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Andreas Urban


Überflüssigkeit als totale Institution

Zu Geschichte, Logik und Funktion des Altenheims


Zuerst veröffentlicht 2020 in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 17, S. 146-178


 

Zu der Vielzahl an Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft gehört u.a. auch eine strukturelle Altersfeindlichkeit. In einem früheren Artikel habe ich in diesem Zusammenhang von einer »Dissoziation des Alters« gesprochen, im Sinne eines aus der kapitalistischen Wert-Abspaltungs-Struktur resultierenden und auf allen gesellschaftlichen Ebenen wirksamen Prinzips, das den gesellschaftlichen wie individuellen Umgang mit dem Alter(n) und mit alten Menschen maßgeblich prägt (vgl. Urban 2018). Das Alter, so wurde dabei argumentiert, kann als ein Aspekt des menschlichen Lebens betrachtet werden, der gewissermaßen quer steht zur Logik der Kapitalverwertung und daher aus dem Wertverhältnis gleichsam ›herausfällt‹. In welcher Weise das Alter aus dem Wertverhältnis herausfällt, ist bereits auf der oberflächlichen Alltagsebene unmittelbar ersichtlich: Das Alter, im Sinne einer eigenständigen, chronologisch distinkten Lebensphase, konstituiert sich historisch (jedenfalls in der uns bekannten Form) erst unter den Prämissen der abstrakten Arbeit bzw. – genauer gesagt – durch die Ausgliederung alter Menschen aus der Erwerbssphäre, wie sie sich seit dem späten 19. Jahrhundert in der Einführung und Verallgemeinerung des Altersruhestands und damit assoziierter Pensions- und Rentensysteme institutionalisierte. Die Ausgliederung aus der Arbeit ist dabei gleichbedeutend mit einem Überflüssigwerden für den Kapitalverwertungsprozess, was einen entsprechend inferioren Status des Alters und als ›alt‹ identifizierter Menschen hervorbringt. Kulturell-symbolisch schlägt sich dies in einem extrem negativen Altersdiskurs nieder, insbesondere in einer gesellschaftlich dominanten Wahrnehmung alter Menschen als ›Unproduktive‹ sowie als gesellschaftliche ›Kostenlast‹. Auch auf einer sozialpsychologischen Ebene macht sich die kapitalistische Überflüssigkeit des Alters geltend, etwa in einer merkwürdig ›alterslosen‹ Konstitution des modernen, sich primär über Arbeit sowie Geschäfts- und Rechtsfähigkeit identifizierenden Subjekts – eine Subjektkonstitution, die eine rigorose Abwehr und Verdrängung sozialer und insbesondere physischer Begleitumstände des Alter(n)s erfordert. Dies kulminiert in der Gegenwart u.a. in einem zunehmend groteske Formen annehmenden Jugendlichkeitswahn, an den wiederum eine stetig wachsende Anti-Ageing-Industrie anknüpft. Damit zusammen hängt auch ein Drang des modernen (strukturell männlichen) Subjekts nach einer Verdrängung und Überwindung des Todes sowie damit assoziierte Allmachts- und Verewigungsphantasien (dazu Richter 1979) – eine Disposition, die heute etwa im ›Transhumanismus‹ einen neuen Höhepunkt erreicht (vgl. kritisch Becker 2015).


Im vorliegenden Beitrag soll nun ein Aspekt bzw. eine materielle Vergegenständlichung der kapitalistischen Überflüssigkeit des Alters näher beleuchtet werden, die in besagtem Artikel (der lediglich als erste grobe Skizze einer wert-abspaltungskritischen Theorie des Alter(n)s konzipiert war) nur sehr beiläufig thematisiert wurde, in der aber meines Erachtens die ›Überflüssigkeit‹ alter Menschen besonders deutlich zum Ausdruck kommt und sich in geradezu eindrucksvoller Weise materiell manifestiert – nämlich die Institution des Altenheims. Wie im Folgenden ausführlich zu zeigen und theoretisch zu begründen sein wird, stellt das Altenheim nichts Geringeres als eine Anstalt zur Verwahrung alter Menschen als gesellschaftlich Überflüssige dar. Dieser Charakter einer Verwahranstalt soll insbesondere durch einen Blick auf die Geschichte des Altenheims als einer spezifisch modernen Institution historisch rekonstruiert werden.

Die zu diesem Zweck erfolgende historische Auseinandersetzung mit der Entstehung und Entwicklung von Altenheimen muss dabei schon deshalb sehr kursorisch bleiben, da sich Forschungsstand und Quellenlage zur Geschichte des Altenheims als vergleichsweise dürftig erweisen. Verglichen mit anderen Institutionen zur Einschließung und Disziplinierung kapitalistisch Unproduktiver, wie etwa Gefängnissen oder Psychiatrien, wurde die Entstehung des Altenheims bislang recht wenig erforscht. Selbst bei Michel Foucault, der sich wahrscheinlich wie kein anderer so breit und umfassend mit der Geschichte moderner Internierungsanstalten befasste (vgl. Foucault 1994, 2013a), sucht man vergeblich nach einer Studie über Altenheime als Orte der Verwahrung von Alten. Immerhin in einem Aufsatz erwähnt er ausdrücklich auch das Altenheim als Beispiel für eine von ihm so genannte »Heterotopie«. Damit bezeichnet Foucault gesellschaftliche ›Gegenräume‹, im Sinne von Orten des ›Andersseins‹. Das Altenheim gehöre dabei der Gruppe der »Abweichungsheterotopien« an, die laut Foucault Menschen beherbergen, »die sich im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten« (Foucault 2013b, 12). Und hier wären ihm zufolge auch Altenheime zu nennen, »denn in einer so beschäftigten Gesellschaft wie der unsrigen ist Nichtstun fast schon abweichendes Verhalten. Eine Abweichung, die als biologisch bedingt gelten muss, wenn sie dem Alter geschuldet ist, und dann ist sie tatsächlich eine Konstante, zumindest für alle, die nicht den Anstand besitzen, in den ersten drei Wochen nach der Pensionierung an einem Herzinfarkt zu sterben« (ebd., 12f.). Damit hat Foucault den Charakter und die soziale Funktion von Altenheimen ziemlich präzise erfasst: die Verwahrung gesellschaftlich Unproduktiver und damit ›Überflüssiger‹.[1]


Insgesamt kann aber jedenfalls festgestellt werden, dass das Altenheim unter allen modernen Internierungsanstalten wahrscheinlich eine der wissenschaftlich bislang am meisten vernachlässigten ist. Bereits in diesem Sachverhalt mag sich in gewisser Weise der ganz eigene Status der Alten als ›Überflüssige‹ ausdrücken: Noch als Forschungsgegenstand sind Alte und ihre gesellschaftliche Behandlung so nebensächlich und irrelevant, wie Alte es für die Gesellschaft selbst sind. Strafgefangene und ›Geisteskranke‹ zeichnen sich immerhin durch einen hohen Grad an sozialer Devianz aus, auch waren sie in der Vergangenheit zum Teil Gegenstand politischer Bewegungen (siehe etwa die Antipsychiatrie-Bewegung der 1970er Jahre). Alte sind hingegen bloß alt geworden und müssen bei Verlust ihrer Selbsthilfefähigkeit betreut und gepflegt werden – und wenn nicht von Angehörigen oder anderen in den eigenen vier Wänden, dann eben in einem Pflegeheim.[2] Dass auch und gerade vonseiten jener wissenschaftlichen Disziplinen, in deren unmittelbaren Tätigkeitsbereich die Forschung zum Thema Alter(n) fällt – zusammengefasst unter der Oberbezeichnung ›Gerontologie‹ – bislang eine verschwindend geringe Initiative ausgeht, diese Forschungslücke zu schließen, liegt wiederum vor allem darin begründet, dass diese zwar Phänomene der Altersfeindlichkeit und der Altersdiskriminierung zum Gegenstand ihrer Forschung machen, dabei aber schon grundsätzlich dazu neigen, den Status der ›Überflüssigkeit‹ alter Menschen in kapitalistischen Gesellschaften schlicht zu leugnen und sich stattdessen der Propagierung eines (unter kapitalistischen Bedingungen illusorischen) positiveren Altersbildes zu widmen. Besonders auch die (zweifellos erheblichen und nicht zu vernachlässigenden) Veränderungen, die Altenheime in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, gelten Gerontolog/-innen überwiegend als Bestätigung, dass Altenheime längst keine Verwahranstalten mehr sind, sodass sich eine grundsätzlich kritische Betrachtung von Altenheimen aus gerontologischer Sicht offenbar erübrigt (so etwa sinngemäß Prahl/Schroeter 1996, 173). Ein kritischer Blick auf die historische Entstehung und Entwicklung von Altenheimen vermag hingegen darüber zu belehren, dass die Verwahrung alter Menschen unmittelbar zum Wesen des Altenheims als sozialer Institution gehört und sein Charakter und seine Funktion als Verwahranstalt daher auch heute noch, bei allen sonstigen zum Teil sehr weitreichenden Veränderungen, gültig sind. Der folgende Abriss über die Geschichte des Altenheims wird dabei auch zeigen, dass es historisch eine ganze Reihe von Überschneidungen zwischen der Entstehung von Altenheimen und anderen Institutionen wie Gefängnissen oder Psychiatrien gibt – einfach deshalb, weil alle diese Institutionen demselben historischen Kontinuum angehören und ihre Geschichte daher eine gemeinsame Geschichte der Verwahrung und Disziplinierung von kapitalistisch Unproduktiven und Überflüssigen ist.


Durch die in diesem Beitrag eingenommene wert-abspaltungskritische Perspektive auf Geschichte, Logik und Funktion von Altenheimen eröffnen sich nicht zuletzt – auch wenn dies im Folgenden nicht systematisch und in angemessener Ausführlichkeit erörtert werden kann – einige kritische Einsichten in Phänomene und Tendenzen, wie sie gegenwärtig in Wissenschaft, Politik und Medien u.a. unter Stichworten wie ›Pflegenotstand‹ oder ›Care-Krise‹ verhandelt werden, so z.B. die fortschreitende Ökonomisierung des Pflegesystems, unzumutbare Arbeitsbedingungen in der Pflege, Vernachlässigung von und Gewalt gegen Pflegebedürftige etc.


 

1. Das Altenheim als Verwahranstalt im gesellschaftlichen Diskurs


Im Vorfeld einer historischen Auseinandersetzung mit dem Altenheim bietet es sich an, zunächst einen Blick auf den gesellschaftlichen Altenheimdiskurs zu werfen. Denn bereits die öffentliche Wahrnehmung und die Art und Weise, wie das Phänomen ›Altenheim‹ in gesellschaftlichen Diskursen verarbeitet bzw. ›konstruiert‹ wird, liefert so manch kräftiges Indiz und stellt gewissermaßen einen brauchbaren Gradmesser für den immanenten und konstitutiven Zusammenhang von Altenheimen mit einer gesellschaftlichen ›Überflüssigkeit‹ alter Menschen dar. Weit verbreitet sind etwa Konnotationen von Altenheimen mit einem ›Abschieben‹ und einer menschenunwürdigen ›Verwahrung‹ alter Menschen. Besonders in der medialen Berichterstattung erscheinen Altenheime oftmals als bloße Verwahranstalten, in denen alte Menschen jede Menschenwürde einbüßen. Darstellungen wie die nachfolgend zitierte stehen hier nur exemplarisch für viele andere, wie sie periodisch in den Medien auftauchen: »›In den über 7000 Heimen [in Westdeutschland, A.U.] haben mehr als 500.000 Bewohner zu oft ihre individuelle Menschenwürde mehr oder weniger verloren. Die Bewohner haben sich einem in der Regel preußisch geordneten Ablauf- und Dienstplan unterzuordnen, dessen Maßstäbe allein auf Sauberkeit und Ordnung eingerichtet sind. Für die allermeisten beginnt am Tag ihres Einzugs ein Albtraum, der bis an das Lebensende andauert.‹ Trude Unruh nennt das: Tatort Pflegeheim. Ein SPIEGEL-Report über die westdeutschen Alten- und Pflegeheime beobachtet: Unterschiedslos werden Greise und Greisinnen, leichte wie schwere Pflegefälle, nach strammdeutschen Dienstplänen geweckt, gewaschen, gewendet, gefüttert, auf den Topf gesetzt, ins Bett geordert – Pflege im Akkord, Versorgung im Fließbandverfahren […]. Das ist das alltägliche Elend in den abgeschiedenen Endlagerstätten, wo die Gesellschaft ihre Alten verwahrt« (Mohl 1993, 102f.). Zuweilen finden sich auch Vergleiche von Altenheimen mit Gefängnissen und sogar Konzentrationslagern: »I am in a concentration camp for the old, a place where people dump their parents or relatives exactly as though it were an ash can« (May Sarton, zit. nach: Kriebernegg 2018, 104, Fn. 15).


Auch im wissenschaftlichen Diskurs erscheint das Altenheim häufig als ›totale Institution‹ – als eine Einrichtung, in der alte Menschen faktisch eingeschlossen, in ihrem Bewegungs- und Verhaltensspielraum massiv eingeschränkt und einem durch das Heim vorgegebenen rigiden und restriktiven Tagesablauf- und Zeitplan unterworfen werden (vgl. Anthes 1975; Hummel 1982; Knobling 1988; Koch-Straube 1997; Heinzelmann 2004). Bereits Erving Goffman, auf den der Begriff der ›totalen Institution‹ zurückgeht, subsumierte Altenheime ausdrücklich unter diese Kategorie, wobei er diese der ersten von insgesamt fünf Gruppen zuordnete, in die er ›totale Institutionen‹ differenzierte. Altenheime gehören demnach zu einer Gruppe von »Anstalten, die zur Fürsorge für Menschen eingerichtet wurden, die als unselbständig und harmlos gelten« (Goffman 1973, 16) – im Gegensatz etwa zu Gefängnissen oder Irrenanstalten, deren Insassen entweder ›beabsichtigt‹ (Kriminelle) oder ›unbeabsichtigt‹ (Geisteskranke) eine ›Bedrohung‹ für die Gesellschaft darstellen. Der Charakter des Altenheims als ›totale Institution‹ wird in der Regel so beschrieben: »[Die] PflegeheimbewohnerInnen [verlassen] nur sehr selten das Heim und dies nur in Begleitung anderer Personen. Auch die Besucher werden registriert, Besuche können ferner durch das Personal eingeschränkt werden. Die Mitglieder verfügen praktisch über keine Privatsphäre mehr, die nicht der Kontrolle des Personals unterliegt. Ihr Leben spielt sich vollständig unter der Aufsicht der MitarbeiterInnen und auch der MitbewohnerInnen ab. Gemäß den Zielen der Institution [existieren] Pläne, durch die Wach-, Schlaf- und Essenszeiten, sowie Behandlungen und Freizeitaktivitäten zeitlich geregelt sind. Differenzen bestehen hinsichtlich der Art der Mitgliedschaft in der Institution Pflegeheim. Diese bewegt sich zwischen den Extrempunkten Freiwilligkeit und Zwang, sie ist in jedem Einzelfall unterschiedlich gelagert. Damit verknüpft ist die Tatsache, dass die BewohnerInnen eines Pflegeheimes – bei individuellen Unterschieden – oftmals physisch und psychisch stark eingeschränkt sind. Die Einschränkungen sind oftmals so gravierend, dass eine Verletzung der persönlichen Sphäre durch die MitarbeiterInnen unumgänglich ist« (Heinzelmann 2004, 60).


Besonders alten Menschen selbst bereitet die Aussicht auf ein Leben im Alten- bzw. Pflegeheim sichtliches Unbehagen und wird oftmals mit einer ›Abschiebung‹ und einem unwürdigen Dahinvegetieren gleichgesetzt. Es gehört zu den empirisch evidentesten Befunden der Alter(n)sforschung und stellt innerhalb der Gerontologie geradezu einen Gemeinplatz dar, dass alte Menschen bis an ihr Lebensende in den eigenen vier Wänden verbleiben möchten und einen Umzug ins Altenheim überwiegend ablehnen oder höchstens als ultima ratio in Erwägung ziehen. Nicht selten trifft man auf Aussagen, wonach alte Menschen eher zu sterben wünschen als in einem Pflegeheim zu enden. Auch dies verdankt sich nicht zuletzt den negativen Konnotationen, die das Altenheim überwiegend auf sich zieht: Es ist das, wofür das Altenheim symbolisch steht, und die Ahnung davon, was dort mit Alten und Gebrechlichen geschieht, die den Umzug in ein Altenheim für die Menschen so bedrohlich erscheinen lassen – das Verwahrtwerden in einer anonymen Anstalt, die alte Menschen gleichsam in einen »Haufen Knochen« verwandelt, wie es Jaber Gubrium und James Holstein sehr treffend formulieren: »The nursing home […] also serves as a source of anxiety because of what is said to be known about ›those places‹ allegedly turning frailty into a ›bunch of bones‹« (Gubrium/Holstein 1999, 521).


Im gesellschaftlichen Diskurs ist also – so zeigt dieses weit verbreitete, zutiefst negative Bild vom Altenheim – ein recht deutliches, zumindest implizites Wissen über die ›Überflüssigkeit‹ aufgespeichert, in die alte Menschen in der modernen Gesellschaft versetzt werden und die durch die Einrichtung des Altenheims geradezu institutionell und auch architektonisch verkörpert wird. Dies unterscheidet das Altenheim durchaus von anderen zentralen, modernen Alters-Institutionen wie etwa dem Ruhestand: Im Ruhestand befindet sich der Status der Überflüssigkeit eher in einem Zustand der Latenz. Dies wird etwa daran ersichtlich, dass der Ruhestand von den meisten Menschen durchaus nicht nur negativ gesehen, sondern eher im Gegenteil sogar recht positiv bewertet wird, im Sinne einer ›späten Freiheit‹, eines ›Lebensfeierabends‹ usw. Der im Ruhestand latent angelegte Status der Überflüssigkeit kann aber freilich jederzeit in eine manifeste Form übergehen, etwa wenn der Ruhestand als Zwangspassivierung und als ein Nicht-mehr-gebraucht-Werden erlebt wird, was bis hin zur Depression gehen kann. Ebenso, wenn der Ruhestand (was heute wieder zunehmend der Fall ist) mit Altersarmut einhergeht – ein Schicksal, das ebenfalls in besonderem Maße Frauen betrifft (vgl. Butterwegge/Hansen 2012). Oder wenn die Institution des Ruhestands gesellschaftlich als solche problematisch wird, was sich heute vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und angesichts einer befürchteten nachhaltigen Unfinanzierbarkeit von Pensionssystemen in Diskursen einer ›gesellschaftlichen Überalterung‹ Ausdruck verschafft, in denen alte Menschen zunehmend als das erscheinen, was sie als Ruheständler/-innen unter kapitalistischen Prämissen de facto sind: Bezieher von erwerbslosen Einkommen und damit im Prinzip Unproduktive, die gesellschaftlich erhalten werden müssen (vgl. Urban 2018, 183ff.). Beim Altenheim hingegen erscheint der Status der Überflüssigkeit immer schon in manifester Form. Die bloße Existenz, die Funktion und die konkrete Form des Altenheims (auch wenn sich letztere in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert hat – siehe unten Kapitel 3) verweist offensichtlich zu sehr auf die gesellschaftliche Überflüssigkeit der Alten, als dass sich diese und die damit assoziativ gekoppelte ›Verwahrung‹ alter Menschen in einer Anstalt so ohne Weiteres leugnen und verdrängen ließe.


Politik, Wissenschaft und insbesondere die Betreiber von Altenheimen sind zunehmend bemüht, diesem extrem negativen gesellschaftlichen Bild vom Altenheim entgegenzuwirken – mit mehr oder weniger großem Erfolg. In Informationsbroschüren werben Altenheime heute besonders mit ihrer schönen und ruhigen Lage, der Wohnlichkeit ihrer Zimmer (die mittlerweile zum Teil die Form luxuriöser Appartements haben können) und einem abwechslungsreichen Aktivitätsangebot. Vor allem die Wahrung und Achtung der persönlichen Würde und Individualität – im gesellschaftlichen Bild der ›Verwahranstalt‹ ansonsten gerade das Gegenteil dessen, was Menschen mit einem Altenheim verbinden – wird als oberstes Prinzip des pflegerischen Handelns in Alten- und Pflegeheimen hervorgehoben. Auch folgendes Zitat aus der Broschüre eines deutschen Pflegeheimbetreibers steht hier lediglich exemplarisch für zahlreiche andere (Selbst-)Beschreibungen, wie sie einem im Feld der Altenpflege heute täglich begegnen: »Unser Alten- und Pflegeheim […] ist ein helles und freundliches Haus. Es ist senioren- und rollstuhlgerecht. Bei uns gibt es viel Raum zum Leben – breite Flure, großzügige Gemeinschaftsräume, viele gemütliche Sitzecken und Wintergärten. Wir legen Wert auf eine wohnliche Atmosphäre. [Absatz] Wer bei uns Zuhause ist, richtet sein Zimmer ganz nach dem eigenen Geschmack ein. Viele unserer Bewohner gestalten ihre Zimmer selbst und bringen ihren Lieblingssessel, Teppiche oder auch Bilder mit. Wir statten Ihr Zimmer mit allem aus, was für eine gute Betreuung und Pflege notwendig ist. […] Ziel unseres Handelns ist es, Ihre Würde und Eigenständigkeit zu erhalten und zu respektieren und Ihnen dort zur Seite zu stehen, wo Sie unsere Hilfe benötigen.«[3] Der Horrifizierung des Altenheims als Abschiebe- und Verwahranstalt steht somit auf der anderen Seite dessen Idealisierung als ›Ort zum Leben‹ gegenüber. Der gesellschaftliche Altenheim-Diskurs kann vor diesem Hintergrund als ein stark polarisierter Diskurs beschrieben werden, wobei dessen Pole jedoch nicht einfach zwei gegensätzliche, einander ausschließende Sichtweisen auf das Phänomen ›Altenheim‹ markieren, sondern beide bei genauerer Betrachtung vielmehr permanent aufeinander verweisen: Das schöne, positive Bild des Altenheims scheint eher auf das vorherrschende Negativ zu reagieren. Das Altenheim muss in umso wärmeren Farben gemalt, muss umso menschlicher und freundlicher dargestellt werden, je mehr die Menschen mit ihm den Verlust all dessen verbinden, was sie in ihrem Selbstverständnis zu Menschen macht – ihre Würde und ihre Individualität. Umgekehrt bzw. gleichzeitig bricht sich das tiefsitzende Unbehagen vor dem Altenheim umso mehr Bahn, je stärker sich die Ahnung oder gar die Gewissheit geltend macht, dass das öffentlich zunehmend verbreitete idealisierte Bild des Altenheims eben ein idealisiertes ist, je mehr also die Idealisierung als Idealisierung kenntlich wird. Hierfür ist nicht erst erforderlich, dass wieder einmal einer der periodisch ans Licht kommenden Pflegeheimskandale publik wird, sondern genügt es schon, dass man – und sei es nur gerüchteweise (z.B. von Personen aus dem näheren Bekanntenkreis, deren Eltern oder Großeltern in ein Pflegeheim umgezogen sind) – zu hören bekommt, was man ohnehin längst ›weiß‹: dass mit dem Eintritt ins Altenheim das Leben eigentlich vorbei ist. Horrifizierung und Idealisierung sind so gesehen zwei nicht zufällig nebeneinander auftretende und wechselseitig miteinander vermittelte Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Altenheim-Diskurses. Beide verweisen auf den inferioren Status des Alters in der Gesellschaft, wie er sich auf besonders krasse Weise in der Institution des Altenheims manifestiert. Die Horrifizierung des Altenheims bildet diesen negativen Status reflexhaft (und entsprechend unreflektiert und zuweilen auch überzeichnet) ab, die Idealisierung hingegen negiert ihn bloß abstrakt. Auf ihre jeweils eigene und auf je spezifische Art befangene Weise teilen jedoch beide sehr intensiv etwas von der gesellschaftlichen ›Überflüssigkeit‹ der Alten mit.


 

2. Von der Arbeitsdisziplinierung zur Verwahrung der Alten – Geschichte des Altenheims vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts


Wie bereits eingangs erwähnt, steht eine historische Auseinandersetzung mit der Entstehung und Entwicklung des Altenheims als moderner Institution vor dem Problem, dass hierzu nur sehr wenig Literatur und historische Quellen vorliegen. Angesichts der dürftigen Quellenlage muss sich der vorliegende Text daher mit einem Rückgriff auf einige wenige, sehr vereinzelte Studien behelfen, die die Geschichte des Altenheims zumeist selbst nur sehr kursorisch oder aufgrund einer anderen Schwerpunktsetzung (etwa im Kontext einer allgemeinen ›Geschichte des Alters‹) nicht systematisch behandeln. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle die Geschichte des Alters vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert von Peter Borscheid (1989) sowie eine Dissertation von Martin Heinzelmann (2004) über das Binnenleben von Altenheimen – eine in ihrer grundsätzlichen Perspektive auf Altenheime recht affirmative Studie, die aber immerhin einen brauchbaren einleitenden historischen Abriss über die Geschichte des Altenheims als Institution von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart liefert, an den über weite Strecken angeknüpft werden kann.


Mit Blick auf die historische Genese des Altenheims kann zunächst einmal festgehalten werden, dass für das Altenheim im Prinzip dasselbe gilt wie schon für die Institution des Ruhestands: Es ist eine genuin moderne bzw. kapitalistische Institution, die daher als solche theoretisiert werden muss. Zwar gibt es durchaus – auch hier ähnlich dem Ruhestand[4] – vormoderne Vorformen, aus denen das moderne Altenheim gewissermaßen herausgewachsen ist, so z.B. die im Mittelalter im Umfeld von Kirchen und Klöstern entstandenen Spitäler, die Alte, Kranke und Bedürftige aufnahmen und diesen eine gewisse Versorgung zukommen ließen (vgl. Borscheid 1995; ders. 1989, 124ff.; Heinzelmann 2004, 15). Eine zweite historische Früh- oder Vorform des Altenheims stellen sogenannte ›Stifte‹ dar, die vor allem die Altersversorgung der begüterten Schichten gewährleisteten. Auch hier waren maßgeblich Kirchen und Klöster beteiligt, die auf der Grundlage von Pfründnerverträgen wohlhabenden Personen gegen Übertragung ihres Vermögens an das Stift eine angemessene Versorgung auf Lebenszeit garantierten (vgl. Borscheid 1989, 131f.; Heinzelmann 2004, 15f.).[5] Sowohl Spitäler als auch Stifte zeichneten sich allerdings noch dadurch aus, dass sie die von ihnen betreuten Personen nicht weiter differenzierten – dies waren noch keine Altenheime im heutigen Sinne, die auf der »Separierung von als alt definierten Menschen bei zentralisierter Versorgung und Betreuung durch ein spezielles Personal« (Heinzelmann 2004, 12) beruhen. Die exklusive Pflege und Betreuung alter Menschen in eigens eingerichteten Altenheimen ist ein Konzept, das erst im Zuge kapitalistischer Modernisierung entstand und dessen Entwicklung im Grunde nicht vor dem 19. Jahrhundert so weit gediehen war, dass die beiden Kriterien zur Definition als Altenheim – Separierung alter Menschen und Betreuung durch speziell dafür abgestelltes Personal – hinreichend erfüllt waren.


Seine eigentliche Wurzel hat das Altenheim daher nicht in der spätmittelalterlichen Tradition des Spitals und der Stifte, sondern erst sehr viel später, Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, und zwar – ähnlich den modernen Pensionssystemen (und im Prinzip gemeinsam mit diesen) – im Militärwesen des absolutistischen Staates. »Die Einrichtung des stehenden Heers«, so stellt der Sozialhistoriker Josef Ehmer in diesem Zusammenhang fest, »hatte die Versorgung alter und invalider Soldaten zu einem drängenden Problem gemacht. Die ersten Formen der Pensionssysteme im Staatsdienst knüpften unmittelbar an bestehende Traditionen der Armenversorgung an. Sie bestanden in der Gründung riesiger, als Krankenhäuser, Altersheime und zum Teil sogar Arbeitshäuser konzipierter Anstalten, die dienstunfähige Soldaten aufnehmen sollten. Die Errichtung des Hôtel des Invalides in Paris im Jahre 1674 markiert den Beginn dieser Entwicklung, 1682 folgte England, 1705 Preußen mit ähnlichen Institutionen nach. In Österreich wurde 1728 die Gründung von Invalidenhäusern in Pest, Prag und Wien beschlossen« (Ehmer 1990, 40). Zwei bis dahin unbekannte und historisch neue Phänomene werden hier sichtbar bzw. kommen zu dieser Zeit in die Welt, die von da an das Wesen und die Entwicklung von Altenheimen bis heute prägen sollten: die Entstehung einer wachsenden Gruppe von Menschen, die aufgrund ihres Alters und/oder aufgrund von körperlichen Gebrechen nach einer vom Staat zu gewährleistenden Versorgung verlangen, und die Errichtung eigener Anstalten, in denen die zu versorgenden Personen interniert werden. Mit der früheren Praxis der Spitäler und Stifte hat all dies nicht mehr sehr viel zu tun – dort war die Betreuung Teil eines kirchlichen Fürsorgesystems, das sich vor allem in den Spitälern auf Bedürftige im Allgemeinen bezog. In den Spitälern handelte es sich darüber hinaus zumeist um eine Versorgung auf Zeit, die nicht im Geringsten mit der Internierung in einer Anstalt einherging. Wie wir bald noch sehen werden, gehen diese älteren Formen der Altersversorgung restlos und mit entsprechend neuer Funktion in den zu dieser Zeit aufkommenden, frühmodernen Internierungsanstalten auf.


Genauer betrachtet beschränkt sich diese Entwicklung auch nicht allein auf das Militärwesen, sondern ist vielmehr Bestandteil einer allgemeineren gesellschaftlichen Tendenz zur Einschließung großer Teile der damaligen Bevölkerung. Wie vielleicht am umfassendsten von Michel Foucault in seinen beiden Studien Wahnsinn und Gesellschaft (Foucault 2013a) und Überwachen und Strafen (Foucault 1994) dargelegt wurde, entstehen zur selben Zeit zahlreiche andere Einrichtungen, die später unter dem Begriff ›totale Institutionen‹ zusammengefasst werden sollten. Foucault beschreibt diesen Prozess in den beiden genannten Studien vor allem am Beispiel von Irrenanstalten und Gefängnissen. Die ›Geburt‹ des Altenheims fällt damit also historisch zusammen mit der Entstehung einer Vielzahl anderer Institutionen, die die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Konstitutionsphase zur Verwahrung wie auch Disziplinierung ihrer Unproduktiven und Überflüssigen hervorbrachte (zur modernen Disziplinargeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Institution Schule vgl. auch Dreßen 1982). Es ist dies die Zeit der – wie es Foucault etwas kryptisch ausdrückt – »Formierung der Disziplinargesellschaft« (Foucault 1994, 279); im Grunde und präziser formuliert handelt es sich um nichts Geringeres als den einsetzenden und dynamisch fortschreitenden Prozess der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und der dafür erforderlichen Arbeitsdisziplin in der Bevölkerung. Und hierfür war zunächst – solange die kapitalistischen Arbeitstugenden noch nicht, so wie heute, von den Menschen verinnerlicht waren – viel an Repression und Disziplinierung erforderlich. Zu diesem Zweck entstanden in ganz Europa (mit gewissen historischen Ungleichzeitigkeiten und in teilweise recht unterschiedlichen Formen) in großer Zahl Arbeits- und Zuchthäuser, in denen die als unproduktiv definierten Teile der Bevölkerung (vor allem Arme, Bettler, Vagabunden, Kranke usw.) interniert wurden (vgl. Foucault 2013a, 77ff.). Dies betraf einen relativ großen Teil der Bevölkerung: So stellt etwa Foucault mit Blick auf das erste Internierungshaus in Frankreich – das 1656 eröffnete Hôpital général in Paris – fest, dass dieses bereits wenige Jahre nach seiner Gründung 6000 Personen beherbergte, was einem Prozent der damaligen Bevölkerung von Paris entsprach (ebd., 79).


Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang nochmals, dass diese groß angelegte, systematische Internierung von als ›unproduktiv‹ erachteten Bevölkerungsgruppen ein historisch völlig neuartiges Phänomen darstellte. Wie Foucault etwa speziell mit Blick auf den sich damals drastisch verändernden Umgang mit ›Wahnsinnigen‹ konstatiert, beschränkte man sich noch bis in die Renaissance hinein darauf, Wahnsinnige und Irre aus den Städten zu vertreiben (ebd., 72). Erst später, zu jener Zeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ging man dazu über, sie zusammen mit anderen sozialen Randgruppen in entsprechenden Anstalten zu internieren. Die »große Gefangenschaft« (ebd., 68), wie sie Foucault nennt, ist also ein spezifisches Phänomen des aufkommenden Kapitalismus. Noch eindeutiger wird die historische Spezifik vielleicht an den gravierenden Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang mit Armen und Bettelnden ersichtlich. So stellt etwa Martin Kronauer hinsichtlich des gesellschaftlichen Status von Armen und Bettlern im Mittelalter (im Kontrast zur Frühen Neuzeit) fest: »Im Mittelalter hatten die Armen ihren festen, durch die Religion festgelegten, dabei allerdings durchaus ambivalenten Platz. Die Bettelei konnte sich in den Städten zu einem spezialisierten Gewerbezweig mit eigenständigen Berufsorganisationen entwickeln. Im 16. Jahrhundert dagegen war von dem ›Ethos der Armut‹ […] auf Seiten der Herrschenden kaum noch etwas zu spüren. Überall wurden die Armen offiziell registriert, Landstreicherei und Bettelei unter scharfe Strafe gestellt, zugewanderte Landstreicher aus der Stadt gejagt, die arbeitsfähigen Armen, wenn möglich, der Zwangsarbeit (häufig in eigens eingerichteten Arbeitshäusern unter strenger Aufsicht und mit besonders niedrigem Lohn) unterworfen« (Kronauer 2002, 81).[6]


Auch Peter Borscheid weist in seiner Geschichte des Alters auf die sich damals in ganz Europa ausbreitende Praxis der Internierung aller möglichen ›Unproduktiven‹ und deren Disziplinierung in Arbeits- und Zuchthäusern hin: »Wir finden hier [in den Arbeits- und Zuchthäusern, A.U.] neben den arbeitsscheuen Bettlern und den gerichtlich abgeurteilten Verbrechern auch unbotmäßiges Gesinde und aufmüffige [sic] Kinder, neben Prostituierten, Wahnsinnigen und Syphilitikern auch […] verarmte Witwen und Waisenkinder. […] In kaum einem anderen Bereich wird sichtbar, mit welcher Härte der absolutistische Staat mit seinen Bürgern umspringt, wie er Disziplin in sie hineinprügelt […], wie er seinen Untertanen, die sich bis dahin ihre Arbeit selbst einteilten, bei denen Müßiggang mit höchster Arbeitsintensität wechselte, die Bedeutung der Zeit einbläut. […] Die philanthropischen Gesellschaften in Deutschland, England, Frankreich und Holland beklagen im 18. Jahrhundert einstimmig die Faulheit, Arbeitsunlust und den Disziplinmangel eines Großteils der Armen und Arbeiter. Nach Ansicht der Mitglieder der Hamburger Patriotischen Gesellschaft kann bei einer ›so tief versunkenen Menschen-Klasse‹ nur Zwangsarbeit helfen, ›das heißt, unangenehmere und beschwerlichere Arbeit, durch Mangel der Freiheit, durch Einsamkeit und Langeweile, durch ewiges Einerlei, durch Entbehrung jedes fröhlichen Lebensgenusses … erzwungen‹« (Borscheid 1989, 436f.). Von dieser Disziplinierung ›Unproduktiver‹ und ›Überflüssiger‹ waren, wie Borscheid weiters konstatiert, auch alte Menschen nicht ausgenommen: »Fleiß und Arbeit sind die großen Schlüsselbegriffe dieser Zeit, mit denen der absolutistische Staat alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen gedenkt, angefangen bei der Moral bis hin zum finanziellen Auskommen: ein unfehlbares Universalmittel zur Beseitigung aller Form von Elend [das aber freilich – so wäre hier zu ergänzen – gerade durch die gewaltsame Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise massiv verschärft und in diesem Ausmaß überhaupt erst hervorgebracht wurde, A.U.]. Das Arbeits- und Zuchthaus erscheint ganz symptomatisch für das zeitgenössische Denken als das wirksamste Patentrezept, den Menschen Freude an der Arbeit und die Überzeugung von der Notwendigkeit des Fleißes beizubringen. Davon wird keine Altersgruppe ausgenommen. Auch der alte Mensch hat mit dem Rest seiner körperlichen Kräfte zur Stärkung des Staates beizutragen. Auch er soll noch zur Arbeitsamkeit erzogen werden« (ebd., 438). So landeten also auch Alte in großer Zahl in Zucht- und Arbeitshäusern, wobei sie aber auch dort einstweilen – soweit noch ähnlich den spätmittelalterlichen Spitälern – nicht von anderen Objekten der nunmehr ins Werk gesetzten Arbeitsdisziplinierung separiert, sondern gemeinsam mit Kranken, Bedürftigen, Straffälligen, Landstreichern und anderen Unproduktiven einem repressiven physischen und moralischen Disziplinierungsregime unterworfen wurden: »Weil das Geld fehlt, greift der Staat bei der Errichtung von Zuchthäusern auf bestehende Bauten zurück, auf Klöster, Hospitäler und ähnliche, die man dem neuen Zweck notdürftig anpaßt, ohne damit jedoch den andauernden Raummangel beheben zu können. Man zwängt den Landstreicher neben den Dieb, die verarmte Witwe neben die Hure und pfercht die alten Menschen mit Wahnsinnigen zusammen« (ebd., 439). Die grausame und menschenverachtende Behandlung, die Alte dabei in den Anstalten erfuhren, wie auch so manche Absurdität der Arbeitsdisziplinierung Alter und Gebrechlicher im Zuchthaus wird von Borscheid u.a. wie folgt beschrieben: »Man gibt sich nicht eben zimperlich gegenüber den alten Leuten, selbst wenn ihnen die Gicht die Finger hat dick und die lebenslange Arbeit den Rücken hat krumm werden lassen. Zwar läßt man die arbeitsunwilligen Alten nicht mehr an die öffentlichen Halseisen legen, wie dies noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Hamburg üblich war, aber man verlangt von ihnen doch zu arbeiten, soviel sie nur können. Auch ist der Umgangston rücksichtsvoller geworden und die Behörden schelten die bettelnden alten Menschen nicht mehr als ›stinkende Böcke‹, doch gehören verbale Beleidigungen weiterhin zum Alltag. In Nürnberg wird 1792 die 73jährige Elisabeth Picklin bereits zum vierten Mal aus der dem Arbeitshaus angeschlossenen Spinnerei und Glasschleiferei entlassen, weil sie auf Grund ihres Alters nicht mehr viel zu arbeiten versteht und daher das Haus nur Geld kostet. Es mutet wie Hohn an, wenn sie gleichwohl ermahnt wird, sich beim Betteln nicht wieder ertappen zu lassen, da sie sonst ins Zuchthaus gesteckt werde« (ebd.).


Auch Foucault weist in seiner Geschichte des Wahnsinns darauf hin, dass Irre und Geisteskranke zunächst »in konfuser Mischung« mit anderen Bevölkerungsgruppen interniert wurden, wobei er hier ausdrücklich auch Alte nennt (Foucault 2013a, 487). Erst mit der Separierung der Wahnsinnigen in eigenen Irrenanstalten sei »die Krankheit von der Armut und all jenen elenden Gestalten getrennt« (ebd., 434) worden.[7] In etwa dieselbe Entwicklung nahm das Altenheim, um schließlich ein ›Altenheim‹ im wörtlichen, modernen Sinne zu werden: Auch hier wurde nach und nach dazu übergegangen, die Alten von anderen Gruppen zu separieren. Wohl nicht zuletzt das quantitative Ausmaß der damaligen Einschließung großer Teile der Bevölkerung »ließ es zunehmend unhaltbar erscheinen, dass Alte, Kranke, Bettler und andere Menschen in einem Haus auf Kosten der Gesellschaft zusammenlebten. So begann sich die bisherige Multifunktionalität der Einrichtungen langsam weiter aufzulösen, und es entstanden differenzierte Häuser, in denen jede Gruppe nach Maßgabe der Verwaltung zu leben und auch zu arbeiten hatte […]. Nach der Differenzierung der BewohnerInnen in Arbeitsfähige und Nichtarbeitsfähige […] – mit dem Verweis der ersteren Gruppe aus den Einrichtungen – kristallisierten sich in dieser Phase die bedürftigen Alten als eine separate Gruppierung heraus« (Heinzelmann 2004, 17). Die Alten sind also in diesem Prozess der zunehmenden Differenzierung gewissermaßen ›übrig geblieben‹, und das Altenheim als Institution ging mehr oder weniger aus der nunmehr sich etablierenden Praxis hervor, andere Gruppen von Menschen – insbesondere solche, die als ›krank‹ und ›behandlungsbedürftig‹ definiert wurden – separat in jeweils neuen, eigens geschaffenen Anstalten zu internieren: Wahnsinnige kamen in Irrenanstalten, für Kranke entstanden Krankenhäuser (dazu Foucault 1976) etc. Übrig als zu verwaltende ›Problemgruppe‹ blieben die bedürftigen Alten (vgl. Conrad 1994, 179; Heinzelmann 2004, 17f.). So entstanden etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals »Heime, die speziell für als bedürftig und alt geltende Menschen und nur für diese ausgelegt waren. In aller Regel handelte es sich dabei um die alten Einrichtungen, bloß ohne die anderen BewohnerInnen. Die äußere Einteilung und die innere Ordnung dieser Häuser können dabei ihre ›Verwandtschaft‹ mit den anderen Institutionen dieser Epoche nicht verleugnen, der Charakter lässt sich mit dem Begriff ›kasernenartig‹ durchaus zutreffend bezeichnen« (Heinzelmann 2004, 18). Mit anderen Worten: Das Altenheim ist von Beginn an eine ›totale Institution‹ wie alle anderen auch. Mit der Separierung der nicht arbeitsfähigen, bedürftigen Alten verschwindet im Übrigen auch deren Disziplinierung für die Arbeit, der sie vorher so wie alle anderen ›Unproduktiven‹ in den Anstalten unterworfen waren. Anstelle der Arbeitsdisziplinierung tritt nunmehr die bloße Verwahrung im Altenheim.

Erhebliche Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der Institution des Altenheims hatte die gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende und Anfang des 20. Jahrhunderts weiter vorangetriebene Verallgemeinerung des Altersruhestands und die Einführung allgemeiner Pensionssysteme. Dies vor allem in zweierlei Hinsicht: Zunächst einmal führte die Einführung allgemeiner Systeme der Alterssicherung zu einer Aufweichung der bis dahin vorherrschenden Konnotation von Alter mit Armut und Bedürftigkeit, was eine nachhaltige Veränderung der Kriterien für die Aufnahme in ein Altenheim mit sich brachte: »Zuvor ganz auf die Mildtätigkeit der jeweiligen Träger angewiesen, verfügen die BewohnerInnen seit diesem Zeitpunkt zum ersten Mal über ein – wenn auch geringes – eigenes Einkommen, jenseits der Möglichkeit der privaten Akkumulation von Gütern für die individuelle Alterssicherung. Sie treten somit zumindest in weiten Teilen aus dem Bereich der Wohltätigkeit heraus und werden zu einem Faktor wirtschaftlicher Erwägungen« (ebd., 19). Man könnte es vielleicht auch so ausdrücken: Mit der Einführung von Pensionssystemen erfolgt in gewisser Weise auch der Startschuss zur heute längst abgeschlossenen ›Verwarenförmigung‹ bzw. Kommodifizierung und Kommerzialisierung der Pflege und wandelt sich das Altenheim dem Wesen nach von einer Institution der staatlichen Armenfürsorge in einen Dienstleistungsbetrieb – freilich zu Beginn noch primär in staatlicher bzw. kommunaler Regie und darüber hinaus auf sehr niedrigem Niveau, angesichts der niedrigen Pensionen, die im frühen 20. Jahrhundert noch vorherrschten und viele Menschen im Alter trotz Pensionsanspruch weiterhin von Arbeit oder von Leistungen der Armenhilfe abhängig machten. Entsprechend kärglich waren Altenheime damals noch ausgestattet.


Ein zweiter bedeutender Wandel, den das Altenheim mit Entstehung und Verallgemeinerung des Ruhestands erfuhr, bestand darin, dass nun erstmalig eine verbindliche, gesellschaftliche Definition einer Altersgrenze existierte, die den Beginn des Alters als Lebensphase markierte (vgl. etwas ausführlicher Urban 2018, 179ff.). In Deutschland etwa lag diese Altersgrenze bei Einführung allgemeiner Rentenversicherungen bei 70 Jahren – ein Alter, das damals freilich nur die wenigsten Menschen erreichten, am allerwenigsten Angehörige des Proletariats. Der durchschnittliche Arbeiter war bei Fälligwerden der Rente statistisch gesehen bereits seit gut zehn Jahren tot (vgl. Borscheid 1996). Für das Altenheim stellte dies jedoch insofern eine bedeutsame Entwicklung dar, als es damit zu einer zusätzlichen Verschiebung innerhalb seiner Klientel kam: »Die Koppelung des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben mit dem Beginn des Alters setzte erstmalig eine feststehende Altersgrenze. Diese galt in Folge als der allgemeine Beginn der Altersphase, unabhängig vom Gesundheitszustand des Einzelnen, seinem sozialen Status oder seiner persönlichen Einschätzung. Damit blieben im Wesentlichen nur die Menschen oberhalb dieser Altersgrenze für die Heime zugangsberechtigt. Das zuvor allein maßgebliche Kriterium der Bedürftigkeit trat hinter das Alter als neuer Grenze zurück. […] So entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Einrichtungen, die speziell für die Unterbringung und Versorgung alter Menschen geplant waren« (Heinzelmann 2004, 19f.).


Auf dieser Grundlage (und auch vor dem Hintergrund, dass der Altenanteil in der Bevölkerung aufgrund einer sukzessive steigenden Lebenserwartung rasch im Wachsen begriffen war) wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sodann in großer Zahl Altenheime gebaut und fand die Institution des Altenheims immer weitere gesellschaftliche Verbreitung. Die Propagierung und Förderung von Altenheimen seitens des Staates und der Kommunen in Deutschland hatte dabei – wie üblich im Kapitalismus – vor allem ökonomische Gründe: einerseits die wirtschaftliche Notlage vieler alter Menschen, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (Inflation, Wirtschaftskrise etc.), zum anderen ökonomische Zwänge von Rentenversicherungen, Kommunen sowie kirchlichen Trägern: »Die Institution Heim mit ihrem Potential zu weitreichender Standardisierung und Normierung von Unterbringung und Versorgung war eine der Möglichkeiten zum kostensparenden Wohnen der anvertrauten BewohnerInnen« (ebd., 21). Wir finden hier, wie schon ganz allgemein im gesellschaftlichen Altersdiskurs, so auch im Diskurs um Altenheime, neben der Verwahrung von Alten als Unproduktive, auch das damit aufgeworfene Kostenproblem als immer schon konstitutives, der Institution des Altenheims inhärentes Element der kapitalistischen Kosten-Nutzen-Rationalität vor. Möglichst billig soll die Unterbringung der Alten sein – dies umso mehr, je weniger diese selbst finanziell zu ihrer Verwahrung beizutragen vermögen und der Allgemeinheit dadurch sprichwörtlich auf der Tasche liegen. Diese der damaligen sachlichen Minderausstattung von Altenheimen korrespondierende finanzielle Minderausstattung alter Menschen wird man wohl auch für eine adäquate Beurteilung der seither stattgefundenen Entwicklung von Altenheimen zu mehr oder weniger komfortablen Seniorenresidenzen mitdenken müssen: Bei den heutigen Heiminsassen gibt es, anders als noch vor hundert Jahren, etwas zu holen.[8] Und in dem Maße, wie Pflege und Betreuung mittlerweile zu einer Ware wie alle anderen geworden sind und Pflegebedürftige in erster Linie als kaufkräftige ›Kunden‹ in Erscheinung treten, muss dementsprechend auch das Niveau ihrer Verwahrung ein höheres sein.


Diese primär ökonomische Rationalität und den ständigen Finanzierbarkeitsvorbehalt, dem Altenheime unterliegen, im Hinterkopf, erscheint die historisch bald darauf folgende ›Euthanasierung‹ auch von zahllosen alten Menschen, insbesondere von Heimbewohner/-innen im Dritten Reich (dazu Hahn 2001) daher nicht als jener zivilisatorische Rückfall in die vormoderne Barbarei, mit dem die Naziverbrechen bis heute mehr oder weniger ausdrücklich assoziiert (dadurch aber auch de facto externalisiert und gleichsam als etwas von außen in die moderne Zivilisation Einbrechendes verharmlost) werden, sondern allenfalls als extreme Zuspitzung und bloß radikalere praktische Umsetzung und Realisierung einer gesellschaftlichen Logik, die dem Altenheim eigen ist bzw. von diesem repräsentiert wird, seit es dieses gibt. Die physische Beseitigung von Alten als gesellschaftlich Überflüssige ist im Prinzip nur die Extremform ihrer längst und bis heute auf der Tagesordnung stehenden ›sozialen Beseitigung‹ in eigens errichteten Anstalten. Dazwischen besteht kein absoluter, sondern lediglich ein (wenn auch erheblicher) gradueller Unterschied. Die Gefahr, dass aus der sozialen eine physische Beseitigung wird, ist dabei auch solange nicht gebannt, solange weiterhin eine gesellschaftliche Struktur fortbesteht, die die Menschen in ›Produktive‹ und ›Unproduktive‹, in gesellschaftlich ›Nützliche‹ und ›Überflüssige‹ differenziert und jedes menschliche Lebensrecht an das Kriterium der Rentabilität koppelt. Nicht von ungefähr besteht eine kaum zu übersehende Ähnlichkeit in der Argumentationsstruktur von nationalsozialistischen Euthanasie-Diskursen und gegenwärtig wieder stark zunehmenden Diskussionen über ›Sterbehilfe‹. Hier wie dort erscheint die Tötung Alter, Pflegebedürftiger oder Behinderter stets sowohl utilitaristisch im Interesse der Gesellschaft, als auch, gleichsam aus einer Perspektive des individuellen Wohlergehens und der Autonomie, im Interesse der Betroffenen (vgl. Fittkau 2006; Graefe 2007; Loenen 2014). Auch in aktuellen Diskursen vor dem Hintergrund des demographischen Wandels und dessen Folgen ist diese perfide Logik explizit oder implizit stets enthalten – implizit etwa im weit verbreiteten Bild einer ›gesellschaftlichen Überalterung‹, das ein gesellschaftlich nicht tragbares Anwachsen des Altenanteils postuliert und Alten damit de facto das Lebensrecht abspricht; explizit in sozialethisch verbrämten Empfehlungen an Alte und Gebrechliche, sich das Leben zu nehmen, um ihre Familien und die Gesellschaft nicht unnötig zu belasten (vgl. Stückler 2019, 6ff.).[9] Ausgesprochen oder unausgesprochen gilt also auch heute noch, was Karl Binding und Alfred Hoche 1920 in ihrem die späteren Euthanasieprogramme der Nazis maßgeblich inspirierenden Machwerk über die »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« geschrieben haben: »[Es gibt] Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat« (Binding/Hoche 2006, 26).


Wie viele alte Menschen damals dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer gefallen sind, lässt sich heute freilich nicht mehr genau bestimmen. Sicher ist lediglich, dass diese auf ähnliche Weise und mit ähnlicher Begründung ermordet wurden wie zahlreiche andere, als überflüssig geltende Personengruppen wie etwa Behinderte oder psychisch Kranke.[10] Eine genaue Abschätzung des Ausmaßes des nationalsozialistischen Senizids wird nicht zuletzt dadurch erschwert, dass die NS-Euthanasieprogramme auch nach ihrem offiziellen Stopp im Jahr 1941 weiterliefen. Es ist also davon auszugehen, »dass nicht bloß durch den Widerstand gegen dieses Programm […] sondern erst durch das Ende des ›Dritten Reiches‹ zahlreiche alte Menschen vor der Ermordung gerettet wurden« (Heinzelmann 2004, 23).


 

3. Entwicklungen seit den 1960er Jahren – Zur Verwahrung der Alten nach dem Ende der Verwahranstalten


Auch nach dem Zweiten Weltkrieg und dem massenhaften Altenmord der Nationalsozialisten hat sich am Charakter von Altenheimen zunächst nicht viel geändert. Bis in die 1960er Jahre hinein stellte die bloße Verwahrung von Alten und Pflegebedürftigen, wie selbst die gerontologische Mainstream-Lehr- und Praxisliteratur ganz lapidar zu konstatieren weiß, das offene Leitbild von Alten- und Pflegeheimen dar (vgl. exemplarisch Marx 2012, 562). Auch offen abwertende Begriffe wie ›Siechenheim‹ waren bis zu dieser Zeit nicht nur in der Alltagssprache gebräuchlich (vgl. Irmak 1999, 322). Was hier Anlass zur kritischen Reflexion der historischen Wurzeln wie auch der sozialen Funktion von Altenheimen – gewissermaßen ihrer gesellschaftlichen Formbestimmung – sein könnte, dient in der gerontologischen Literatur freilich vor allem als Ausgangs- und Abstoßungspunkt für eine ›Fortschrittsgeschichte‹ der Altenpflege im Laufe des 20. Jahrhunderts, in deren Zuge das Altenheim seinen Charakter als Verwahranstalt nach und nach abgelegt habe. In dem Zusammenhang ist heute von verschiedenen ›Generationen‹ von Altenheimen die Rede, die sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet und quasi nacheinander abgelöst hätten. Die ›erste Generation‹ werde repräsentiert durch die bis in die 1960er Jahre vorherrschenden Verwahranstalten. Diese seien im Laufe der 1960er und 1970er Jahre abgelöst worden durch eine ›zweite Generation‹ von Altenheimen, die eher den Charakter von Krankenhäusern hatten. Darauf folgte in den 1980er und 1990er Jahren eine ›dritte Generation‹ von Wohnheimen, aus der heraus sich ab Ende der 1990er Jahre als ›vierte Generation‹ das am »Leitbild der Familie« orientierte Konzept der »Haus- und Wohngemeinschaft« entwickelte (Marx 2012, 562f.). Dieses neue Konzept zeichne sich vor allem dadurch aus, dass die »Anstaltsstrukturen [...] durch den Abbau zentraler Versorgung aufgelöst [werden]. Die Architektur orientiert sich an Wohnungen mit kleinen familienähnlichen Gruppen und ständig anwesender Bezugsperson. Die Aktivitäten der Bewohner orientieren sich an einem normalen Haushalt – und die Pflege tritt dabei in den Hintergrund« (ebd., 562). Im Mittelpunkt stünden »eine normale Lebensgestaltung und die Berücksichtigung der Biographie durch Schaffung individueller Lebensräume. Der Alltag und die Tagesgestaltung richten sich nach den Wünschen, Bedürfnissen und Ressourcen der Bewohner. Dezentrale hauswirtschaftliche Versorgung steht im Mittelpunkt, wobei die aktive Beteiligung der Bewohner gefördert werden sollte. Der Tagesablauf wird durch Präsenzkräfte (Pflege, Hauswirtschaft) gestaltet« (ebd., 563).


Nun besteht sicherlich kein Zweifel, dass diese Entwicklung, die Altenheime in den letzten Jahrzehnten durchgemacht haben, eine erhebliche Veränderung und Verbesserung im Vergleich zu den bereits architektonisch eher an Kasernen erinnernden Anstalten darstellt, die bis vor nicht allzu langer Zeit die Alten- und Pflegeheimlandschaft prägten. Gleichwohl vermag diese Entwicklung nicht darüber hinwegzutäuschen, dass all das, was seitens der Gerontologie heute gleichsam in eine ferne Vergangenheit verbannt und als Charakteristikum von Verwahranstalten längst vergangener Tage verhandelt wird, das ureigenste Wesen von Altenheimen auch dann noch darstellt, wenn daraus freundlich gestaltete Seniorenresidenzen und Wohngemeinschaften mit ›erlebnisorientiertem‹ Tages- und Aktivitätsprogramm geworden sind: nämlich die räumliche wie soziale Segregation und die faktische Einschließung Alter und Pflegebedürftiger. Nicht von ungefähr kommt die Verwahrung der Alten als innerste Logik des Altenheims auch heute noch immer wieder sehr eindringlich zum Vorschein in diversen ›Pflegeheimskandalen‹, wenn Fälle der völligen Verwahrlosung, der medikamentösen Ruhigstellung von Heiminsassen und andere Formen der organisierten Gewalt gegen Alte und Pflegebedürftige bekannt werden.


So erregte im Mai 2017 – um hier nur ein rezentes Beispiel zu nennen – in Österreich zum wiederholten Male ein Bericht der Volksanwaltschaft öffentliches Aufsehen, der gravierende Missstände und vielfältige Formen struktureller Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen in Heimen problematisierte (vgl. Volksanwaltschaft 2017). Der Bericht stellte etwa fest, dass Heimbewohner/-innen oftmals über Stunden aufgrund von zu wenig qualifizierten und überlasteten Personals in ihrem Harn und Kot liegengelassen würden. Gleichzeitig würden viele Pflegebedürftige auch dann gewickelt, wenn diese nicht inkontinent seien. In vielen Heimen würden Pflegebedürftige nur einmal wöchentlich gebadet oder geduscht, und wenn der Dusch- bzw. Badetag zufällig auf einen Feiertag falle, könne es passieren, dass selbst der wöchentliche Badetag ersatzlos gestrichen werde. Starre Tagesabläufe würden Heimbewohner/-innen u.a. unzumutbare Essenszeiten aufnötigen – Abendessen gebe es etwa häufig schon um 17 Uhr, teilweise sogar noch früher, um die Pflegebedürftigen im Anschluss bereits zur Nachtruhe ins Bett stecken zu können. Aus Angst vor dem als gestresst wahrgenommenen Personal würden sich manche Heimbewohner/-innen scheuen, die Rufglocke zu benutzen, und lieber darauf warten, bis Angehörige kommen und ihnen helfen. Dies gehe so weit, dass Heimbewohner/-innen ab dem Nachmittag nichts mehr trinken, um nicht in der Nacht um Unterstützung beim Toilettengang bitten zu müssen. Darüber hinaus dokumentiert der Bericht weit verbreitete Praktiken der Abwertung und Beleidigung sowie Formen der psychischen Gewalt gegen Pflegebedürftige durch das Pflegepersonal: »Gewalt kann […] auch in subtiler Form, etwa durch Geringschätzung, Beleidigung, dem Entzug von Ansprache und Zuwendung auftreten. Dass Pflegebedürftige, insbesondere wenn sie sich nicht an die Rahmenbedingungen anpassen können, Gefahr laufen, nicht mehr als Subjekte, sondern als ›Problem‹ wahrgenommen zu werden, zeigt sich mitunter an abwertenden Eintragungen in Pflegedokumentationen. Formulierungen wie ›Bewohner heute wieder bockig‹, ›Bewohnerin unerträglich‹ oder ›Bewohnerin nicht kooperativ‹ werden […] auch deshalb beanstandet, weil damit ausgedrückt wird, Bewohnerinnen und Bewohner hätten sich den Pflegestrukturen anzupassen« (ebd., 38).


Auch die Einschließung alter und pflegebedürftiger Menschen steht in vielen Alten- und Pflegeheimen bis heute an der Tagesordnung, wobei sich dies nicht etwa darauf beschränkt, Heiminsassen am Verlassen der Anstalt zu hindern, sondern auch Praktiken der Fixierung und Fesselung von Pflegebedürftigen umfasst. Laut international vergleichenden Studien setzen bis zu 66 Prozent der Pflegeheime ›freiheitsbeschränkende Maßnahmen‹ ein, um Alte und Pflegebedürftige in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken (vgl. Wurm 2016, 199). Hierunter fallen verschiedene mechanische, elektronische und medikamentöse Formen der Einschränkung: Beispiele für mechanische Einschränkungen sind etwa versperrte Ein- bzw. Ausgänge, versperrte Zimmertüren und jegliche Arten von Fixierungen. Das geht bis hin zu käfigartig konstruierten Betten wie z.B. Netzbetten, die Pflegebedürftige im Bett fixieren. Unter elektronische Einschränkungen fallen etwa Lichtschranken, Peilsender, Videoüberwachung oder Alarmarmbänder, die Alarm schlagen, wenn eine Person den Ausgangsbereich betritt. Medikamentöse Einschränkungen bestehen in der Verabreichung von sedierenden Wirkstoffen, hauptsächlich Psychopharmaka wie Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer, aber auch Nicht-Psychopharmaka wie Opioide und Schlafmittel (ebd., 202). Dass es sich hier nicht um Ausnahmen von der Regel und bloß um die Praxis einzelner ›schwarzer Schafe‹ im Feld der institutionellen Altenpflege handelt, kann bereits daran abgelesen werden, dass der Einsatz freiheitsbeschränkender Maßnahmen grundsätzlich legal und gesetzlich geregelt ist – in Österreich beispielsweise durch das ›Heimaufenthaltsgesetz‹. Rechtswidrig sind allenfalls bestimmte Formen der Freiheitsbeschränkung, nicht jedoch der Einsatz freiheitsbeschränkender Maßnahmen an sich. Diskussionen über die Zulässigkeit konkreter freiheitsbeschränkender Maßnahmen münden daher oftmals in einem regelrechten (menschen-)rechtlichen Eiertanz, der sodann die obersten Gerichtshöfe beschäftigt: So wurde etwa in Österreich im Jahr 2015 die Verwendung von Netzbetten verboten (ebd., 207ff.), während zahlreiche andere Maßnahmen auch weiterhin als zulässig gelten. Als Kriterium der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Freiheitsbeschränkungen gilt dabei oftmals auch nicht der Grad der Einschränkung, der durch eine konkrete Maßnahme bewirkt wird, sondern vor allem die Selbsthilfe- und Entscheidungsfähigkeit der betroffenen Heiminsassen. So liegt eine Freiheitsbeschränkung de iure unter Umständen nicht vor, wenn sich eine Person auch ohne entsprechende Maßnahmen nicht selbstständig und willentlich fortbewegen könnte (ebd., 205). Nicht die freiheitsbeschränkende Maßnahme per se konstituiert demnach eine Freiheitsbeschränkung, sondern der Grad an freiem Willen, Autonomie und Selbstentscheidungsfähigkeit, der einem Heiminsassen zugeschrieben werden kann. Diese Rechtspraxis ist gerade auch aus menschenrechtlicher Sicht ausgesprochen aufschlussreich und sollte vor allem solchen Gerontolog/-innen zu denken geben, die das Problem der Altersdiskriminierung und der Gewalt gegen alte Menschen mithilfe von Menschenrechten zu lösen hoffen (z.B. Townsend 2007; Cahill 2018): Vor dem Recht ist der pflegebedürftige oder gar demente alte Mensch, in Ermangelung von Autonomie und Entscheidungsfähigkeit, offenbar gar kein Mensch mehr, sondern erscheint auch hier nur noch als der bereits erwähnte ›Haufen Knochen‹ (Jaber/Gubrium), in den das Altenheim seine Insassen verwandelt, gleichsam eine Form von »nacktem Leben« (Agamben 2002), ein Stück Biomasse, mit dem die Institution verfahren kann, wie es der möglichst reibungslos und effizient zu gestaltende Pflegeheimalltag erzwingt.

Der Extremfall des ›Pflegeheimskandals‹ ist die vorsätzliche Tötung von Pflegebedürftigen durch Angehörige des Pflegepersonals. In jüngster Zeit ist in dem Zusammenhang etwa der besonders krasse Fall des deutschen Krankenpflegers Niels Högel durch die Medien gegangen, dem mittlerweile über hundert Fälle der Tötung von Kranken und Pflegebedürftigen zur Last gelegt werden. Solche Fälle der ›wilden Euthanasie‹[11] werden in der öffentlichen Diskussion genauso oberflächlich und individualisierend verhandelt wie viele andere unter ›Pflegemissstände‹ subsumierten Phänomene. Hier wird die Ursachenforschung gewöhnlich abgebrochen, bevor überhaupt der Punkt erreicht ist, an dem die eigentliche Ursachenforschung erst zu beginnen hätte – bei der Kritik an einer Gesellschaft, in der Alte, Kranke und Pflegebedürftige den Status von Minderwertigen und Überflüssigen haben und in Institutionen wie dem Altenheim ghettoisiert, eingeschlossen, verwahrt – und dabei eben manchmal auch getötet (und noch sehr viel häufiger verletzt und misshandelt) werden.[12]


Selten trifft man in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion auf Überlegungen wie die der feministischen Literatur-wissenschaftlerin Silvia Bovenschen, die in ihren Notizen zum Älterwerden die inhumane Logik der modernen, institutionellen Altenpflege recht treffend folgendermaßen auf den Punkt bringt: »[H]albtote Alte mit großflächigen Wundbränden, Druckgeschwüren, offenen Wunden an Gesäß und Rücken, die morgens um fünf Uhr – das erzwinge der pflegetechnische Ablauf – aus dem Tiefschlaf gerissen werden, in den sie durch die Eingabe von Sedativa abends versenkt worden waren. Man läßt sie nicht sterben, weil man das Geld der Pflegeversicherung kassieren will, und man läßt sie nicht würdig leben, weil das im Zeittakt der verrechenbaren Pflege nicht möglich ist« (Bovenschen 2006, 80). Bovenschen spricht hier auch die ökonomische Kosten-Nutzen-Rationalität mit ihren spezifischen Zeitlogiken an, denen die institutionelle Pflege in ihrer Warenförmigkeit unterliegt, und die eine menschenwürdige Pflege und Betreuung alter Menschen im Grunde schon von vornherein und systematisch sabotieren. Eine gute, qualitativ hochwertige, menschenwürdige Pflege erfordert in erster Linie sehr viel menschliche Zuwendung und damit Zeit – alles Dinge, die in der kapitalistischen ›Zeitsparlogik‹ (Frigga Haug), d.h. dem ökonomischen Kriterium der Zeit- und Kosteneffizienz, schlicht keinen Platz haben. Dies folgt unmittelbar aus der kapitalistischen Wert-Abspaltungsstruktur, in der reproduktive und Care-Tätigkeiten abgespalten, minderbewertet und entsprechend nachrangig behandelt werden (vgl. Scholz 2011). Daran vermögen auch besonders engagierte Pflegerinnen und Pfleger, die es durchaus gibt und die sich im Einzelnen gegen alle Widrigkeiten eines durch und durch kommerzialisierten und ökonomisierten Pflegesystems ehrlich um einen warmherzigen und menschlichen Umgang mit den ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen bemühen, nichts Wesentliches zu ändern. Selbst hier dürfte oftmals unter dem Strich nicht sehr viel mehr herauskommen als die Konstruktion eines idealisierten Berufsethos, das es erlaubt, den rauen Pflegealltag zu bewältigen, ohne restlos an ihm zu verzweifeln und als Pfleger/-in darin unterzugehen. Karin Kersting (2011) spricht in diesem Zusammenhang von »Coolout in der Pflege«: Pfleger/-innen, die unter den prekären Arbeitsbedingungen in der (Alten-)Pflege funktions- und handlungsfähig bleiben wollen, müssen ein für sie tragfähiges Berufsrollenbild entwickeln, das es ihnen erlaubt, mit den Widersprüchen zwischen pflegerischem Anspruch und realer Pflegepraxis produktiv umzugehen, ohne an diesen zu zerbrechen. Dies disponiert sie im Regelfall zur mehr oder weniger weitgehenden Hinnahme der Widersprüche und zur Anpassung an eine durch die Verhältnisse erzwungene Pflegepraxis, die den hohen ethischen Ansprüchen des Pflegeberufs oftmals diametral widerspricht.

Noch die in Altenheimen mittlerweile übliche und im Allgemeinen als besonders kräftiges Indiz für den neuen, ›freundlicheren‹ Charakter von Altenheimen geltende ›Aktivierung‹ von Heimbewohner/-innen durch Freizeit- und Therapieangebote, regelmäßige Veranstaltungen oder ähnlichem erweist sich bei genauerer Betrachtung als überaus janusköpfig: So zeigt Stephen Katz (2000) in einer von Foucault inspirierten Untersuchung, dass Praktiken der Aktivierung von Heiminsassen nicht zuletzt zu deren besonders effizienten Kontrolle und Disziplinierung taugen, um auf diese Weise einen möglichst reibungslosen Pflegealltag zu gewährleisten. In Anbetracht der Heterogenität von Heiminsassen und der Vielfalt von Verhaltensweisen und Situationen, die den Pflegeheimalltag prägen – manche Heimbewohner/-innen schlafen, andere wandern herum, dazwischen schreit jemand, während wieder andere z.B. ihre verschmutzte Windel auseinandernehmen – besteht laut Katz eine effiziente Möglichkeit des ›Verhaltensmanagements‹ in Pflegeheimen darin, die Insassen permanent durch verschiedene Aktivitätsprogramme zu beschäftigen. Der Pflegeheimalltag, so schließt Katz daraus, funktioniert nur, wenn die Heimbewohner/-innen hinreichend ›funktionieren‹, und das tun sie am besten, wenn man sie aktiviert, wenn ihre Körper also »geschäftige Körper« sind (ebd., 142). Aktivität dient so in erster Linie dazu, das Leben und den Alltag in Altenheimen effizient zu planen und zu organisieren. Betrachtet man diese Strategie der Aktivierung als komplementär zu den oben beschriebenen Strategien der Ruhigstellung und Einschließung von Alten und Pflegebedürftigen, lässt sich die Logik der institutionellen Altenpflege vielleicht auch so zusammenfassen: Aktivierung der (noch) Aktivierbaren, Ruhigstellung der nicht mehr Aktivierbaren, d.h. Bettlägerigen und Dementen. Beides hat die Funktion, den pflegetechnischen Ablauf in der Art und Weise möglichst glatt und reibungslos zu gestalten, wie er durch die von den Gesetzen des Marktes und von der ökonomischen Kosten-Nutzen-Rationalität erzwungene Orientierung an Zeit- und Kosteneffizienz im Altenheim strukturell vorgegeben wird.


Angesichts der in Pflegeheimen vorherrschenden Zeit- und Kosteneffizienzlogik ist es auch kein Widerspruch, wenn nach allgemeiner Betroffenheit im Gefolge eines ›Pflegeheimskandals‹ und dem dadurch veranlassten Ruf nach Verbesserungen in der Altenpflege die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diese ›Pflegemissstände‹ systematisch hervorbringen, nicht nur unangetastet bleiben, sondern zumeist sogar an deren weiteren Verschlechterung gearbeitet wird. Rationalisierungen und Einsparungen beim Pflegepersonal schreiten völlig unbeeindruckt von öffentlicher Kritik weiter voran. Die Pflegetätigkeit wird zunehmend geringer qualifizierten und entsprechend billigeren ›Pflegehelfer/-innen‹ übertragen, während nunmehr akademisch ausgebildetes Pflegepersonal ausschließlich im ›Pflegemanagement‹ tätig ist und den permanent zunehmenden Verwaltungsaufwand in der Pflege abarbeitet. Vor dem Hintergrund von Pflegekräftemangel einerseits und Massenarbeitslosigkeit andererseits gibt es mittlerweile auch konkrete Überlegungen, Arbeitslose ungeachtet ihrer Eignung und ihrer individuellen Interessen möglichst in den Pflegeberuf zu drängen.[13] Und wenn es nach manchen Politiker/-innen, Wissenschaftler/-innen und Technikkonzernen geht, sollen in absehbarer Zeit sogar Pflegeroboter den steigenden Pflegebedarf bewältigen helfen und menschliche Pfleger/-innen von ihrer Arbeit ›entlasten‹. Während ein geschäftiger Ethik- und Pflegewissenschaftsbetrieb derzeit noch intensiv über ein »würdevolles Altern« und über »Würde bis ans Lebensende« nachdenkt (vgl. Niederschlag/Proft 2014; Dabrowski/Wolf 2016), wird also bereits mit Hochdruck daran gearbeitet, die Altenpflege in Zukunft von Maschinen erledigen zu lassen – eine Entwicklung, die wohl ohne Zweifel einem neuen Gipfelpunkt in der gesellschaftlichen Entwürdigung des Alterns gleichkäme. All das verdeutlicht, dass es jenseits des allenthalben öffentlich zur Schau gestellten Betroffenheitspathos angesichts gravierender Missstände in der institutionellen Altenpflege um eine menschenwürdige, qualitativ hochwertige Pflege und Betreuung alter Menschen in Wahrheit gar nicht geht – und unter kapitalistischen Bedingungen, in denen zuallererst Profit, Zeit- und Kosteneffizienz und dann lange nichts kommt, wohl auch gar nicht gehen kann.



4. Resümee: Warum es keine Altenheime ohne Altenverwahrung geben kann


Die bis hierher vorgetragenen kritischen Überlegungen und Befunde zur Geschichte und Funktion von Altenheimen als ›Verwahranstalten‹ müssen freilich schon fast zwangsläufig für all diejenigen einen Affront bedeuten, denen das Altenheim als eine ähnlich selbstverständliche und quasi-natürliche Institution erscheint, wie schon die warenproduzierende Gesellschaft insgesamt, und die daher (vermeintlich) ›sachlich‹ und ›realistisch‹ die Anforderungen und empirisch bestehenden (oder unterstellten) Bedarfe der Menschen bzw. der Gesellschaft in ihrer gegebenen Form im Blick haben und zum Ausgangs- und Referenzpunkt ihres Denkens und Handelns machen. Auf theoretischer Ebene ist das vor allem die gesamte Gerontologie und der größte Teil der Pflegewissenschaften. Auf praktischer Ebene sind es vor allem die Betreiber von Altenheimen und ihr Personal, aber wohl auch viele Bürger/-innen, die persönlich mit der Pflege eines bzw. einer Angehörigen konfrontiert sind. Aus einer solchen, schon von vornherein immanent bleibenden Perspektive lässt sich eine derart radikale Kritik am Altenheim bereits mit dem Totschlagargument erledigen, dass nun einmal eine gesellschaftliche Notwendigkeit besteht, Alte und Pflegebedürftige zu pflegen und zu betreuen – und dies wird in vielen Fällen nicht ohne Formen der institutionellen Pflege in entsprechenden Einrichtungen zu gewährleisten sein, zumal alte Menschen heute nicht nur immer mehr werden (demographischer Wandel), sondern auch immer weniger damit rechnen können, bei Pflegebedürftigkeit auf die Versorgung durch Angehörige zurückgreifen zu können. All das ist ohne Frage zutreffend – und verweist doch nur auf die gesellschaftliche Formbestimmtheit des Alter(n)s im Allgemeinen und der Altenpflege im Besonderen, die es kritisch zu reflektieren gälte. In einer Gesellschaft, die – wie es Foucault im obigen Zitat formulierte – derart ›beschäftigt‹ ist wie die unsrige, in der sich das Leben der Menschen primär um Arbeit dreht, sind Alte als Nicht-Arbeitende nicht nur Abweichende von der Norm (was wiederum ihren Status als Überflüssige begründet), sondern darüber hinaus auch Angewiesene auf Pflege- und Betreuungsleistungen, für die deren Angehörigen keine Zeit haben – und wenn, dann nur unter Inkaufnahme einer Doppelt- bis Dreifachbelastung durch die Vereinbarung von Karriere, Familie und Altenpflege (eine Mehrfachbelastung, die unter Wert-Abspaltungs-Prämissen vor allem Frauen zu tragen haben). Manchmal wird es wohl auch nicht nur an mangelnder Zeit von erwerbstätigen Angehörigen scheitern, sondern auch an mangelnder Zuneigung zu den pflegebedürftigen Eltern und einer entsprechend geringen Bereitschaft zur Übernahme von Pflegetätigkeiten. Die gesellschaftliche Nötigung zur (wie auch immer aufgeweichten, anti-autoritären) Erziehung und Disziplinierung des Nachwuchses zu arbeitsamen, leistungsbereiten Mitgliedern der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft hinterlässt zuweilen tiefe Spuren in den Familienbeziehungen und schafft ein gehöriges Maß an gegenseitiger Entfremdung im Intergenerationenverhältnis (vgl. sehr instruktiv dazu die kritischen Reflexionen über ›Erziehung‹ in Gruschka 2004, 237ff.).[14] Die postmoderne Erosion der Familie und die zunehmende Individualisierung von Lebensverhältnissen, die u.a. auch immer größere räumliche Distanzen schafft, tun hierzu noch ihr Übriges. Was in der gängigen, immanenten Betrachtungsweise zur Legitimation von Alten- und Pflegeheimen im Sinne einer gesellschaftlichen Notwendigkeit dient, wäre also zunächst einmal kritisch zu betrachten. Die Frage, ob unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen eine menschenwürdige Pflege überhaupt möglich ist, stellt sich nur dem nicht mehr, dem die Gesellschaft, so wie sie ist, bereits zu einer geworden ist, die gar nicht anders sein kann.


Das Problem an einem solchen falschen Realismus wird allerspätestens dann ersichtlich, wenn in die Betrachtung auch Aspekte der Altenpflege mit einbezogen werden, deren Kritikwürdigkeit allgemein konsensfähig ist, wie etwa der Einsatz freiheitsbeschränkender Maßnahmen in Altenheimen: Mit derselben Begründung, mit der für die Notwendigkeit und die wichtige gesellschaftliche Funktion von Altenheimen argumentiert wird, ließe sich gerade auch die systematische und schlicht inhumane Einschließung, Disziplinierung und Ruhigstellung von Pflegeheimbewohner/-innen legitimieren. Auch dazu gibt es unter den bestehenden Rahmenbedingungen der Pflege, realistisch betrachtet, keine wirkliche Alternative. Pflegeheime und ihr Personal, sofern sie nicht aufgrund von Vernachlässigung ihrer Betreuungs- und Sorgfaltspflicht mit einem Fuß auf der Anklagebank stehen wollen, tun gut daran, die ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen (erst recht, wenn diese dement sind) daran zu hindern, das Heim zu verlassen oder auf sonst irgendeine Weise aufgrund mangelnder Beaufsichtigung und Kontrolle im Pflegeheim zu Schaden zu kommen. ›Hundertjährige, die aus Fenstern klettern und verschwinden‹[15] mögen zwar in der literarischen und filmischen Fiktion das Publikum zum Schmunzeln bringen und Sympathien hervorrufen, in der Realität werden betroffene Angehörige aber eher rechtliche Schritte gegen das Pflegeheim einleiten, das es zugelassen hat, dass der greise Vater oder die pflegebedürftige Mutter aus dem Heim entwischen konnte. Meistens dürfte sogar schon sehr viel weniger ausreichend sein, um wegen Verletzung von Betreuungspflichten belangt zu werden: Hier genügt es wahrscheinlich schon, dass es zu sexuellen Handlungen zwischen Pflegeheimbewohner/-innen kommt, um bei Angehörigen einen ähnlichen moralischen Furor hervorzurufen, mit dem Pädagog/-innen zu rechnen haben, wenn es diesen nicht gelingt, die ersten erotischen Gehversuche der ihnen anvertrauten Kinder und pubertierenden Jugendlichen zu unterbinden (z.B. auf einer Klassenfahrt).[16]


Eben weil das so ist, das Altenheim also einer historisch gewachsenen Funktionslogik gehorcht, die wiederum verschränkt ist mit spezifisch kapitalistischen Rentabilitäts-, Kosteneffizienz- und Zeitlogiken, dreht sich jede Kritik an Missständen in der Altenpflege, die diese dem Altenheim inhärenten Logiken nicht berücksichtigt, notwendig im Kreis. Seinen Charakter als Verwahranstalt, so sollte durch die vorgelegte Analyse hinreichend plausibel geworden sein, kann das Altenheim, bei allen noch so zahlreichen Veränderungen an der Oberfläche, niemals ablegen, weil in der Verwahrung alter Menschen nun einmal seine Funktion besteht. Verschwinden könnte dieser Charakter einer Verwahranstalt nur, wenn auch die dazugehörige gesellschaftliche Funktion verschwände, und dies wäre zwangsläufig gleichbedeutend mit der Abschaffung des Altenheims überhaupt. Wer hingegen das Altenheim als Institution grundsätzlich bejaht, kann lediglich über die konkrete Form der Altenverwahrung diskutieren. Der wohl höchste jemals zu erreichende (unter den gegebenen Bedingungen aber auch illusorische) Zustand wären hoch finanzierte, mit ausreichend Personal versorgte und luxuriös ausgestattete Pflegeeinrichtungen, in denen vielleicht sogar viele der heute aufgrund von Einsparungen, Rationalisierungen und schlechten Arbeitsbedingungen den Pflegealltag prägende Missstände weitgehend minimiert werden könnten, in denen aber die beiden wesentlichsten Eigenschaften von Altenheimen gleichwohl weiterhin gültig blieben: nämlich die Segregation und Einschließung alter Menschen in einer Anstalt.[17]


Sehr viel wahrscheinlicher, angesichts der aktuellen demographischen Entwicklungen und einer fortschreitenden kapitalistischen Krisendynamik, ist, dass anstelle der sozialen Entsorgung alter Menschen in Altenheimen eher sogar wieder Formen der unmittelbar physischen Beseitigung von Alten und Gebrechlichen treten könnten. Dafür spricht schon das stetig rauer werdende alters- und bevölkerungspolitische Klima vor dem Hintergrund des demographischen Wandels[18] und die zunehmende Geschwindigkeit, mit der Euthanasie- und Sterbehilfediskurse gegenwärtig wieder auf dem Vormarsch sind. Vorgezeigt, wie schmal der Grat zwischen Verwahrung und Vernichtung ist, haben bereits die Nationalsozialisten mit ihren Euthanasieprogrammen und ihren Seniziden in Pflegeheimen. Wenn daraus historisch etwas gelernt werden kann, dann vor allem, in welchen Dimensionen, mit welcher Systematik und mit welcher Akribie die kapitalistische Gesellschaft bereit und fähig ist, gegen ihre Überflüssigen und Unproduktiven vorzugehen, wenn sie dies für zweckmäßig erachtet. Unter den bestehenden gesellschaftlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen bleibt also auch der massenhafte Senizid weiterhin im Bereich des Möglichen, und die Wahrscheinlichkeit seiner Realisierung steigt mit Fortgang der Krise weiter an. Dieser Senizid wird möglicherweise nicht mehr die Form staatlich organisierter Programme zur ›Euthanasierung‹ alter Menschen annehmen. Aber bereits im Nationalsozialismus ging eine große Zahl ermordeter Alter und Pflegebedürftiger auf das Konto von Pfleger/-innen und anderen Personen, die die Altentötung auch nach dem offiziellen Ende der NS-Euthanasieprogramme in Eigenregie fortsetzten. Es werden also vielleicht eher solche Formen der ›wilden Euthanasie‹ sein, die in der ›Verwilderung des Patriarchats‹ (Roswitha Scholz) an der Tagesordnung stehen werden, zumal sich dergleichen bereits in der Gegenwart immer wieder ereignet – und zwar nicht nur in Pflegeheimen, sondern vermutlich sehr viel häufiger noch im Privatbereich, wo Gewalt gegen alte Menschen zumeist im Dunkeln bleibt, sodass sich auch kaum abschätzen lässt, wie viele Alte und Pflegebedürftige durch Angehörige oder private Pfleger/-innen zu Schaden oder gar ums Leben kommen (vgl. Pousset 2018, 33). Hier kommt noch hinzu, dass unter Senizid nicht nur Akte der Tötung alter Menschen durch andere, sondern mitunter auch aktive und passive Handlungen alter Menschen gegen sich selbst zu subsumieren sind. Darunter fallen etwa Selbstmorde alter Menschen[19], aber auch Formen des ›Verlöschens‹ durch sogenanntes ›Sterbefasten‹ (wenn alte Menschen einfach aufhören zu essen und/oder zu trinken) sowie Formen des ›psychogenen Todes‹. Auch hier handeln alte Menschen häufig vor dem Hintergrund der »ermüdete[n], verzweifelte[n] oder hoffnungslose[n] Erkenntnis: ›Ich werde nicht mehr gebraucht, bin überflüssig – da gehe ich lieber!‹« (ebd., 29). Solche Formen des Senizids sind also im Grunde längst gängige Praxis und wesentliche Elemente der zutiefst negativen ›Alterskultur‹ des Kapitalismus. Und es steht zu befürchten, dass derartige Praktiken mit Fortgang der Krise stark zunehmen werden.


 

 

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Endnoten


[1] Weniger einzusehen ist hingegen, weshalb es sich bei dieser altersspezifischen Abweichung um eine ›biologisch bedingte Konstante‹ handeln soll. Weder die ›Geschäftigkeit‹ der modernen Gesellschaft, noch die Pensionierung (als systematische Ausgliederung aus der Lohnarbeit) sind biologische, sondern durch und durch gesellschaftliche Sachverhalte. Und eben diese sind es, die alte Menschen zu ›Abweichenden‹ machen, nicht (oder jedenfalls nicht per se) die in der Tat ›biologische Konstante‹ des physischen Alterungsprozesses. Es ist die spezifisch kapitalistische Form der Gesellschaft mit ihrem Arbeitsfetisch und ihrem daraus resultierenden Produktivitäts- und Aktivitätswahn, die all jenen Menschen einen minderwertigen Subjektstatus zuweist, die den damit zusammenhängenden Normen nicht entsprechen können oder wollen.


[2] Sowohl in der privaten als auch in der institutionellen Altenpflege werden entsprechende Pflege- und Betreuungsleistungen freilich bis dato in erster Linie von Frauen erbracht. Besonders schlimm trifft es dabei Frauen, die im Rahmen neuerer, zum Teil noch illegaler Formen der Altenpflege wie der sogenannten 24-Stunden-Betreuung tätig sind (Österreich war eines der ersten europäischen Länder, in denen die 24-Stunden-Betreuung im Jahr 2008 legalisiert wurde). Zumeist handelt es sich um Frauen aus Osteuropa, die ihre Tätigkeiten nicht nur zu niedrigen Löhnen erbringen, sondern auch ihre eigene Familie oftmals über Wochen hinweg in ihrem Herkunftsland zurücklassen müssen, was sie dazu zwingt, die Betreuung ihrer eigenen Kinder und/oder ihrer alten Familienmitglieder an andere auszulagern. Tine Haubner spricht in diesem Zusammenhang und mit Blick auf die unzumutbaren Arbeitsbedingungen migrantischer Pflegekräfte zu Recht von den »Sklavinnen des 21. Jahrhunderts« (Haubner 2017, 370ff.). Nicht nur die Erbringung von Altenpflegetätigkeiten, auch die Wahrscheinlichkeit, selbst in einem Pflegeheim zu landen, betrifft Frauen im Übrigen deutlich stärker als Männer. In Deutschland etwa sind 76 Prozent aller Pflegeheimbewohner/-innen weiblichen Geschlechts. Die liegt zum einen daran, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer, zum anderen aber auch daran, dass Männer viel öfter zu Hause von ihren (zumeist auch etwas jüngeren) Ehefrauen gepflegt werden. Selbst verwitwete Männer haben bessere Aussichten darauf, z.B. von ihren Kindern, vor allem von ihren Töchtern, gepflegt zu werden als verwitwete Frauen (vgl. Heusinger 2017, 173).


[3] Zitiert aus einem Flyer des Altenheims St. Elisabeth, st-elisabeth.com (Zugriff: 15.11.2019)

[4] Eine vormoderne Frühform dessen, was wir heute Ruhestand nennen, kann etwa im sogenannten ›Ausgedinge‹ gesehen werden, wie es ungefähr ab dem 13. Jahrhundert in Mitteleuropa entstand (vgl. Gestrich 2004, 65). Bereits die alten Römer kannten Formen des Altersruhestands, in den sich z.B. Angehörige des Senats oder der städtischen Aristokratie im Alter zurückziehen konnten (vgl. Hermann-Otto 2004, 11f.). Diese vormodernen Formen eines Altersruhestands hatten aber bereits insofern eine ganz andere Qualität als der moderne Ruhestand, als diese nicht mit dem Anspruch auf eine Rente verbunden waren.

[5] Auch heute noch lebt in Deutschland etwas von diesen spätmittelalterlichen Stiften fort in sogenannten ›Seniorenstiften‹, die vor allem auf die Betreuung und Pflege wohlhabender älterer Menschen spezialisiert sind.

[6] Siehe in diesem Zusammenhang auch den Beitrag von Leni Wissen zur Geschichte der Armenfürsorge in exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 17.

[7] Die erste, ausschließlich der Behandlung von ›Geisteskranken‹ gewidmete Anstalt in Europa war der unter Joseph II. im Jahre 1784 eröffnete, sogenannte ›Narrenturm‹ auf dem Gelände des damaligen Allgemeinen Krankenhauses in Wien (vgl. Urban 2017).

[8] Zumindest gilt dies einstweilen noch, solange der ›fordistische Speck‹ noch nicht gänzlich aufgebraucht ist. Bei der heute jungen, zunehmend prekarisierten Generation, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr mit einer lebensstandard- oder überhaupt nur existenzsichernden Rente rechnen kann, wird dies anders aussehen.


[9] So etwa wortwörtlich die britische Medizinethikerin Mary Warnock in einem Interview mit der Sunday Times im Jahr 2004: »the frail and elderly should consider suicide to stop them becoming a financial burden on their families and society« (The Sunday Times vom 12.12.2004). Nur noch grotesk sind Ideen wie jene des englischen Schriftstellers Martin Amis, der vorschlug, angesichts des demographischen Wandels sollten im öffentlichen Raum »euthanasia booths« aufgestellt werden, d.h. telefonzellenartige Buden, in denen sich alte Menschen das Leben nehmen können, damit sie der Gesellschaft nicht zur Last fallen (The Guardian vom 24.1.2010).

[10] Wenngleich hier auch einige erhebliche Differenzen zwischen der Logik der Tötung von Alten und jener von Behinderten und psychisch Kranken berücksichtigt werden müssen. Letztere wurden nicht nur aufgrund ihrer ›Unproduktivität‹ und ›Überflüssigkeit‹ ermordet, sondern hier waren besonders auch eugenische und ›rassenhygienische‹ Gesichtspunkte ausschlaggebend. Nochmals ganz anders motiviert war die nationalsozialistische Ermordung von Juden und ›Zigeunern‹ (Roma und Sinti). Bei diesen zielte die Tötung auf ihre systematische Ausrottung ab. Der ›Zigeuner‹ gilt in der modernen Gesellschaft als der »Homo sacer par excellence« (Scholz 2007, 212), ist also unter allen ›Überflüssigen‹ quasi der überflüssigste. Entsprechend starke Ausrottungsphantasien zieht er bereits über die gesamte moderne Geschichte hinweg auf sich. Bei Juden ist es wiederum die Projektion der abstrakten und von den Subjekten negativ empfundenen Aspekte des Kapitalismus auf und ihre Identifikation mit dem Judentum – siehe etwa Ideologeme wie jene vom ›jüdischen Zinswucher‹, vom ›internationalen jüdischen Finanzkapital‹, von der jüdischen ›Weltverschwörung‹ etc. (vgl. Postone 1982; Kurz 2009, 498ff.). Bis heute zeigt sich die Wirkmacht solcher Ideologeme, wenn in Zeiten von Finanz- und Wirtschaftskrise Antisemitismus in der Gesellschaft massiv zunimmt.


[11] Der Begriff der ›wilden Euthanasie‹ bezieht sich ursprünglich auf die bereits angesprochene fortgesetzte Ermordung von Heiminsassen durch das Pflegepersonal während des Nationalsozialismus, nachdem die NS-Euthanasieprogramme offiziell bereits gestoppt waren (vgl. Dörner 1967, 144f.). Trotz dieser sehr spezifischen historischen Bedeutung scheint mir der Begriff doch auch sehr treffend zu sein für solche Fälle der ›inoffiziellen‹, eigenmächtig durch individuelle Pfleger/-innen ins Werk gesetzten ›Sterbehilfe‹, wie sie sich auch heute noch immer wieder in Pflegeheimen ereignen.

[12] Auch dafür bietet der Fall Niels Högel und insbesondere dessen mediale Behandlung höchst aufschlussreiches Anschauungsmaterial. Nicht nur in Boulevardblättern, wo reißerische Darstellung ohnehin das bevorzugte Geschäftsmodell darstellt, sondern auch in ›Qualitätszeitungen‹ wie der Süddeutschen Zeitung erschien der Massenmörder Högel schlicht als das personifizierte »Böse unter uns« (Ramelsberger 2018).

[13] So hat etwa in Österreich im Jahr 2017 der ›Sozialrechtsexperte‹ Wolfgang Mazal den Vorschlag gemacht, Arbeitslose für die 24-Stunden-Betreuung am Land einzusetzen, um dem dort besonders stark ausgeprägten Pflegekräftemangel entgegenzuwirken. Vor allem junge Frauen und Asylwerber könnten laut Mazal von dieser Möglichkeit ›profitieren‹ (derstandard.at, 23.7.2017). Nachdem bislang in der 24-Stunden-Betreuung primär ausländische Pflegekräfte (hauptsächlich Frauen aus Osteuropa) ausgebeutet werden, gilt es nun also auch die einheimische Bevölkerung (und hier allen voran Frauen) angesichts hoher Arbeitslosigkeit in billige Pflegekräfte zu verwandeln, um sie zur Bewältigung des ›Pflegenotstands‹ einzusetzen.

[14] Auch darin dürften übrigens manche Ängste alter Menschen vor einer ›Abschiebung‹ ins Pflegeheim oder vor einer Angewiesenheit auf Pflegeleistungen ihrer Kinder begründet liegen. Diese Angst ist wiederum Wasser auf die Mühlen aktueller Sterbehilfediskurse, da Sterbehilfe nicht zuletzt die Möglichkeit verspricht, eine Existenz zu vermeiden, in der man für Familie und Gesellschaft nur noch eine Last darstellt. Entsprechend viel Zuspruch erfährt Sterbehilfe gerade unter alten Menschen (vgl. Lamers/Williams 2016).

[15] Siehe hierzu den schwedischen Erfolgsfilm aus dem Jahr 2013 Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand über einen hochaltrigen Pflegeheimbewohner, der aus dem Pflegeheim ausreißt.

[16] Die Sexualität im Alter ist ja bis heute massiv tabuisiert (wenngleich das Thema in den letzten Jahren etwas mehr Aufmerksamkeit erfahren hat und etwa eine Reihe von Filmen entstanden ist, die die Alterssexualität thematisierten).

[17] Wobei sich heute vor dem Hintergrund von demographischem Wandel und Staatsschuldenkrise eine Tendenz abzeichnet, die Altenpflege eher weg vom Pflegeheim und zurück in den Privathaushalt zu verlagern (Stichwort: ›ageing in place‹). Unklar erscheint bislang allerdings, wer dann die Pflegeleistungen erbringen soll: Ambulante Dienste unterliegen einem ähnlichen Finanzierungsvorbehalt wie Pflegeheime, die 24-Stunden-Betreuung wiederum ist schon aus den oben genannten Gründen schwerlich ein ›zukunftsfähiges‹ Konzept. Nicht nur zu befürchten, sondern vielmehr anzunehmen ist, dass die Erbringung von Pflegeleistungen in Hinkunft wohl wieder vermehrt informell und unbezahlt dorthin abgewälzt wird, wohin derartige Tätigkeiten im Kapitalismus ohnehin traditionell delegiert werden: auf Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter etc.


[18] Mittlerweile ist selbst schon in manchen linksliberalen Kreisen ein Altersbild en vogue, das alte Menschen als zunehmende ›Gefahr‹ für die Jungen rahmt. An der fortschreitenden Prekarisierung sollen die Alten aus dieser Perspektive dabei genauso schuld sein wie etwa am Klimawandel (vgl. besonders krass Roth 2019). Vor allem Letzteres sensibilisiert auch dafür, dass die aktuellen Jugendproteste gegen den Klimawandel (›Fridays for Future‹ etc.) mit der Zeit durchaus nach rechts abschmieren und einen barbarischen Weg einschlagen könnten, wenn die Schuld an der Klimamisere und den zahlreichen anderen Krisentendenzen konkreten Bevölkerungsgruppen, z.B. den Alten, zugeschrieben wird.

[19] Alte Menschen haben bekanntlich mit Abstand die höchste Suizidrate in der Bevölkerung. Besonders unter hochaltrigen Männern (85+) ist die Suizidrate enorm hoch – in Österreich etwa fünfmal so hoch im Vergleich zur Gesamtheit aller Männer (vgl. Kapusta 2012).