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Gerold Wallner

 

Anfänge – und wie weiter?



Rezension zu:

David Graeber & David Wengrow: The Dawn of Everything. A New History of Humanity. New York: Penguin, 2021

(dt.: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Stuttgart: Klett-Cotta, 2022)


 

 

David Graeber, ein amerikanischer Anthropologe und anarchistischer Aktivist (IWW, Occupy Wallstreet), und David Wengrow, ein britischer Archäologe und Historiker, beide unterrichten in London, Graeber aber ist leider schon verstorben, haben ein Buch herausgebracht, das nichts weniger verspricht als eine neue Geschichte der Menschheit oder des Menschseins. Nun hat es mit historischen Büchern seine eigene Bewandtnis. Was sich in ihnen findet, wovon die Autoren schreiben, ist als Vergangenheit nicht zu ändern. Das Neue an solchen Werken ist daher oft auf die Gegenwart mit einer neuen Sichtweise auf Vergangenheit bezogen, im besten Fall sogar mit einer Nutzanwendung verbunden; von daher das Stereotyp, wir könnten aus der Geschichte lernen. Im vorliegenden Fall soll dies wohl so gedacht sein.

 

Ich weiß nicht, wie sich die beiden Autoren an die Arbeit gemacht und sie aufgeteilt haben, sie sprechen nur von langen Diskussionen. Aber vielleicht ist es doch so, dass entsprechend ihren Fachgebieten Wengrow historisches Material beigetragen hat, während Graeber eher die sozialen Formationen in ihrem Wandel oder ihrer Flexibilität im Auge hatte und daraus Konsequenzen für mögliche Veränderungen der heutigen Gesellschaft zog. Für eine gesellschaftskritische Leserschaft wirft dies die Frage auf, nicht zuletzt wegen Graebers politischer Aktivitäten, ob nun „a new history of humanity“ auch zu neuen Ausblicken auf eine Veränderung unserer bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse führen könne. Ich schreibe also diese Rezension unter diesem Aspekt. Dabei stellt sich die Frage, ob es sich bei diesem Buch überhaupt um eine Menschheitsgeschichte handelt. Meines Erachtens nicht: Eher handelt es sich um einen Katalog verschiedener Möglichkeiten, menschliches Zusammenleben zu gestalten, wobei Chronologien, das Um und Auf von Geschichtsschreibung, ebenso wenig eine Rolle spielen wie Kausalität. Aber ein umfangreiches historisches Material, ungeordnet, eher dem Argument des Narrativs untergeordnet als einer geordneten Abfolge in Zeit und Raum, wird ausgebreitet und interpretiert.

 

Der „Beginn von allem“ (dawn heißt eigentlich „Heraufdämmern“, nicht einfach „Anfänge“, kann aber auch als „Tagesanbruch“ verstanden werden) wird das ganze Buch hindurch infrage stellt. Keine diachrone Betrachtung, durch die Zeit hindurch, wird angestrebt, sondern ein synchrones, gleichzeitiges Moment soll zur Sprache kommen. Graeber/Wengrow schreiben, dass historische Ereignisse sich durch zweierlei auszeichnen (S. 439): Sie sind nicht vorhersagbar und nicht wiederholbar. Daher entziehen sie sich auch der Vergleichbarkeit. Insofern sei es verführerisch, der Geschichte der Alten Welt, also Eurasiens und (Nord-)Afrikas, so etwas wie Allgemeingültigkeit zu unterstellen und daraus historische Gesetzmäßigkeiten abzuleiten.

 

Graeber/Wengrow verneinen aber historische Gesetzmäßigkeiten entsprechend einer evolutionären Geschichtsbetrachtung und eine daraus abgeleitete unabdingbare Notwendigkeit. Bei dem Versuch, diese Sicht argumentativ zu befestigen, finden sie eine zweite kontinentale Entwicklung, die amerikanische, die sie der eurasisch-afrikanischen gegenüberstellen. Und hier bietet sich nun doch die Möglichkeit, historische Entwicklungen im großen Maßstab zu vergleichen und die Frage zu stellen, ob die eurasische Entwicklung wirklich unabdingbar und alternativlos war, vor allem die Entwicklung hin zu Königtümern und in der Folge zu Nationalstaaten. Diese Gegenüberstellung zwischen Alter und Neuer Welt wird vor allem in den Eingangskapiteln gemacht und dann in den letzten zwei wieder aufgenommen. Anfangs jedenfalls werden das Aufeinandertreffen der Europäer und Amerikaner im 17. Jahrhundert rund um die Großen Seen beschrieben und die daraus folgenden Diskussionen und intellektuellen Debatten vor allem unter dem Aspekt, wie sie das europäische Denken beeinflusst haben, dargestellt. Diese „indigene Kritik“ war in Europa in intellektuellen Kreisen weit rezipiert und war nicht nur ein literarischer Bestseller, sondern hat Denken und Formen der Auseinandersetzung um die Gesellschaft in Zeiten der beginnenden französischen Aufklärung stark beeinflusst.

 

Aus dieser Kritik und Auseinandersetzung heraus – Gewährsmann für Graeber/Wengrow ist der Häuptling (Führer, Politiker) Kondiaronk, wie er in den Aufzeichnungen des Barons Lahontan geschildert wird – stellen sie die Frage nach den Kriterien von Freiheit und Herrschaft. Für Freiheit machen sie drei Merkmale geltend: erstens die Freiheit, zu kommen und zu gehen, zweitens die Freiheit, gegebenen Anordnungen nicht nachzukommen, und drittens die Freiheit, gesellschaftliche Beziehungen und Organisationen zu gestalten oder zu verwerfen. Ebenso gibt es drei Merkmale für Herrschaft. Die sind Gewalt, Wissen und Charisma. Alle drei treten in sublimierter Form im heutigen Nationalstaat gemeinsam auf: Gewalt, also die Potenz, Leben zu nehmen, findet sich im Gewaltmonopol der staatlichen Souveränität; Wissen, also die Fähigkeit, gesellschaftliche Kenntnisse zu akkumulieren und zu verwalten, nimmt die Form der Bürokratie an; Charisma, also das im Kampf erworbene Prestige, zeigt sich als heroisches Narrativ in der Form der Auseinandersetzung politischer Parteien und ihrer Traditionen. Neben dieser etwas schematischen, aber durchaus praktikablen und funktionalen Darstellung stellen die Autoren aber die Frage, was nun in der Geschichte so furchtbar falsch gelaufen sei: „There is no doubt that something has gone terribly wrong with the world.“ (S. 86)

 

Was aber so furchtbar falsch gelaufen sei, war die nun unaufhaltsame Entwicklung hin zu Königtum und Nationalstaat in den letzten Jahrhunderten. Dem stellen Graeber und Wengrow – und da zeigt sich die Anwendbarkeit ihrer jeweils drei Kriterien – die Existenz von Regimen erster und zweiter Ordnung gegenüber („first-order regimes“, z.B. S. 383, und „second-order regimes“, z.B. S. 494), von Regimen also (die Autoren sprechen hier explizit nicht von Staaten), die nur ein Merkmal oder nur zwei der drei Bestimmungen von Herrschaft aufweisen. Erst der moderne Nationalstaat und sein absolutistischer Vorläufer vereinen alle drei. Auch waren die drei Bestimmungen von Freiheit in diesen Regimen nicht im heutigen Ausmaß eingeschränkt oder ausgemerzt, real oder im Bewusstsein der Bevölkerung (wie etwa die Freiheit, eine neue soziale Ordnung zu errichten), schreiben die Autoren. Als Beispiel führen sie das antike Rom und andere antike Reiche auf beiden Kontinenten an, die bei aller Größe, Dauer und Verwaltung „could not prevent large-scale movements of people into and out of their spheres of control“ (S. 435). Ab Seite 504 beschreiben Graeber/Wengrow auch einen möglichen Ablauf des Verlusts der drei Freiheiten am Beispiel sumerischer Tempelwirtschaft. War die Tätigkeit erst einmal an einen Ort gebunden, war es auch leicht, Befehlsgewalt durchzusetzen, was die Freiheit, andere gesellschaftliche Formen des Zusammenlebens zu gestalten, aufhob.

 

Hier zeigt sich der etwas willkürliche Umgang mit dem historischen Material durch die Autoren. Wenn sie behaupten, erst der moderne Staat schaffe die drei Freiheiten ab und umfasse alle drei Merkmale von Herrschaft, kann das Beispiel sumerischer Tempelwirtschaft bestenfalls anekdotisch und illustrativ sein, bezieht sich aber in keiner Weise auf die Entstehung neuzeitlicher Staaten und Herrschaftsverhältnisse.

 

Die Autoren beschreiben auch andere gesellschaftliche Verhältnisse als die der Neuzeit und der Moderne in keiner Weise als Vorbilder, geschweige denn als paradiesisch. Sie beschreiben sie nur als anders, womit sie beweisen oder wenigstens andeuten, dass für unsere herrschenden Verhältnisse keinerlei Notwendigkeit besteht. Deutlich machen sie das in einer Passage des letzten Kapitels über Folter und Hinrichtung bei den Wendat (Huronen) und im zeitgenössischen Frankreich. In beiden Fällen handelte es sich oft um ausgesuchte Grausamkeiten, aber auch gravierende Unterschiede:


„As the Quebecois historian Denys Dêlage points out, Wendat who visited France were equally appalled by the tortures exhibited during public punishments and executions, but what struck them as most remarkable is that ,the French whipped, hanged, and put to death men from among themselves‘, rather than external enemies. […] As a Wendat traveller observed of the French System, anyone – guilty or innocent – might end up being made a public example. Among the Wendat themselves, however, violence was firmly excluded from the realm of family and household.“ (S. 498f.)

 

Welche Schlussfolgerungen sind hier nun zu ziehen? Oder anders gesagt, welche Kritiken habe ich anzubringen? Zunächst einmal ist der Ansatz, Amerika Eurasien gegenüberzustellen, höchst interessant. Hier ist es das Auftreten der eher kurzlebigen first- und second-order regimes, in dem sich Parallelen finden lassen. Dann aber beschreiben die Autoren die zwei großen Abweichungen von der eher üblichen Entwicklung auf den beiden kontinentalen Sphären: In Europa ist es Kreta, das mit Besonderheiten auffällt. Das ist zum einen die dominante Stellung der Frauen, zum anderen, dass die Paläste und Städte offenbar unbefestigt waren. Graeber/Wengrow schließen daraus auf eine Gesellschaft, die zwar in den bronzezeitlichen Handels-, Reise- und Kulturhorizont integriert, aber bis zur mykenischen Eroberung grundlegend anders war. In Amerika war es die Entwicklung der Mississippikultur von Cahokia, die besonders erwähnt wird, vor allem was ihren Untergang betrifft. Die Autoren beschreiben ein second-order regime, dessen Herrschaft immer rigider wurde, bis offensichtlich die „Untertanen“ sich aus dem Herrschaftsbereich zurückzogen (Freiheit, zu kommen und zu gehen) und eine Herrschaft ohne Untertanen verfiel. Das Besondere, das die Autoren in der Geschichte von Cahokia konstatieren, ist nicht der Auszug; das ist offensichtlich in der frühen Geschichte der Menschheit öfter vorgekommen, schleichend oder organisiert, und könnte durchaus auch eine Antwort auf die Frage nach Gründen für den Untergang von Reichen liefern. Hier aber haben wir es laut Graeber/Wengrow mit einer danach erfolgten damnatio memoriae zu tun. Das Gebiet wurde trotz seiner Fruchtbarkeit jahrhundertelang nicht wieder besiedelt.

 

So weit, so gut. Meine Kritik setzt allerdings dort ein, wo es um Begrifflichkeiten und Terminologien geht. Beginnen wir mit Rousseau, wie es Graeber/Wengrow tun. Sie rezipieren ihn mit seinem Essay über Ursprung und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Darin nehmen sie seine Behauptung (und derer, die in dieser Tradition stehen) auf, Ackerbau sei möglicherweise der schlimmste Fehler der Menschheit gewesen und erst mit der Agrarischen Revolution hätte ein Zustand von Gleichheit ein Ende gefunden (S. 16). Lassen wir das für einen Moment so stehen, wir werden aber darauf noch einmal zurückkommen müssen. Nachdem sich Graeber/Wengrow an Rousseau und auch an Hobbes abgearbeitet haben und an deren jeweiligen Vorstellungen eines Naturzustands, machen sie sich daran, für diese Vorstellungen historische Belege zu finden. Es geht also um „egalitäre“ Gesellschaften oder um solche, die zu einer Herrschaft gefunden haben, die ihre Konflikte zähmen soll.

 

Hier warten sie nun mit Beispielen auf, die beiden Vorstellungen widersprechen, aber auch der Behauptung, die Agrikultur, Landwirtschaft mit Getreideanbau, sei für den Zustand der Menschheit prägend geworden. Sie führen ihre Belege an, in denen sie saisonalen Wechsel von reproduktiven Tätigkeiten zeigen, z.B. einen Wechsel von Acker- und Gartenbau im Sommer mit Wildbeutertum (foraging) nach der Ernte. Sie beschreiben diesen saisonalen Wechsel nicht nur von Versorgungsarbeit, sondern auch von Wohnstätten, Siedlungsgrößen und damit einhergehend von sozialen Strukturen und schließen daraus auf die menschliche Freiheit (in meinen Augen die zutiefst wirkliche und einzige Kompetenz der Leute[1], nämlich Gesellschaften zu gestalten), soziale Beziehungen nach Belieben zu ändern (aber saisonal beschränkt).


Mir erscheint das etwas weit hergeholt. Bekanntlich gibt es bis heute Halbnomadismus in der alpinen Viehhaltung, und bekanntlich gibt es auf der Alm keine Sünde, ein Hinweis des Volksmunds, der auf die Sistierung dörflicher Regeln und die Autonomie der Sennen und Sennerinnen in den Monaten auf der Alm verweist; und wer auf einer Almhütte einkehrt, kann das erleben. Die Regeln dort machen die Sennleute. In der Stallhaltung des Winters machen die Bauern die Regeln und die Sennen machen sich oft an andere Tätigkeiten, auch an anderen Orten, die mit Viehhaltung nichts zu tun haben. Ein Wechsel von Wohnorten und Tätigkeiten entsprechend den Jahreszeiten muss also noch nicht bedeuten, dass sich mit ihnen gesellschaftliche Veränderungen verbinden. Meines Erachtens sind diese Veränderungen, die Graeber/Wengrow beschreiben bis hin zu Verlust von Macht und deren Wiedergewinnung entsprechend der jahreszeitlichen Tätigkeit, kein Hinweis auf Freiheiten, sondern auf strukturierten Wechsel.


Aber was für mich viel schwerer wiegt, ist, dass Wengrow/Graeber darin eine Widerlegung Rousseaus insofern finden, als sie sich auf seinen Ackerbau kaprizieren. So lassen sie die Leute zwischen Ackerbau und einem anderen, womöglich egalitären Zustand flottieren. Nun ist aber die so genannte Agrarische Revolution nicht durch Ackerbau gekennzeichnet, sondern durch Sesshaftigkeit. Diese schließt aber neben dem Acker- und Gartenbau auch Viehzucht mit ein (und die Viehzucht Nomadismus als extreme Form der Sesshaftigkeit[2]) sowie Transfer und Austausch zwischen beiden; so etwa den „Export“ von Pferden, Wagen und Karren, aber auch Metallen aus den Steppen nördlich des Schwarzen Meers nach dem Fruchtbaren Halbmond und nach China (vgl. Anthony 2007; Cunliffe 2017). Das heißt, wir müssen die verschiedenen saisonalen sozialen Formen des Zusammenlebens in zwiefacher Form doch unter dem Aspekt betrachten, dass sie beide in einer Gesellschaftsform gründen und sich in einem sozialen und ökonomischen Austausch befinden.


Das wiederum führt mich zu meinem zweiten großen Einwand. Wengrow/Graeber verwerfen eine evolutionistische Gliederung der Menschheitsgeschichte mit Determinismus und ihr innewohnender Gesetzmäßigkeit, die heutige und frühere Historiker herauslesen wollen. Nur eine Textstelle als Beleg dafür:


„In his 1877 Ancient Society, Lewis Henry Morgan proposed a series of steps from ‚savagery‘ through ‚barbarism‘ to ‚civilization‘ which was widely adopted in the new field of anthropology. Meanwhile, Marxists concentrated on forms of domination, and the move out of primitive communism towards slavery, feudalism and capitalism, to be followed by socialism (then communism). All these approaches were basically unworkable, and eventually had to be thrown away as well.“ (S. 436)


Am Anfang des Buchs und in seinem vorletzten Kapitel finden wir diese Abrechnung mit „evolutionistischen“ Etappenmodellen immer wieder, woher sie auch stammen, und mit dem Vermerk versehen, dass sie nicht funktionieren würden. Ich bin nun durchaus bereit, dieser Aussage zuzustimmen, jedoch nicht bereit, daraus die voluntaristischen Konsequenzen anzuerkennen, die die Autoren ziehen. Aber hier betreten wir das Gebiet der Geschichtsphilosophie. Zunächst will ich festhalten, dass bei allen Beispielen für eine frei gewählte gesellschaftliche Organisationsform (von saisonal verschiedenen Verhaltensweisen bis zum Verlassen eines Herrschaftsbereichs) diese quasi außerhalb der Zeit zu stehen scheinen. Wenn man der Argumentationslinie im Buch folgt, scheint eine freie Wahl der Form gesellschaftlicher Organisation im Prinzip immer möglich gewesen zu sein, bis erst in jüngster Zeit etwas „went terribly wrong“. Abgesehen davon, dass die Autoren nicht sagen, wie und warum etwas furchtbar schief gegangen ist, geben sie weder Ausblick noch Ausweg aus der Misere außer einer neuen Geschichtsschreibung.


Und hier stimme ich zwar überein, dass aus der Geschichte für ihren Verlauf keinerlei Determinismus, auch keine Teleologie oder naturgesetzmäßige Entwicklung abzulesen ist, aber es genügt auch nicht, sich mit einem nur sehr ungefähren chronologischen Ablauf zu begnügen, aus dem dann die der eigenen Vorstellung entsprechenden Rosinen herausgepickt werden. Ich habe schon weiter oben angedeutet, dass der Wechsel zwischen Agrikultur und Wildbeuterei, zwischen Säen und Ernten hier und Jagen und Sammeln da, auf dem Boden bestehender gesellschaftlicher Organisationsformen zu betrachten ist. Kommt es also zu einem Wechsel (re)produktiver Tätigkeiten (für viele Epochen in der Geschichte gab es die Trennung von Produktion und Reproduktion in unserem modernen Sinn gar nicht), dann muss der gesellschaftliche Rahmen, in dem sich dieser – im Übrigen offenbar permanente und also strukturierte – Wechsel vollzieht, in der Betrachtung berücksichtigt werden. Das tritt in dem Buch zurück zu Gunsten einer Argumentation, die der Möglichkeit völlig freien gesellschaftlichen Handelns das Wort redet, unabhängig von äußeren Beeinflussungen, abhängig nur vom Willen einer gegebenen gesellschaftlichen Gruppe.


Dass das nicht stimmen kann, liegt auf der Hand. Der saisonale Wechsel mit unterschiedlichen Tätigkeiten und unterschiedlichen Organisations- und Verhaltensweisen ist doch klarerweise abhängig eben von den Saisonen und ihren jeweils unterschiedlichen Nahrungsangeboten und geschieht nicht aus Jux und Tollerei. Das schließt natürlich nicht aus, dass die Leute entsprechend der Umgebung und den Umständen eine für sie adäquate, mit möglichst wenig Mühsal und Aufwand verbundene Wahl treffen. Selbst dort, wo sie – wie in Cahokia, und es lassen sich vielleicht, wie oben angedeutet, auch andere Beispiele für Untergang durch Auszug finden – vom herrschaftlich zentralisierten Stadtleben zu einem freier organisierten Dorfleben übergehen, vollzieht sich das noch immer auf dem Boden landwirtschaftlicher Produktion, die mehr ist als Rousseaus und Graebers/Wengrows Ackerbau. Das heißt, es gibt kein Zurück hinter die Sesshaftigkeit.


Die Frage nach dem „kein Zurück“ wird bei den beiden Autoren nicht angerissen. Es bleibt beim Konstatieren vom gleichzeitigen Vorhandensein agrarischer und wildbeuterischer Kulturen. Das ist so originell nicht und entspricht dem Befund sowohl konservativer bürgerlicher Anthropologen rund um die vorletzte Jahrhundertwende wie auch dem zeitgenössischer Forscher.[3] Allerdings ist es von nicht geringer Bedeutung, ob Wildbeutertum neben der Sesshaftigkeit vorkommt und unabhängig von ihr, wie etwa die Wildbeuterpopulationen im Norden der Steppen, die von nomadischen Viehzüchtern bevölkert waren.


Anders verhält es sich mit Wildbeuterei, die im Rahmen des saisonalen Wechsels aufgenommen wird. Ich würde aber dieses Sammeln und Jagen anders bewerten und nicht als Wildbeuterei (foraging) bezeichnen, wenn mir auch ein geeigneterer Begriff dafür fehlt. Aber um meinen Standpunkt zu verdeutlichen: Ich hätte auch traditionelle Bauernwirtschaften im Winter, wo nicht auf den Feldern und Äckern gearbeitet wird, sondern in Stuben und Höfen dem Spinnen und Weben, Instandhalten und Neuanfertigen von Werkzeugen, Tischler- und Schmiedetätigkeiten nachgegangen wird, nicht als saisonales Handwerk bezeichnen wollen. Man sieht also schon, worauf ich hinaus will. Es gibt gesellschaftliche Horizonte, hinter die es, sind sie erst einmal erreicht, kein Zurück gibt. So nimmt es auch nicht wunder, dass bei all den Beispielen, die Graeber/Wengrow für (willkürlichen) sozialen Wandel und für gleichzeitige gesellschaftliche Verschiedenheit zitieren, kein einziges dabei ist, bei dem hinter die agrarische Produktionsweise dauerhaft zurückgegangen wird. Wobei ich noch einmal betone: Agrarische Produktion beschränkt sich nicht auf Ackerbau und Ernte, sondern schließt Viehhaltung und Schlachtung ein, ebenso handwerkliche Tätigkeiten, die nicht an Städte gebunden sind wie das Verarbeiten von Leder und Milch oder Schmieden, aber eben auch saisonales Sammeln von Früchten, deren Anbau zu schwierig (Pilze) oder unnötig (Beeren) ist.


Ähnliche begriffliche Ungenauigkeiten sind dort anzutreffen, wo Graeber/Wengrow über weibliche Tätigkeiten und das damit verbundene gesellschaftliche Prestige schreiben. Es hat hier mehr literarischen als theoretischen Charakter, wenn sie das Weben von Stoffen durch Frauen mit dem Gestalten von Beziehungen vergleichen oder im Kapitel „Gardens of Adonis“ (S. 212) ein spielerisches Pflanzen durch Frauen beschreiben, das scheinbar absichtslos nur dem Schmuck von Dachterrassen im Zuge von Riten rund um den Tod Adonis dient, die von Frauen vollzogen werden. Darauf lassen die Autoren folgendes lesen: „But maybe farming began as a more playful or even subversive kind of process – or perhaps even as a side effect of other concerns, such as the desire to spend longer in particular kinds of locations, where hunting and trading were the real priorities.“ (S. 213)


Auch hier wird einem gesellschaftlichen Voluntarismus das Wort geredet, der ohne gesellschaftlichen Rahmen immer und überall erwünschte Ergebnisse zeitigen soll (bis etwas furchtbar schief geht), wobei neben dem „hunting“ auch „trading“ vorkommt, ohne weiter spezifiziert zu werden: Welche Produkte? Zu welchen Zwecken? Beispiele für erhebliche Mobilität der Leute sind meines Erachtens an Religionen gebunden, insofern an den Kulturhorizont der Sesshaftigkeit. Es wäre nun aber von den beiden Autoren wohl zu viel verlangt, wenn sie sich jetzt auch noch mit der Geschichte der Stellung von Frauen in verschiedenen gesellschaftlichen Horizonten befassen müssten, abgesehen davon, dass die Stellung der Frauen in unserer Gesellschaft bei ihnen überhaupt nicht erwähnt wird.


An dieser Stelle erhebt sich die Frage, wodurch unhintergehbare gesellschaftliche Horizonte gegeben sind. Ich denke, was so ein Unhintergehbares ausmacht, ist auch, was eine gesellschaftliche Formation ausmacht und ihr eine Bestandsgarantie ausspricht. Für die etwa 10.000 bis 11.500 Jahre agrarischer Formation ist das die Religion. Egal, welche Form sie annimmt, egal in welcher Zeit und an welchem Ort welche Religion dominant ist, was für alle und durch die ganze Zeit hindurch gilt, ist die enge, intime, verlässliche Beziehung zwischen Gottheit und Menschheit, hergestellt durch Abstammung oder Erschaffung oder Erwählung, und der Bericht von der Erschaffung der Welt – natürlich für Sesshafte. (Das gilt vom Paradies bis zu Midgard und für alle anderen religiösen Schöpfungserzählungen.) In diesen Schöpfungsmythen spiegelt sich die Herstellung der Neuen Welt wider: neue Pflanzen, neue Tiere, neue Umwelt, neue Menschen in neuer Behausung, geschaffen durch den doch recht langen Prozess der agrarischen „Revolution“. Dessen Ergebnis aber wird als menschliche Schöpfung geleugnet und an die übermenschliche Instanz der Gottheit verwiesen. So wird ein Verstoß der Menschen gegen ihre eigene Schöpfung unmöglich, wird zu Sünde und Frevel, was manchmal noch auf dieser Welt oder jedenfalls später entsprechend geahndet wird.


Wer hier an ein Fetischverhältnis denkt, hat vollkommen recht. Solang dieses Fetischverhältnis wirkt, solang also die Erklärung für die vorgefundene Welt und deren Bestand, durch das Wirken der Gottheiten garantiert, nicht in die Krise gerät, solang vollzieht sich menschliches gesellschaftliches Handeln in diesem Horizont, der noch nicht überschritten werden kann. Erst eine Krise der Erklärung für Welt und Gesellschaft und deren Zusammenhalt erlaubt eine kontingente Situation des katastrophischen Zusammenbruchs, in der sich vollkommen andere Beziehungen herstellen lassen: Andere Produktionsweisen, andere Erklärungen, andere gesellschaftliche Verhältnisse können geschaffen werden. Um die abzusichern, ist wieder ein Verweis auf Unumstößliches vonnöten, gegen das man sich nicht auflehnen kann: In unseren aktuellen Verhältnissen handelt es sich um die Verdinglichung sozialer Beziehungen und deren Absicherung durch die Konstruktion naturgesetzlichen Waltens.


Dies in aller Kürze und Unschärfe. Es ragen natürlich in unsere Formation, deren Fetisch – neben bzw. in Vermittlung mit dem Waren-, Wert- und Geldfetisch – die Naturgesetzlichkeit ist und deren Erklärung die Wissenschaft, Momente der religiösen Erklärung hinein. Wobei zu bemerken ist, dass dennoch die Religion insgesamt ihre Welterklärungskompetenz an die Wissenschaft abgetreten hat, was auch immer einige Gläubige dazu sagen mögen. Die Beziehung zu Gott ist entsprechend den Beziehungen unter den Menschen Privatsache geworden und treibt nicht mehr das soziale Gefüge an. Auch in die religiöse Formation mit ihrer sesshaften agrarischen (Re-)Produktionsweise ragen Momente der voragrarischen Formation mit ihrem vazierenden Wildbeutertum und ihrer magischen Erklärung der Welt und ihrer Menschen als lebendig und von Geistern beseelt. Und so werden die alten magischen Geister[4] in die religiöse Formation eingegliedert als Naturgottheiten, die in Bäumen und Gewässern oder Bergen wohnen oder mit ihnen identisch sind wie etwa Nymphen, oder als Mythen um ältere Gottheiten, die von den neuen jungen Göttern besiegt werden wie die Titanen von den Olympiern oder die Riesen von Asen und Wanen. Saisonale Wildbeutertätigkeit sollte also keinesfalls mit vazierendem Wildbeutertum gleichgesetzt werden, es handelt sich um Tätigkeiten in grundverschiedenen gesellschaftlichen Horizonten.


Graeber/Wengrow haben von Fetischverhältnissen keine Ahnung. Dementsprechend fällt auch ihre Beschreibung aus. Sie bieten für die verschiedenen beschriebenen gesellschaftlichen Phänomene keine Erklärung an außer dem Beharren auf der sozialen Phantasie der Leute und ihrer Freiheit, zu kommen und zu gehen, ihrer Freiheit, nicht zu gehorchen, und ihrer Freiheit, gesellschaftliche Bindungen zu gestalten oder aufzulösen. Woher diese Freiheiten rühren, warum sie heute nicht mehr wirksam sind, obwohl wir uns die „freie Welt“ nennen, in welcher Weise gesellschaftliche Tätigkeiten zulässig waren und für heute ein Vorbild sein sollen, das nicht nur hübsch, sondern auch praktikabel sein soll, dafür bleiben Graeber und Wengrow die Antwort schuldig. Insofern überrascht auch der Schluss des Buchs nicht, in dem sie auf eine neue geschichtliche Theorie hoffen:


„We can see more clearly now what is going on when, for example, a study that is rigorous in every other respect begins from the unexamined assumption that there was some ‚original‘ form of human society; that its nature was fundamentally good or evil; that a time before inequality and political awareness existed; that something happened to change all this; that ‚civilization‘ and ‚complexity‘ always came at the price of human freedoms; that participatory democracy is natural in small groups but cannot possibly scale up to anything like a city or a nation state. We know, now, that we are in the presence of myths.“ (S. 670)


Was also angeboten wird, ist ein Verwerfen von bisheriger Geschichtsideologie als „presence of myths“, ist ein neues historisches Narrativ, das auf nicht ganz so neuen Forschungen fußt, aber noch nicht seinen Weg in die Schulbücher und das historische Alltagsbewusstsein gefunden hat. Was nicht angeboten wird, ist die Möglichkeit eines Ausblicks auf andere soziale Verhältnisse, die die unseren überschreiten und von denen es dann kein Zurück geben wird. Oder die Kritik anders formuliert: Über ein Beklagen, dass „something went terribly wrong“, reicht das Buch nicht hinaus, und die verschiedenen angehäuften Beispiele für soziale Mobilität und Wandelbarkeiten leiten nicht zu einer Beschäftigung mit einem Systembruch dessen über, das „went terribly wrong“, auch nicht zur Perspektive einer Kritik und Auflösung des herrschenden Fetischverhältnisses, sondern verbleiben in ihnen, wenn auch deren kontingente Möglichkeiten, die die Geschichte der Menschheit angeboten hat, ausführlich, aber konsequenzlos beschrieben werden. So gesehen lässt das Buch einen etwas unbefriedigt zurück.




Literatur


Anthony, David W. (2007): The Horse, the Wheel, and Language, Princeton, N.J.


Cunliffe, Barry (2017): By Steppe, Desert, and Ocean: The Birth of Eurasia, New York.





Endnoten


[1] Ich betone gerne die Fähigkeit der Leute (der Menschen), gesellschaftliche Verhältnisse über angeborenes Sozialverhalten hinaus und jenseits davon zu gestalten, als menschliche Hauptkompetenz. Technische Kompetenzen oder solche der Erkenntnis betrachte ich demgegenüber als zweitrangig.


[2] Es handelt sich um die Haltung von großen Herden großer Tiere. Allerdings bedeutet die Tätigkeit von Hirten, dass sie die Herden auf von ihnen bestimmten Weiden halten, die durchaus zwischen Sommer und Winter changieren können. Der springende Punkt ist, dass auch die Weide ein fester Ort ist, den nicht die Herden auf Wanderungen aufsuchen, sondern der von den Hirten bestimmt ist. Das ist der Unterschied zur Großwildjagd des Mesolithikums, wo die Menschen den Herden folgen. Auch wenn sie dabei durch Jahre hindurch bestehende und aufgesuchte Jagdlager während der Jagd und danach zur Verarbeitung der Beute besiedeln, ist das nicht der feste Ort der Weide, den die Hirten bestimmen, sondern ein Lager, das von den Tierwanderungen bestimmt ist. Das gilt, solange die Schlachtung die Jagd nicht abgelöst hat; abgesehen davon, dass erwünschte Zuchterfolge durch gezielte Begattungen sich auch nur auf begrenzten Weiden leicht erzielen lassen. Von Nomadismus als Form von Sesshaftigkeit ist also zu sprechen, weil die Hirten den Herden nicht folgen, sondern sie führen und halten.


[3] Ich habe weiter oben Anthony und Cunliffe angesprochen; deren Lektüre ist empfehlenswert. Cunliffe gibt es auf Deutsch: 10.000 Jahre. Geburt und Geschichte Eurasiens.


[4] Magie, die ich im Leben der vazierenden Wildbeutergruppen zu sehen meine, drückt sich durch ein Erhalten von Gleichgewichten innerhalb einer Welt aus, in der alles lebt und beseelt und tätig ist. Reste davon finden sich beispielsweise in heutigen Jagdbräuchen, wo das erlegte Tier gelobt und mit dem letzten Bissen gefüttert wird, eine letzte Tradition von Jagdritualen, die die Wildpopulationen nicht nachhaltig verkleinern dürfen. Das gleiche gilt natürlich für das Sammeln, das sich auch an den Erhalt der erwünschten Pflanzen durch Beachtung von Reifezyklen halten muss. Diese im umfassenden Sinn soziale, ökologische Tätigkeit des Erhaltens der Natur wird fetischistisch abgesichert durch den magischen Glauben an die Beseeltheit von allem. Magische Geister sind also grundlegend verschieden von religiösen Schöpfergottheiten. Aber natürlich ist diese Interpretation eine „aufgeklärte“ und materialistische, vielleicht sogar eine mechanistische; und insofern eine gegenüber dem „magischen“ Denken der Wildbeuter abwertende.