn es in der Ökonomie nur einen Konsumenten gibt, und wenn dieser stets nur eine Ware konsumiert.“ D.h. der neoklassische Ansatz funk­tioniert nur, wenn er sich selber aufhebt. Solche Absurditäten zu verschleiern, ist die Hauptfunktion des extensiven Mathematismus. Was von der Mathematik selber zu halten ist, ist folgender Äußerung eines in die Finanzwissenschaft gewechselten theoretischen Physikers zu entnehmen: „Utility [engl. für Nutzen; K.H.] ist ein weg­abhängiges Funktional und nicht eine Funktion, solange die Differentialform p°dq [p steht für Preis und q für Menge; K.H.] keine Integrabilitätsbedingung erfüllt. Die Integrabilitätsbedingung ist im allgemeinen nicht erfüllt, aber das hielt die mathe­matischen Ökonomen [econometricians] nicht davon ab, in ihren Modellbildungen von Utility-Funktionen auszugehen.“ (Joseph McCauley, The Futility of Utility, http://mpra.ub.uni-muenchen.de/2163). Der wesentliche Unterschied zwischen Funktionen und Funktionalen ist die Mehrdeutigkeit der letzteren. Man kann daher die zitierte Beschreibung ökonomischen Mathematismus' wie folgt in die Umgangs­sprache übersetzen: 'Ihr rechnet mit einem Haufen aus zahllosen Obstsorten so, als wäre dieser Haufen ein bestimmter Apfel.' Der 'bestimmte Apfel' entspricht Keens einziger Warensorte, die ein einziger Konsument nachfragt. So fällt ökonomische Mathematik zumindest nicht weit von ihrem ökonomischen Stamm.


[16] Dass der Gesamtnutzen u(z,y) sich additiv aus voneinander unabhängigen Nutzen uz(z) und uy(y) zusammensetzt, ist keineswegs selbstverständlich. Weil der Haupt­text diese Annahme mehrmals benutzt, muss sie begründet werden. Die Begrün­dung lautet: Solange es im Modell nur zwei Waren gibt, für die das Subjekt sein gesamtes Budget ausgibt, ist diese Einschränkung keine wirkliche, denn dann folgt der Bestand an WareY eindeutig aus dem Bestand an WareZ bzw. umgekehrt, und die Gesamt-Nutzenfunktion reduziert sich immer auf eine Funktion einer einzigen Variablen. Davon wird im Haupttext mehrfach Gebrauch gemacht. Ab drei Waren trifft dies nicht mehr zu, weil das Subjekt dann die Wahl hat, einen aus Verkäufen von WareZ erlösten Geldbetrag entweder auf WarensorteY oder auf WarensorteX oder auf beide in irgendwelchen Proportionen zu verwenden. Verzichtet man auch dann noch auf geeignete Vereinfachungen (wie z.B. Additivität), kompliziert sich zunächst die Mathematik; es muss mit sog. 'partiellen' statt gewöhnlichen Ableitun­gen operiert werden. Dies erlaubt viele neue Rechnungen, die jedoch direkt in das Mehrdeutigkeits- oder Integrabilitätsproblem führen, das Endnote 15 (siehe dort Zitat McCauley) anspricht. Es sei denn, man reduziert auf absurde Weise den Inhalt der 'Wissenschaft' (siehe dazu in Endnote 15 das Zitat Keen). Auf eine dahingehende Aus­weitung der Untersuchung wird verzichtet, weil es hier primär darum geht, dass Ökonomie sich zwischen banaler Trivialität und widersprüchlichem Unsinn bewegt, nicht darum, wo genau auf dem verbindenden Pfad sich gerade welcher Ökonom aufhält.

[17] Der Zahlenwert von y ist unwichtig; er ergäbe sich ggf. wie z aus den Modellvor­aussetzungen (pz, py und  Budget) über die Geldwertgleichung: z°pz=Budget=y°py. Analog gilt für ∆z und ∆y stets ∆z°pz=∆y°py.

[18] Wie z* und y* sowie ∆z und ∆y zusammenhängen müssten, lässt sich aus Endnote 17 erschließen. Auf  konkrete Zahlenwerte kommt es hier aber nicht an.

[19] Man beachte den Wechsel der Relation '>' zu '<' beim Herauskürzen der negativen Zahl -∆y. Denn 2 ist zwar größer 1, aber -2 ist kleiner als -1.

[20] Mathematisch trainierten Lesern sollte auffallen, dass eine Beschränktheit von u' im Grenz­fall Menge→unendlich implizit schon bei der Herleitung der Formel (5) unterstellt wurde, ein weiterer Spezialfall der ökonomischen Denkstruktur X→X (vgl. Kapitel III).

[21]Erstausgabe Lausanne 1874/77 in zwei Bänden. Die letzte frz. Ausgabe erschien 1926 mehr als 15 Jahre nach Walras' Tod. Von dieser wie von ihren Übersetzungen gibt es zahlreiche Nachdrucke, u.a.  bei Orion Editions, Philadelphia 1984.

[22] x²=c müsste danach immer genau eine Lösung besitzen. Tatsächlich gibt es genau eine Lösung im Fall c=0 (sie lautet x=0), zwei Lösungen im Fall c=1 (x=+1 und x=-1) und gar keine Lösung im Fall c=–1. Das Ausmaß der Unsinnigkeit, überhaupt 'An­zahl der Gleichungen' und 'Anzahl der Unbekannten' mit 'Anzahl der Lösungen' zu verknüpfen, verdeutlicht folgendes nichtlineare System aus einer Gleichung mit beliebig vielen Unbekannten: x²+y²+...=c. Unabhängig von der Anzahl möglicher weiterer Unbekannter neben x und y hat es unendlich viele Lösungen im Fall c=1, die eine Lösung x=y=...=0 im Fall  c=0, und gar keine Lösung im Fall c=–1.

[24] Damit nicht der Eindruck entsteht, Walras' Behandlung sei zumindest für lineare Gleichungssysteme korrekt, hier einige Gegenbeispiele mit Hinweisen für Nach­hilfelehrer. Das aus zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten bestehende System 'x+y=0 und x-y=0' hat tatsächlich genau die eine Lösung x=y=0, die (vgl. Haupttext) deshalb 'eindeutig' ist, weil sie inhaltlich sinnlos ist. Schon das ebenfalls aus zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten bestehende System 'x+y=0 und 2x+2y=0' hat viele Lösungen, und zwar genau dieselben wie das aus einer Gleichung mit zwei Unbekannten bestehende System 'x+y=0', nämlich alle Zahlenpaare des Typs (a,-a). Zu lernen ist hier der Unterschied zwischen 'Anzahl der Gleichungen' und 'Anzahl der linear unabhängigen Gleichungen'. Da die Anzahl der Lösungen im Beispiel 'unendlich' ist, empfiehlt sich ferner, den Begriff 'Rang einer Matrix' anzusehen und den Unterschied zwischen 'Anzahl der Lösungen' und 'Dimension des Lösungs­raums'. Die 'Anzahl' ist im Beispiel 'unendlich', die 'Dimension' ist '1', und diese Eins ist die Differenz zwischen 'Anzahl der Unbekannten' und 'Rang der Matrix'. Damit sind wir der korrekten Form des Abzählkriteriums schon so nahe, dass wir eine Gleichung betrachten können, die vom Typ her der Walrasschen ähnelt, näm­lich das dem letztgenannten System sehr ähnliche System 'x+y=1 und 2x+2y=0'. Ohne dass sich irgendetwas an der Zahl der Gleichungen oder der Unbekannten geändert hat, reduziert die unschuldige '1' auf der rechten(!) Seite die Anzahl der Lösungen von 'unendlich viele' auf 'gar keine'. Verständnis für dieses Phänomen gewinnt man nach Erlernen des Unterschieds zwischen 'homogen linear' und 'inho­mogen linear'. Auf der Verwechslung gerade dieser Begriffe beruht ein quer durch die Ökonomie (insbes. die neoricardianische) betriebener mathematischer Unfug namens 'Numérairewahl'. Diese beinhaltet die Zusatzforderung, irgendein Preis solle '1' sein oder die betreffende Ware(nmenge) 'der Wertstandard' (inhaltlich umgeht man es damit, in diese Rolle den Wert der Arbeitskraft einzusetzen). Eine Zusatzbedingung der Form x=1 vermehrt jedoch nicht nur die Anzahl der Glei­chungen, sondern verwandelt das in vielen ökonomischen Rechnungen bis dahin homogene Gleichungssystem immer in ein inhomogenes. Unsinnig ist jede Numé­rairebildung in nichtlinearen Systemen wie dem Walrasschen. Walras erzeugt so den Widerspruch, einerseits eine mathematische Argumentation zu nutzen, nach der alle Preise null sein müssten, und andrerseits zur 'Vereinfachung der Rechnung' einen Preis gleich '1' zu setzen, indem durch ihn dividiert wird. Dagegen verblasst schon fast der weitere Unsinn, neoklassische (dimensionsbehaftete) Preise und zugehörige (dimensionsbehaftete) Nachfragemengen als dimensionslose Zahlen (z.B. als '1') anzusehen. Auszuführen, welche weitere Formen von Unsinn aus einer Numérairewahl entstehen können(!), würde den hier verfügbaren Raum sprengen.


[25] Dieser Lehrsatz entstammt einem Kölner Karnevalslied und ist deshalb sowohl beweisbar als auch zuverlässig bewiesen. Der Refrain des Beweises lautet: 'Dreimol null es null bliev null, denn mer wore all bejm Walras en d'r Schull.'

[26] Der Autor dankt Carsten Weber für Hinweise, welchen 'wirklichen' Zwecken die Formelwuste in modernen Ökonomiebüchern dienen könnten, oft halbseitengroß, teilweise fettgedruckt, mit verschnörkelten altgriechischen und anderen exotischen Symbolen, diese zuckerbäckerartig indiziert mit Buchstaben statt ordinären Zahlen usw. Derartiges könne ähnliche Abschreckungs- und Einschüchterungswirkungen hervorrufen, wie man sie Glanzstücken stalinistischer Architektur zuschreibt.

[27] Ausführlich hierzu: Andreas Jäger, Was ist Ökonomie? Zur Formulierung eines wissenschaftlichen Problems im 19. Jahrhundert, Marburg 1999, S. 69-97

[28] „Fiktionen über Geld – und Geld als höchste Form der Kapitalfiktion“, S. 138-204

[29] Wie dies finanztechnisch ausgeführt und theoretisch verdrängt wird, behandelt Kapitel XIII des Buches („Der irreale Traum vom wahren Geld“, S. 308-344).

[30] Offenbar lohnt es, für 300 Mio. Dollar zwischen den Börsen von London und New York ein neues Kabel zu verlegen, um die Kommunikation zwischen beiden Orten um 0.006 Sekunden zu beschleunigen (http://www.computerbase.de/news/2011-09/300-mio.-dollar-neues-transatlantikkabel-spart-6-ms). Die technische Anforde­rung an den Ökonomen besteht selbstverständlich nicht darin, das Kabel zu verle­gen. Sie besteht darin, den zum Verständnis der (wirtschaftlichen) Welt führenden Denkprozess in den Bereich 'hundertstel bis tausendstel Sekunde' zu verkürzen, wenn verhindert werden soll, dass der gerade anvisierte Mehrwertanteil doch noch von einem Konkurrenten weggeschnappt wird. Lt. angeführtem Artikel erbringt jede Tausendstelsekunde Signalbeschleunigung jährlich 100 Mio. Dollar an zusätz­lichem Gewinn. Leider wird nicht gesagt, wer an welchen anderen Orten der Erde dafür auf Endprodukt V+M im Gegenwert von 100 Mio. Dollar verzichten muss.

[32] Dazu Abschnitt XIII.1 des Buches über "Gesellianismus, Debitismus, Vollgeld & Co.: Ideologien untergehender Kleinbürger" (S. 308-327). Siehe hierzu auch Knut Hüllers Beitrag auf wertKRITIK.org: Der unkapitalistische Kapitalismus der C. Felber & Co. Warum Geld die Geldwirtschaft nicht vor sich selber retten kann

[33] Mauro Gallegati, Steve Keen, Thomas Lux und Paul Ormerod, Worrying Trends in Econophysics, Physica A, Bd. 370 (2006), S. 1-6. Im Netz unter: https://www.academia.edu/8020587/Worrying_trends_in_econophysics

[34] Vgl. z.B.: Joseph McCauley, Response  to 'Worrying Trends in Econophysics', http://arxiv.org/pdf/physics/0606002.pdf

[35] Inhaltlich grotesk ist es, 'Erhaltungssätze' auf eine Jäger- und Sammlerhorde anzu­wenden, die von der Hand in den Mund lebt. Die im Zusammenhang des Fix- und Geldkapitals näher behandelte Unfähigkeit der Ökonomie, Bestände von Flüssen zu unterscheiden, wird hier auf eine neue, diesmal aber lehrreiche Weise reprodu­ziert. Denn was bleibt in einer Jäger- und Sammlergemeinschaft (sofern sie nicht untergeht) wirklich dauerhaft 'erhalten'? Es ist das, was der moderne Ökonom als 'Humankapital' bezeichnet, nachdem es beim kaiserlichen General noch 'Menschen­material' hieß. Vielleicht stößt diese Überlegung etwas Nachdenken über die 'gesellschaftswissenschaftlichen Inhalte' der real existierenden Ökonomie an?

[37] Großteils Statistik (d.h. Thermodynamik, insbes. in Nichtgleichgewichts-Varianten) sowie 'Nichtlineare Dynamik', mit der u.a. das Verhalten von Fluiden in Behältern behandelt wird. Eines der ersten faktischen Lehrbücher ist: Joseph McCauley, Dy­namics of Markets, Cambridge 2004. Es ergänzt viele Rechnungen um Kommenta­re, die gut verständlich sind, ohne dass man den mathematischen Apparat durch­stiegen haben muss. Neben einer Erklärung der Bedeutung des fat-tails-Befunds findet sich u.a. eine Darstellung, wie die Fehleinschätzungen der Gleichgewichts-Ökonomie zur Pleite des LCTM-Hedgefonds in 1998 beitrugen. Mit 10 Mrd. Dollar Schaden war sie aus heutiger Sicht zwar ein Peanuts-Ereignis, bleibt aber interes­sant als die erste Großpleite (nach damaligen Maßstäben) des globalen Finanzkapi­talismus. Nebenbei demonstriert das Buch mit teilweise schon satirischen Formu­lierungen, wie ein außerhalb aller Wirtschaftstheorie ausgebildeter positiver Wissenschaftler das Treiben der rechnenden Ökonomen wahrnimmt.

[38] Alternative: Analog zu einer Ökonomie, die Mehrprodukt verkaufen lässt, ohne dass es Käufer gibt, ließe sich in die ökonomische Physik eine Unsichtbare Pumpe einfügen, die unablässig Dampf aus einem Nichts herbeischafft.