Andreas Urban
Alter(n) und Wert-Abspaltung
Grundrisse einer kritischen Theorie des Alters und Alterns in der warenproduzierenden Gesellschaft
Zuerst veröffentlicht 2018 in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 15, S. 173-228
Zu den Hauptmotiven der sozialwissenschaftlichen Alter(n)sforschung gehört insbesondere die Kritik an negativen Altersdiskursen, defizitorientierten gesellschaftlichen Altersbildern, altersfeindlichen Stereotypen und allen Formen der Diskriminierung alter Menschen. Diese notwendige und im Prinzip richtige Kritik verbleibt dabei jedoch für gewöhnlich auf einer bloß phänomenologischen Ebene, auf der diese Phänomene zwar problematisiert, nicht jedoch schon sozialwissenschaftlich erklärt und in ihren tieferen gesellschaftlichen Ursachen analysiert werden. Stattdessen wird diskriminierenden Altersdiskursen und einer geradezu strukturellen Altersfeindlichkeit moderner Gesellschaften die Beschwörung eines positiven Altersbildes entgegengesetzt, die häufig auch unmittelbar im Entwurf und der Propagierung konkreter praktischer (politischer) Maßnahmen zur Bekämpfung von Altersdiskriminierung und zur Förderung einer stärkeren Integration und »sozialen Partizipation« älterer Menschen kulminiert. Die Kritik zielt also überwiegend darauf, negative Altersbilder und Stereotype als (empirisch und/oder moralisch) falsch zu entlarven und stattdessen eine veränderte, positivere, »anerkennende« Sicht auf das Alter und auf alte Menschen zu eröffnen, um so einer Überwindung von Altersdiskriminierung den Weg zu bereiten (vgl. exemplarisch Hohmeier/Pohl 1978; Laws 1995; Amann 2004; Angus/Reeve 2006; Cruikshank 2009; Rothermund/Maier 2009; Gullette 2004; 2010; Nelson 2011).
Dieses Muster einer phänomenologisch verkürzten Kritik ist durchaus kein exklusives Charakteristikum der (kritischen) Alter(n)sforschung, sondern zieht sich in analoger Form durch zahlreiche andere (akademische wie nicht-akademische) Kritiken verschiedener Formen sozialer Ausgrenzung (Rassismus, Sexismus, Homophobie etc.). Das Problem ist daher im Prinzip hier wie dort dasselbe: Die Kritik stößt praktisch nie bis zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Wurzeln dessen vor, was sie dem eigenen Anspruch nach kritisieren und verändern möchte. Nur so und nicht anders, nämlich durch ein hinreichend tiefgehendes Verständnis solcher Phänomene, wäre aber eine Perspektive zu deren Überwindung überhaupt erst zu erarbeiten. In der sozialgerontologischen Diskussion wird mit Blick auf mögliche Erklärungsansätze für Altersdiskriminierung allenfalls auf tief sitzende, in der westlichen Kultur angelegte Ängste der Menschen vor dem Tod und dem eigenen Altern verwiesen, die sozusagen auf alte Menschen projiziert würden (z.B. Rothermund/Maier 2009; Cruikshank 2009; Nelson 2011). Was dabei jedoch offen bleibt, ist, worin wiederum diese kulturellen Ängste selbst begründet sind und in welchen spezifischen gesellschaftlichen Strukturen die diagnostizierte negative »Alternskultur« wurzelt. Etwas weiter gehen neuere postmoderne bzw. poststrukturalistische Ansätze, die das Problem bereits an sich in der Existenz von Altersgrenzen und distinkten, sozial konstruierten Lebensphasen sehen, die es entsprechend zu dekonstruieren und so zu überwinden gelte (vgl. Dyk 2009, 2014). Diese Kritik zielt in der Tat bereits deutlich tiefer als die gängigen gerontologischen Erklärungsansätze, allerdings verbleibt die Kritik auch hier letztlich auf einer rein kulturellen Ebene und werden gesellschaftstheoretische Dimensionen tendenziell vernachlässigt. Besonders problematisch erscheint dabei, dass der radikalkonstruktivistische Zugang dieser Ansätze im Endeffekt auch dazu neigt, den wohl nur schwerlich zu leugnenden physiologischen Prozess des Alterns, den Menschen im Laufe ihres Lebens absolvieren, selbst auf eine bloß kulturelle Konstruktion zu reduzieren.
Erforderlich für eine hinreichende sozialwissenschaftliche Kritik an und Erklärung von negativen Altersbildern und Altersdiskriminierung wäre hingegen ein kritischer, gesellschaftstheoretisch fundierter Zugang, der konsequent nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen, d.h. nach den diesen Phänomenen ursächlich zugrunde liegenden Form- und Strukturprinzipien moderner, kapitalistischer Gesellschaften fragt. Dabei hätte sich z.B. bereits ganz grundsätzlich die Frage zu stellen, ob in einer Gesellschaft, in der Arbeit, Produktivität, Leistungsfähigkeit, Aktivität usw. die Zentralwerte sind und sowohl wissenschaftlicher als auch gesellschaftlicher Fortschritt mit Naturbeherrschung (inklusive der des Menschen) gleichgesetzt werden, ein anderes als ein negatives Altersbild überhaupt möglich ist. Oder muss nicht eigentlich unter solchen gesellschaftlichen Prämissen das Alter(n) schon mit Notwendigkeit als etwas Defizitäres und Störendes empfunden werden, das es möglichst zu vermeiden und zu bekämpfen gilt? Nicht zufällig bildet ja genau diese Logik die Geschäftsgrundlage einer gegenwärtig prosperierenden Anti-Ageing-Medizin, die das Altern zusehends und kommerziell sehr erfolgreich in den Status einer »behandelbaren, molekularbiologischen Metakrankheit« (Spindler 2009: 382) erhebt. Wenn dem aber so ist, dann ist natürlich auch jeder Versuch einer Positivierung des gesellschaftlichen Altersbildes auf der Grundlage ebendieser gesellschaftlichen Prämissen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der einzig gangbare Weg, der der Kritik dann noch offensteht, besteht einzig und allein darin, die strukturell altersfeindliche gesellschaftliche Form als Ganze in Frage zu stellen. Was also allein bleibt, ist eine Kritik, die Altersdiskriminierung, ausgrenzende Altersdiskurse, negative Altersbilder usw. im Kontext kapitalistischer Vergesellschaftung selbst zum Gegenstand der Analyse macht und diese Phänomene in eben diesem (und mitsamt diesem) Kontext radikal kritisiert. Wo die Kontextualisierung solcher Phänomene im (post)modernen Kapitalismus und dessen Formprinzipien ausbleibt, steht als Kritik bloß ein zwar sicherlich gut gemeinter, aber letztlich völlig zahnloser, pseudokritischer Moralismus und die hoffnungslose und im Grunde naive Beschwörung positiver Altersbilder zur Verfügung.
Eine solche fundamentale (kapitalismuskritische) Kritik an – und damit auch hinreichende soziologische Erklärung von – Altersfeindlichkeit, Altersdiskriminierung, Anti-Ageing usw. steht bislang, aufgrund besagter sozialwissenschaftlicher Neigung zu phänomenologisch verkürzten und auf die unmittelbare Positivierung des gesellschaftlichen Altersdiskurses gerichteten Formen der Kritik, noch aus und bildet meines Erachtens ein wesentliches (wenn nicht sogar das) Desiderat einer kritischen Alter(n)sforschung. Explizit »kapitalismuskritische« Ansätze in der Alter(n)sforschung beschränken sich bis heute faktisch (von wenigen Ausnahmen abgesehen) auf die sogenannte, neomarxistisch orientierte »Political Economy of Ageing« aus den späten 1970er, frühen 1980er Jahren (vgl. Estes 1979; Estes et al. 1982; Phillipson 1982; Townsend 1981; Walker 1981). Diese kritisierte insbesondere die Institution des Ruhestands als eine systematische Zwangspassivierung älterer Menschen, die diese völlig abhängig mache von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und öffentlichen Institutionen der Altenhilfe – eine Abhängigkeit, die ihnen, wiewohl ein Produkt des kapitalistischen Systems selbst, je nach volkswirtschaftlicher Lage mehr oder weniger explizit zum Vorwurf gemacht wird und so die strukturelle Grundlage dafür schafft, alte Menschen als gesellschaftliche Last und bloß unnütze Kostenfaktoren zu denunzieren. Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung konnten auf diese Weise als notwendiges Resultat moderner kapitalistischer Vergesellschaftung kenntlich gemacht und kritisch analysiert werden. So phänomenologisch korrekt aber diese politisch-ökonomisch fundierte Kritik auch war, so verkürzt war sie auch und blieb am Ende erst recht in der kapitalistischen Form befangen. Denn die Kritik an der gesellschaftlich erzeugten Abhängigkeit Älterer und an der strukturellen Altenfeindlichkeit kapitalistischer Gesellschaften wurde nicht etwa in eine Perspektive der Aufhebung des notwendig Ausgrenzung und Altersfeindlichkeit produzierenden gesellschaftlichen Rahmens überführt, stattdessen wurde immanent die stärkere gesellschaftliche Integration und Partizipation älterer Menschen anvisiert, insbesondere durch die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit über die Pensionsgrenze hinaus. Nicht von ungefähr gehören Vertreter der »Political Economy of Ageing« – die sich seit den 1980er Jahren, ergänzt um kulturtheoretische, feministische und postmoderne Ansätze, zur sogenannten »Critical Gerontology« »weiterentwickelt« hat – heute zu den wissenschaftlichen Chefideologen des in den vergangenen zwanzig Jahren im Kontext von Globalisierung, Neoliberalismus, demographischem Wandel und aktivierendem Sozialstaat zur Grundlage europäischer Alterspolitik avancierten »Active Ageing«-Paradigmas (auf die aktuelle alterspolitische Active-Ageing-Ideologie wird später noch genauer zurückzukommen sein).
Angesichts des offenkundigen, notorischen Unvermögens »kritischer« Alter(n)sforschung zu einer fundamentalen Kritik an Altersdiskriminierung, Anti-Ageing usw. soll im vorliegenden Beitrag der Versuch eines zumindest ersten groben Entwurfs einer solchen konsequent kritischen Theorie des Alter(n)s im Kapitalismus unternommen werden. Als theoretische Grundlage wird dabei im Folgenden vor allem auf die Wert-Abspaltungstheorie von Roswitha Scholz (2011/2000) zurückgegriffen. Die besondere Stärke dieser Theorie für eine anvisierte kapitalismuskritische Analyse des Alter(n)s besteht, wie noch ausführlich zu zeigen sein wird, vor allem darin, dass damit gerade der moderne, sich sowohl kulturell-symbolisch (z.B. in negativen Altersdiskursen und Stereotypen) als auch materiell-strukturell (etwa in sozialer Ausgrenzung, Altersdiskriminierung, in der Benachteiligung älterer Menschen am Arbeitsmarkt usw.) artikulierende negative Status des Alters im Sinne eines inferior gesetzten, defizitären, differenten Anderen als ein genuiner Effekt kapitalistischer Vergesellschaftung bestimmt und so einer tiefgehenden Analyse und Kritik unterzogen werden kann. Nur durch eine derart radikale Kritik, die die Formbestimmtheit des Alter(n)s durch die übergeordnete Wert-Abspaltungsstruktur kapitalistischer Gesellschaften in Rechnung stellt und auf diese Weise nicht nur in der Lage ist, den inferioren gesellschaftlichen Status des Alter(n)s sowie die damit assoziierten Phänomene bloß zu skandalisieren, sondern diese in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit, d.h. in ihrer Vermitteltheit durch die innere Logik und die Formprinzipien kapitalistischer Gesellschaften, zum Gegenstand der Kritik zu machen, kann vermieden werden, durch ein immanentes Verbleiben in den unhinterfragten kapitalistischen Kategorien die unfreiwillige Affirmation der kritisierten altersbezogenen Phänomene oder – im Gegenteil (wie sich im Fortgang der Analyse ebenfalls zeigen wird) – sogar das Umkippen der Kritik in mehr oder minder explizite Anti-Ageing-Positionen zu riskieren.
Das dissoziierte Alter
Wie im Folgenden gezeigt und plausibel gemacht werden soll, kann auch der durchweg negative gesellschaftliche Status des Alter(n)s im Kontext der Wert-Abspaltung analysiert werden und die Wert-Abspaltungstheorie Entscheidendes zum besseren Verständnis von Altersdiskriminierung und der vorherrschenden strukturellen Altersfeindlichkeit beitragen. Auch das Alter lässt sich in gewisser Weise als ein abgespaltenes Moment der Wertvergesellschaftung begreifen, aus dessen Abspaltung ein altersfeindlicher und alte Menschen ausgrenzender Strukturzusammenhang resultiert. Die Rede von einer »Abspaltung« des Alters ist freilich gerade im wertabspaltungskritischen Kontext aus mehreren Gründen problematisch, weshalb im Vorfeld einige begriffliche Klärungen vonnöten sind.
Von einer für den Kapitalismus typischen »Abspaltung des Alters« zu sprechen, suggeriert womöglich die Existenz eines eigenständigen, quasi zusätzlichen Abspaltungsvorganges neben bzw. parallel zur geschlechtlichen Abspaltung. Dies wäre in der Tat ein Missverständnis, das es tunlichst schon von vornherein zu vermeiden gilt. Denn alles, was im Folgenden über das Alter(n) und dessen spezifisch kapitalistische Formbestimmung ausgeführt wird, kann selbstverständlich selbst nur vor dem Hintergrund der Wert-Abspaltung als einer gesellschaftlichen Totalitätskategorie, d.h. als eines umfassenden, durch alle gesellschaftlichen Ebenen und Bereiche hindurchgehenden Formprinzips verstanden werden. Der negative gesellschaftliche Status des Alters, wie er in Phänomenen der Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung zum Ausdruck kommt, ist sozusagen selbst als ein Aspekt ein und desselben Prozesses der Wert-Abspaltung zu begreifen, durch den jene gesellschaftlichen Momente, die nicht in der Logik der Kapitalverwertung aufgehen, aus der Wertform herauslöst und inferior gesetzt werden. Andererseits – und gleichzeitig – kann das Alter(n) aber auch nicht einfach subsumtionslogisch unter die Wert-Abspaltung gefasst werden, ist also auch nicht einfach unmittelbar damit identisch und geht darin quasi auf, sondern besitzt eine gewisse Eigenlogik, der theoretisch Rechnung zu tragen ist. So gehört es etwa wesentlich zur Eigenlogik des im folgenden noch genauer zu beschreibenden und auf den Begriff zu bringenden »Herausfallens« des Alters aus dem kapitalistischen Wertverhältnis, dass dadurch – anders als etwa bei der geschlechtlichen Abspaltung – kein soziales Unterordnungs- und Ausgrenzungsverhältnis konstituiert wird, das auf eine bestimmte, exklusive Personengruppe (z.B. Frauen) beschränkt ist, sondern dieses betrifft potentiell jeden Menschen, sofern er nämlich nur lange genug am Leben ist. Altersdiskriminierung betrifft also z.B. Männer gleichermaßen wie Frauen (auch wenn sich dabei freilich einige gravierende geschlechtsspezifische Unterschiede ergeben).[1] Ebenso ist auch dahingehend eine wesentliche Differenz zur geschlechtlichen Abspaltung zu berücksichtigen, dass das Alter, im Gegensatz zum abgespaltenen »Weiblichen«, nicht so etwas wie die notwendige Kehrseite der Wertform verkörpert, mit einem spezifisch zugewiesenen Lebens- und Tätigkeitsbereich, der zwar der Wertsphäre untergeordnet, minderbewertet oder auch schlicht ignoriert wird, dabei aber nichtsdestoweniger eine Grundvoraussetzung und ein (wenn auch uneingestandenes) sine qua non des Verwertungsprozesses und damit der Wertvergesellschaftung insgesamt darstellt. Sondern das Alter geht im Grunde genommen einher bzw. konstituiert sich durch ein schlichtes Herausfallen aus der Wertform, und zwar genauer gesagt (und wie gleich noch ausführlicher zu plausibilisieren sein wird) aus der Sphäre der abstrakten Arbeit. Dieses Herausfallen konstituiert aber eben keinen noch so inferior gesetzten, aber notwendigen Bereich gesellschaftlicher Reproduktion, sondern lediglich einen – von der Warte der kapitalistischen Wertlogik aus gesehen – durch und durch defizitären, ja letztlich eigentlich »unmenschlichen« Aggregatzustand menschlicher Existenz, der deshalb subjektiv wie gesellschaftlich nur negativ konnotiert sein kann.
Kurz gesagt: Das »Herausfallen« des Alters, als Grundlage einer zutiefst altersfeindlichen kapitalistischen Grundstruktur, lässt sich theoretisch nur im Kontext eines übergreifenden und totalen kapitalistischen Wert-Abspaltungszusammenhangs begreifen, ist aber dennoch nicht einfach dasselbe wie die Wert-Abspaltung. Ich werde daher, um dieser Differenz Rechnung zu tragen, im Folgenden den Begriff der »Dissoziation« verwenden und von einem »dissoziierten Alter« sprechen.[2]
Die historische Konstitution des Alters im Kapitalismus
Die Hauptthese dieses Beitrags ist mithin, dass die kapitalistische Gesellschaft nicht zuletzt auch durch eine »Dissoziation des Alters« und eine daraus resultierende strukturelle Altersfeindlichkeit charakterisiert ist, wobei sich diese Dissoziation wesentlich durch eine Herauslösung alter Menschen aus der Sphäre der abstrakten Arbeit darstellt. Der konstitutive Zusammenhang von Alter und abstrakter Arbeit und damit die historische Form der modernen Dissoziation des Alters als solcher besteht darin, dass das Alter in der kapitalistischen Gesellschaft bekanntlich verbunden ist mit dem Eintritt in den Ruhestand, der – wie schon die Arbeit selbst – eine genuin kapitalistische Kategorie bzw. Institution darstellt. Bevor ab dem späten 17., frühen 18. Jahrhundert, zunächst beschränkt auf das Militärwesen und die zivilen Staatsverwaltungen und erst um die Wende zum 20. Jahrhundert allmählich auch für Arbeiter, soziale Sicherungs- und Pensionssysteme etabliert wurden, existierte das Alter als eine chronologisch distinkte, einheitliche Lebensphase praktisch nicht. Das heißt, das, was wir als eine eigenständige Lebensphase des Alters kennen und uns darunter vorstellen – nämlich vor allem den Eintritt in den Ruhestand und die Entbindung vom Erwerbsarbeitszwang – all das gab es in vorkapitalistischen Gesellschaften in dieser Form eigentlich noch gar nicht. Es spielt hier natürlich auch eine große Rolle, dass im Prinzip erst unter industriekapitalistischen Prämissen, aufgrund einer sukzessiven Erhöhung der »Lebensstandards«[3] und Fortschritten bei der Bekämpfung von Krankheiten, eine wesentlich größere Anzahl von Menschen überhaupt ein höheres Lebensalter erreichte, damit aber auch der Anteil Älterer in der Bevölkerung stark und bis heute fortdauernd anstieg. Noch Ende des 19. Jahrhunderts lag die durchschnittliche Lebenserwartung im Deutschen Reich nicht höher als 35 Jahre für Männer und 38 Jahre für Frauen (vgl. Hradil 2012: 43). Schon vor diesem Hintergrund ist es wohl nicht allzu vermessen zu behaupten, dass sich das »Problem« des Alters also überhaupt erst unter kapitalistischen Bedingungen stellt und das Alter infolge einer sprunghaften Steigerung der Lebenserwartung in den letzten 150 Jahren und der immanent kapitalistischen Entstehung der Institution des Ruhestands ein unmittelbares Produkt der warenproduzierenden Moderne darstellt. Nicht zufällig fällt daher im Übrigen wohl auch die »Geburt« der Gerontologie als Wissenschaft vom Alter(n) zeitlich in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, als sich im Zuge der Herausbildung einer stetig wachsenden Bevölkerungsschicht alter Menschen und der Institutionalisierung des Ruhestands das Alter als eine gesellschaftlich relevante Kategorie überhaupt erst konstituierte.[4]
Dabei haben sowohl das Alter als auch der Ruhestand freilich durchaus eine vorkapitalistische Vorgeschichte. Immerhin reichen philosophische und literarische Auseinandersetzungen mit dem Alter(n) bis in die Antike zurück, etwa bei Hesiod, Aristophanes, Platon, Aristoteles usw., wobei negative Deutungen des Alters im Sinne eines körperlichen und geistigen Verfalls, wie sie auch (und gerade) heute noch verbreitet sind, auf eine lange Tradition in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte zurückblicken können (vgl. Rosenmayr 1978; Hermann-Otto 2004; Göckenjan 2010). Auch der Ruhestand hat vormoderne Wurzeln, so z.B. im sogenannten »bäuerlichen Ausgedinge«, wie es sich im Spätmittelalter entwickelte. Gleichwohl ist die neue Qualität zu sehen und theoretisch wie analytisch in Rechnung zu stellen, die die Herausbildung der modernen kapitalistischen Gesellschaft und insbesondere die Entwicklung von Pensionssystemen für das Alter(n) hat, und die eben meines Erachtens vor allem im Herausfallen aus der abstrakten Arbeit besteht. So stellt etwa der Sozialhistoriker Josef Ehmer in seiner instruktiven (wenngleich freilich selbst kategorial unkritisch verfahrenden und daher insbesondere arbeitsontologisch belasteten) »Sozialgeschichte des Alters« mit Blick auf die Verhältnisse in vorindustriellen Agrargesellschaften fest: »Eine Zäsur, die man als den Beginn einer Altersphase bezeichnen könnte, läßt sich in diesen sozialen Verhältnissen kaum identifizieren« (Ehmer 1990: 26), wobei er hierfür als besonders wesentlich hervorhebt, dass »keine Norm bestanden zu haben [scheint], die im hohen Alter zum Rückzug aus den wirtschaftlichen Aktivitäten drängte. Für die älteren Menschen scheinen hier günstige Möglichkeiten existiert zu haben, ihre Familienverhältnisse und ihre Arbeitstätigkeit flexibel nach ihren jeweiligen Bedürfnissen zu gestalten (wenn man von den Auswirkungen der individuell und lokal nicht beeinflußbaren Bedrohungen durch Kriege, Hunger und Seuchen absieht)« (ebd.: 27). Dies sollte sich erst unter den Prämissen der abstrakten Arbeit ändern, d.h. unter den Bedingungen der kapitalistischen Lohnarbeiterexistenz, und erst hier nimmt das Alter als eine chronologisch abgrenzbare Lebensphase Gestalt an – und zwar indem es, wie gesagt, aus der Sphäre der Arbeit herausgelöst wird bzw. aus dieser herausfällt.
Dieses Herausfallen war vermutlich auf verschiedenen Stufen der kapitalistischen Entwicklung in sehr unterschiedlichen Graden ausgebildet und hat daher historisch durchaus unterschiedliche Formen angenommen: In früheren Phasen der Wertvergesellschaftung erreichten die Menschen (vor allem Arbeiter) überwiegend noch gar kein sehr hohes Alter oder (was mitunter auf dasselbe hinauslief) waren praktisch bis an ihr Lebensende in den Arbeitsprozess integriert, wodurch ein altersbedingtes Herausfallen aus der abstrakten Arbeit kaum möglich war (dadurch aber auch das Alter strukturell noch nicht strikt geschieden von anderen Lebensphasen).[5] Das änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der endgültigen Durchsetzung des Fabriksystems im industrialisierten Hochkapitalismus, der damit in gewisser Weise erst die historische Schwelle zur Trennung von Alter und Arbeit und damit letztendlich auch zur Herausbildung der Lebensphase Alter überhaupt markiert. Untersuchungen über die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse dieser Zeit (die sich teilweise bereits wie aktuelle Berichte von Arbeitnehmerverbänden über die Arbeitsmarktsituation älterer Arbeitnehmer lesen) dokumentieren eine zunehmende »Abneigung vieler Unternehmer, ältere Arbeiter weiterzubeschäftigen oder neu einzustellen. (…) Das 40. oder 50. Lebensjahr wird dabei immer wieder als jener kritische Wendepunkt genannt, von dem an es sehr schwierig wurde, den alten Job zu behalten, und wo es kaum mehr möglich war, einen gleichwertigen zu finden. (…) Nachlassende Körperkraft, Schnelligkeit und Reaktionsfähigkeit wurden als Gründe genannt, daß ein älterer Arbeiter ›doppelt rackern muß, um mit jüngeren und kräftigeren Arbeitskollegen Schritt halten zu können‹ (…) Konkurrenzdruck und Profithunger trieben die Unternehmer zur Erhöhung der Intensität der Arbeit und ließen ältere Arbeitnehmer auf der Strecke zurück. Der Einsatz von Maschinen und die steigende Bedeutung der Massenproduktion machten es leichter, auf ihre Erfahrungen und ihre Geschicklichkeit zu verzichten« (ebd.: 65). Dieser »Verzicht« auf die Arbeitskraft älterer Arbeitnehmer und das damit verbundene Herausfallen aus der Sphäre der Erwerbsarbeit hatte, solange soziale Sicherungs- und Pensionssysteme noch nicht sozial flächendeckend institutionalisiert waren (was z.B. in Österreich praktisch erst mit dem Anschluss an »Hitlerdeutschland« 1938 der Fall sein sollte[6], vgl. Ehmer a.a.O.: 49), die Form eines Verworfenwerdens in das Elend der Arbeitslosigkeit und damit in die blanke Altersarmut, die bald zum ganz normalen kapitalistischen Alltag gehörte. Abgesehen von der systemstabilisierenden und disziplinierenden Funktion, die Loyalität des Proletariats gegenüber der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu sichern (die ja lange Zeit alles andere als selbstverständlich war, wovon erbitterte Aufstände bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zeugen, in denen sich die Menschen gegen die Zumutungen der entfremdeten Lohnarbeiterexistenz auflehnten, vgl. Kurz 2009/1999: 121ff.), dürfte es nicht zuletzt die wachsende Masse an nicht mehr verwertbaren, aber trotzdem noch lebenden und daher möglichst irgendwie zu verwaltenden Alten gewesen sein, die wesentlich zur Herausbildung staatlicher Pensionssysteme beigetragen haben, wodurch das Herausfallen aus der Arbeit und damit auch das Alter selbst eine andere Form annahm. Erst mit dem auf diese Weise institutionalisierten, rechtlich garantierten (und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch zunehmend über die bloße Existenzsicherung hinausgehenden) Altersruhestand erhielt das Alter die Bedeutung und das Gesicht, das es heute noch im Wesentlichen hat, nämlich das eines entpflichteten Nacherwerbslebens. Und erst auf dieser Stufe erreicht die Dissoziation des Alters ihre höchste Entfaltung, ist das Herausfallen aus der abstrakten Arbeit vollends institutionalisiert.
Die überflüssigen Alten
In der Logik der Wertform bedeutet das Herausfallen der Alten aus der Arbeit nichts anderes als ein Überflüssigwerden für den Verwertungsprozess. Alte Lohnarbeiter werden aufgrund von tatsächlich oder vermeintlich geringerer Produktivität und Leistungsfähigkeit durch eine nachrückende Generation jüngerer Arbeitnehmer ersetzt und somit für die abstrakte Arbeit als Medium der Kapitalverwertung entbehrlich. Dies ist die innere Logik der kapitalistischen Dissoziation des Alters, auch wenn diese heute im Kontext staatlicher Pensionssysteme für gewöhnlich nicht unmittelbar als solche kenntlich wird, weil die Pensionierung in der Regel (außer bei krankheitsbedingten Frühpensionierungen) nicht an der Leistungsfähigkeit der Betroffenen, sondern an einem gesetzlich festgelegten Regelpensionsalter festgemacht wird und der Ruhestand häufig auch mit einer »späten Freiheit« (Rosenmayr 1983) bzw. einem »Lebensfeierabend« (Göckenjan 2000: 331) assoziiert und von den Menschen nicht selten sogar ausdrücklich herbeigesehnt wird. Kenntlich wird die Logik allenfalls – hier aber dafür umso deutlicher und für die Betroffenen umso spürbarer – bei älteren Arbeitslosen, die aufgrund ihres Alters am Arbeitsmarkt praktisch unvermittelbar geworden, aber gleichzeitig auch noch zu jung sind, um pensionsberechtigt zu sein.
Das Überflüssigwerden der Alten qua Pensionierung ist daher auch nicht identisch mit dem Überflüssigwerden einer immer größeren Zahl von Arbeitslosen in der gegenwärtigen Krise der Arbeitsgesellschaft. Zwar fallen beide, Arbeitsloser und Alter, aus der Arbeit heraus, allerdings verbleibt der Arbeitslose dabei nach wie vor innerhalb der Sphäre der abstrakten Arbeit. Arbeitslosigkeit bedeutet das Herausfallen aus der abstrakten Arbeit im Binnenraum der Arbeit selbst. Hingegen ist beim Alten das Herausfallen aus der abstrakten Arbeit gleichbedeutend mit dem Herausfallen aus der Arbeitssphäre überhaupt. Deshalb bleibt noch der Langzeitarbeitslose auch bei immer düstereren Jobaussichten der Gesellschaft Rechenschaft schuldig und wird einem erniedrigenden bürokratischen Apparat ausgeliefert, der ihn entweder von einer sinnlosen Schulung in die nächste setzt oder ihn gegebenenfalls auch zur staatlichen Zwangs- und Billiglohnarbeit (»Ein-Euro-Jobs«) nötigen kann, während der »alte Herausgefallene« in den »wohlverdienten Ruhestand« geht und von jeder Arbeitspflicht entbunden wird.[7] Dass die Legitimationsgrundlage des »entpflichteten Alters« seit der neoliberalen Wende zusehends abbröckelt, steht dabei auf einem anderen Blatt – es wird später noch darauf zurückzukommen sein.
Die wertlogische Überflüssigkeit der Alten findet ihre institutionelle Entsprechung neben dem Ruhestand noch in einer weiteren Institution, die sich im Kapitalismus zur »Verwaltung« des Alters entwickelt hat: dem Altenheim. Wie schon moderne Pensionssysteme (und gemeinsam mit diesen) hat das Altenheim seine Wurzeln im Militärwesen, wie Ehmer festhält: »Die Einrichtung des stehenden Heers hatte die Versorgung alter und invalider Soldaten zu einem drängenden Problem gemacht. Die ersten Formen der Pensionssysteme im Staatsdienst knüpften unmittelbar an bestehende Traditionen der Armenversorgung an. Sie bestanden in der Gründung riesiger, als Krankenhäuser, Altersheime und zum Teil sogar Arbeitshäuser konzipierter Anstalten, die dienstunfähige Soldaten aufnehmen sollten. Die Errichtung des Hôtel des Invalides in Paris im Jahre 1674 markiert den Beginn dieser Entwicklung, 1682 folgte England, 1705 Preußen mit ähnlichen Institutionen nach. In Österreich wurde 1728 die Gründung von Invalidenhäusern in Pest, Prag und Wien beschlossen« (Ehmer 1990: 40). Die »Geburt« des Altenheims fällt damit historisch zusammen mit der Entstehung zahlreicher anderer Einrichtungen, die die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Konstitutionsphase zur Verwahrung wie auch Disziplinierung ihrer Unproduktiven und Überflüssigen hervorbrachte. Michel Foucault hat bekanntlich diesen Prozess u.a. am Beispiel von Gefängnissen und Irrenanstalten ausführlich beschrieben (vgl. Foucault 1994, 2013). Bis in die 1960er Jahre hinein stellte die bloße Verwahrung von Alten und Pflegebedürftigen, wie selbst die gerontologische Mainstream-Lehr- und Praxisliteratur ganz lapidar zu konstatieren weiß, das offene Leitbild von Alten- und Pflegeheimen dar (vgl. Marx 2012: 562). Was in dieser Literatur freilich nur als Ausgangs- und Abstoßungspunkt für eine »Fortschrittsgeschichte« der Altenpflege im Laufe des 20. Jahrhunderts herhalten muss, stellt in Wahrheit das ureigenste Wesen des Altenheims auch dann noch dar, wenn daraus freundlich gestaltete Wohnheime mit »erlebnisorientiertem« Freizeit- und Aktivitätsprogramm geworden sind: nämlich die räumliche wie soziale Segregation und die faktische Einschließung Alter und Pflegebedürftiger. Die mittlerweile in Altenheimen übliche und mit teilweise geradezu beeindruckender Akribie betriebene »Aktivierung« der Heiminsassen taugt indes, wie Stephen Katz (2000) in einer von Foucault inspirierten Analyse u.a. zur Pflegepraxis in Altenheimen konstatiert, sogar zu deren besonders effizienten Kontrolle und Disziplinierung, um auf diese Weise einen möglichst reibungslosen Pflegealltag zu gewährleisten. Die Verwahrung der Alten als innerste Logik, sozusagen als das »Kainsmal« des Altenheims, kommt daher auch heute noch periodisch zum Vorschein in diversen »Pflegeheimskandalen«, wenn Fälle der völligen Verwahrlosung (bis hin zum Dekubitus), der medikamentösen Ruhigstellung dementer Heiminsassen und andere Formen der organisierten Gewalt gegen alte Pflegebedürftige bekannt werden.[8]
Mit Blick auf Ruhestand und Altenheim als den beiden zentralen kapitalistischen Alters-Institutionen stellt sich die Überflüssigkeit der Alten im Grunde als eine zweifache dar. Auf der einen Seite sind Alte, als Herausgefallene aus der abstrakten Arbeit, schlicht unproduktiv und damit für die alles bestimmende Selbstzweckbewegung des Kapitals praktisch wertlos. Auf der anderen Seite sind sie »Nutznießer« von Pensions- und Pflegesystemen, die staatlich finanziert, d.h. aus der gesamtgesellschaftlichen Mehrwertmasse alimentiert werden müssen. Alte sind somit nicht nur unproduktiv, sondern zu allem Überfluss auch noch ein beträchtlicher Kostenfaktor. In einer Gesellschaft mit einer derart tief historisch eingewurzelten, bis in die subkutanen Tiefenschichten der modernen Subjektivität eingesickerten Arbeitsethik, wonach gefälligst auch nicht essen soll, wer nicht arbeitet, stehen Alte daher, je nach ökonomischer Großwetterlage, immer schon auf dem Sprung, unter die Kategorie des »lebensunwerten Lebens« subsumiert zu werden. Gerade in der demographischen Hysterie, wie sie seit der Jahrtausendwende angesichts des rasch wachsenden Anteils alter Menschen in der Bevölkerung ausgebrochen ist und sich in Katastrophen-Diskursen einer »gesellschaftlichen Überalterung«, einer »demographischen Bombe«, einer »Alterslawine« etc. manifestiert, die alle das Bild von Heerscharen gut gesicherter, auf Kosten der Jugend lebender Alter zeichnen, blitzt etwas davon auf, zumal im Windschatten dieser »demographischen Aufrüstung« (Kondratowitz 2009: 257) des gesellschaftlichen Altersdiskurses plötzlich auch wieder, wenn auch derzeit noch als eher leises Hintergrundrauschen, Diskussionen über Sterbehilfe und Euthanasie salonfähig werden. Zwar werden Ansichten derzeit noch eher selten so offen und explizit kommuniziert, wie sie etwa eine gewisse Baroness Warnock, angeblich eine der führenden britischen Medizinethikerinnen (!), im Dezember 2004 gegenüber der Sunday Times äußerte: »the frail and elderly should consider suicide to stop them becoming a financial burden on their families and society«.[9] Aber was nicht ist, kann durchaus noch werden – in den aktuellen Überalterungsdiskursen ist diese menschenverachtende Logik jedenfalls von vornherein angelegt, da den Alten dabei angesichts der durch sie verursachten gesellschaftlichen Kosten mehr oder weniger, zumindest implizit, das Lebensrecht abgesprochen wird. Schon von daher dürfte es alles andere als ein Zufall sein, dass das Aufkommen der aktuell wieder zunehmenden Diskurse über Sterbehilfe zeitlich ziemlich genau mit dem demographischen Altersstrukturwandel und dessen »Aufstieg« zu einem der vordringlichsten gesellschaftlichen Probleme in der politischen Agenda zusammenfällt.[10]
»Unproduktivität« und »Kostenlast« als Hauptstränge des modernen Altersdiskurses
Die Unproduktivität und die Kostenlast des Alters bilden denn auch die beiden Hauptstränge des modernen gesellschaftlichen Altersdiskurses. Dies ist gewissermaßen die kulturell-symbolische Dimension der kapitalistischen Dissoziation des Alters, auf der sich die materiell-ökonomische Überflüssigkeit der Alten in einer symbolischen Minderbewertung und Inferiorsetzung des Alter(n)s, in Form von negativen Altersbildern, Stereotypen, diskriminierenden Zuschreibungen usw. ideologisch ablagert. Dass Alte leistungsschwach, langsam und unproduktiv sind, ist, wie gezeigt, ein »Image«, das dem Alter anhaftet, seit die abstrakte Arbeit zur menschlichen Tätigkeitsform schlechthin ontologisiert wurde, deren prototypischen Ort die Fabrik verkörpert. Dieses Image hat sich im digitalisierten, wissensbasierten »Turbokapitalismus« der Gegenwart nur insofern verändert, als sich die Zuschreibungen der Unproduktivität den Anforderungen und Zumutungen der Zeit entsprechend gewandelt und ausdifferenziert haben. Folgerichtig stellt sich heute die Unproduktivität weniger als mangelnde Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit usw. als vielmehr vorrangig als Mangel an Kreativität, Innovation und nicht zuletzt Flexibilität älterer im Vergleich zu jüngeren Arbeitnehmern dar. Noch die »Kritiker« der zeitgenössischen »Altersabwertung« am bzw. durch den Arbeitsmarkt bestätigen unfreiwillig dieses Muster, wie Stephan Lessenich und andere in ihren Analysen zu aktuellen Bemühungen um eine diskursive Aufwertung des Alters treffend feststellen (vgl. Dyk et al. 2010), etwa wenn versucht wird, spezifische Eigenschaften älterer Arbeitnehmer stark zu machen, wie z.B. Erfahrung, Loyalität, Arbeitsmoral usw., wodurch diesen dabei aber freilich im selben Atemzug gerade all jene dynamischen Attribute abgesprochen werden, die der Arbeitsmarkt heute so vehement einfordert. In gewisser Weise erweisen sich also die Alten selbst noch in den Augen derer als »alt« und mit Blick auf den Arbeitsmarkt als hoffnungslos obsolet, die eigentlich auf das genaue Gegenteil bestehen. Dass indes das eigentlich Kritikwürdige gar nicht primär in der diskursiven Abwertung des Alters am Arbeitsmarkt als solcher, sondern ganz grundsätzlich in der Reduktion von Menschen auf ihre ökonomische Verwertbarkeit besteht, dass also vielmehr die wertförmige Struktur der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt mitsamt ihren Kategorien von Arbeit, Leistung, Produktivität usw. in Frage zu stellen wäre, darauf kommen aber selbst so vergleichsweise reflektierte, recht gut gegen die Tücken einer allzu unmittelbaren Positivierung des Alters gefeite Kritiker gesellschaftlicher Altersdiskurse wie Lessenich und Co. nicht. Die soziale Minderbewertung des Alters ist nicht nur ein materialer Effekt negativer Altersdiskurse, sondern der Diskurs ist selbst vermittelt mit der kapitalistischen Wert-Abspaltungsstruktur. Und solange diese als übergreifendes gesellschaftliches Formprinzip Bestand hat, solange muss alles, was sich gegen die Verwertbarkeit sperrt oder seine Fähigkeit zur kompromisslosen und uneingeschränkten Verwertung verliert, notwendig den Status des Defizitären, Unproduktiven, Wertlosen haben. Das Problem aller Kritik an negativen Altersdiskursen, wie sie weitgehend (letztlich auch von Lessenich und Co.) praktiziert wird, besteht mithin darin, dass sie lediglich die kulturell-symbolische Dimension der Dissoziation des Alters zur Kenntnis nimmt, während die materiell-strukturelle Dimension außen vor bleibt.
Nicht anders verhält es sich mit Diskursen über die »Kosten des Alter(n)s« und von den immer mehr (und dabei auch immer älter[11]) werdenden Alten, die laut herrschender veröffentlichter Meinung den stetig weniger werdenden Jungen zunehmend die Haare vom Kopf fressen. Setzen derartige Diskurse notwendig die (auch materielle) Dissoziation des Alters voraus, verbleibt die überwiegende Kritik ausschließlich auf der kulturell-symbolischen Ebene des Diskurses, statt die grundlegende kapitalistische Wert-Abspaltungsstruktur in Rechnung zu stellen. Dabei muss im Interesse diskursiver Interventionen sogar die Problematik nachhaltig unfinanzierbarer Sozial-, Gesundheits- und Pensionssysteme, wie sie sich mit Notwendigkeit aus den statthabenden demographischen Veränderungen ergeben muss (erst recht in Zeiten einer epochalen Krise der kapitalistischen Form insgesamt), schlichtweg geleugnet werden. Wer auf das immanent kapitalistische Krisenpotential der »gesellschaftlichen Alterung« hinweist, gerät unterschiedslos (wenn auch freilich häufig zu Recht, da die Krisenargumentation ansonsten für gewöhnlich nur unkritisch von den Apologeten und politisch-ökonomischen Eliten des Systems bemüht wird) in den Verdacht der Altersfeindlichkeit und muss sich u.a. einer »Demographisierung des Gesellschaftlichen« (Barlösius/Schiek 2007; in diesem Sinne auch Lessenich 2014) zeihen lassen. Dummerweise ist aber der demographische Wandel für den Kapitalismus und dessen Institutionen, insbesondere den Wohlfahrtsstaat, durchaus ein reales Problem und lässt sich nicht einfach auf eine bloße diskursive Konstruktion von Politikern und Volkswirtschaftlern reduzieren, die nun als Legitimationsgrundlage für neoliberale und als alternativlos ausgegebene Reformen des Pensions- und sozialen Sicherungssystems dient. Nicht die Sachzwanglogik der politischen Bewältigungsstrategien ist daher primär zu kritisieren, wie das die überwiegende Kritik an der »Demographisierung« des gesellschaftlichen Altersdiskurses praktiziert – diese Sachzwanglogik entspricht durchaus dem Wesen des mit dem demographischen Wandel aufgeworfenen Problems –, zu kritisieren wäre vielmehr eine (von den Menschen selbst hervorgebrachte) gesellschaftliche Struktur, die aus sich selbst heraus Sachzwänge dieser Art gebiert, denen sich die Menschen im Interesse der Systemerhaltung unterwerfen müssen. Es zeigt sich auch hier wieder in besonderer Anschaulichkeit, dass eine emanzipatorische Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen des Alter(n)s (und des Lebens überhaupt) im Kapitalismus nur zu haben ist, wenn die kapitalistische Form als solche radikal zur Disposition gestellt wird.
Die Unproduktivität und die gesellschaftliche Belastung als die beiden Grundpfeiler der wertlogischen Überflüssigkeit der Alten bilden indes bei genauerer Betrachtung nur eine Seite des gesellschaftlichen Altersdiskurses. Das Alter wird nämlich, bei aller Negativität und geballter Altersfeindlichkeit, durchaus nicht nur negativ bewertet. Ein langes Leben bis ins hohe Alter – ermöglicht durch gestiegene »Lebensstandards« und Fortschritte bei der medizinischen Versorgung, die freilich nur allzu gern als wesentliche Errungenschaften der kapitalistischen »Zivilisation« gepriesen werden (und auf deren Zentren sie daher auch überwiegend beschränkt sind) – gilt selbst (und vielleicht gerade) in strukturell derart altersaversen Gesellschaften wie der kapitalistischen als unbedingt erstrebenswert. Der moderne Altersdiskurs erweist sich vor diesem Hintergrund also als ausgesprochen ambivalent und widersprüchlich und eigentlich sogar hochgradig schizophren. Die Gleichzeitigkeit von positivem Langlebigkeits- und negativem Altersdiskurs markiert allerdings nur auf der Oberfläche einen völligen Widerspruch bzw. es ist ein Widerspruch, der in der Sache selbst begründet liegt, insofern beide Diskurse letztlich ihre Wurzeln in ein und derselben kapitalistischen Wert-Abspaltungsstruktur haben. Ist die negative Sicht auf das Alter ein unmittelbar ideologischer Effekt der Überflüssigkeit der Alten für den Verwertungsprozess, wie sie im Ruhestand und im Altenheim ihre beiden zentralen institutionellen Vergegenständlichungen angenommen hat, so folgt die positive Konnotation der Langlebigkeit der ebenfalls kapitalistisch-modernen, genuin androzentrischen, die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaft durchziehenden Logik der Naturunterwerfung und -beherrschung, der die Sterblichkeit des Menschen schon lange ein Dorn im Auge ist (quasi eine narzisstische Kränkung des »weltschöpfenden« bürgerlich-männlichen Subjekts), und in der Langlebigkeit daher als eine Art Etappensieg auf dem Weg zur Überwindung des Todes erscheint (an der ja manche Biomediziner der Intention nach im Ernst arbeiten, vgl. z.B. Shostak 2002). Positiver Langlebigkeits- und negativer Altersdiskurs gehen so notwendig miteinander einher.[12]
Altersloses Selbst
Diese Schizophrenie der modernen »Alterskultur« schlägt sich schließlich unmittelbar in einer ebenso schizophrenen Sozialpsychologie des Alters nieder. Dies ist die dritte Dimension des »dissoziierten Alters«, die in der Produktion alter bzw. alternder Subjekte Gestalt annimmt, auf der sich also die Dissoziation auf der subjektiven Ebene in individuellen altersbezogenen Einstellungen, Praxen, Identitäten usw. manifestiert. Die schizophrene Konstitution moderner Subjektivität in Bezug auf das Alter kommt vielleicht nirgends deutlicher zum Ausdruck als in der (in der Gerontologie immer wieder konstatierten, aber bestenfalls oberflächlich »kulturkritisch« reflektierten) Tatsache, dass zwar die meisten Menschen ganz gerne alt werden, aber praktisch niemand von ihnen alt sein möchte.[13] Dieses schon logisch unmögliche und schwerlich anders denn als grober Unsinn zu bezeichnende altersbezogene Denkschema reicht bis tief in die intimsten Regungen, das Selbstbild und die Körperlichkeit moderner Subjekte hinein, wo es sich in erster Linie als radikale Dissoziation des alten bzw. alternden Körpers vom eigenen Selbst konkretisiert, mit dem physische Alterserscheinungen schlechterdings unvereinbar erscheinen und in einem unversöhnlichen Widerspruch stehen. In der sozialpsychologischen Dimension wird also erst die volle Tragweite der Dissoziation des Alters kenntlich, indem sie dort gewissermaßen mit aller Gewalt auf die Subjekte durchschlägt und für jedes altersbezogene Denken und Handeln sowie für jegliche »Identität« im Alter konstitutiv wird.
Es gibt eine ganze Reihe von gerontologischen Studien, die höchst aufschlussreiches Material und eine geradezu überwältigende empirische Evidenz für die sozialpsychologische Dissoziation des Alters liefern. Bekannt geworden ist hier vor allem eine Studie von Sharon Kaufman (1986) über das von ihr so genannte »ageless self«, ebenso ein Aufsatz von Mike Featherstone und Mike Hepworth (1991), in dem sie den Begriff einer »mask of ageing« prägen. Beide Begriffe verweisen im Prinzip auf ein und dasselbe, nämlich auf das Phänomen einer Dissoziation oder Abtrennung des alternden Körpers von einem als alterslos imaginierten Selbst. Es handelt sich dabei gewissermaßen um altersbezogene Deutungsmuster, die vor allem darin zum Ausdruck kommen, dass sich beispielsweise in biographischen Erzählungen, wenn ältere Menschen von sich selbst und ihrem Leben erzählen, sehr oft die Vorstellung eines quasi alterslosen Selbst findet, also einer vom Alter im Prinzip unberührten Identität, die trotz altersbedingter physischer und sozialer Veränderungen vom Gefühl eines »Nicht-wirklich-alt-Seins« geprägt ist. Der Körper altert zwar, aber das Selbst, also die eigentliche Person, altert nicht. Der Körper erscheint in den Selbstbeschreibungen der Menschen als eine bloße Hülle, in der das Selbst wohnt – und je größer mit fortschreitendem physischem Altern die Diskrepanz zwischen alterndem Körper und alterslosem Selbst wird, umso stärker nimmt diese Hülle die Form einer Maske an, hinter der das Selbst verborgen ist, im Extremfall sogar die eines Gefängnisses, in dem die Person hilflos gefangen ist. Das geht sogar so weit, dass das Alter und der alternde Körper als etwas zutiefst Pathologisches empfunden werden (vgl. Featherstone/Hepworth 1991: 379).
Studien wie diese geben meines Erachtens – auch wenn dies freilich dort so nicht explizit gemacht wird – instruktive Einblicke in die sozialpsychologische Dissoziation des Alters. Dabei sind sie weitestgehend auch in der Lage, ihren psychologischen Mechanismus – nämlich in der Form einer Abtrennung des Alters bzw. des alten Körpers vom (alterslosen) Selbst – klar zu benennen, teilweise verwenden sie hierfür sogar selbst Begriffe wie Abspaltung oder Dissoziation. Was sie allerdings alle durch die Bank nicht tun, ist, ihre Befunde konsequent kritisch zu wenden, um so dem Phänomen wirklich auf den Grund zu gehen. Stattdessen bleiben sie auf der Oberfläche des Phänomens kleben und verbiegen ihre potentiell kritischen Befunde in eine fade, affirmative Theorie der Altersidentität, indem sie die den Menschen gesellschaftlich aufgenötigte und durch und durch prekäre Un-Identität des Alters in eine »gelungene«, positive Altersidentität umdeuten. Für Kaufman verweist das »alterslose Selbst« ganz in diesem Sinne schlicht darauf, dass es den betreffenden Menschen offenbar gelungen ist, im Übergang in die Lebensphase des Alters eine gewisse Kontinuität zu bewahren. Das Alter markiert so gesehen keinen Bruch in der Persönlichkeitsentwicklung, sondern es war den Menschen ganz offensichtlich möglich, die eigene Identität auch durch altersbedingte soziale und körperliche Veränderungen hindurch zu bewahren und aufrechtzuerhalten. Featherstone und Hepworth wiederum interpretieren das Phänomen der »Altersmaske« – ganz in der Tradition postmoderner Theorien – als Hinweis auf ein zunehmendes Brüchigwerden traditioneller Altersnormen und auf eine entsprechende »Verflüssigung« von (Alters-)Identitäten, die negative gesellschaftliche Altersbilder und Stereotypen mehr und mehr in Widerspruch zum Selbstbild älterer Menschen treten lassen.
Noch konsequenter als durch solche Interpretationen könnte man das in den zuvor erarbeiteten Befunden enthaltene kritische Moment aber freilich kaum austilgen. Würde das Material wirklich ernst genommen und die Analyse in einen wertabspaltungskritischen Kontext gestellt, müsste die Analyse zu einer ganz anderen Schlussfolgerung kommen, die sich eigentlich bereits auf den ersten Blick geradezu aufdrängt: Das »alterslose Selbst« und die »Altersmaske« als altersbezogene Deutungsmuster verweisen aus dieser Perspektive natürlich nicht im Geringsten auf eine positive Altersidentität, sondern vielmehr auf ihr genaues Gegenteil bzw. gerade auf die Unmöglichkeit einer solchen. Nicht um Repräsentationen einer positiven Altersidentität handelt es sich hier, sondern um solche einer, wenn man so will, psychologischen »Notwehrhandlung«. In einer Gesellschaft, in der alles nicht in der Wertform Aufgehende in den Rang eines Minderwertigen und Defizitären herabgewürdigt und Menschen allein an ihrer Fungibilität für den gesellschaftlichen Selbstzweck der Kapitalverwertung gemessen werden, kann das Alter grundsätzlich kein identifikationsfähiges Moment des menschlichen Daseins sein. Wer seinen wertförmigen Subjektstatus behalten möchte – und das kann schlechterdings nur jeder wollen, denn wer diesen verliert, hört in der kapitalistischen Gesellschaft de facto auf, ein Mensch zu sein[14] – tut gut daran, nicht als alt identifiziert zu werden; entweder indem er/sie niemals alt wird oder aber (da ersteres schon biologisch ein Ding der Unmöglichkeit ist, es sei denn er/sie nimmt sich früh genug das Leben) zumindest nicht als alt erscheint. »Altersloses Selbst« und »Altersmaske« erweisen sich in diesem Lichte als Bewältigungsstrategien oder vielmehr psychologische Verdrängungsleistungen von Menschen, die zwar durchaus »alt werden«, aber keinesfalls »alt sein« dürfen und das Alter daher mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln abwehren müssen, um überhaupt eine subjektiv wie sozial einigermaßen tragfähige Identität zu erhalten und nicht vor sich selbst und der Gesellschaft (bestenfalls) als ein »Mensch zweiter Klasse« dazustehen. Deshalb muss alles, was mit dem Alter zu tun hat und auf das Alter(n) der Person hinweist, aus dem Ich verbannt werden. Oder anders formuliert: Der moderne Mensch muss sich im wahrsten Sinne des Wortes vom Alter(n) und damit von einem Teil seiner selbst und seiner leiblichen Existenz dissoziieren. Das »alterslose Selbst« des modernen Subjekts ist aus dieser Perspektive mithin die äußerste und sichtbarste sozialpsychologische Konsequenz der spezifisch kapitalistischen Dissoziation des Alters.[15]
In dieser sozialpsychologischen Verdrängung des Alters, die in erster Linie die Form einer Dissoziation des alten bzw. alternden Körpers von einem als alterslos gedachten Selbst hat, besteht im Übrigen auch der wahre Kern durchaus zahlreicher (bereits an früherer Stelle erwähnter) sozialgerontologischer Studien, die mit Blick auf solche Phänomene der Verleugnung oder Verdrängung des Alter(n)s von einer »Altersverdrängung« oder von »age denial« sprechen (vgl. Bultena/Powers 1978; Andrews 1999; Gillick 2006; Degele 2008). Deren Problem besteht allerdings durchweg darin, dass sie die gesellschaftlichen Voraussetzungen der »Altersverdrängung« nicht im Blick haben, die nun einmal in der kapitalistischen Wert-Abspaltungsstruktur mit ihrer »alterslosen« und zutiefst altersfeindlichen Subjektform bestehen. Ohne einen solchen Bezug auf die kapitalistischen Grundlagen der »Altersverdrängung« können entsprechende Phänomene im besten Fall kulturkritisch problematisiert werden, ohne dabei einer Erklärung auch nur einen Schritt näher zu kommen, da letztlich offen bleibt, weshalb die moderne »Alterskultur«, die die Menschen dazu veranlasst, das Alter(n) zu verdrängen, eigentlich dermaßen negativ ist. Hier bedarf es eines kritischen Begriffs einer genuin kapitalistischen »Dissoziation des Alters«, die die moderne Altersfeindlichkeit und mit ihr den Drang der Menschen, das Alter zu leugnen und zu verdrängen, in der grundlegenden und umfassenden Wert-Abspaltungsstruktur kapitalistischer Gesellschaften verortet und so einer radikalen Kritik zugänglich macht.
Die in ihrer psychologischen Aufwändigkeit wahrscheinlich gar nicht hinreichend zu ermessende Verdrängungsleistung, die die Konstruktion eines »alterslosen Selbst« den Menschen abverlangt, konkretisiert sich letztendlich vor allem und folgerichtig in einem in den letzten Jahren bis ins Groteske gesteigerten Jugendlichkeitswahn, von dem vor allem eine florierende Anti-Ageing-Industrie mit längst in die Milliarden gehenden Jahresumsätzen ganz hervorragend lebt. Das Arsenal reicht hier von Anti-Falten-Cremes, Hormontherapien, Fitness/Wellness über Vitaminpräparate, Viagra, Botox bis hin zur plastischen Chirurgie – alles im Dienste des wertabspaltungslogischen »alterslosen Selbst«. Die Anti-Ageing-Medizin verkörpert in diesem Lichte die logische Konsequenz einer vollends zur Kenntlichkeit entstellten Schizophrenie der modernen (Alters-)Subjektivität, für die offensichtlich keine unwürdigere Existenz denkbar ist als die des Alters. Der »Kampf« gegen das Alter beginnt dabei immer früher; bereits mit 30 ist für so manche/n eine erste kritische Schwelle im Alternsprozess erreicht. Dies betrifft vor allem Frauen, die bekanntlich einen Großteil ihrer sozialen Anerkennung aufgrund ihres (bzw. bei Vorliegen eines) schönen Äußeren erhalten, und für die das Alter daher doppelt bedrohlich oder jedenfalls anders bedrohlich ist als für Männer.[16] Nicht zufällig stellen Frauen die Hauptklientel der Anti-Ageing- und Schönheitsindustrie, wenngleich mittlerweile auch immer mehr Männer deren Dienste in Anspruch nehmen (vgl. Ginn/Arber 1993; Öberg 2003; Twigg 2004; Hurd/Griffin 2007). Auch das folgt unmittelbar der Wert-Abspaltungslogik, in der Weiblichkeit hauptsächlich mit Schönheit und einem sexuell attraktiven Erscheinungsbild assoziiert wird, während männliche Körper primär als Handlungsinstrumente betrachtet und Männer in erster Linie an ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer physischen Funktionalität gemessen werden. Die größte Sorge alternder Männer ist daher auch weniger eine ästhetische, sondern eine funktionale. Besonders in den letzten Jahrzehnten ist die »erektile Dysfunktion«, vermittelt über medizinische und mediale Diskurse, zur männlichen Alterskrankheit schlechthin avanciert – ein Diskurs, an den ebenfalls ein gewaltiger und ständig wachsender medizinisch-industrieller Komplex anknüpft (dazu ausführlich Marshall/Katz 2002). Anfang August 1999 hatte der US-Konzern Pfizer allein in Deutschland 3,8 Millionen Viagrapillen für rund 400.000 Patienten verkauft (vgl. Schroeter 2012: 206). Was also für Frauen die zwanghafte Erhaltung ihrer jugendlichen Schönheit bis ins Alter mithilfe von Kosmetika, Botox, plastischer Chirurgie etc., ist für Männer die durch Viagra und Co. sicherzustellende Fähigkeit, auch im Alter »noch einen hoch zu kriegen«.
Die Dissoziation des Alters hat grundsätzlich also auch – nicht nur, aber insbesondere auf der hier verhandelten sozialpsychologischen Ebene – eine ganze Reihe von geschlechtsspezifischen Implikationen, die analytisch zu berücksichtigen sind (eine ausführlichere Auseinandersetzung damit ist in diesem Text aber leider nicht möglich und muss einer allfälligen späteren Analyse in einem eigenständigen Beitrag vorbehalten bleiben).
Sozialpsychologie der Überflüssigkeit
Besonders eindrücklich oder vielmehr erschütternd verschafft sich auch die in Ruhestand und Altenheim institutionalisierte und in negativen Altersdiskursen kulturell-symbolisch vermittelte Überflüssigkeit der Alten auf der sozialpsychologischen Ebene Ausdruck. Die wertlogische Überflüssigkeit der Alten ist generell das treibende Element der sozialpsychologischen Dissoziation des Alters, ihr verdankt sich die Vehemenz und die Entschiedenheit, mit der die Menschen das Alter abwehren und um keinen Preis zu einem Bestandteil ihrer Person und ihrer Identität werden lassen wollen. Umso einschneidendere und existentiell bedrohlichere Effekte entfaltet diese Überflüssigkeit im Selbstbild derjenigen Menschen, die (was aber auf lange Sicht ohnehin unausweichlich ist) vom Alter eingeholt werden und dieses nicht mehr ohne weiteres zu verdrängen vermögen. Kaum ein Gespräch oder ein qualitatives bzw. biographisch orientiertes Interview mit alten Menschen über ihre Lebenssituation, in denen diese nicht wiederholt und mit allem Nachdruck zu verstehen geben, dass sie sich nichts Schlimmeres vorstellen können als anderen aufgrund ihres Alters, sei es finanziell, sei es durch Pflegebedürftigkeit, zur Last zu fallen (vgl. exemplarisch Pleschberger 2005). Es ist die ins Subjekt eingesunkene, inkorporierte Überflüssigkeit des Alters, die sich hier artikuliert, kenntlich werdend in der Angst des »unnützen Fressers«, der weiß, dass er als solcher von der Gesellschaft nur unter Vorbehalt geduldet ist und uneingeschränkte Solidarität nicht einmal von der eigenen Familie erwarten kann. Von diesen Menschen wird daher auch das Altenheim überwiegend als das wahrgenommen, was es ist: eine Verwahranstalt, in die diejenigen abgeschoben werden, die ihre Angehörigen (sofern sie solche haben) durch ihren altersbedingten körperlichen und geistigen Verfall über Gebühr belasten.[17] Diese Assoziation des Heims mit einer Verwahranstalt findet sich jedenfalls bevorzugt bei denjenigen, für die eine »Abschiebung« einstweilen erst noch im Bereich des Möglichen liegt und angstvoll antizipiert wird. Das ist durchaus anders bei Heiminsassen selbst. Hier scheint die Überflüssigkeit endgültig in die eigene Identität integriert und können die Menschen daher nur noch dankbar sein für jede noch so beiläufige, unpersönliche und kühl-professionelle Pflege und Zuwendung, die ihnen im zunehmend kommerzialisierten Pflegebetrieb zuteil wird (dementsprechend hoch sind wissenschaftlich erhobene Zufriedenheitswerte in Pflegeheimen; vgl. Albrecht 2003). Doch so zahlreich das qualitative Material und so evident die Hinweise auf die gebrochene Subjektivität alter Menschen, als Konsequenz ihrer wertlogischen Überflüssigkeit, so zahlreich sind auch hier wieder die gerontologischen Studien, die sich offenkundig und geradezu beharrlich weigern, ihr Material wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen werden entsprechende Aussagen von Studienteilnehmer/innen lediglich zum Anlass genommen, alten Menschen sinnstiftende (und das heißt vor allem: gesellschaftlich nützliche) Aktivität zu verordnen und/oder »die Gesellschaft« aufzufordern, für alte Menschen im Sinne einer Förderung »sozialer Teilhabe« entsprechende Möglichkeiten zu schaffen, damit sie so wieder ein »Gefühl des Gebrauchtwerdens« bekämen (vgl. Heyl et al. 1997; Generali Deutschland AG 2017). Anstatt also die kapitalistischen Produktivitäts-, Leistungs- und Arbeitszumutungen kritisch zu hinterfragen, auf welchen die sich sowohl kulturell-symbolisch als auch (und gerade) sozialpsychologisch manifestierende Überflüssigkeit der Alten allein beruht, soll das dissoziierte Alter sozusagen wieder, zumindest partiell, in das gesellschaftliche Leistungs- und Arbeitsprinzip hereingeholt werden. Oder anders formuliert: Die Ursache für die psychische Beschädigung, die die Dissoziation des Alters an den Subjekten anrichtet, wird geradewegs zu deren Heilmittel erklärt.[18]
Analog wird verfahren mit zahlreichen anderen Phänomenen bzw. Äußerungen alter Menschen, die direkt auf die sozialpsychologischen Folgen von arbeits- und leistungszentrierten Identitätszwängen in der warenproduzierenden Gesellschaft verweisen und nach einer entsprechend kritischen Analyse im Stile der Wert-Abspaltungskritik geradezu schreien. Ein Klassiker ist etwa der sogenannte »Pensionsschock«. Damit wird das Phänomen bezeichnet, dass Menschen nach ihrer Pensionierung und infolge des Wegfalls ihres strukturierten und in Jahrzehnten der Berufstätigkeit zu einem zentralen, oftmals auch zu dem zentralen Bestandteil des Lebens gewordenen Arbeitsalltags mitunter in einen Zustand der Leere fallen, teilweise sogar in eine Depression. Dieses Problem und überhaupt das Leben im Ruhestand bilden einen der Hauptgegenstände (sozial-)gerontologischer Forschung. Von der Warte einer wissenschaftlichen Disziplin (bzw. eines multidisziplinären Forschungsprogramms, das ja die Gerontologie streng genommen nur darstellt), die die kapitalistische Erscheinungsform des Alter(n)s – wie die kapitalistische Gesellschaft überhaupt – für eine Art Naturzustand und das Wesen des Alter(n)s schlechthin hält, können freilich Äußerungen, die ein Gefühl der Leere im Zuge des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand zum Ausdruck bringen, schwerlich anders denn als empirischer Beleg für die sinnstiftende Funktion von Arbeit und die Notwendigkeit einer fortgesetzten Aktivität im Ruhestand gedeutet werden. Kohli et al. (1993) gehen dabei sogar so weit, hinsichtlich des Eintritts in den Ruhestand von einer »Vergesellschaftungslücke« zu sprechen, da mit der Arbeit eine wesentliche, bis dahin das Leben entscheidend prägende Struktur wegfällt, durch die die Menschen »zum Handeln angeregt, herausgefordert und damit ›engagiert‹ werden« (ebd.: 89). Was liegt also näher, als auf eine Schließung der Lücke durch neue »gesellschaftliche Strukturen und Programme« (ebd.) zu drängen, etwa in der Form längerer Erwerbsarbeit oder eines bürgerschaftlichen Engagements? Eindrucksvoller könnte wahrscheinlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass ein selbstbestimmtes Leben jenseits kapitalistischer Arbeits- und Leistungszumutungen nicht einmal mehr im Ansatz als möglich oder überhaupt erstrebenswert gedacht werden kann, vor allem aber den Menschen schon gar nicht mehr zugetraut werden darf (eben deshalb muss wohl die Gerontologie den Menschen und nicht zuletzt sich selbst den ins Alter fortgeschriebenen Aktivitätsfetisch als Fortsetzung eines »selbstbestimmten« und »autonomen« Lebens im Alter verkaufen).[19] Das potentiell Anstößige am Befund, dass Menschen, wenn ihnen ihre Arbeit genommen wird, schlicht nichts mehr mit sich anzufangen wissen und in ihrer Persönlichkeit regelrecht dekomponiert werden (ein Phänomen, das in vielleicht noch reinerer Form nur an Langzeitarbeitslosen beobachtet werden kann), wird auf diese Weise nach allen Regeln der Kunst oder vielmehr mit aller aufzubietenden wissenschaftlichen Ignoranz zum Verschwinden gebracht. Auch hier ist es wieder dasselbe Muster: Das, was die Menschen aufs Äußerste bedrängt und sie im Grunde auf bloße »Charaktermasken« (Marx) der Kapitalverwertung herabdrückt – Leistung, Produktivität und Aktivität als Zentralwerte und unhintergehbare Anforderungen der abstrakten Arbeit –, wird unter der Hand zum Inbegriff einer gelungenen Altersidentität überhaupt (v)erklärt. Was in Wahrheit darauf verweist, wie wenig an personaler Identität (an personaler Identität jedenfalls, die diesen Namen auch verdient) den Menschen unter den Prämissen der Wertvergesellschaftung eigentlich zugestanden wird, soll die natürlichste und höchste Form von Identität sein, die Menschen selbst noch im »entpflichteten« Alter erreichen können.
Eine wirklich »gelungene« Altersidentität könnte aber freilich überhaupt nur darin bestehen, dass das Alter(n) als ein (jenseits aller gesellschaftlichen Überformung) natürlicher, physiologischer Prozess einen selbstverständlichen Bestandteil des nun einmal endlichen menschlichen Lebens darstellt und nicht länger zwanghaft geleugnet und verdrängt werden muss, um einen von vornherein auf Arbeits-, Leistungs-, Geld-, Wert- und andere kapitalistische Kategorien reduzierten Subjektstatus zu bewahren, weil dies der einzige Subjektstatus ist, der unter Wertvergesellschaftungsprämissen die Anerkennung als »Mensch« verspricht. Eine solche »echte« Altersidentität würde allerdings die Aufhebung des kapitalistischen Wert-Abspaltungsverhältnisses insgesamt voraussetzen, wodurch das Alter als Strukturkategorie obsolet, damit aber letztlich auch die Kategorie der »Altersidentität« (ohnehin ein gerontologisches Unwort) selbst ihre Bedeutung verlieren würde. Wenn Alter(n) aufhört, einen Widerspruch zur individuellen Identität eines Menschen zu markieren, sondern integraler Bestandteil derselben und des Menschseins überhaupt ist, dann hört auch die Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten, distinkten (aktiven, zurückgezogenen, »alterslosen« usw.) »Altersidentität« auf (siehe etwas ausführlicher dazu am Ende des Beitrags).
Deshalb ist im Übrigen gerade der aktive »Unruheständler«, der seine Freizeit im Ruhestand lückenlos mit Aktivitäten füllt, mitnichten, wie es die gerontologische Expertokratie möchte, die Antithese zum »pensionsschockierten« Ruheständler – im Gegenteil: Niemand könnte die Leere, den entfremdeten Charakter und das leblose Leben der Wertabspaltungsvergesellschaftung besser und eindrucksvoller verkörpern als der »aktive Alte«, dem die rastlose Aktivität und die Arbeitsethik der wertförmigen Existenz so sehr in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass er sie selbst dann nicht mehr ablegen kann, wenn er längst von ihren Zumutungen entbunden ist.
Der »aktive Alte« als neues gesellschaftliches Altersideal wird uns in den folgenden Kapiteln noch sehr eingehend zu beschäftigen haben. Es handelt sich dabei um das Ergebnis einer postmodernen »Metamorphose« der Wert-Abspaltung im globalisierten, neoliberalen »Turbokapitalismus«, in deren Verlauf auch die kapitalistische Dissoziation des Alters und mit ihr die strukturelle Altersfeindlichkeit kapitalistischer Gesellschaften eine völlig neue Form annimmt. Diese Metamorphose gilt es nun im Folgenden zu analysieren.
Alter(n) im Zeichen neoliberaler Aktivierung
In den letzten rund drei Jahrzehnten lässt sich ein tiefgreifender Formwandel dessen beobachten, was im vorliegenden Text eine »Dissoziation des Alters« genannt wird, und der auf den ersten Blick gerade wie eine Aufhebung oder Überwindung derselben erscheinen könnte (und in der Gerontologie auch überwiegend in einem solchen Sinne interpretiert wird), aber dennoch bei genauerer Betrachtung nur eine Formveränderung innerhalb ihrer eigenen Prozesslogik darstellt. Besagter Wandel besteht dabei vor allem in einem (jedenfalls an der Oberfläche) positiveren gesellschaftlichen Bild vom Alter und von alten Menschen, wie es insbesondere in der öffentlich-medialen, politischen und wissenschaftlichen Kommunikation reflektiert wird. War das Alter in der kapitalistischen Gesellschaft, wie gezeigt, eigentlich von Anfang an und quasi traditionell mit Unproduktivität, Leistungsschwäche, einem körperlichen und geistigen Verfall und ähnlichen anderen negativen Eigenschaften konnotiert, so wird ausgerechnet dieses defizitäre Bild des Alters in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt und entdecken Wirtschaft und Gesellschaft die wertvollen »Kompetenzen« und »Potenziale« älterer Menschen für sich (vgl. Staudinger/Schindler 2002; BMFSFJ 2006, Amann 2006; Fangerau et al. 2007; Kruse 2010; Heinze et al. 2011). Anstatt wie bisher von den Alten, wenn überhaupt, nur als Objekte wohlfahrtsstaatlicher Versorgung oder gleichsam als untätig auf Parkbänken herumsitzende[20], Tauben fütternde Gestalten Notiz zu nehmen, die, nachdem sie sozial praktisch schon gestorben sind, nur noch auf ihr auch physisches Ableben warten, rücken sie zusehends als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft in den Fokus und steht deren stärkere soziale Integration und Partizipation am gesellschaftlichen Leben in einer »altersfreundlichen Gesellschaft« (WHO 2007; Kruse 2007; Moulaert/Garon 2016) auf der politischen Agenda. Und selbst die »gesellschaftliche Alterung«, d.h. der massive Anstieg des Anteils älterer Menschen in der Bevölkerung, der sich den demographischen Prognosen zufolge im Laufe des 21. Jahrhunderts noch weiter zuspitzen wird, soll ganz im Sinne einer neuen, positiven Einstellung zum Alter(n) nicht nur als Herausforderung, sondern vor allen Dingen als eine gesellschaftliche »Chance« und »Bereicherung« verstanden werden (z.B. Frevel 2004; BMFSFJ 2007). Kurzum, das Alter legt allem Anschein nach seinen negativen Status und seine kapitalistische Überflüssigkeit ab und verwandelt sich von einer minderwertigen Form der Existenz an der gesellschaftlichen Peripherie in einen integralen, sozial relevanten und »wertvollen« Bestandteil der Wertvergesellschaftung selbst, zu der das Alter nun nicht mehr länger in Widerspruch steht und ein davon völlig differentes Anderes verkörpert.[21]
Seinen sichtbarsten Ausdruck und seine nachhaltigste institutionelle Vergegenständlichung findet der neue positive Altersdiskurs von den »kompetenten« Alten und ihren wertvollen »Potenzialen« für die Gesellschaft im 21. Jahrhundert in einer gesellschaftspolitischen Programmatik, die inzwischen zum zentralen Paradigma vor allem der europäischen Alterspolitik avanciert ist – dem sogenannten »Active Ageing«. 2012 wurde von der Europäischen Kommission sogar bereits, quasi zum Zweck der »Bewusstseinsbildung«, das »Europäische Jahr des aktiven Alterns« ausgerufen.[22] Eine wesentliche, für das Active-Ageing-Paradigma geradezu konstitutive Innovation besteht dabei in einem grundsätzlichen, immanenten Wandel der historisch gewachsenen, gesellschaftlichen Kategorie »Alter« als solcher. War das Alter im Kapitalismus bislang historisch an die Institution des Ruhestands und dem Ausscheiden aus dem aktiven (Erwerbs-)Leben gebunden, ja im Grunde sogar überhaupt erst ein Produkt moderner, an die kapitalistische Lohnarbeiterexistenz gekoppelter Pensionssysteme, so wird nunmehr mit dem »Active Ageing« das Alter als eine (weiterhin) aktive Lebensphase definiert. Diese alterspolitisch anvisierte Aktivität im Alter, die sich von einem längeren Verbleib im Erwerbsprozess (späterer Pensionsantritt) bis hin zu einem »bürgerschaftlichen Engagement« im Ruhestand erstrecken soll (Freiwilligenarbeit, Ehrenamt und dgl.), wird dabei insbesondere als eine Angelegenheit von allumfassendem, sowohl gesellschaftlichem als auch individuellem Nutzen propagiert. Einerseits wird mit einem »aktiven Altern« die Mobilisierung bislang brachliegender produktiver Potenziale älterer Menschen verbunden, die es gerade im Angesicht des demographischen Wandels gesellschaftlich zu nützen und zu verwerten gelte. »Active Ageing«, so heißt es etwa in einer Definition der OECD (2000: 126), »refers to the capacity of people, as they grow older, to lead productive lives in society and the economy.« Praktisch bedeutet das in erster Linie »adopting healthy life styles, working longer, retiring later and being active after retirement« (Europäische Kommission 1999). Andererseits – und darüber hinaus – verspricht das »Active Ageing« auch eine stärkere gesellschaftliche Integration und Teilhabe älterer Menschen in und an der Gesellschaft und eine höhere Lebensqualität gerade durch die Möglichkeit fortgesetzter, sinnstiftender Aktivität im Alter. Demnach beschreibt »Active Ageing« vor allem einen »process of optimizing opportunities for health, participation and security in order to enhance quality of life as people age« (WHO 2002: 12). Generell versteht sich das »Active Ageing« als politisches Programm zur Verbesserung des gesellschaftlichen Altersbildes und zur Bekämpfung von Altersdiskriminierung.[23] Von einem aktiven Altern – so lautet also das politische Postulat – profitieren letztendlich alle. Die Gesellschaft als solche profitiert davon, weil sie auf diese Weise produktive Potenziale erschließen kann, die ihr im Zuge des demographischen Wandels gerade auszugehen drohen. Aber auch die älteren Menschen selbst, weil sie aus ihrer weitgehenden sozialen Marginalisierung befreit werden und auch im Alter die Möglichkeit haben, aktiv zu sein und an der Gesellschaft zu partizipieren, was sich wiederum positiv auf die Lebensqualität als solche auswirkt: »Active Ageing« also sozusagen als »win-win-Situation« (Dyk 2009: 316).[24]
Die Wurzeln des zeitgenössischen Active-Ageing-Diskurses lassen sich im Wesentlichen in zwei eng miteinander zusammenhängenden Entwicklungen verorten, einer eher ideologischen und einer politisch-ökonomischen. Ideologisch wurzelt das »Active Ageing« in der »Entdeckung« der sogenannten »jungen Alten« Mitte der 1980er Jahre. Der Diskurs um die »jungen Alten« wurde besonders vonseiten der Gerontologie forciert und beruht auf der Feststellung, dass mit dem Eintritt in den Ruhestand durchaus nicht, wie das vielleicht für frühere Generationen noch zutreffend gewesen sein mag, eine allerletzte Lebensphase anbricht, die vor allem von Inaktivität, sozialem Rückzug, altersbedingten Krankheiten, Pflegebedürftigkeit und Tod geprägt ist, sondern dass der Ruhestand und damit das Alter überhaupt – vor allem bedingt durch ständig steigende Lebenserwartungen im Laufe des 20. Jahrhunderts – eine Phase des Lebens darstellt, die mitunter mehrere Jahrzehnte umfassen kann, von denen die Menschen einen großen Teil in relativ guter Gesundheit verbringen und dementsprechend ein nach wie vor hohes Aktivitätspotential und auch Aktivitätsbedürfnis aufweisen. Das Konstrukt der »jungen Alten« setzt dabei auch direkt auf auf das bereits erwähnte, seit den 1960er Jahren zum dominanten gerontologischen Paradigma avancierte Aktivitätskonzept, das ein aktives Leben im Ruhestand als die adäquateste Form der Anpassung im bzw. an das Alter definiert. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, dass Alterspensionen zwischenzeitlich ein Niveau erreicht hatten, das weitgehend über die bloße Existenzsicherung hinausging (was im Übrigen auch dazu geführt hat, dass seither das Thema Altersarmut, obwohl es freilich, speziell für Frauen, nie völlig seine Aktualität eingebüßt hat, praktisch aus der Gerontologie verschwunden ist und erst heute wieder langsam im Angesicht der fortschreitenden neoliberalen Prekarisierung in den Fokus rückt, vgl. Vogel/Klingebiel 2013), entstand auf diese Weise ein Bild von »jung gebliebenen«, gesunden, kompetenten, aktiven, konsumfreudigen, »lifestyle-bewussten«, ihr Leben und ihre Freizeit aktiv gestaltenden Alten, das in weiterer Folge, auch vermittelt über eine entsprechende mediale Verarbeitung, zum neuen gesellschaftlichen Altersbild schlechthin aufstieg (vgl. ausführlicher zum Aufstieg der »jungen Alten« als einer neuen Sozialfigur Dyk/Lessenich 2009). Auch die Wirtschaft entdeckte bald dieses stetig wachsende Segment der »jungen Alten« für sich, was in der Herausbildung der sogenannten »silbernen Märkte« kulminierte (vgl. Kohlbacher/Herstatt 2008). In der Alterssoziologie findet dieses neue Altersbild der »jungen«, aktiven Alten insbesondere in einer Binnendifferenzierung des Alters in ein »drittes« und »viertes Lebensalter« seinen Niederschlag (Laslett 1995). Damit soll eben der Tatsache Rechnung getragen werden, dass das alte, überkommene Bild vom Alter als einer hauptsächlich durch Krankheit und Pflegebedürftigkeit geprägten Lebensphase in Wahrheit nur eine Minderheit der alten Menschen – nämlich die altersschwachen, pflege- und hilfsbedürftigen – zu beschreiben vermag, nicht aber das Alter an sich und quasi den »Normalzustand« älterer Menschen, weshalb mit Blick auf das Alter stärker differenziert werden müsse. Das »dritte Lebensalter«, das sind sozusagen die besagten »jungen Alten«, die höchstens, wenn überhaupt, aus kalendarischer Sicht als alt zu bezeichnen sind, aber keinesfalls aus biologischer[25] und schon gar nicht im Hinblick auf ihren Lebensstil und ihr Aktivitätspotential. Erst nach dem »dritten Lebensalter« als einer Phase des »jungen, aktiven und gesunden Alters« folgt schließlich das »vierte« und letzte, von einem Abbau physischer und kognitiver Funktionen und in weiterer Folge von Pflegebedürftigkeit geprägte Lebensalter.
Der Diskurs um die »jungen Alten«, als ideologische Grundlage des Active-Ageing-Konzepts, ist wiederum eingebettet in politisch-ökonomische Tendenzen und verschränkt mit entsprechenden Diskursen im Kontext von Neoliberalismus und Globalisierung. Wie jede postmoderne Ideologie ist auch jene der »jungen Alten«, die ja letztlich vor allem auf eine kulturell-symbolische Aufweichung von alter(n)sbezogenen Normen, Altersgrenzen und Altersidentitäten hinausläuft, ohne Rekurs auf neoliberale Transformationen wahrscheinlich gar nicht hinreichend nachvollziehbar (und fällt daher in ihrer Genese wohl auch nicht zufällig zeitlich exakt in die Zeit der neoliberalen Wende), zumal die Postmoderne mit ihrer »anything goes«-Mentalität und ihrer Ideologie der Virtualität, wie Robert Kurz (2013/1999) konstatiert, in auffälliger Weise einer sich seither praktisch nur noch virtuell in einer spekulativen Finanzblasen-Ökonomie vollziehenden Kapitalverwertung korrespondiert und in diesem Lichte geradezu die ideelle Repräsentations- und Denkform der neoliberalen Epoche verkörpert. Der Zusammenhang von »Active Ageing« und Neoliberalismus wird im Grunde schon daran ersichtlich, dass sich die gesellschaftspolitische »Altersaktivierung« unmittelbar und unverkennbar in die Logik des aktivierenden Sozialstaats einfügt, wie er seit den späten 1990er Jahren mehr und mehr Gestalt annimmt, und der im Zuge der umfassenden neoliberalen Marktradikalisierung in seinen Operationen sukzessive vom Modus der Versorgung und sozialen Sicherung auf den Modus der Aktivierung umstellt. War diese Aktivierung zunächst auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger beschränkt, die seither einem immer erniedrigenderen Kontroll- und Disziplinierungsregime bis hin zur staatlichen Zwangsarbeit unterworfen werden (in Deutschland prominent Hartz IV mit seinem System der »Ein-Euro-Jobs«; vgl. Rentschler 2004), so greift diese nun, auf spezifische Weise, auch auf die Alten, auf die Pensionisten und Rentenbezieher über. Im Kontext der »Altersaktivierung« kommt freilich neben Globalisierung und neoliberalen Restrukturierungen als zusätzlich treibendes Moment der demographische Altersstrukturwandel hinzu, der die primäre Legitimationsgrundlage des »Active Ageing« darstellt. Besonders tonangebend im deutschsprachigen Raum waren in diesem Zusammenhang vor allem die seit 1993 von der deutschen Bundesregierung in Auftrag gegebenen und von einer wissenschaftlichen Expertenkommission verfassten »Altenberichte«, in denen ein »aktives Altern« in den letzten zwanzig Jahren nach und nach zur zentralen Lösungsstrategie im Angesicht der anstehenden demographischen »Herausforderungen« aufgebaut wurde (vgl. insbesondere BMFSFJ 2001, 2006, 2010). Diesen Herausforderungen einer »alternden Gesellschaft« soll vor allem durch längere Erwerbsarbeit bzw. einem späteren Pensionsantritt und einem bürgerschaftlichen Engagement (Freiwilligenarbeit) im Ruhestand begegnet werden. Die wohlfahrtsstaatliche Aktivierung des Alters ist damit praktisch gleichbedeutend – auch wenn die Institution des Ruhestands als solche derzeit noch nicht völlig zur Disposition gestellt wird, sondern die Bevölkerung einstweilen noch auf eine längere Erwerbsverpflichtung und niedrigere Pensionsansprüche eingestimmt wird – mit einer fortschreitenden Delegitimierung des Altersruhestands überhaupt, der bislang konstitutiv das Wesen des Alters und aller staatlichen Alterspolitik (besonders in Europa) ausgemacht hat. In eben dieser Delegitimierung des Ruhestands ist letztendlich auch die zentrale politisch-ökonomische Funktion des »Active Ageing« zu sehen, sozusagen als Bestandteil einer (seit dem Crash von 2008 nochmals massiv verschärften) neoliberalen Krisenverwaltung, die es mit einer horrenden Staatsverschuldung bei gleichzeitig stockendem Wirtschaftswachstum und (auch, aber durchaus nicht nur aufgrund des demographischen Wandels) mit mittelfristig unfinanzierbar werdenden Pensions-, Gesundheits- und Sozialsystemen zu tun hat. Dass sich dabei die mit dem »Active Ageing« verbundenen und propagierten Hoffnungen und Problemlösungsansätze bei genauerer Betrachtung überwiegend als haltlos herausstellen, spricht nur umso mehr für den Krisencharakter der »Altersaktivierung« einerseits, aber auch ganz allgemein für das Ausmaß der gegenwärtigen Krise andererseits, die nämlich in Wahrheit eine Krise der kapitalistischen Gesellschaftsform per se ist: Schon heute erreicht etwa im Zuge der allseits beklagten »Krise der Arbeitsgesellschaft« die Arbeitslosigkeit auch in den kapitalistischen Zentren immer neue Höchststände, ohne auch nur irgendein Anzeichen dafür, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern könnte – eher im Gegenteil. Alles deutet darauf hin, dass der kapitalistischen Gesellschaft auf dem erreichten Niveau der Produktivität die Arbeit gerade ausgeht. Wie unter diesen Prämissen – davon abgesehen, dass die Bereitschaft der Unternehmen, ältere Arbeitnehmer weiter zu beschäftigen oder einzustellen ohnehin, auch trotz entsprechender politischer Maßnahmen und Förderungen, mehr als enden wollend ist (und das auch bleiben wird) – der vielbeschworene längere Verbleib älterer Menschen im Erwerbsprozess zwecks nachhaltiger Finanzierung des Pensionssystems realisierbar sein soll, ohne dabei notwendig auf Kosten anderer Segmente der Erwerbsbevölkerung zu gehen (vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, deren Arbeitslosenraten in manchen Ländern Europas bekanntlich die 50-Prozent-Marke ohnehin längst erreicht oder sogar überschritten haben), bleibt das Geheimnis von »Arbeitsmarktexperten«, Volkswirten und (insbesondere wissenschaftlichen) Active-Ageing-Ideologen.[26] Dass wiederum die Propagierung eines bürgerschaftlichen Engagements im Alter – wie generell die in den letzten Jahren allerorts massiv vorangetriebene Förderung und Propagierung von Ehrenamt und Freiwilligenarbeit – gar keine andere Funktion haben kann, als die Erbringung sozialer Leistungen, die dem fortschreitenden sozialstaatlichen Kahlschlag zum Opfer fallen, den Menschen selbst zu überlassen und so möglichst kostengünstig abzuwickeln, liegt ohnehin auf der Hand.
Die durch und durch neoliberale Rationalität des »Active Ageing« erweist sich nicht zuletzt an der direkten Verwandtschaft altersbezogener Aktivitäts-, Produktivitäts- und Potenzialdiskurse mit zahlreichen anderen neoliberalen Diskursen, die sich in der Active-Ageing-Propaganda auf spezifische Weise zu einem neuen gesellschaftlichen Altersdiskurs verdichten, wie eben auch umgekehrt das »Active Ageing«, wenn man so will, eine Art Subdiskurs in einem komplexen Geflecht neoliberaler Regierungstechnologien bildet. Die neoliberalen Ökonomisierungs- und sozialpolitischen Aktivierungstendenzen gehen bekanntlich einher mit zunehmenden Selbstverantwortlichkeits- und Flexibilisierungsanforderungen, die im fortschreitenden Rückzug des (Sozial-)Staates und einer allgemeinen Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen im Neoliberalismus begründet liegen. Den Subjekten wird unter diesen Prämissen eine immer höhere Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und Mobilität sowie eine ständige Selbstoptimierung abverlangt, eine stetige und unausgesetzte Planung der eigenen Karriere- und Lebensentwürfe, bei der praktisch nichts dem Zufall überlassen werden darf und die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu so etwas wie Unternehmern und Managern ihrer selbst werden müssen. Ulrich Bröckling (2007) hat das in seiner Abhandlung über das »unternehmerische Selbst« treffend als die hegemoniale Subjektivierungsform im Neoliberalismus herausgearbeitet. Die neoliberale Ökonomisierung geht also schließlich so weit, dass immer mehr Lebensbereiche ebenfalls zunehmend einer strengen Kosten-Nutzen-Rechnung unterworfen werden (müssen). Und das ist klarerweise ein Prozess, der auch am Alter nicht spurlos vorbeigehen kann. Unter der Hegemonie des »Active Ageing« wird auch das Alter(n), wie tendenziell das ganze Leben im »flexiblen Kapitalismus«, zu einem individuellen Projekt, das jeder einzelne Mensch selbstverantwortlich zu managen hat. »Aktives Altern« wird zum neuen gesellschaftlichen, altersbezogenen Ideal, auf das jeder Mensch selbstverantwortlich und auch im eigenen Interesse hinzuarbeiten hat, entsprechend zu planen und dabei auch seinen Körper entsprechend zu formen und zu bearbeiten hat (etwa durch Gesundheitsförderung, körperliche Fitness bis hin zu »Hilfsmitteln« und Dienstleistungen der Anti-Ageing-Industrie). So flexibel, aktiv und selbstverantwortlich, wie der neoliberale Mensch sein Leben meistern soll, so soll er eben auch sein Altern meistern. »Active Ageing« repräsentiert mithin nichts anderes als das neue Altersbild eines neoliberalen Krisenkapitalismus, der in dem Maße, wie Wachstums- und Produktivitätszwänge immer weiter steigen (und die kapitalistische Form nun endgültig in seine terminale Krise treiben), auch den Menschen immer noch mehr Leistungsfähigkeit und Produktivität abverlangen muss, um sich selbst »knirschend, stöhnend« (Adorno) am Leben zu erhalten. In diesem Sinne soll der flexible, selbstverantwortliche, aktive, neoliberale Mensch, wenn er denn schon altern muss, auch das wenigstens aktiv tun, um so lange wie er nur kann als gesellschaftlich vernutzbare Humanressource zur Verfügung zu stehen, zumindest aber der Allgemeinheit nicht als Kostenfaktor zur Last zu fallen.[27]
»Aktives Altern« als neues Altersbild einer postmodernen Anti-Ageing-Kultur
Was nun vor allem mit Blick auf die Dissoziation des Alters bzw. – genauer gesagt – hinsichtlich der hier vertretenen These einer bloß immanenten Formveränderung derselben im Zuge der (freilich nur sehr grob skizzierten) postmodernen »Metamorphose« des Alters in ein neues, positives, »aktives« Alter entscheidend ist und im Folgenden eine genauere Betrachtung verdient, ist, dass dieses neue, allseits beschworene positive Altersbild des »Active Ageing«, entgegen dem äußeren Anschein und den sowohl politischen als auch wissenschaftlichen Versprechungen, natürlich durchaus kein so positives Altersbild darstellt, mit dem die in der kapitalistischen Wert-Abspaltungsstruktur begründet liegende, traditionell negative Sicht auf das Alter(n) endlich überwunden würde. Sondern eigentlich ist sogar das genaue Gegenteil der Fall: Bei genauerer Betrachtung entpuppt es sich nämlich als ein noch deutlich negativeres Altersbild als das, das es im Interesse einer »altersfreundlichen« Gesellschaft abzulösen beansprucht.
Auf den ersten Blick hat der im Kontext des »Active Ageing« unausgesetzt und geradezu gebetsmühlenartig beschworene Zusammenhang eines »aktiven Alterns« und einer Überwindung von negativen Altersbildern, Altersdiskriminierung und Altersfeindlichkeit freilich durchaus eine gewisse Plausibilität und sogar empirische Evidenz. Tatsächlich ist es heute so, dass das Alter gesellschaftlich mehr als je zuvor unter dem Gesichtspunkt der Aktivität, der Produktivität und der Potenziale und Kompetenzen älterer Menschen wahrgenommen wird. An allen Ecken und Enden, vor allem medial, wird das Bild von den fitten und aktiven »jungen Alten« vermittelt – ob das nun die älteren Damen und Herren mit ihren Nordic-Walking-Stöcken sind, sich im Ruhestand an der Universität Weiterbildende (»lebenslanges Lernen«) oder nach der Pensionierung immer noch beruflich oder ehrenamtlich aktive Alte, die sozusagen als Galionsfiguren eines »neuen Alters« herhalten dürfen. Insofern könnte man also zunächst einmal durchaus sagen: mission accomplished. Das Bild des Alters als unweigerlich verbunden mit körperlichem und geistigem Abbau, Inaktivität, Unproduktivität und Pflegebedürftigkeit ist im Grunde – jedenfalls in seiner ursprünglichen, traditionellen Form – Geschichte. Ein zweiter, etwas genauerer Blick belehrt allerdings sehr schnell darüber – worauf aber eigentlich schon die derart eindringliche und mit missionarischem Eifer betriebene alterspolitische Beschwörung eines positiven Altersbildes selbst verweist (warum sonst müsste das neue Altersbild so angestrengt und mit derart viel Aufwand beschworen werden?) –, dass hinter der schönen, postmodernen Fassade der »neuen Alterswelt« weiterhin und mit noch hässlicherer Fratze das alte, negative, defizitorientierte Altersbild vor sich hin west.
Das »neue Alter« des »Active Ageing« ist ja, wie gezeigt, konstitutiv gekoppelt an die Vorstellung von den sogenannten »jungen Alten« bzw. an eine Binnendifferenzierung des Alters in ein »drittes« und »viertes Lebensalter«. Die »jungen Alten« im »dritten Lebensalter« sind quasi jene Alten, die im Grunde von ihrem körperlichen Allgemeinzustand und ihrem Lebensstil und dementsprechend auch von ihrem Aktivitätspotenzial her »noch gar nicht so alt« sind. Das ist gewissermaßen die Kernbotschaft des »Active Ageing«, dass das Alter eben nicht unmittelbar und quasi automatisch mit dem Verlust von Aktivität und Produktivität einhergeht, wie das lange Zeit mit dem Alter assoziiert wurde und auch heute noch z.B. vonseiten des Arbeitsmarkts signalisiert wird, wo man/frau mit 50 in vielen Branchen praktisch als unvermittelbar gilt und sprichwörtlich zum alten Eisen gerechnet wird. Solche überkommenen defizitorientierten Vorstellungen vom Alter sollen mit dem »Active Ageing«, jedenfalls dem Anspruch nach, aufgebrochen und die Botschaft vermittelt werden, dass diese negativen Alterszuschreibungen, dieses negative Altersbild eben gerade kein Bild ist, das allen älteren Menschen entspricht und streng genommen sogar nur auf eine Minderheit von ihnen zutrifft, nämlich auf hochaltrige Pflegebedürftige. Gegen diese zentrale Argumentationslinie des »Active Ageing« wäre so weit an und für sich auch noch nicht allzu viel einzuwenden – wenn nicht dabei als eine Verbesserung des gesellschaftlichen Altersbildes ausgegeben würde, was natürlich im Grunde genommen gar keine ist. Denn was dabei ja eigentlich gerade nicht in Frage gestellt wird, ist die Defizitperspektive auf das Alter, die vom Standpunkt des »Active Ageing« vorgeblich so heftig kritisiert wird. Daran wird eigentlich gar nicht gerüttelt, sondern in Frage gestellt wird lediglich die empirische Gültigkeit dieser Defizitperspektive für die Gruppe der »jungen Alten«. Bloß für diese soll dieses negative Altersbild nicht mehr gelten, denn die sind ja eigentlich noch gar nicht so alt, dass dieses Altersbild für sie tatsächlich Geltung beanspruchen könnte, ohne dabei nicht nur überhaupt nicht zutreffende und der Realität gar nicht entsprechende, sondern im Grunde sogar höchst diskriminierende Zuschreibungen zu praktizieren. Mit einer solchen zunächst durchaus berechtigten und richtigen Klarstellung verschwindet aber natürlich nicht an sich schon das beklagte negative Altersbild, sondern dieses wird lediglich ins noch höhere Lebensalter, nämlich in die Hochaltrigkeit, verlagert. Lediglich für die »jungen Alten« gilt dieses negative Altersbild nicht mehr, für diese gelten stattdessen weiterhin die Normen des mittleren Lebensalters (die vor allem die Normen der abstrakten Arbeit sind) von Leistung, Produktivität, Aktivität und Jugendlichkeit, und all das gilt es im Sinne eines »aktiven Alterns« im Alter auch aufrechtzuerhalten. Das heißt, die ganzen negativen Assoziationen des Alters sind durchaus nicht außer Kraft gesetzt, sondern sie beschränken sich nur noch auf das vierte Lebensalter der quasi »wirklich alten«, beim besten Willen nicht mehr aktivierbaren und für die Gesellschaft somit im Prinzip endgültig »wertlosen«, pflegebedürftigen Alten – ein Lebensalter bzw. eine Daseinsform, die man gerade dank eines »aktiven Alterns« hoffentlich erst ganz spät oder möglichst nie erreicht. In der hier verwendeten Terminologie könnte man auch sagen, im und durch das »Active Ageing« kommt es sozusagen zu einer zusätzlichen Differenzierung innerhalb der Dissoziation des Alters, indem die quasi »wirklich Alten«, also die pflegebedürftigen Hochaltrigen, nochmals von den jungen, aktiven Alten geschieden werden. Auf diese Weise erfährt das gesellschaftliche Altersbild aber natürlich in Wahrheit nicht nur keine Aufwertung, wie eigentlich beabsichtigt, sondern es wird im Grunde sogar noch zusätzlich abgewertet. Mehr noch: Mit seiner stetigen Propagierung jugendlicher Aktivität erfüllt das »Active Ageing« vielmehr sogar den Tatbestand eines Anti-Ageing-Programms. Das Alter ist mehr denn je etwas, das man/frau möglichst lange zurückdrängt und bekämpft. Insofern ist das neue Altersbild des »Active Ageing« alles Mögliche, bloß kein positives Altersbild. Sondern ganz im Gegenteil: Mit seiner Beschwörung von Aktivität und all den anderen Normen des mittleren Alters, die quasi ins Alter hinein verlängert werden und damit den Menschen praktisch die Erhaltung ewiger Jugend abverlangen, ist es im Prinzip sogar noch ein wesentlich negativeres Altersbild als das, das damit überwunden werden soll.
Nicht zufällig fällt daher das neue »Zeitalter« des »aktiven Alterns« unmittelbar mit dem Boom einer immer größere Dimensionen annehmenden Anti-Ageing-Industrie zusammen. »Active Ageing« und »Anti-Ageing« sind praktisch eins. Erst unter gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sich die wertförmige Aktivität und Produktivität zu verbindlichen Normen auch des Alters aufspreizen, kann ein derart gigantischer Anti-Ageing-Komplex, der inzwischen einen durchaus bedeutenden Wirtschaftsfaktor darstellt, überhaupt Gestalt annehmen. Erst mit der Herausbildung eines Sozialcharakters des »aktiv Alternden«, in dem der schizophrene Zwang des bürgerlich-kapitalistischen Subjekts zur »Alterslosigkeit« voll zur Entfaltung kommt, erwächst der Anti-Ageing-Industrie überhaupt ihre notwendige Geschäftsgrundlage. Dabei arbeitet sie natürlich selbst – so viel ist wahr an jeder noch so kulturalistisch verkürzten konstruktivistischen oder diskursanalytischen Untersuchung des Anti-Ageing-Komplexes und biomedizinischer Altersdiskurse (vgl. exemplarisch Vincent 2006; Spindler 2009) – fleißig an der Produktion dieses Sozialcharakters mit, aber sie findet den Nährboden dafür und eine entsprechende psychische Disposition immer schon in den kapitalistisch sozialisierten Warensubjekten vor, die sie erst auf dieser Grundlage zu ihren Klienten bzw. Klientinnen formen kann. Angesichts dieser Identität von »Active Ageing« und »Anti-Ageing« hilft es auch herzlich wenig und mutet eher ein wenig armselig an, wenn die Gerontologie (insbesondere ihr sozialwissenschaftlicher Flügel) dagegen wettert, dass die Anti-Ageing-Medizin das Alter(n) faktisch in eine behandlungsbedürftige Krankheit umdefiniert, und in ihrer Empörung gar zum »war on anti-aging medicine« (Binstock 2003) bläst – es wäre letztlich nur ein Krieg unter Zwillingsschwestern. Denn so sehr sich die Gerontologie mit ihrer »Kritik« und ihren »ethischen Bedenken« gegen eine solche biologistische Sicht auf das Alter(n) auch dagegen sträuben und wehren mag, im Grunde verkörpert die Anti-Ageing-Medizin bloß die konsequente Fortführung all dessen, was die Gerontologie mit ihrem Active-Ageing-Fetisch, ihren bornierten »Aktiv und gesund altern«-Programmen selbst die ganze Zeit treibt. Der »Anti-Ager« ist in Wahrheit nur die Extremform des »Active Ager« und die Gerontologie die (wenn auch unfreiwillige, sich ihrer selbst unbewusste) Ideologin einer postmodernen Anti-Ageing-Kultur, die als höchstes Lebensziel ausgibt, möglichst aktiv, gesund und fit »in die Kiste« zu kommen (vgl. Duttweiler 2010; ähnlich auch Dyk/Graefe 2010).
All das verweist aber eben unmittelbar darauf, dass in der postmodernen Gesellschaft des »aktiven Alterns« nicht einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, die moderne Dissoziation des Alters, die das Alter traditionell in den Status eines minderwertigen Anderen herabsetzt, aufgehoben und dadurch die überkommene strukturelle Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung überwunden wird, sondern in Wahrheit handelt es sich lediglich um eine immanente Transformation der Dissoziation selbst, die sich gerade darin ausdrückt, dass altersbezogene Ungleichheiten, Ausgrenzung und Diskriminierung, wenn auch teilweise in anderer Form, weiterhin Bestand haben. Weder bringt die stärkere soziale Integration älterer Menschen im Kontext des »Active Ageing« Altersdiskriminierung zum Verschwinden, sondern bleibt diese auch weiterhin ein notwendiges Strukturmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft (und erreicht vielmehr in einer postmodernen »Kultur« des Anti-Ageing sogar ein völlig neues Niveau), noch bedeutet die zeitgenössische Positivierung des gesellschaftlichen Altersdiskurses das Ende aller Altersfeindlichkeit, sondern ist lediglich, ganz im Gegenteil, Symptom einer radikalen Zuspitzung der Altersfeindlichkeit selbst in einer zunehmend reproduktionsunfähigen, »alternden« kapitalistischen Gesellschaft. Gleichsam parallel zu der von Roswitha Scholz (mit Blick auf das Geschlechterverhältnis) konstatierten »Verwilderung des Patriarchats« im Zuge des immanenten, postmodernen Formwandels der Wert-Abspaltung verläuft also auch eine »Verwilderung« der modernen Altersfeindlichkeit, die in der Anti-Ageing-Kultur des 21. Jahrhunderts buchstäblich auf die Spitze getrieben wird. Nie war das Alter(n) negativer konnotiert als in der Gegenwart, in der sich der gesellschaftliche Altersdiskurs so »positiv« wie nie zuvor darstellt und das Alter (vermeintlich) den Ruch des Unproduktiven, Wertlosen und Überflüssigen abgelegt hat. Denn in der epochalen Krise, in dem das warenproduzierende System offensichtlich seine eigene »innere Schranke« (Marx) – quasi das Ende der Fahnenstange des selbstzweckhaften Kapitalakkumulationsprozesses – erreicht hat und nun in einem zum offenen Wahn gesteigerten Marktfundamentalismus wild um sich schlägt, um alles zu Geld zu machen, was noch irgendwie zu Geld zu machen ist, und sozusagen ein letztes Mal in blinder Verzweiflung alle seine Humanressourcen zu mobilisieren versucht (und sei es als ehrenamtliche, unbezahlte Arbeitskräfte in der gesellschaftlichen Notstandsverwaltung, die Sozialleistungen zur Verfügung stellen, die im Krisenkapitalismus nicht mehr gewährleistet sind), sollen zwar auch die Alten, im Namen ihrer »sozialen Inklusion« und »Partizipation«, »in die gesellschaftliche Verwertung zurückgeholt« werden (vgl. Amann et al. 2010: 47), nur eines dürfen sie dabei auch als Alte unter keinen wie auch immer gearteten Umständen sein: nämlich alt. Noch als Alte müssen sie quasi bis zur Bahre »jung« und entsprechend aktiv und produktiv sein, um ein praktisch im Sterben liegendes System weiter künstlich am Leben zu erhalten. Dieser Irrsinn findet seinen unmittelbar sozialpsychologischen Niederschlag im schizophrenen Anti-Ageing-Sozialcharakter des »aktiv Alternden«, an dem sich in gewisser Weise, quasi spiegelbildlich zum letzten »Amoklauf« des kapitalistischen Systems in seiner epochalen Krise, der Amoklauf eines endgültig an sich selbst und der Gesellschaft irre gewordenen bürgerlich-kapitalistischen Subjekts in der Phase seines Verfalls ablesen lässt. Zwanghaft und mit allen Mitteln arbeitet der »aktiv Alternde« an der Erhaltung von Aktivität, Produktivität und Jugendlichkeit, wobei sich die »Sorge um sich« (Foucault) – ohnehin die zentrale Handlungsorientierung des restlos auf sich selbst zurückgeworfenen postmodernen Krisensubjekts – unter Anti-Ageing-Prämissen in einen regelrechten »Kampf um sich« (Duttweiler 2003: 37) verwandelt. Mit einem bis vor kurzem noch unvorstellbaren »Waffenarsenal« – von Fitness, Medikamenten, Hormonen, Kosmetika bis hin zu plastischer Chirurgie, Stammzell- und Nanotechnologie – wird dem Altern im wahrsten Sinne des Wortes zu Leibe gerückt und versucht, den Alternsprozess aufzuhalten, rückgängig zu machen oder zumindest zu verzögern – mit teilweise grotesken, ja monströsen Resultaten: bis zur Unkenntlichkeit geliftete, unzählige Male plastisch korrigierte Gestalten, die zwar in der Tat kaum noch im eigentlichen Sinne alt, dafür aber auch nicht mehr wie Menschen aussehen. Geht es nach manchen Biomedizinern, insbesondere den neuerdings umgehenden Fanatikern des Transhumanismus, die ein offenbar selbst zunehmend am Krisenkapitalismus irre gehender Wissenschaftsbetrieb ausschwitzt, soll die Welt in absehbarer Zeit nicht einmal mehr von Menschen, sondern von Cyborgs bevölkert sein, mit biotechnologischen Implantaten ausgestatteten Kreaturen, die mit ihrer defizitären Menschlichkeit möglichst auch ihre Sterblichkeit abgestreift und so endlich auch das Altern überwunden haben werden (vgl. Becker 2015). Was früher allein Gegenstand dystopischer Science-Fiction-Filme und von Horrorfilmen à la Frankenstein war, ist heute auf dem besten Weg, zur ganz »normalen« Realität einer postmodernen Anti-Ageing-Kultur zu werden, deren »alterslose Monster« letztendlich bloß die Extremform und die äußerste Konsequenz eines neuen postmodernen Altersideals »junger, aktiver Alter« repräsentieren. In dieser Extremform des Anti-Ageing scheint am Ende sogar die Differenz von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Objekt vollends aufgehoben (in etwa so, wie sich ja auch Hund und Herrchen bzw. Frauchen zuweilen zum Verwechseln ähnlich sehen): Wie das kapitalistische System, das nur noch eine zombiehafte Existenz als lebende Leiche führt, die kosmetisch aufgepäppelt und mit aller Gewalt künstlich am Leben erhalten wird, weil sie einfach um keinen Preis der Welt sterben darf, so erscheinen auch seine nicht altern dürfenden und zwanghaft das Unausweichliche niederkämpfenden Anti-Ageing-Kreaturen wie Untote, aus denen längst alles Leben gewichen ist, und die dennoch wie traurige Gespenster unter den Lebenden weilen.
Fazit
Die in diesem Text freilich nur in sehr grober Form ausgebreiteten Grundrisse einer kritischen Theorie des Alter(n)s in der warenproduzierenden Gesellschaft verweisen auf einen wesentlichen Sachverhalt, auf den eine sich »kritisch« mit Altersdiskriminierung und Altersfeindlichkeit befassende akademische Alter(n)sforschung erst noch kommen muss: Wie man es auch dreht und wendet, unter kapitalistischen Prämissen ist ein anderes als ein negatives Altersbild schlicht und einfach nicht zu haben. In einer Gesellschaft, in der alles nicht in der kapitalistischen Verwertungslogik Aufgehende, alles was aus dem kapitalistischen Kategoriensystem von Arbeit, Leistung, Produktivität usw. herausfällt, in den Status eines Minderwertigen und Defizitären herabgedrückt wird, kann auch das Alter nie etwas anderes als ein Defizit und etwas Störendes sein. Umso notwendiger ist daher eine Kritik an Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung, die diesen unhintergehbaren gesellschaftlichen Zusammenhang hinreichend berücksichtigt. Andernfalls bleibt einem nur die hilflose Beschwörung eines positiven Altersbildes – und die wird leider nicht viel helfen, sondern lediglich und ganz im Gegenteil die auch weiterhin bestehende altersfeindliche kapitalistische Grundstruktur ideologisch verkleistern und diese damit auch noch unfreiwillig selbst stabilisieren und nachhaltig reproduzieren. Wie in diesem Beitrag gezeigt werden sollte, kann speziell die Wert-Abspaltungstheorie Entscheidendes zum besseren Verständnis und zur theoretisch fundierten Kritik an der strukturellen Altersfeindlichkeit im Kapitalismus beitragen.
Gerade das paradoxe Zusammenfallen von »positivem« Altersbild (»aktives Altern«) und radikaler Zuspitzung von Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung in der Postmoderne, das besonders an der Verwandtschaft von Active-Ageing-Programmen mit Diskursen und Praktiken des Anti-Ageing ersichtlich wird, sensibilisiert dafür, dass Bemühungen um eine Verbesserung gesellschaftlicher Altersbilder und eine Überwindung altersfeindlicher Strukturen, sofern sie nicht gleichzeitig auch auf eine Aufhebung der dafür grundlegenden Wert-Abspaltungsverhältnisse (und das heißt im Klartext: auf eine Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsform insgesamt) abzielen, notwendig und von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die Aktivierung der Alten und ihre darüber vermittelte, angebliche soziale Inklusion läuft letztlich auf nichts anderes als deren gesellschaftliche Negation als Alte hinaus und ist gebunden an die möglichst lange Erhaltung von Aktivität, Produktivität und Jugendlichkeit, die den Menschen im eigenen wie auch gesamtgesellschaftlichen Interesse vor dem Hintergrund des demographischen Wandels ausdrücklich abverlangt wird. Diese Negation wird dabei nicht zuletzt von den Menschen selbst durch eine breite Vielfalt von Anti-Ageing-Praktiken, für die eine beständig wachsende Anti-Ageing-Industrie die Mittel bereitstellt, an sich selbst und ihren Körpern exekutiert.
Eine emanzipatorische Kritik könnte vor diesem Hintergrund nur darin bestehen, die kapitalistische Form des Alter(n)s – und das müsste vor allem auch heißen: die kapitalistische Form des »Lebenslaufs« überhaupt – radikal zur Disposition zu stellen. In diesem Punkt haben postmodern-poststrukturalistisch argumentierende Alter(n)sforscherInnen durchaus recht (vgl. Dyk 2009, 2014): Das Problem besteht in der Tat in der gesellschaftlichen Konstruktion distinkter Lebensphasen, die überhaupt erst auch das »Alter« als eine eigenständige Lebensphase mit einer spezifischen, vom übrigen Leben verschiedenen (wenngleich dabei von den Menschen praktisch kaum lebbaren und daher mit aller Kraft geleugneten und abgewehrten) Altersidentität hervorbringt. Diese Lebensphasen sind aber eben gerade ein genuin kapitalistisches Produkt. Es ist die gesellschaftliche Zurichtung und Disziplinierung der Menschen und die Ausrichtung ihres gesamten Lebens entlang der abstrakten Arbeit mit ihren Leistungs- und Produktivitätszumutungen, die den Lebenslauf in strikt voneinander geschiedene Lebensphasen zerfallen lässt, wobei sich das Alter gerade durch das Ausscheiden aus dem gesellschaftlichen Arbeitsprozess konstituiert. Eben daraus resultiert auch hauptsächlich die weit verbreitete Feindschaft gegenüber dem Alter und die Diskriminierung alter Menschen, da diese in einer kapitalistischen Gesellschaft, die sich nun einmal (frei nach Hannah Arendt) auf nichts weiter versteht als auf Arbeit, Arbeit und nochmal Arbeit, oftmals nur als unproduktive Kostenfaktoren und »unnütze Esser« erscheinen. Es genügt also nicht, die bloße Existenz distinkter Lebensphasen zu problematisieren, sondern es ist die kapitalistische Form bzw. die kapitalistische Grundlage des modernen Lebenslaufs als solchem ins kritische Visier zu nehmen, ohne deren theoretische Berücksichtigung die Kritik zwangsläufig ins Leere laufen muss.[28] Erforderlich wäre daher vielmehr, eine Perspektive menschlichen Lebens jenseits der wertförmigen Fetischformen von Arbeit, Aktivität, Produktivität, Leistung usw. zu erarbeiten, damit das Altern als immer auch biologischer Prozess ein »natürlicher« und als solcher lebbarer Bestandteil der menschlichen Existenz sein kann und nicht mehr länger zwanghaft geleugnet und verdrängt werden muss. Erst wenn die kapitalistische Wert-Abspaltungsstruktur aufgehoben ist, kann das Alter aufhören, eine minderwertige und möglichst zu vermeidende Daseinsform zu sein, und damit auch Altersfeindlichkeit und Altersdiskriminierung überwunden werden. Aber das setzt eben notwendig die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsform als solcher voraus.
Gerade in dieser Frage der »Natürlichkeit« des Alter(n)s verheddern sich postmoderne Ansätze aufgrund ihres von vornherein kategorial unkritischen Zugangs fast schon mit Notwendigkeit in einen bloß relativistischen Radikalkonstruktivismus, der das Alter überhaupt auf eine bloße soziale Konstruktion reduziert, womit mehr oder weniger explizit sogar noch das fundamentalste und wahrscheinlich einzige tatsächlich biologische Substrat des Alter(n)s einfach abgeleugnet und negiert wird: nämlich eben jener schlicht unhintergehbare physiologische, quasi »natürliche« Prozess des Alterns. Dem gegenüber steht ein in der sozialwissenschaftlichen Alter(n)sforschung ebenso weit verbreiteter Naturalismus, der sich in der Kritik gegen aktuelle Aktivierungs- und Anti-Ageing-Tendenzen nicht anders zu helfen weiß, als für die Anerkennung der spezifischen Dignität des Alters als einer eigenständigen Lebensphase jenseits gesellschaftlicher Aktivitäts- und Produktivitätsnormen zu plädieren, was letztlich aber nur auf die bloße Ontologisierung und Naturalisierung des Alters (in seiner dissoziierten Form) hinausläuft (z.B. Biggs 2004). Das sind gewissermaßen die beiden Pole, zwischen denen sich die Kritik an Altersfeindlichkeit, Altersdiskriminierung, Anti-Ageing etc. bewegen muss, solange nicht kritisch an den kapitalistischen Grundlagen dieser Phänomene gerührt wird. Immanent gibt es offenbar nur die Alternative, das Alter entweder in seiner kapitalistisch zugerichteten und deformierten Gestalt zu idealisieren und zu naturalisieren, oder aber es überhaupt als Kategorie (mitsamt dem schwerlich zu leugnenden physiologischen Alterungsprozess) aus der Welt zu diskutieren und wegzudekonstruieren.
Den biologischen Prozess des Alterns jenseits der Wert-Abspaltung (und der damit verbundenen Dissoziation des Alters) als »natürlichen« Bestandteil des Lebens akzeptieren und leben zu können, wäre dabei freilich durchaus nicht gleichbedeutend damit – was ja andernfalls selbst nur auf einen schlechten Naturalismus hinausliefe –, die mit diesem Prozess verbundenen körperlichen und oft auch kognitiven Veränderungen (altersbedingte Krankheiten, Pflegebedürftigkeit, Demenz etc.) einfach als gegeben und unausweichlich hinzunehmen und sich sozusagen in sein »natürliches Alternsschicksal« zu ergeben, weil das »einfach« zum Alter »dazu gehört«. Vielmehr wäre hier vielleicht an eine Haltung gegenüber dem Altern wie auch generell der eigenen Sterblichkeit zu denken, die Barbara Pichler – unter Rekurs auf den österreichischen Schriftsteller Jean Améry – ein »revoltierendes Anerkennen des Alter(n)s« nennt (Pichler 2011). Dieses bestünde darin, dass die Akzeptanz des Alter(n)s und der eigenen Endlichkeit immer auch mit einer gewissen Widerständigkeit Hand in Hand geht. In diesem Sinne nimmt der alternde Mensch, wie es bei Améry heißt, »seine Ver-Nichtung an, wissend, daß er in dieser Annahme sich selbst nur dann bewahren kann, wenn er sich revoltierend gegen sie erhebt, daß aber – und hierin liegt eben die Akzeptation als Bejahung eines Unumstößlichen – seine Revolte zum Scheitern verurteilt ist. Er sagt nein zur Ver-Nichtung und zugleich Ja zu ihr, denn nur in der ausweglosen Verneinung kann er sich als er selber überhaupt dem Unausweichlichen stellen« (Améry 1968: 85f.). An ein solches revoltierendes Anerkennen des Alter(n)s wird aber, wie gesagt, praktisch erst in einer Gesellschaft jenseits der kapitalistischen Wert-Abspaltungsverhältnisse zu denken sein, denn erst wenn es keine Dissoziation des Alters mehr gibt, kann auch das Alter(n) überhaupt »anerkennungsfähig« werden – und ohne Anerkennung bleibt eben nur die »Revolte«, die heute im offenen Krieg gegen das Altern gipfelt, oder umgekehrt die Resignation. Auch hätte die revoltierende Anerkennung des Alter(n)s dann auch nicht – worauf es bei Pichler und Améry durch ihre offensichtliche Befangenheit in der kapitalistischen Form im Wesentlichen noch heruntergebrochen wird – auf eine »ambivalente Verschränkung von notwendiger Aktivität und Passivität im Zulassen des Alterns« (Pichler a.a.O.: 6) beschränkt zu sein, sondern es würde sich schon an sich die Frage der Aktivität und Passivität in dieser Form wahrscheinlich gar nicht mehr oder jedenfalls ganz anders stellen. Aktivität müsste außerhalb der kapitalistischen Fetischverhältnisse von Arbeit, Wert, Produktivität, Leistung usw. eine völlig neue Bedeutung erlangen, im Sinne eines immer auch mußevollen Tätigseins in der Welt, wodurch aber freilich Aktivität und Passivität im Grunde aufhören würden, absolute Gegensätze zu markieren, sondern gleichsam ineinander aufgingen. Unter solchen gesellschaftlichen Prämissen wäre also im Prinzip das Altern, wenn man so will, immer schon und von vornherein auch ein »aktives Altern« – ohne dass freilich eine derartige Kategorie dann noch irgendeine Bedeutung haben könnte. Auch wäre ein solches, »revoltierend anerkanntes« Alter(n) wohl ohne Zweifel ein »gesundes Altern« – ein Begriff, der heute, unter Wert-Abspaltungs-Prämissen, vor allem auf »Gesundheitsförderungsprogramme« verweist, die keinen anderen Zweck haben, als die für eine gesellschaftliche Mehrheit massiv gesundheitsschädlichen Auswirkungen der kapitalistischen Lebensform zu kompensieren (und diese dabei auch noch zu individualisieren), jenseits der kapitalistischen Form aber nur (außer bei individuell nicht vorhersehbaren genetischen Erkrankungen oder dergleichen) die selbstverständliche Konsequenz eines Lebens bedeuten kann, das nicht durch Lohnarbeit, Stress, Umweltverschmutzung, Straßenverkehr, Smog, Armut, Mangel- bzw. Fehlernährung, Suchtkrankheiten usw. belastet ist.[29] Möglicherweise kämen dann sogar Dinge überhaupt erst zu ihrem Recht oder zu ihrer sinnvollen Verwendung, die im Kapitalismus ausschließlich dem Anti-Ageing-Sektor zuzuordnen sind, wie z.B. lebensverlängernde medizinische Therapien oder dergleichen. Die Verhinderung oder Verringerung unnötigen Leidens und altersbedingter Erkrankungen steht durchaus nicht im Widerspruch zu einem revoltierenden Anerkennen des Alter(n)s – vielmehr kann darin sogar nur der einzige Sinn medizinischer Forschung in einer »menschlichen« Gesellschaft überhaupt bestehen –, aber eben nur in einer Gesellschaft ohne Dissoziation des Alters. Nur wo ein revoltierendes Anerkennen des Alter(n)s möglich ist, können Alterssymptome lindernde, das Altern verzögernde Handlungen und Interventionen nicht »anti-ageing« sein.[30]
Erst dann könnte überhaupt auch von einem »Altern in Würde«, das in der Gerontologie, insbesondere auch einer kritischen, so gerne gepredigt wird, und von einer »Dignität« des Alters ernsthaft die Rede sein. In einer Gesellschaft des »dissoziierten Alters«, in der das Alter nichts als ein Defizit und eine minderwertige Existenzform darstellt, kann es schlicht und unter keinen wie auch immer gearteten Umständen ein »würdevolles« Altern geben. Noch die Idee und der utopische Gedanke daran laufen unter Wert-Abspaltungsprämissen – jedenfalls sofern damit nicht auch eine Perspektive jenseits kapitalistischer Vergesellschaftung eröffnet wird – auf die ideologische Verklärung der unwürdigen sozialen Voraussetzungen des Alter(n)s im Kapitalismus hinaus. Das gilt heute umso mehr, da in der Gegenwart – während ein geschäftiger Ethik- und Pflegewissenschaftsbetrieb noch laut Gedanken über ein »würdevolles Altern« und »Würde bis ans Lebensende« wälzt – bereits mit Hochdruck daran gearbeitet wird, die Altenpflege in Zukunft durch Pflegeroboter erledigen zu lassen, was wohl ohne Zweifel einem neuen Gipfelpunkt in der gesellschaftlichen Entwürdigung des Alters gleichkäme. Gleichzeitig müsste aber das »würdevolle Altern« im Augenblick seiner gesellschaftlichen Realisierung als Begriff selbst obsolet werden, denn es würde unmittelbar in der allgemeinen Menschenwürde in einer selbst menschenwürdigen Gesellschaft aufgehen. Es wäre die Würde eines Menschen, dessen Leben nicht länger bestimmt wird von der »Diktatur« des Werts und der abstrakten Arbeit mit ihren Produktivitäts-, Aktivitäts- und Leistungsimperativen, und der daher endlich nicht mehr nur (wenn überhaupt) alt werden, sondern dabei auch alt sein darf – was auch immer das dann heißen mag. Eine Gesellschaft, in der das jemals möglich sein soll, kann aber eben unmöglich noch eine kapitalistische sein.
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Endnoten
[1] Das gleiche gilt im Prinzip auch im Verhältnis der Altersdiskriminierung zu anderen sozialen Ungleichheits- und Ausgrenzungsmechanismen wie Rassismus, Homophobie oder Antisemitismus. Als Alte ausgegrenzt werden können Weiße ebenso wie Menschen mit dunkler Hautfarbe, Heterosexuelle ebenso wie Homosexuelle etc.
[2] Der Begriff der »Dissoziation« ist freilich selbst auch nicht ganz unproblematisch und könnte sich im Laufe der weiteren Theoriearbeit durchaus noch als vorläufig herausstellen, falls noch ein besserer Begriff gefunden werden sollte: »Dissoziation« meint dem Wortsinne nach das Auseinanderfallen von etwas in etwas anderes, so z.B. in der Chemie den Zerfall eines Moleküls in seine Bestandteile oder in der Psychologie das Auseinanderfallen von normalerweise zusammenhängenden Funktionen, etwa der Wahrnehmung, der Identität oder dergleichen. Eine »Dissoziation des Alters« könnte in diesem Sinne also als das Zerfallen oder Auseinanderfallen des Alters selbst (miss)verstanden werden. Ich bezeichne damit allerdings, quasi genau umgekehrt, das Herausfallen oder Herausgelöstwerden des Alters aus der kapitalistischen Wertform auf allen gesellschaftlichen Ebenen – so etwa (und vor allem) materiell-strukturell aus der abstrakten Arbeit, aber letztendlich auch, auf einer sozialpsychologischen Ebene, aus dem eigenen Selbst. »Dissoziation des Alters« meint so gesehen also die gesellschaftliche wie individuelle Dissoziation vom Alter (und Altern) als einem wesentlichen Bestandteil des Lebens und der menschlichen Existenz. Ein möglicher alternativer Begriff, den ich ebenfalls eine Zeitlang in Betracht gezogen habe, wäre der einer »Altersverdrängung«. Dieser hat aber wiederum den Nachteil, dass er eher auf der letztgenannten sozialpsychologischen Ebene operiert, die aber nur eine von mehreren Dimensionen der modernen »Dissoziation des Alters« repräsentiert (dazu später mehr). Darüber hinaus ist dies auch ein Begriff, der sozusagen schon »verbraten« ist, da dieser bereits seit längerem in der Sozialgerontologie für solche sozialpsychologischen Phänomene der Verdrängung oder Verleugnung des Alter(n)s, etwa mit Blick auf aktuelle Anti-Ageing-Tendenzen und entsprechende Verjüngungspraktiken, verwendet wird, ohne damit allerdings diese »Altersverdrängung« theoretisch mit kapitalistischen Form- und Strukturprinzipien zu vermitteln und so ursächlich erklären zu können (siehe z.B. Bultena/Powers 1978; Andrews 1999; Gillick 2006; Degele 2008). Auch aus Gründen der Abgrenzung von solchen verkürzten sozialgerontologischen Ansätzen kommt also der Begriff der »Altersverdrängung« daher nicht in Frage, weshalb ich einstweilen bei dem Begriff der »Dissoziation des Alters« bleibe.
[3] »Lebensstandards« setze ich hier bewusst unter Anführungszeichen. Denn entgegen der Wahrnehmung des kapitalistischen Durchschnittsbewusstseins und der Bedeutung, die diesem Begriff für gewöhnlich beigegeben wird, war die Steigerung von Lebensstandards im und durch den Kapitalismus bekanntlich stets nur eine relative, und selbst noch als relative Verbesserung lässt sich diese nur dann und insoweit unmittelbar unter »positive Aspekte des Kapitalismus« verbuchen, als konsequent ausgeblendet wird, dass es historisch schon der Kapitalismus höchstselbst war, der in seiner Entstehungs- und Durchsetzungsphase ab dem 15./16. Jahrhundert den »Lebensstandard« der gesellschaftlichen Mehrheit, im Vergleich etwa zum Spätmittelalter, zunächst einmal nachweislich radikal und dauerhaft abgesenkt hat (vgl. Kurz 2009/1999). Der vielbeschworene höhere Lebensstandard im Kapitalismus ist im Prinzip (ganz abgesehen von seiner weitgehenden geographischen Beschränkung auf die kapitalistischen Zentren) beschränkt auf die kurze Zeit der ökonomischen Prosperität nach dem 2. Weltkrieg, die spätestens in den 1980er Jahren an ihr Ende gekommen ist, was seither erneut zu einem sukzessiven Sinken der »Lebensstandards« für immer größere Bevölkerungsteile auch in den kapitalistischen Metropolen führt. Die Erhöhung von »Lebensstandards« ist in kapitalistischen Gesellschaften also durchaus nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Das aber nur der Vollständigkeit halber nebenbei.
[4] Folgerichtig bilden das Leben im Ruhestand und die »demographische Alterung«, wie Stephen Katz (1996) in seiner Abhandlung über die historische Formierung der Gerontologie herausarbeitet, die beiden Hauptstränge des gerontologischen Altersdiskurses, um die herum sich die Gerontologie maßgeblich als wissenschaftliche Disziplin konstituiert. Dieser an sich aufschlussreiche Befund bleibt bei Katz freilich traditionell diskursanalytisch verkürzt, d.h. ohne hinreichende sozialhistorische Kontextualisierung der Entstehung dieses »gerontologischen Wissenskomplexes« in den kapitalistischen Verhältnissen und deren historischen Entwicklungsdynamik.
[5] Hier ist außerdem zu bedenken, dass es vor allem in Ländern wie Deutschland und Österreich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dauerte, bis der größere Teil der Bevölkerung überhaupt umfassend in Lohnarbeitszusammenhänge integriert war. Dementsprechend lange hatten hier noch lokale Subsistenzstrukturen Bestand und galt daher wahrscheinlich für viele Menschen im Alter noch mehr oder weniger, was Ehmer für die Verhältnisse in Agrargesellschaften beschrieben hat.
[6] Bis Alterspensionen über die bloße Existenzsicherung hinausgingen, sollte es sogar noch länger dauern – so etwa in Deutschland bis zur Rentenreform von 1957, mit der das deutsche Pensionssystem auf ein Umlageverfahren umgestellt wurde (vgl. Roth 1989).
[7] Eine Strukturähnlichkeit zur Arbeitslosigkeit (die auch heute, wie gesagt, noch bei älteren, aber noch nicht pensionsberechtigten Arbeitslosen zu erkennen ist) gibt es allenfalls beim oben geschilderten »vorsozialstaatlichen« Alter, bei dem das Herausfallen der Alten aus der Arbeit schlicht mit Arbeitslosigkeit einherging. Allerdings waren alte Arbeitslose in der »Reservearmee« damals wie heute bestenfalls zweite Wahl. Das heißt, hier ist ebenfalls die Dissoziation des Alters wirksam, auch wenn sie eine andere Form hat als unter den Prämissen des Altersruhestands.
[8] Die Logik der modernen Altenpflege lässt sich in diesem Lichte vielleicht auch so zusammenfassen: Aktivierung der (noch) Aktivierbaren, Ruhigstellung der nicht mehr Aktivierbaren, d.h. Bettlägerigen und Dementen. Diese Logik wird auch nicht dementiert durch engagierte Pflegerinnen und Pfleger, die es durchaus gibt und die sich im Einzelnen gegen alle Widrigkeiten des mehr und mehr auf das Niveau einer Fließbandabfertigung zusammenrationalisierten Pflegesystems ehrlich um einen warmherzigen und menschlichen Umgang mit den ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen bemühen. Oft dürfte aber selbst hier unter dem Strich nicht sehr viel mehr als die Konstruktion eines idealisierten Berufsethos herauskommen, das es erlaubt, den rauen Pflegealltag zu bewältigen, ohne restlos an ihm zu verzweifeln und als Pfleger/in völlig darin unterzugehen (vgl. Kersting 2011).
[9] http://www.thesundaytimes.co.uk/sto/news/uk_news/article95499.ece (letzter Zugriff: 1.9.2016)
[10] Sehr instruktiv in dem Zusammenhang ist das Buch Das ist doch kein Leben mehr! von Gerbert van Loenen (2014). Er schildert darin die Entwicklung in den Niederlanden, wo mittlerweile nicht nur der assistierte Suizid, sondern auch die Tötung auf Verlangen legalisiert wurde. Dabei gibt es u.a. auch zahlreiche Initiativen, die darauf drängen, die Gesetze auch auf alte Menschen auszuweiten und diese bei der Selbsttötung zu unterstützen, selbst dann, wenn diese nicht unheilbar krank sind oder unerträglich leiden, sondern bloß über 70 sind und »mit dem Leben abgeschlossen« haben. Van Loenen veranschaulich dabei gerade auch sehr eindrücklich, wie sich unter dem Deckmantel von Selbstbestimmung, Autonomie und einem »Sterben in Würde« ein zutiefst menschenverachtender Diskurs über Pflegebedürftige und Behinderte ausbreitet, deren Leben schon fast in aller Offenheit als »nicht lebenswert« abgewertet wird. Besonders eindrücklich ist z.B. ein Zitat des Vorsitzenden der Niederländischen Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende (NVVE), der für eine aktive Sterbehilfe für Demenzkranke plädiert, wobei es ihm zufolge aber selbstverständlich immer auch das Recht des Einzelnen bleiben müsse, »als Zombie in Kackwindeln dahinzusiechen« (zit. nach Loenen a.a.O.: 205). Im Namen der Selbstbestimmung und Würde wird also das Leben von Alten und Behinderten kurzerhand und unverhohlen als »lebensunwert« verworfen. Van Loenen bringt diese Tendenz folgendermaßen auf den Punkt: »Je mehr es unserem Idealbild entspricht, dass der Mensch sein Leben selbstbewusst in die Hand nimmt, desto höher ist das Risiko, dass dabei Menschen über Bord gehen, die dem nicht entsprechen können« (ebd.: 215).
[11] Die gegenwärtig mit Abstand am stärksten und schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe sind ja die sogenannten »Hochaltrigen«, d.h. die 80- und Mehrjährigen. Laut Schätzungen des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) soll sich der Anteil der Über-80-Jährigen bis 2050 von heute 5,4% auf 11,1% mehr als verdoppeln und bis 2080 weiter auf 12,7% ansteigen (Europe in figures – Eurostat Yearbook, http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Population_structure_and_ageing; letzter Zugriff: 11.9.2017).
[12] Die hier vorgebrachte Kritik an der modernen Naturbeherrschungsrationalität und damit verbundenen, oftmals geradezu absurden Langlebigkeits- und Unsterblichkeitsfantasien (wie sie heute im Übrigen in ihrer aktuellsten Form in den Ideen des Transhumanismus Gestalt annehmen, vgl. kritisch dazu Becker 2015) impliziert allerdings durchaus nicht im Umkehrschluss, dass Langlebigkeit und das Streben danach schon per se abzulehnen wären, und jenseits kapitalistischer Vergesellschaftung ein Altern in Gesundheit und das Erreichen eines möglichst hohen Alters, gegebenenfalls auch durch den Einsatz medizinischer Mittel, überhaupt kein legitimes menschliches Bedürfnis sein könnten. Eine solche Position entspräche in der Tat bloß einem schlechten Naturalismus, der keinesfalls besser zu bewerten wäre als der Irrsinn einer modernen Biomedizin, die mittels Klonen und Stammzelltechnologie sogar noch den Tod aus der Welt schaffen will. Denn dies könnte ja im Grunde nur darauf hinauslaufen, den Menschen auf der Grundlage einer kruden Vorstellung von einem »natürlichen Altern« trotz vorhandener medizinischer Möglichkeiten eine adäquate Behandlung von altersbedingten Krankheiten und dergleichen einfach schon von vornherein vorzuenthalten. Ich werde am Ende des Texts nochmals darauf zurückkommen – dies hier einstweilen nur sicherheitshalber als Anmerkung, um potentiellen Missverständnissen vorzubeugen.
[13] Bereits Jonathan Swift hat dergleichen im 18. Jahrhundert festgestellt: »Every man desires to live long; but no man would be old« (Swift 1886: 188). Ob es sich hier um eine Feststellung in kritischer Absicht handelt oder ob Swift selbst der modernen »Altersschizophrenie« erlegen ist, ist nicht überliefert.
[14] Im Kontext des Alter(n)s kommt dies vielleicht nirgends eindrucksvoller zum Ausdruck als in solchen Fällen, in denen alte Menschen, z.B. bei Demenz, ihrer Rechtssubjektivität verlustig gehen, die ja einen ganz zentralen Bestandteil der wertförmigen, kapitalistischen Subjektform und – wie schon an der Logik von Menschenrechten zu erkennen ist – des modern-kapitalistischen Menschseins überhaupt darstellt. Indem alte Menschen aufhören, rechtsfähige Personen zu sein, hören sie praktisch auch auf, Menschen im engeren, (menschen)rechtlichen Sinne zu sein. Daran knüpfen sich dann verschiedene Formen der rechtlichen Stellvertretung (z.B. Sachwalterschaft). Dies ist im Übrigen exakt dieselbe Logik, wie sie der weiter oben angesprochenen Abwertung von Alten und Pflegebedürftigen gerade im Namen von Selbstbestimmung und Autonomie in aktuellen Sterbehilfediskursen zugrunde liegt (siehe oben Fn. 10): Das moderne, kapitalistische Subjekt kann sich selbst nur als selbstbestimmtes und autonomes denken, wobei mit Selbstbestimmung freilich primär die Geschäfts- und Rechtsfähigkeit der sich selbst verwertenden Arbeitsmonade gemeint ist. Ist diese Geschäfts- und Rechtsfähigkeit nicht mehr gegeben, geht auch der Subjektstatus als solcher verloren, was aus Sicht der wertförmigen Subjektform ein untragbarer und geradezu unlebbarer Zustand ist. Das ist dann wirklich im wahrsten Sinne des Wortes »kein Leben mehr«.
[15] Ein anderer Fehler, abgesehen von der bloßen Affirmierung des modernen »alterslosen Selbst« wie bei Kaufman und Featherstone/Hepworth, besteht darin, das Spannungsverhältnis zwischen alterndem Körper und alterslosem Selbst einfach, quasi transhistorisch, aus einer langen Kultur- und Zivilisationsgeschichte abzuleiten. Peter Öberg (1996) etwa sieht in seinem Text The absent body die Ursachen für die Dissoziation bzw. Ablösung des alten Körpers von einem als alterslos gedachten Selbst primär in einem ontologischen Dualismus von Körper und Geist begründet, der charakteristisch für das abendländische Denken sei und bis in die Antike zurückverfolgt werden könne. Das bedeutet aber freilich, die spezifische Konstitution der modernen, kapitalistischen Subjektform schon von Grund auf zu verfehlen. Denn auch wenn der Dualismus zwischen Körper und Geist bzw. Selbst eine lange Tradition und kulturelle Geschichte hat, die zweifellos auch für die moderne Subjektivität von Bedeutung ist, so hat dieser Dualismus unter kapitalistischen Prämissen dennoch eine andere Qualität als in vormodernen Gesellschaften, und diese andere Qualität gilt es theoretisch in Rechnung zu stellen. Bei Öberg führt der transhistorische Charakter der Analyse schließlich dazu, dass er zwar eine gewisse Zuspitzung dieses Dualismus mit der aufkommenden Moderne andeutet, gerade diese aber eigentlich nicht zu erklären vermag. Es ist aber eben diese eigene, quasi auf die Spitze getriebene Qualität des abendländischen Dualismus von Körper und Geist, die das moderne »alterslose« Selbst wesentlich ausmacht, und die aus der spezifischen Form kapitalistischer Vergesellschaftung hervorgeht und aus ebendieser auch erklärt werden muss.
[16] Dieser geschlechtsspezifische Zusammenhang wird bereits bei Simone de Beauvoir in ihrer Abhandlung über das Alter im Prinzip recht treffend auf den Punkt gebracht: »Das Männliche ist nicht eine Beute des Alters; von ihm verlangt man nicht Frische, Sanftheit, Anmut, sondern Stärke und die Intelligenz des Eroberers; weiße Haare und Falten stehen nicht im Widerspruch zu diesem männlichen Ideal« (Beauvoir 1987/1970: 252). Susan Sontag hat dies später auf den Begriff eines »double standard of ageing« gebracht (vgl. Sontag 1975). Demnach seien Frauen infolge ihrer identitären Fixierung auf vergängliche Werte wie Schönheit und sexuelle Attraktivität – im Gegensatz zu Männern, deren sozialer Status auf beständigen Werten wie Macht und Wohlstand basiert – sozusagen einer doppelten, nämlich sowohl sexistischen als auch altersbezogenen Marginalisierung und Diskriminierung ausgesetzt.
[17] Als Extremform der »Abschiebung« hat es die Gerontologie mittlerweile offenbar auch zunehmend mit dem Phänomen zu tun, dass alte, pflegebedürftige Menschen mitunter einfach irgendwo ausgesetzt werden. Erstmals in den Fokus gerückt ist diese als »granny dumping« in den gerontologischen Diskurs eingegangene Praxis in den USA, am Fall eines 82-jährigen Alzheimer-Patienten, »der von seiner Tochter an einem Samstagnachmittag in Post Falls, Idaho, 320 Meilen entfernt vom Zuhause, mit einer Tüte Windeln in seinem Rollstuhl an einer Hunderennstrecke ausgesetzt wurde. In diesem Bundesstaat seinerzeit nicht ungesetzlich – im Gegensatz zum Aussetzen von Kindern oder Hunden« (Künemund 2008: 222). Ein nicht gerade geringer Teil der Gerontologen neigt freilich dazu, das Problem einfach herunterzuspielen – so wie der hier zitierte Harald Künemund, der nichts Besseres zu tun hat, als das Phänomen des »granny dumping« in bewährter positivistisch-empiristischer Tradition, die in der Gerontologie im Übrigen gedeiht wie kaum woanders, mangels hinreichender »empirischer Evidenz« unter die Kategorie bedauerlicher, aber im Großen und Ganzen unbedeutender Einzelfälle zu subsumieren; als sei das Problem damit bereits erledigt und die sich darin in Wahrheit nur in extremer Form ausdrückende gesellschaftliche Logik schon dementiert.
[18] Deutlich wird hier einmal mehr die hochgradige Schizophrenie, die die kapitalistische Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber dem Alter(n) auszeichnet. Einerseits sollen die Alten nicht mehr arbeiten und ihr Alter möglichst auch, im Sinne einer »späten Freiheit« und eines »Lebensfeierabends«, genießen. Andererseits konstituiert der Kapitalismus eine Gesellschaftsform, die sich in erster Linie durch Arbeit und Leistung definiert, sodass auch eine stärkere gesellschaftliche Einbindung und »Partizipation« der Alten, wie sie insbesondere von Gerontologinnen und Gerontologen propagiert wird, nur auf der Grundlage von Arbeit und Leistung gedacht werden kann. Daran zeigt sich letztlich die totale Unfähigkeit der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft zum Müßiggang, d.h. die eigene Zeit selbstbestimmt zu verbringen (vgl. Ribolits 1997).
[19] In der noch relativ jungen Geschichte der Gerontologie gab es durchaus auch Ansätze, die konträr argumentierten, am prominentesten den sogenannten Disengagement-Ansatz aus den 1960er Jahren (vgl. Cumming/Henry 1961). Dieser betonte ganz im Gegenteil eine Verringerung der Aktivität und einen sozialen Rückzug als adäquateste Form der Anpassung an das Leben im Ruhestand. Folgerichtig verwiesen Phänomene wie der »Pensionsschock« aus dieser Perspektive gerade nicht auf die Notwendigkeit eines weiterhin aktiven Lebens im Alter, um die durch die Pensionierung entstandene Lücke zu füllen, sondern vielmehr auf eine mangelnde Vorbereitung auf den Ruhestand und das damit verbundene sozial entpflichtete Leben. In der Konkurrenz mit dem nahezu zeitgleich entstandenen und heute dominanten Aktivitätsparadigma hatte der Disengagement-Ansatz allerdings das Nachsehen und wurde sogar – wie dergleichen ja nicht unüblich ist in den ideologischen Grabenkämpfen des wissenschaftlichen Betriebs – unter den Generalverdacht der Altersdiskriminierung gestellt (dazu ausführlicher Katz 1996: 119ff.). Die wenigen sich noch lose auf Disengagement-Perspektiven beziehenden Gerontologinnen und Gerontologen (so es solche überhaupt noch gibt) argumentieren dementsprechend kleinlaut und defensiv. Der Disengagement-Ansatz stellt dabei aber freilich in seiner affirmativen Haltung gegenüber dem Ruhestand durchaus nicht das absolute Gegenteil des Aktivitäts-Paradigmas dar, sondern lediglich die andere Seite derselben Medaille. Beide stehen immanent und affirmativ im bzw. zum kategorialen kapitalistischen Rahmen, der eben nur die Alternative zwischen Altersruhestand und Altersaktivität zulässt. Dementsprechend birgt der Disengagement-Ansatz auch kaum emanzipatorische Gehalte, die gegenüber dem Aktivitätsfetisch der gegenwärtigen Gerontologie im Besonderen und aktuellen Tendenzen einer neoliberalen Altersaktivierung im Allgemeinen mobilisiert werden könnten (zur Altersaktivierung in Bälde mehr).
[20] In der Tat ein Klassiker unter den zahlreichen Altersstereotypen, der sich sogar bis tief in die Gerontologie hinein reproduziert. So ziert z.B. das Cover einer der bekanntesten deutschen Altersstudien, die »Berliner Altersstudie«, immerhin erst 2010 neu aufgelegt, ein Foto von vier, dem Anschein nach dort eher versauernden als sitzenden, jedenfalls aber recht verloren wirkenden alten Damen und Herren auf einer Parkbank (vgl. Lindenberger et al. 2010).
[21] Dass es sich hier freilich nur dem Schein nach um eine substantielle Veränderung des negativen gesellschaftlichen Status des Alters handelt, lässt sich im Grunde bereits daran erkennen, dass parallel zu bzw. verwoben mit diesem neuen, positiven Altersdiskurs so laut wie nie und mit einer bisher unbekannten Penetranz der negative Diskurs von den »Kosten des Alters« verläuft. Auch verschwindet keineswegs das negative, defizitorientierte Bild vom Alter, sondern nimmt, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, lediglich eine etwas andere Gestalt an und folgt insbesondere einem veränderten Modus der Zuschreibung. In Wahrheit erreicht hier also nur die alte Schizophrenie von positivem Langlebigkeits- und negativem Altersdiskurs ein neues Niveau.
[22] http://ec.europa.eu/archives/ey2012 (letzter Zugriff: 21.8.2016)
[23] So wird etwa der aus dem Dunstkreis der eingangs erwähnten neomarxistischen »Political Economy of Ageing« stammende und mittlerweile zu einem der wissenschaftlichen Chefideologen des »Active Ageing« avancierte »Altersexperte« Alan Walker nicht müde, ein »aktives Altern« immer wieder als das Mittel gegen Altersdiskriminierung schlechthin zu propagieren, indem er behauptet: »Age discrimination is the antithesis of active ageing« (Walker 2002: 128).
[24] Dieses »win-win-Versprechen« stellt auch die wesentliche ideologische Legitimationsgrundlage des »Active Ageing« dar. Auf den ideologischen Charakter des win-win-Diskurses kann in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden (siehe dazu ausführlicher Stückler 2016). Mit Blick auf den postmodernen Formwandel der kapitalistischen Dissoziation des Alters stehen im Folgenden vor allem der politisch-ökonomische Kontext des »Active Ageing« und der damit verbundene Wandel des gesellschaftlichen Altersbildes als solchem im Fokus.
[25] Die Unterscheidung zwischen kalendarischem und biologischem Alter ist ebenfalls ein unmittelbares Produkt des gerontologischen Diskurses von den »jungen Alten« und gehört seither zum Kernbestand gerontologischer und alterssoziologischer Einführungen. Diese besagt, dass es für die Bestimmung des Alters einer Person weniger auf das kalendarische Alter ankommt, das sich aus der Anzahl der Lebensjahre ergibt, sondern vielmehr auf das biologische Alter, d.h. auf den körperlichen und kognitiven Allgemeinzustand. Demnach ist beispielsweise ein 80-jähriger Marathonläufer zwar kalendarisch älter, biologisch aber streng genommen jünger als z.B. ein 70-jähriger Pflegebedürftiger. Auch hier steht also die Botschaft im Zentrum, dass Alter (nämlich im kalendarischen Sinne) nicht gleich Alter (im biologischen Sinne) ist.
[26] Siehe ausführlicher dazu Stückler (2017). Ähnliche, an der gesellschaftlichen (Krisen-)Realität völlig vorbeigehende »Lösungsansätze« zur Bewältigung des demographischen Wandels finden sich im Übrigen nicht nur bei Hardcore-Active-Ageing-Ideologen, sondern durchaus auch (und gerade) bei sich als kritisch verstehenden Altersforscherinnen und Altersforschern. Da ja den meisten kritischen Gerontologinnen und Gerontologen, in Ermangelung eines radikal kapitalismuskritischen Zugangs, für die Kritik an Altersdiskriminierung und negativen Altersdiskursen strategisch zunächst einmal nicht sehr viel mehr als eine »Entdramatisierung« des demographischen Wandels zur Verfügung steht (dessen Krisenpotentiale offenbar bloß als eine Art altersfeindliche Ideologie politischer und volkswirtschaftlicher Eliten aufgefasst werden), kann es schon mal vorkommen, dass man/frau sich dazu versteigt, die Lösung des Problems z.B. in einer ständig steigenden ökonomischen Produktivität zu suchen. Das Hauptargument (oder vielmehr die Milchmädchenrechnung) dabei ist, dass eine immer größere nichtaktive (alte) Bevölkerung von einer immer kleineren aktiven (jungen) in dem Maße mitversorgt werden könne, in dem eben die Produktivität steige – quasi nach dem Motto: »Demographischer Wandel? – alles halb so schlimm« (so z.B. Köster 2012). Ausgerechnet der an ihrer eigenen Produktivität mittlerweile erstickenden kapitalistischen Gesellschaft wird also noch mehr Produktivität verordnet, das Grundproblem der kapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsform und die eigentliche Ursache für deren epochale Krise mir nichts dir nichts zur Lösung derselben erklärt. Dies nur als ein weiteres Beispiel für die affirmativen und im Grunde realitätsfremden »Blüten« einer kategorial unkritischen Gesellschaftskritik.
[27] Dass unter solchen politisch-ökonomischen Prämissen Ansprüche einer Erhöhung von »Partizipation«, »Inklusion« und vor allem »Lebensqualität«, wie sie das »Active Ageing« politisch erhebt, gar keine andere als eine ideologische Funktion erfüllen können, liegt hier unmittelbar auf der Hand. Für die Mehrheit der Menschen ist im Zuge der fortschreitenden neoliberalen Prekarisierung und mit einer abzusehenden weiteren Verschärfung der kapitalistischen Krise mitnichten von einer Verbesserung der »Lebensqualität« im Alter (eigentlich ja schon an sich eine besonders widerliche Vokabel aus dem Fundus der mittlerweile die politische Kommunikation völlig bestimmenden Orwellschen Sprache), sondern vielmehr und ganz im Gegenteil von einer signifikanten Verschlechterung derselben auszugehen – sofern diese dann überhaupt noch ein höheres Alter erreichen. Wie selbst »bürgerliche«, also alles andere als der Gesellschaftskritik verdächtige Studien ganz eindeutig nachweisen, besteht eine eklatante soziale Ungleichheit in der Lebenserwartung, die besonders seit der neoliberalen Wende nochmals ganz massiv zugenommen hat (vgl. Olshansky et al. 2012). (Wir sprechen hier wohlgemerkt von den noch vergleichsweise privilegierten Wohlstandszonen des kapitalistischen Zentrums und nicht von den Zuständen in den Elendsregionen der Peripherie. Obwohl man sich auch da mittlerweile nicht mehr so sicher sein kann: So soll einem Bericht der UN zufolge die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Schwarzen im New Yorker Stadtviertel Harlem nach den einschneidenden Sozialreformen unter Bill Clinton in den 1990er Jahren bei etwa 46 Jahren gelegen haben, was faktisch eine niedrigere Lebenserwartung bedeutet, als sie zu der Zeit in Ländern wie Kambodscha oder dem Sudan vorherrschend war, vgl. Zinn 2007: 651).
[28] Das Problem lässt sich daher auch und erst recht nicht auf die Binarität von Kategorien wie »jung« versus »alt« reduzieren, auf deren Dekonstruktion manche postmoderne Ansätze in der Altersforschung drängen, um so der gesellschaftlichen Abwertung des Alters entgegenzuarbeiten (vgl. Maierhofer 2015). Das hierarchische Verhältnis zwischen »jung« und »alt« in der modernen Gesellschaft liegt eben durchaus nicht einfach in deren Binarität begründet. Diese könnte sich ja theoretisch auch auf nichts weiter beziehen als auf die bloße Bezeichnung des Sachverhalts, dass manche Menschen schon länger auf der Welt sind als andere (und umgekehrt), ohne dass damit irgendeine Wertung, geschweige denn eine Hierarchie verbunden sein müsste. Das Hierarchische bzw. konkret die Minderbewertung des Alters gegenüber der Jugend entspringt allein der »Wertehierarchie« warenproduzierender Gesellschaften, in der das Alter einen Aggregatzustand menschlicher Existenz darstellt, der mit einer Arbeits- und Konkurrenzsubjektivität, wie sie der modernen, kapitalistischen Subjektform konstitutiv zugrunde liegt, schlicht und ergreifend unvereinbar ist. Wer diesen grundlegenden kapitalistischen Zusammenhang nicht zur Kenntnis nimmt, kann noch so lange an Kategorien wie »Jugend« und »Alter« herumdekonstruieren – es wird sich dadurch nichts Wesentliches verändern, da das eigentliche Problem dabei gar nicht berührt wird. Das einzige Resultat, das diese vermeintlich kritische Dekonstruktionspraxis haben kann (vergleichbar den Theorien und Praktiken der Queer-Bewegung mit Blick auf Geschlecht und Sexualität, die vermutlich auch nicht zufällig in jüngster Zeit vermehrt auch im Kontext des Alter(n)s zur Anwendung kommen, vgl. Dyk 2014), ist die sukzessive Verflüssigung von Altersnormen und Altersidentitäten, die aber ohnehin (und ausgerechnet) dem gegenwärtigen Trend zur »Alterslosigkeit« und zum »jungen Alter« entspricht und damit eigentlich immer schon eine offene Flanke zu aktuellen Anti-Ageing-Tendenzen hat.
[29] In diesem Sinne hätte sich dann überhaupt erst noch zu erweisen, wie viel von den heute überwiegend mit dem Altern assoziierten Erkrankungen tatsächlich im biologischen Alternsprozess selbst und wie viel davon eigentlich in solchen unmittelbaren Begleiterscheinungen der Wertvergesellschaftung als solcher begründet liegt, so z.B. Demenz: Wie viel davon ist dem »natürlichen«, biologischen Alterungsprozess geschuldet und wie viel davon etwa auf die Zumutungen geisttötender Arbeit und auf jahrzehntelange, systematische kulturindustrielle Verdummung zurückzuführen? So bekämen schließlich auch gerontologische Studien nochmals eine etwas andere Bedeutung, die immer wieder auf ein deutlich erhöhtes Demenzrisiko für sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsschichten hinweisen.
[30] Anders mag es daher um neue Verfahren und Methoden der Biomedizin und Biotechnologie stehen, wie z.B. die Gentechnologie. Diese erscheinen mir mit ihrer geradezu wahnhaften Besessenheit von der Machbarkeit und der biotechnologischen Vervollkommnung des Menschen viel zu sehr als Produkt einer im postmodernen »Turbokapitalismus« radikal auf die Spitze getriebenen Naturbeherrschungsrationalität, als dass vorstellbar wäre, diese könnten in einer postkapitalistischen Gesellschaft noch eine sinnvolle Verwendung finden. Möglich, dass dieses Verdikt in dieser Form zu pauschal ist und nicht für alle diese Technologien schlechthin gilt – dies hätte sich in Zukunft herauszustellen. Mir ist allerdings bisher keine Anwendung z.B. der Gentechnologie bekannt, die aufgrund ihrer unabschätzbaren Folgen für Mensch und Umwelt nicht hochriskant und daher problematisch wäre – ob das nun die Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen ist mit ihren verheerenden Auswirkungen auf die Biodiversität oder biomedizinische Methoden zur gezielten Ausschaltung von DNA-Sequenzen, mit denen beispielsweise das Wachstum von Tumoren gestoppt werden können soll, deren Risiken aber noch weitestgehend unbekannt sind und möglicherweise nie völlig überschaubar sein werden. In solchen Fällen bleibt einfach nur zu hoffen, dass – mit Claus Peter Ortlieb gesprochen – »›unnützes Wissen‹ innerhalb weniger Generationen einfach verlorengeht« (Ortlieb 1998, Fußnote 23) und Technologien wie die Gentechnik, so wie auch zahlreiche andere Phänomene und Technologien, die aus der »irrationalen Rationalität« der kapitalistischen »Zivilisation« geboren sind (Nukleartechnologie, automobiler Individualverkehr, Waffentechnologien etc.), zumindest auf lange Sicht wieder im Orkus der Geschichte verschwinden werden.