Andreas Urban
Es muss wieder gestraft werden
Zur Rückkehr des repressiven Strafrechts in der Krise der Arbeitsgesellschaft
Zuerst veröffentlicht im Juni 2018 auf exit-online.org
Dass die finale Krise des Kapitalismus – nachdem sich ihre Auswirkungen zunächst primär auf periphere Regionen des Weltmarkts beschränkten und sich dort in zunehmenden Zusammenbruchstendenzen artikulieren (vgl. Kurz 2003; Bedszent 2014) – mittlerweile auch die kapitalistischen Zentren selbst erreicht hat, ist heute so offenkundig und einsichtig, dass sich derartige Entwicklungen eigentlich nur noch durch offene Ignoranz oder durch politisch, wissenschaftlich und medial inszenierte, rituelle Formen des „Weg-“ bzw. „Gesundbetens“ aus dem eigenen Wahrnehmungsbereich fernhalten lassen. Spätestens an der Tatsache, dass das kapitalistische System inzwischen nur noch durch ständige Liquiditätsspritzen der Notenbanken am Leben erhalten wird (Konicz 2016), und an den rasch voranschreitenden neofaschistischen Tendenzen in den westlichen Kernländern von „Demokratie und Marktwirtschaft“ sollte selbst dem borniertesten Vertreter wertförmiger Subjektivität allmählich schwanen, dass mit dem Kapitalismus etwas ganz grundsätzlich im Argen liegt – vorausgesetzt natürlich, er oder sie zieht es nicht vor, diese Ahnung krisenideologisch gerade durch ein Einschwenken auf besagtes neofaschistisches Gedankengut zu verarbeiten, um die Krise so lange wie möglich auf die sozial Schwächsten abzuwälzen, insbesondere Flüchtlinge.
Ein weiteres Indiz für das Vordringen der Krisendynamik in die kapitalistischen Zentren, auf das der vorliegende Text im Folgenden den Fokus legen wird, besteht in deutlich wahrnehmbaren repressiven Tendenzen im Strafrecht bzw. – genauer gesagt – in der staatlichen Strafvollzugspraxis. Diese Tendenzen stellen sich insbesondere als eine sowohl im Strafrecht selbst als auch in der Gesellschaft insgesamt zu beobachtende neue „Straflust“ (Cremer-Schäfer/Steinert 1998; Hassemer 2000; Rode et al. 2005) dar, die vor allem in der stetigen Erweiterung und Verschärfung von Strafrechtsnormen, einem Trend zu steigenden Verurteilungs- und Haftzahlen sowie einer tendenziellen Abkehr vom Prinzip der Resozialisierung und Wiedereingliederung von Straffälligen Gestalt annimmt. Ein Zusammenhang zwischen aktuellen Krisentendenzen der kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ und der Hinwendung zu (wieder) repressiveren Formen des Strafvollzugs liegt schon deshalb nahe, da die uns bekannte, die Resozialisierung von Straffälligen als eigenen und sogar primären Vollzugszweck definierende (und im gesellschaftlichen Bewusstsein daher auch häufig einseitig mit einer „Humanisierung“ des Strafvollzugs verwechselte) Strafpraxis ein unmittelbares Produkt der fordistischen Epoche darstellt (ich komme darauf im Laufe des Textes noch etwas ausführlicher zu sprechen). Und gerade mit der nachhaltigen Erosion all dessen, was die fordistische Phase kennzeichnete (insbesondere „Vollbeschäftigung“ und die Möglichkeit, sich durch Arbeit hinreichend materiell zu reproduzieren), haben wir es heute in der Krise zu tun.
Mit der tendenziellen Verschärfung der Strafvollzugspraxis fällt auch die Herausbildung eines in den vergangenen Jahren äußerst einflussreich gewordenen kriminalpolitischen Sicherheitsdiskurses zusammen, durch den sukzessive die „innere Sicherheit“ zum Schlüssel- und Leitbegriff kriminalpolitischen Handelns aufgestiegen ist (vgl. Hansen 1999; Kunz 2005; Haffke 2005; Singelnstein/Stolle 2006; Albrecht 2010; Groenemeyer 2010). Dabei wird der Staat als permanent durch (organisierte) Kriminalität, Terrorismus und andere soziale Konflikte bedroht wahrgenommen. Diese diskursiv konstruierten Bedrohungsszenarien bilden schließlich wiederum die Legitimationsgrundlage für die Verschärfung bestehender wie auch die Schaffung neuer Strafrechtsnormen sowie Maßnahmen staatlicher Sozialkontrolle und Überwachung.
In der akademischen Kriminologie und Kriminalsoziologie sind derartige Tendenzen in den letzten Jahren vor allem unter Begriffen wie „Punitivität“ (z.B. Krasmann 2003; Rzepka 2004; Pratt et al. 2005; Schlepper 2014a) oder „Renaissance des repressiven Strafrechts“ (Schlepper 2014b; in diesem Sinne auch Sack 2004, 2005) ins Blickfeld gerückt und diskutiert worden. Zurück geht der Begriff der „Punitivität“ hauptsächlich auf eine Studie von David Garland (2001), der mit Blick auf strafrechtliche Entwicklungen in den USA (die ja traditionell schon ein unter entwickelten kapitalistischen Ländern vergleichsweise repressives Strafrechtssystem haben) in den 1990er Jahren von einem „punitive turn“, also einer „punitiven Wende“ sprach. Was an dieser (durchaus mit einem kritischen Anspruch geführten) akademischen Diskussion auffällt, ist, dass die problematisierten punitiven Tendenzen in der Regel recht oberflächlich auf neoliberale Restrukturierungen und damit zusammenhängende Ökonomisierungsprozesse zurückgeführt werden – was freilich nicht völlig falsch ist, jedoch die dem Neoliberalismus selbst konstitutiv zugrunde liegenden, allgemeineren kapitalistischen Krisentendenzen außer Acht lässt. Damit wird nicht nur die eigentliche gesellschaftliche Ursache der „Punitivität“ – eben die Krise der kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ als solche – bereits systematisch verfehlt, sondern man/frau begibt sich damit auch ins Fahrwasser einer potentiell verschwörungsideologischen Perspektive, wie sie u.a. für manche neomarxistische Strömungen innerhalb der Kriminologie in den 1970er Jahren charakteristisch war, die das Strafrecht als bloßes Herrschafts- und Machtinstrument der Kapitalistenklasse zur Unterdrückung und Kontrolle niedriger sozialer Klassen theoretisierten (vgl. besonders krass Hepburn 1977). Ähnlich verkürzte Argumentationsmuster ergeben sich – und sei es nur implizit – durch die gängige Gleichsetzung von Neoliberalismus und Ökonomisierung mit Ideologien immer profitgieriger werdender Konzerne und Finanzmanager sowie willfähriger Politiker, die nun quasi auch das Strafrecht für ihre sozial schädlichen Zwecke umfunktionieren würden. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist es für ein umfassendes, kritisches Verständnis dieser jüngeren kriminalpolitischen Entwicklungen unbedingt erforderlich, diese im Kontext einer voranschreitenden „Krise der Arbeitsgesellschaft“ und daraus resultierender sozialer Verwerfungen zu sehen, die mithilfe des Strafrechts zunehmend repressiv verwaltet werden.
Zurückgegriffen wird dabei im Folgenden u.a. auf eine klassische Studie von Georg Rusche und Otto Kirchheimer über „Sozialstruktur und Strafvollzug“ (Rusche/Kirchheimer 1974, erstmals veröffentlicht 1939 in den USA unter dem Titel Punishment and Social Structure).[1] Deren Kernthese besagt im Wesentlichen, dass die Entwicklung des modernen Strafvollzugs maßgeblich beeinflusst war von der spezifischen ökonomischen Struktur der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaft, und dabei insbesondere vom Bedarf kapitalistischer Ökonomien nach Arbeitskräften. Diese Studie gehört bis heute zu den „Schlüsselwerken“ (vgl. Schlepper/Wehrheim 2017a) einer sogenannten bzw. sich selbst so apostrophierenden „Kritischen Kriminologie“ und wurde dort speziell zur Zeit des erstmaligen Erscheinens in deutscher Sprache in den 1970er Jahren viel diskutiert und dabei auch (teilweise sehr zu Recht) kritisiert, etwa was eine Neigung der Autoren zu ökonomistisch verkürzten Argumentationen betrifft (zur kriminologie-immanenten Auseinandersetzung mit Rusche/Kirchheimer vgl. exemplarisch Jancovic 1977; Steinert/Treiber 1978; Melossi 1978; für einen Überblick über die kritische Diskussion vgl. Schumann 1981).
Ich werde in der folgenden Darstellung und Diskussion von Rusche/Kirchheimer immer wieder verschiedene dieser Kritikpunkte, insbesondere besagte Ökonomismusvorwürfe, aufgreifen und kritisch reflektieren, da meines Erachtens die gängige (akademische) kritisch-kriminologische Behandlung ihrer Arbeit es bereits systematisch verunmöglicht, die brennende und kaum zu übersehende Aktualität ihres bereits vor 80 Jahren – wenngleich damals unter umgekehrten Vorzeichen – gestellten Befunds eines konstitutiven Zusammenhangs von Arbeitskräftebedarf und Strafvollzug hinreichend in seinen gesamtgesellschaftlichen Implikationen zur Kenntnis zu nehmen und analytisch zu berücksichtigen. Diese Aktualität besteht ganz offensichtlich darin, dass heute mit dem Reifwerden des „prozessierenden Widerspruchs“ (Marx), d.h. mit dem sukzessiven Obsoletwerden von Arbeit infolge des immer höheren kapitalistischen Produktivitätsniveaus durch Automatisierung der Produktion, die daraus erwachsenden Konsequenzen von Massenarbeitslosigkeit und in weiterer Folge zunehmender Verelendung weiter Bevölkerungsteile gesellschaftlich bearbeitet und verwaltet werden müssen – und ein zentrales politisches Instrument hierfür war stets und ist bis heute das Strafrecht. Eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit Rusche/Kirchheimer und die kritische Befragung ihrer Thesen hinsichtlich ihrer Aktualität würde vermutlich gerade auch vor verkürzten neoliberalismuskritischen Positionen schützen, wie sie heute in kritisch-kriminologischen Diskussionen über die grassierende strafrechtliche „Punitivität“ vorherrschend sind, da die kritische Analyse damit auf eine allgemeinere, gesamtgesellschaftliche Ebene gehoben würde, auf der auch Neoliberalismus und Ökonomisierung als das wahrgenommen und theoretisiert werden könnten, was sie sind: nämlich Symptome (und nicht etwa Ursachen) einer fundamentalen Krise der kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ insgesamt.[2]
Auch wenn also durchaus gewisse theoretische Mängel in der Theorie von Rusche und Kirchheimer berücksichtigt und kritisch reflektiert werden müssen, so erweist sich doch ihre These vom Zusammenhang von kapitalistischem Arbeitskräftebedarf und Strafrecht bzw. Strafvollzug gerade in der gegenwärtigen „Krise der Arbeitsgesellschaft“ meines Erachtens als hochaktuell und als theoretischer Ansatz von hohem Erkenntniswert. Worin genau diese Aktualität besteht und wie sie sich gesellschaftlich konkret darstellt, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Dazu ist es erforderlich, Rusche und Kirchheimer zum einen – wo geboten und notwendig – gegen ihre kritisch-kriminologischen Kritiker zu verteidigen, zum anderen aber auch, mit (und manchmal auch gegen) Rusche und Kirchheimer über Rusche und Kirchheimer hinaus zu denken.
Ich werde zu diesem Zweck, nach einer kurzen zusammenfassenden Wiedergabe der zentralen These von Rusche/Kirchheimer, die kritische Diskussion ihrer theoretischen Befunde wie auch ihrer kriminologischen Kritik für eine (wenngleich freilich nur recht grobe und kursorische) Rekonstruktion der Konstitutions- und Entwicklungsgeschichte des modernen Strafvollzugs im Kontext der historischen Durchsetzung der kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ vom Frühkapitalismus bis in die fordistische Phase (d.h. bis in die 1960er und 1970er Jahre) nutzen, um sodann im Anschluss die aktuelle Rückkehr des repressiven Strafrechts gerade nicht als Bruch eines (angeblichen) „Humanisierungsprozesses“ des modernen Strafrechts zu theoretisieren, sondern, ganz im Gegenteil, im Sinne einer durchaus gegebenen historischen Kontinuität der kapitalistischen Entwicklung, die heute mit der „Krise der Arbeit“ an ihr Ende kommt, und in der systemimmanent offenbar nur noch die Option besteht, die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen immer repressiver mithilfe des Strafrechts zu verwalten.
Zum Zusammenhang von Arbeitskräftebedarf und Strafvollzug
Grob zusammengefasst besagt die Studie von Rusche und Kirchheimer in etwa Folgendes: Gesetzgebung wie auch Praxis des Strafvollzugs sind wesentlich vom Bedarf nach Arbeitskräften bestimmt und hängen insofern primär von ökonomischen Faktoren bzw. von der konkreten ökonomischen Struktur einer Gesellschaft ab. Dies ist ihre zentrale These, die sie in ihrem Buch Sozialstruktur und Strafvollzug anhand von historischem Material zu plausibilisieren versuchen. Sie beschreiben dabei zunächst die Strafpraxis im ausgehenden Mittelalter, die von grausamen Körper- und Todesstrafen insbesondere gegen Arme und Arbeitslose geprägt gewesen sei und praktisch auf deren systematische Vernichtung abgezielt habe (Rusche/Kirchheimer 1974: 23-35). Dies änderte sich im Merkantilismus in der Frühphase der kapitalistischen Gesellschaft mit der Einführung der Freiheitsstrafe und der Entstehung des Zuchthauses, durch die Körperstrafen stark zurückgedrängt wurden. Dieser Wandel in der Strafvollzugspraxis folgte dabei aber durchaus nicht der Intention eines humaneren Umgangs mit „Kriminellen“, sondern war laut Rusche und Kirchheimer maßgeblich bestimmt vom Bedarf nach (billigen) Arbeitskräften vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden kapitalistischen Produktionsweise: „Die Gründung der Zuchthäuser in einer solchen Gesellschaft“, so betonen sie ausdrücklich, „erfolgte nicht aus Gründen der Nächstenliebe noch aus einem Gefühl öffentlicher Verpflichtung gegenüber den Notleidenden. Sie war Bestandteil der Entwicklung des Kapitalismus“ (ebd.: 73). Anders als im Spätmittelalter, in dem ein eklatanter Arbeitskräfteüberschuss bestand und der Wert eines Menschenlebens entsprechend gering war (ebd.: 31), herrschte nun ein außerordentlicher Bedarf nach Arbeitskräften, was sich in einer stark veränderten Strafpraxis niederschlug.
Infolge der Industrialisierung und mit der Durchsetzung des Fabriksystems im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es erneut zu einem umfassenden Wandel des Strafvollzugssystems, der laut Rusche und Kirchheimer in erster Linie darauf zurückzuführen sei, dass sich die Arbeitskraft von in Zuchthäusern internierten Sträflingen nun nicht mehr hinreichend profitabel vernutzen ließ: „Die Fabrik trat an die Stelle des Zuchthauses, das große Investitionen für Verwaltung und Disziplinierung erfordert hatte. Die freie Arbeit konnte viel mehr produzieren und belastete das Investitionskapital weniger, als es die Zuchthäuser getan hatten. Mit anderen Worten, die Zuchthäuser gerieten in Verfall, weil andere und bessere Profitquellen gefunden wurden, und weil mit dem Verschwinden des Zuchthauses als Möglichkeit der profitablen Ausbeutung von Arbeitskräften auch die mögliche bessernde Wirkung einer regelmäßigen Arbeit verschwand“ (ebd.: 132f.). Da im Zuge der Industrialisierung der strukturelle (u.a. durch Zuchthäuser kompensierte) Arbeitskräftemangel durch eine ebenso strukturelle Massenarbeitslosigkeit abgelöst wurde und es zu einer stark steigenden Kriminalität durch die zunehmend pauperisierten Massen kam, erwuchs dem Gefängnis eine neue Funktion und trat an die Stelle der Zwangsarbeit im Zuchthaus der bloße Freiheitsentzug. Gleichzeitig und quasi parallel zur Freiheitsstrafe wurde ein breites Geldstrafensystem eingeführt, das vor allem dazu diente, die staatlichen Kosten des Strafvollzugs zu reduzieren. In der entwickelten kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ entsteht demnach also eine Art zweistufiges Strafvollzugssystem: (bevorzugt) Geldstrafen bei kleineren Vergehen und für voll in den Erwerbsprozess Integrierte, hingegen Freiheitsentzug für sozial Depravierte und „Kriminelle“.
Geschichte des modernen Strafvollzugs vom Frühkapitalismus bis zum Ende des Fordismus
Die Studie von Rusche und Kirchheimer zum Zusammenhang von kapitalistischer Sozialstruktur und modernem Strafvollzug beschreibt im Prinzip die Geschichte des modernen Straf(rechts)systems vor dem Hintergrund der Herausbildung kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse und deren Wesen als „Arbeitsgesellschaft“. Die kapitalistische Verwertung von Arbeitskraft bringt eine gesellschaftliche Struktur hervor, die historisch gesehen mit einem stetig steigenden Bedarf nach Arbeitskräften einhergeht und damit in weiterer Folge auch die gesellschaftlichen Zwecke und Modi des Strafens verändert. Eine Gesellschaft mit einem derart hohen Arbeitskräftebedarf, wie er im entwickelten Kapitalismus vorherrscht(e), kann es sich im Grunde nicht leisten, verwertbare Arbeitskraft (oder wie es heute betriebswirtschaftlich heißt: „Humankapital“) wegen jeder devianten Handlung einzukerkern oder womöglich sogar umzubringen. Hingegen kann unter den Bedingungen eines gesellschaftlich geringen Arbeitskräftebedarfs und eines entsprechenden Arbeitskräfteüberschusses eine höhere Bereitschaft bestehen, mit Normabweichern und Delinquenten weniger zimperlich umzugehen. So jedenfalls die These, die Rusche und Kirchheimer historisch zu belegen versuchen, und mit Blick auf die tatsächliche historische Entwicklung der letzten Jahrhunderte bis heute erscheint ein solcher Zusammenhang zumindest nicht unplausibel.
Wie bereits erwähnt, wurde die These von Rusche und Kirchheimer seitens der Kriminologie immer wieder sehr intensiv diskutiert, mitunter auch stark kritisiert. Ein wesentlicher Kritikpunkt waren dabei vor allem verschiedene ökonomistische Verkürzungen in Rusche/Kirchheimers Theorie der Strafrechtsentwicklung. Eine speziell in der deutschsprachigen Diskussion recht einflussreiche Kritik in diesem Zusammenhang stammt z.B. von Heinz Steinert und Hubert Treiber (1978). Diese beanstanden, dass Rusche und Kirchheimer von einer „unmittelbar ökonomischen Wirkung des Strafrechts“ ausgingen, da ihnen zufolge das Strafrecht „imstande sein soll, den jeweils Herrschenden einer bestimmten Gesellschaftsformation (bestimmte) wirtschaftliche Probleme zu lösen. (…) Es wird als selbstverständlich angenommen, daß Änderungen des Strafrechts sich direkt auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse auswirken“ (ebd.: 82). Des Weiteren wurden Rusche/Kirchheimer historische Ungenauigkeiten in ihrer Analyse vorgeworfen, etwa hinsichtlich der von ihnen behaupteten strafrechtlichen „Ausrottungspolitik“ im Spätmittelalter (ebenfalls Steinert/Treiber 1978). Auch ihre These einer zunehmenden Bedeutung von Geldstrafen im entwickelten Kapitalismus bildete einen wesentlichen Gegenstand der Kritik (vgl. Melossi 1978; Jancovic 1977). So konnte etwa Jancovic (1977) eine Zunahme von Geldstrafen zumindest für die USA empirisch widerlegen. Befunde wie diese wurden in der Diskussion um Rusche/Kirchheimer mitunter als Beleg für eine mangelnde Erklärungskraft ihrer Thesen für den Strafvollzug des 20. Jahrhunderts gewertet – meines Erachtens (und wie noch zu zeigen sein wird) ein voreiliger Schluss.
Nun hat die Studie von Rusche und Kirchheimer aber in der Tat so einige kritikable Schwachstellen, die bei einem Rekurs darauf berücksichtigt werden müssen, gerade wenn es um eine historisch möglichst präzise Rekonstruktion der Entwicklung des modernen Strafvollzugs geht. Meines Erachtens am problematischsten ist ihre These von der blutigen und grausamen Strafpraxis im ausgehenden Mittelalter, die im Kapitalismus sukzessive durch ein weniger repressives Zuchthaus- und Freiheitsstrafensystem ersetzt worden sei. Diese These erweist sich bei genauerer Betrachtung insofern als historisch reichlich unpräzise, als sich Rusche und Kirchheimer in ihrer Analyse in erster Linie auf eine historische Phase beziehen, die zeitlich ganz offensichtlich mit dem zusammenfällt, was Karl Marx (1962/1867: 741-791) im ersten Band des Kapital als „ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnet. Marx beschreibt damit die Zeit des Übergangs vom mittelalterlichen Feudalismus zum modernen Kapitalismus, in der Bauern Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts massenhaft enteignet, das Landvolk von Grund und Boden vertrieben wurde und so eine „Masse vogelfreier Proletarier“ entstand, die buchstäblich „auf den Arbeitsmarkt geschleudert“ wurde (ebd.: 746). „Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat“, so heißt es bei Marx, „konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. (…) Sie verwandelten sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Teil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände“ (ebd.: 761f.). Die gesellschaftliche Antwort auf diese um sich greifende Armut und das massenhafte Elend bestand in erster Linie in der strafrechtlichen Kriminalisierung derselben; eine regelrechte „Blutgesetzgebung gegen die Expropriierten“ (ebd.: 761) sei ins Werk gesetzt worden. Darunter fielen grausame Strafen wie Auspeitschen, Geißelung, Brandmarkung, Zwangsarbeit bis hin zur Hinrichtung bei mehrfachen Verstößen. Auf diese Weise, so Marx, „wurde das von Grund und Boden gewaltsam enteignete, verjagte und zum großen Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert“ (ebd.: 765).[3]
Kurz gesagt, die von Rusche und Kirchheimer in ihrer Studie beschriebene „Schaffung eines grausamen Strafrechts“ (Rusche/Kirchheimer 1974/1939: 23) mit seinen peinlichen Körperstrafen, der „rapide Anstieg der Zahl der Todesstrafen im Laufe des 16. Jahrhunderts“ (ebd.: 29), all das sind bei genauerer Betrachtung mitnichten, wie sie in ihrer Untersuchung nahelegen, noch Phänomene des Mittelalters, sondern vielmehr schon solche des Kapitalismus höchstselbst in seiner historischen Konstitutionsphase. Diese Präzisierung ist vor allem deshalb wichtig, da es bekanntlich zu den Fortschrittsmythen der kapitalistischen „Zivilisation“ gehört, dass das grausame Strafrecht des „finsteren Mittelalters“ im modernen Kapitalismus durch ein ungleich „humaneres“ Strafrechts- und Strafvollzugssystem abgelöst worden sei – ein Mythos, gegen den sich ja auch Rusche und Kirchheimer selbst in ihrer Studie ganz vehement wenden.
Neben historischen Ungenauigkeiten wie den dargestellten, sind auch gewisse ökonomistische Verkürzungen in der Studie von Rusche und Kirchheimer durchaus nicht von der Hand zu weisen. Dass z.B. das Zwangsarbeitssystem in Zucht- und Arbeitshäusern jemals wirtschaftlich rentabel war und in dieser Hinsicht eine primär ökonomische Funktion erfüllte, die darin bestanden haben soll, Arbeitskräftemangel durch die Vernutzung der Arbeitskraft von Armen, Bettlern und Strafgefangenen zu kompensieren, ist wahrscheinlich eine unzutreffende, jedenfalls aber historisch mittlerweile eher widerlegte Annahme (vgl. z.B. Geremek 1991: 266f.). Immerhin lassen Rusche und Kirchheimer, trotz dieser ökonomistisch verkürzten (Fehl-)Einschätzung, aber auch durchblicken, dass ihnen die eigentliche und viel wesentlichere Funktion von Zuchthäusern sehr wohl bewusst war, nämlich die Disziplinierung und „Besserung“ der Gefangenen durch regelmäßige Arbeit (vgl. Rusche/Kirchheimer 1974/1939: 132f.). Insgesamt haben aber Kritiker wie z.B. Melossi (1978) oder Steinert/Treiber (1978) durchaus Recht, wenn sie feststellen, dass dieser Aspekt bei Rusche/Kirchheimer sehr unterbelichtet bleibt. Den Aspekt der Disziplinierung hat später bekanntlich Michel Foucault (1994) in seinem berühmten Werk Überwachen und Strafen ausführlich herausgearbeitet.[4] Auch Marx hat, wie bereits erwähnt, in seinen Ausführungen zur „ursprünglichen Akkumulation“ auf die disziplinierende Funktion der frühkapitalistischen „Blutgesetzgebung“ hingewiesen (Marx 1962/1867: 765). Es ging sozusagen darum, dem Menschenmaterial die für den aufkommenden Kapitalismus notwendige Arbeitsdisziplin sprichwörtlich „einzuprügeln“.[5]
Was sich Rusche und Kirchheimer aber meines Erachtens, bei allen sonstigen sehr berechtigten Kritikpunkten, nicht so ohne weiteres vorwerfen lässt, ist ein derart kruder ökonomischer Funktionalismus, wie ihn etwa Steinert und Treiber konstatieren wollen. Worauf die Untersuchung von Rusche und Kirchheimer in erster Linie abzielt, ist nämlich nicht (oder jedenfalls nicht primär) der Nachweis einer „unmittelbar ökonomischen Wirkung des Strafrechts“, wie Steinert und Treiber (1978: 82) behaupten, sondern eigentlich geht die Analyse sogar genau in die entgegengesetzte Richtung. Was die beiden herausarbeiten, ist – ganz dem Titel der Untersuchung entsprechend (der somit wörtlich genommen werden kann) – der Zusammenhang von Sozialstruktur und Strafvollzug. Sie zeigen, dass die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise und die daraus hervorgehende moderne Arbeitsgesellschaft ein ihr eigenes, ihr gemäßes Strafrechts- und Strafvollzugssystem hervorbringt. Peinliche Körperstrafen und die physische Vernichtung von Delinquenten werden in dem Maße strafrechtlich obsolet, wie die sich durchsetzende kapitalistische Produktionsweise mit ihrem Manufaktur- und später, etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts, Fabriksystem einen enormen Bedarf an menschlicher Arbeitskraft entwickelt. An ihre Stelle treten daher Freiheitsstrafen und Zwangsarbeit im Zuchthaus, später – mit weiterer Durchsetzung der modernen Arbeitsgesellschaft und einer fortgeschrittenen Verinnerlichung der kapitalistischen Arbeitstugenden durch die Lohnabhängigen, die ihre repressive Disziplinierung nach und nach überflüssig werden lässt – auch ein differenziertes Geldstrafensystem. Dieses mag zwar nicht jene zentrale Rolle spielen, die ihm Rusche/Kirchheimer zuschreiben[6], vor allem aber erfüllt es sicherlich nicht (jedenfalls nicht primär) die ihm unterstellte fiskalische Funktion, die staatlichen Kosten für den Strafvollzug zu reduzieren. Sondern die Ausweitung von Geldstrafen dürfte selbst in den Erfordernissen einer entwickelten kapitalistischen Arbeitsgesellschaft mit Blick auf die Reproduktion verwertbarer Arbeitskraft und damit, ganz im Sinne Rusche/Kirchheimers zentraler These, im gesellschaftlichen Bedarf nach Arbeitskräften begründet liegen.
Wie die Entwicklung im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigte (die Rusche und Kirchheimer in den 1930er Jahren freilich noch nicht hinreichend vorhersehen konnten), gewannen Geldstrafen in der Tat, zumindest tendenziell (wenn auch vielleicht nicht in allen Ländern gleichermaßen), umso mehr an Bedeutung, je stärker sich die Arbeit im Zuge der fordistischen Massenproduktion nach dem 2. Weltkrieg zunehmend intensivierte und die Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft, etwa aufgrund steigender Qualifikationsanforderungen, sukzessive schwieriger wurden, was wiederum einen entsprechend „sorgsameren“ Umgang mit der Ware Arbeitskraft erforderte. Wesentliche Erkenntnisse in diese Richtung hat gerade Heinz Steinert (gemeinsam mit Arno Pilgram) in einer Studie zur österreichischen Strafrechtsreform von 1975 geliefert (Pilgram/Steinert 1975). Pilgram und Steinert zufolge lassen sich wesentliche Schwerpunktsetzungen von Strafrechtsreformen, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren stattfanden, gerade als Versuch interpretieren, „vor allem frühzeitige Aufstiegs- und Qualifikationshemmnisse bei jungen Arbeitskräften zu beseitigen (z.B. durch Bewährungshilfe im Jugendstrafrecht, größeren Spielraum für Geldstrafen etc.) und allzu direkte Dequalifizierungen durch den Strafvollzug zu mildern (durch mehr Gewicht auf Behandlung und Erhalt der Leistungsfähigkeit in den Anstalten, Ausbau der vorzeitigen bedingten Entlassung und Nachbetreuung, Geldrücklagen für die Entlassung und Verzicht auf Haftkostenersatz, kürzere Tilgungsfristen etc.)“ (ebd.: 267). Neben einer Ausweitung der Geldstrafe (die im Kontext der österreichischen Strafrechtsreform von 1975 als besonderes „Beispiel sozialdemokratischer Reformpolitik“ hervorgehoben wurde, vgl. Rotter/Stangl 1981) kommt es in dieser historischen Situation insbesondere auch (und vielleicht noch wesentlicher) zum Ausbau der Bewährungshilfe, die geradezu ein Kernelement eines resozialisierenden Strafsystems darstellt, wie es seither für westliche Industriegesellschaften charakteristisch geworden ist.
Die Bedeutung der Bewährungshilfe bzw. allgemeiner von Bewährungsstrafen wird übrigens auch von Jancovic (1977) betont, der mit Blick auf die Geldstrafe (wie oben erwähnt) die Anwendbarkeit der Thesen von Rusche/Kirchheimer auf den Strafvollzug des 20. Jahrhunderts gerade in Frage stellt. Dass die Bewährungsstrafe, wie Jancovic meines Erachtens (zumindest phänomenologisch) durchaus zutreffend konstatiert, eine dem Spätkapitalismus gemäße Form des Strafvollzugs sei, weil sie insbesondere auch die zunehmende Verlagerung vom produktiven Sektor zum Dienstleistungssektor reflektiere, ist aber eben letztlich nur verständlich unter den Bedingungen einer sich nunmehr diffiziler darstellenden Reproduktion von Arbeitskraft, die möglichst nicht durch Gefängnisstrafen und dergleichen beeinträchtigt werden soll – andernfalls spräche ja politisch-ökonomisch nicht allzu viel dagegen, Delinquente auch weiterhin bevorzugt ins Gefängnis zu stecken (was vor allem die USA seit den 1970er Jahren wieder zunehmend praktizieren – siehe dazu weiter unten). Die von Jancovic betonte Ausbreitung von Bewährungsstrafen setzt also im Kern gerade die Annahme eines konstitutiven Zusammenhangs von Arbeitskräftebedarf und Strafvollzug – ganz im Sinne von Rusche und Kirchheimer – auch für spätkapitalistische Verhältnisse zwingend voraus.
Als ein weiteres Charakteristikum und vielleicht allgemein sogar am positivsten bewerteter Aspekt liberaler Strafrechtsreformen der 1960er und 1970er Jahre überhaupt kann schließlich ein historisch geradezu beispielloser Entkriminalisierungsschub betrachtet werden, wie er sich zu dieser Zeit (freilich auch vor dem Hintergrund sozialer Kämpfe, etwa der Frauen- und der Homosexuellenbewegung) vor allem im Bereich des sogenannten „Moralstrafrechts“ ereignete (Entkriminalisierung von Homosexualität, Abtreibung etc.). Pilgram und Steinert (1975) erklären sich die damaligen Entkriminalisierungstendenzen in ihrer Studie so, dass stereotype Kriminalsanktionen, neben einer gravierenden Dequalifizierung und einer Entwertung der Arbeitskraft vor allem von Jugendlichen, „abweichende Randgruppen“ schaffen würden, „ein Konzentrat von Problemen, das die Rechtfertigung der bestehenden Gesellschaftsstruktur aus Chancengleichheit, Leistungsideologie und Realisierungsmöglichkeiten individuellen Glücks quasi andauernd dementiert“ (ebd.: 272). Das heißt, die sich zu dieser Zeit (und auf der Grundlage von fordistischer Nachkriegsprosperität und Massenkonsum) ausbreitenden gesellschaftlichen Werte von Humanität, Liberalität, (Chancen-)Gleichheit usw. wirkten sich speziell im Bereich der Moralgesetzgebung entlegitimierend aus. Eine Kehrseite dieser Entwicklung ist freilich, wie Pilgram und Steinert ebenfalls sehr treffend herausarbeiten, eine stärkere Konzentration des Strafrechts auf den „harten Kern des Verbrechens“ (ebd.: 273) – etwa in Form einer stärkeren Berücksichtigung von Vorstrafen oder Anstalten für „gefährliche Rückfallstäter“, die nunmehr tendenziell einfach weggesperrt werden.
Dieser Prozess der Entwicklung eines modernen Strafvollzugs, der nur allzu gerne mit einem Prozess der fortschreitenden „Humanisierung“ desselben verwechselt wird, verläuft dabei aber durchaus nicht linear. Zu Anfang, in ihrer frühen Konstitutionsphase, als zwar ihre soziale Ordnung und ihre Eigentumsverhältnisse bereits weitgehend durchgesetzt, der Hunger der entstehenden Manufakturen nach Arbeitskraft aber auch noch nicht groß genug war, um all das verfügbar gemachte Menschenmaterial in den Arbeitsprozess zu absorbieren, durchlief die kapitalistische Gesellschaft zunächst noch eine der späteren strafrechtlichen Entwicklung auf den ersten Blick geradezu diametral entgegengesetzte Periode der Zunahme von grausamen und blutigen Körper- und Todesstrafen – eine Reaktion auf all die „Überflüssigen“, die dieser vor allem von Marx beschriebene sozial verheerende Umwälzungsprozess in großer Zahl produzierte, und der in der Folge eine in der Tat häufig auch mit Ausrottungsabsichten verbundene strafrechtliche Repression gegenüber Armen, Bettlern und Vagabunden entfaltete, die dem vermeintlich so „finsteren Mittelalter“ (dem Rusche und Kirchheimer diese „strafrechtliche Ausrottungspolitik“ denn auch fälschlicherweise zuschreiben) – bei allem, was dem Mittelalter sonst an Schlechtem nachgesagt werden kann – eher fremd war.
So konstatiert etwa Martin Kronauer hinsichtlich des gesellschaftlichen Status von Armen und Bettlern im Mittelalter: „Im Mittelalter hatten die Armen ihren festen, durch die Religion festgelegten, dabei allerdings durchaus ambivalenten Platz. Die Bettelei konnte sich in den Städten zu einem spezialisierten Gewerbezweig mit eigenständigen Berufsorganisationen entwickeln. Im 16. Jahrhundert dagegen war von dem ‚Ethos der Armut‘ (…) auf Seiten der Herrschenden kaum noch etwas zu spüren. Überall wurden die Armen offiziell registriert, Landstreicherei und Bettelei unter scharfe Strafe gestellt, zugewanderte Landstreicher aus der Stadt gejagt, die arbeitsfähigen Armen, wenn möglich, der Zwangsarbeit (häufig in eigens eingerichteten Arbeitshäusern unter strenger Aufsicht und mit besonders niedrigem Lohn) unterworfen“ (Kronauer 2002: 81).
Die durchaus auch mit Ausrottungsabsichten verbundene Politik gegen Arme und Bettler im aufstrebenden Kapitalismus wird u.a. von Martin Rheinheimer (2000) beschrieben. Ihm zufolge waren hiervon vor allem auswärtige Bettler und sogenannte „unwürdige Arme“ betroffen, ganz besonders aber „Zigeuner“. Diese hätten noch stärkere Projektionen auf sich gezogen, „denn sie waren gesellschaftlich noch weniger eingebunden und unterschieden sich durch ihr dunkles Äußeres. Deshalb hat sich die Verfolgung zunehmend auf die Zigeuner konzentriert, zumal sie eine überschaubare, klarer abgegrenzte und damit fassbarere Gruppe bildeten, die sich wirklich ausrotten ließ“ (ebd.: 173). Besonders zu Beginn des 18. Jahrhunderts setzte eine, im Vergleich zu bereits seit der frühen Neuzeit immer wieder an der Tagesordnung stehenden Repressalien gegen „Zigeuner“, nochmals extrem verschärfte antiziganistische Verfolgung ein, in deren Zuge „Zigeuner“ regelrecht für vogelfrei erklärt wurden: „Jeder männliche Zigeuner über 18 Jahre sollte an den Galgen gebracht werden, egal, ob ihm ein Verbrechen nachgewiesen werden konnte oder nicht. Absicht war die Ausrottung“ (Scholz 2007: 181).
Der von Rusche und Kirchheimer herausgearbeitete Zusammenhang von Sozialstruktur und Strafvollzug besteht so gesehen also in einer Abhängigkeit des Strafrechts bzw. Strafvollzugs und dessen Entwicklung vom Bedarf an Arbeitskräften in einer primär auf Lohnarbeit basierenden kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ bzw. – genauer formuliert – von deren Fähigkeit, die dem spezifisch kapitalistischen Erwerbsarbeitszwang unterworfenen Massen hinreichend in Lohnarbeitszusammenhänge zu integrieren. Mit einer „ökonomischen Funktion“ oder einer „unmittelbar ökonomischen Wirkung“ des Strafrechts, wie etwa Steinert und Treiber (1978: 82) unterstellen, hat ein solcher Befund überhaupt nichts (oder jedenfalls nicht unmittelbar etwas) zu tun. Denn im Grunde ist damit ja nicht mehr, aber auch nicht weniger gesagt, als dass sich die spezifisch kapitalistischen Form- und Strukturprinzipien eben auch (und notwendig) auf das Strafrecht erstrecken, und dass daraus bestimmte Anforderungen erwachsen, denen das Strafrecht nicht zuletzt aus Gründen der eigenen gesellschaftlichen Legitimation hinreichend genügen muss. Und diese Anforderungen können sich innerhalb der kapitalistischen Struktur durchaus sehr unterschiedlich darstellen – je nachdem, ob auf dem Arbeitsmarkt, wie das etwa in den 1960er Jahren der Fall war, eine starke Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften besteht und daher u.a. auch ein lebhaftes Interesse vorhanden ist, die empfindliche Reproduktion von Arbeitskraft nicht durch allzu rigide, stereotype Kriminalsanktionen und damit verbundene Dequalifizierungen zusätzlich zu erschweren; oder ob, wie noch in der Konstitutionsphase der kapitalistischen Gesellschaft, Massenarbeitslosigkeit, soziale Verelendung und, häufig damit zusammenhängend, hohe Kriminalität herrschen, die es strafrechtlich zu bearbeiten und (tendenziell repressiv) zu bekämpfen gilt.
Ob das Strafrecht diese Anforderungen tatsächlich zu erfüllen vermag, steht dabei natürlich wieder auf einem ganz anderen Blatt – im Gegenteil, es ist nicht einmal gesagt, dass bestimmte kriminalpolitische Strategien nicht eher sogar kontraproduktiv wirken und unintendierte negative Effekte zeitigen.[7] Bei allen theoretischen Mängeln und auch ökonomistischen Verkürzungen, die man Rusche und Kirchheimer durchaus anlasten kann (und die bestimmt auch ihren Teil zu entsprechenden Ökonomismusvorwürfen beigetragen haben), ist der zentrale Befund ihrer Studie – der Nachweis eines Zusammenhangs von kapitalistischer Sozialstruktur bzw. kapitalistischem Arbeitskräftebedarf und Strafrecht bzw. Strafvollzug – mitnichten einfach als „ökonomistisch“ zu qualifizieren.
Die Rückkehr des repressiven Strafrechts in der „Krise der Arbeitsgesellschaft“
Die vorgetragene „Kritik der Kritik“ an Rusche/Kirchheimer und die Reformulierung ihrer zentralen These war in dieser Ausführlichkeit aus zwei Gründen erforderlich: Zum einen wurde damit das Ziel verfolgt, einen historisch einigermaßen präzisen (wenn auch sehr kursorischen) Überblick über die Entstehung und Entwicklung des modernen Strafvollzugs zu erhalten, da sich gerade daran und anhand der dafür maßgeblichen gesellschaftlichen Prozesse und Rahmenbedingungen die entscheidende Differenz und insbesondere die krisenhafte Qualität jener gesamtgesellschaftlichen Veränderungen erweisen soll, auf die die heutige „Rückkehr des repressiven Strafrechts“ trifft bzw. auf die sie meines Erachtens antwortet. Zum anderen war speziell die relativ ausführliche Auseinandersetzung mit den kriminologischen Kritikern von Rusche und Kirchheimer dadurch motiviert, dass einem angesichts gewisser Schwächen in der Theorie von Rusche/Kirchheimer gerade die Aktualität und der Erklärungswert ihrer Thesen mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Tendenzen systematisch entgehen können, wenn einen diese Mängel dazu veranlassen, ihre Thesen als überzogen, empirisch nicht haltbar oder heute nicht mehr gültig zu verwerfen. Dies wäre insofern geradezu fatal, als sich in der Gegenwart ja eine ganze Reihe von Entwicklungen beobachten lassen, die die Theorie von Rusche/Kirchheimer im Kern gerade schlagend zu bestätigen scheinen – wenn auch heute unter etwas anderen Vorzeichen und in einer Weise, die Rusche und Kirchheimer so wohl nicht vorhergesehen haben. Denn einmal mehr erlebt die kapitalistische Gesellschaft gegenwärtig gravierende Umwälzungen und Transformationen im Bereich der Arbeit, mit entsprechenden Auswirkungen auf den gesamtgesellschaftlichen Bedarf an Arbeitskraft, was wiederum allem Anschein nach mit weitreichenden Veränderungen im Strafrecht und der Strafvollzugspraxis einhergeht.
Durch die fortgeschrittene Verwissenschaftlichung und Technisierung der Produktion, insbesondere die seit den 1970er Jahren enorm vorangetriebene Entwicklung der Mikroelektronik (Computer, Informationstechnik usw.), hat das kapitalistische System mittlerweile offenbar ein Produktivitätsniveau erreicht, auf dem der „Faktor Arbeit“ für den Produktionsprozess zusehends überflüssig wird und daher auch in immer neuen Rationalisierungs- und Automatisierungswellen mehr und mehr aus selbigem herausgenommen wird. Die Folge daraus ist eine inzwischen auch in den kapitalistischen Zentren immer neue Höchststände erreichende strukturelle, d.h. kaum noch konjunkturabhängige Arbeitslosigkeit, durch die immer größere Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung aus der Sphäre der Erwerbsarbeit praktisch dauerhaft „herausfallen“. Anders als dies noch in den Hochzeiten des Fordismus, quasi dem „goldenen Zeitalter des Kapitalismus“ (Hobsbawm 1995), der Fall war, hat im sogenannten „Postfordismus“ die steigende Produktivität nicht zu einer vergleichbaren Zunahme an Arbeitsplätzen durch die Entstehung neuer Geschäftszweige, die Erschließung neuer Märkte usw. geführt. Vielmehr hat die Produktivität ein derart hohes Niveau erreicht, dass die neuen Technologien tendenziell mehr Arbeit überflüssig gemacht haben, als durch dieselben Technologien an neuen Arbeitsplätzen entstanden sind (vgl. ausführlicher Kurz 2009: 622ff.).
Das „Verschwinden der Arbeit“ (Glaser 1988) lässt sich besser noch als an den offiziellen Arbeitslosenraten (die in praktisch allen westlichen Industrieländern seit den 1970er Jahren deutlich gestiegen sind)[8] am zahlenmäßigen Verhältnis von registrierten Arbeitslosen und offenen Arbeitsstellen ablesen. Hier hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine beträchtliche und rasant gewachsene Kluft aufgetan. In Deutschland beispielsweise, das international aufgrund seiner wirtschaftlichen Stellung als „Exportweltmeister“ noch von vergleichsweise geringer Arbeitslosigkeit betroffen ist (dafür aber auch von einer schwachen Lohnentwicklung und einer entsprechend schwachen Binnennachfrage), hat sich das Verhältnis von Arbeitslosen und offenen Stellen seit 1980 von ca. 2:1 (d.h. auf eine offene Stelle kamen rechnerisch zwei Arbeitslose) auf etwa 6:1 im Jahr 2014 verschoben (vgl. Kurtzke 2015: 10).[9] Das bedeutet, dass eine immer größere Zahl von Arbeitslosen praktisch keinerlei Chance hat, einen Job zu finden.
Ein weiterer, recht guter Indikator für das sukzessive „Verschwinden“ der Arbeit und dessen strukturellen Charakter ist die Entwicklung des Arbeitsvolumens. Darunter versteht man die Zahl aller in einem Jahr gearbeiteten Arbeitsstunden. Diese liegt heute (Stand 2014) in Deutschland mit 58 Milliarden Stunden auf dem gleichen Niveau wie im Jahr 2000 und deutlich niedriger als noch 1991 (ebd.: 11). Dem gegenüber steht eine enorme Steigerung der Produktivität: Laut den Daten des Statistischen Bundesamtes hat sich in Deutschland seit 1970 die Produktivität in der Industrie verdreifacht, in der Landwirtschaft sogar versechsfacht (vgl. Ortlieb 2013). Während also die Produktivität stetig zunimmt, geht die im Produktionsprozess zu leistende Arbeit – anders als in den Hochzeiten des Fordismus in den 1950er und 1960er Jahren – mehr und mehr zurück.
Hierbei handelt es sich freilich um kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern um ein allgemeines Problem von globaler Dimension: Allein zwischen 1995 und 2002 haben die 20 größten Volkswirtschaften der Welt mehr als 31 Millionen Industriearbeitsplätze verloren, während im selben Zeitraum die globale Industrieproduktion um 30 Prozent gewachsen ist (vgl. Konicz 2016: 30). Unmittelbare Folge dieses zunehmenden Auseinanderklaffens von Produktivität und Arbeitsintensität ist ein stetiges Anwachsen der globalen Arbeitslosigkeit. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass aktuell weltweit mehr als eine Milliarde Menschen unterbeschäftigt oder gänzlich erwerbslos sind – Tendenz steigend.
In den Sozialwissenschaften reflektieren sich Entwicklungen wie diese gelegentlich in Diagnosen einer „Krise der Arbeit“ bzw. einer „Krise der Arbeitsgesellschaft“ (vgl. Matthes 1983; Dahrendorf 1980, 1983; Glaser 1988; Rifkin 1995; Geisen et al. 1998; Exner et al. 2005; Castel 2011). Diese Krise wird dabei allerdings nur selten in ihrer vollen Tragweite erfasst und kritisch analysiert. So fokussieren etwa zahlreiche Erörterungen der „Krise der Arbeit“ auf einen potentiellen Sinnverlust, den das Ende der Arbeit für die Menschen bedeuten könnte, da ihr Leben und ihre Identität bislang hauptsächlich durch Arbeit geprägt gewesen seien, während gesamtgesellschaftliche Konsequenzen bzw. aus der Krise der Arbeit resultierende Krisenpotenziale für das kapitalistische System als solches eher vernachlässigt werden (z.B. Dahrendorf 1980, 1983; Glaser 1988).
Robert Castel (2011) wiederum stellt mit seinem Befund einer „Krise der Arbeit“ vor allem auf Prozesse der fortschreitenden Prekarisierung im Zuge einer neoliberalen Deregulierung von Arbeitsverhältnissen ab. An diesem Befund ist zutreffend, dass die neoliberale Prekarisierung von Arbeit in der Tat einen wesentlichen Aspekt besagter „Krise der Arbeit“ darstellt. Allerdings handelt es sich dabei selbst nur um ein Symptom derselben, nicht aber um die Krise selbst oder gar deren Ursache. Die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist bereits selbst Folge politischer Maßnahmen zur Bekämpfung der massiv steigenden Arbeitslosigkeit, indem gewissermaßen das stetig sinkende Arbeitsvolumen auf eine größere Zahl von Arbeitnehmer/innen verteilt wird (durch die Ausweitung von Teilzeitarbeit, Minijobs, Leiharbeit, befristeten Arbeitsverträge etc.). Berühmt-berüchtigt wurden in diesem Zusammenhang insbesondere die einschneidenden Sozialreformen in den USA unter Bill Clinton (vgl. Zinn 2007: 631-662) und die deutschen Hartz-Gesetze (vgl. Rentschler 2004), die ihren „Erfolg“ überdies der Schaffung eines beträchtlichen Billiglohnsektors verdankten.
Die „Krise der Arbeit“ besteht so gesehen also durchaus nicht (oder jedenfalls nicht primär) in deren fortschreitender Prekarisierung, sondern vielmehr im sich abzeichnenden Obsoletwerden der Kategorie Arbeit als solcher. Auf dem erreichten Produktivitätsniveau verwandelt der Kapitalismus immer größere Teile der Menschheit im wahrsten Sinne des Wortes in wirtschaftlich „Überflüssige“. Auch das macht letztlich Interpretationen, die die „Krise der Arbeit“ hauptsächlich auf aktuelle Prekarisierungstendenzen reduzieren, problematisch. Diese werden dabei nämlich für gewöhnlich im Sinne einer neuen, gesteigerten Form kapitalistischer Ausbeutung vor dem Hintergrund von Neoliberalismus und Globalisierung aufgefasst. Das Problem einer immer größeren Zahl von Menschen in der „Krise der Arbeit“ besteht allerdings gerade darin, dass sie eben nicht mehr oder nur noch unzureichend kapitalistisch ausgebeutet werden, was sie jedoch unter kapitalistischen Prämissen jeder Existenzgrundlage beraubt.[10] In den westlichen Industrieländern hat diese ökonomische „Überflüssigkeit“ einstweilen auch noch eher die Form einer ständigen, latenten Drohung, so etwa in der zunehmenden bürokratischen Drangsalierung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger/innen im Stile der Hartz-Gesetze, durch die die gesamtgesellschaftliche „Krise der Arbeit“ praktisch individualisiert wird, oder in der viel beklagten Ausbreitung unsicherer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse. In den peripheren Regionen des kapitalistischen Weltsystems befindet sich hingegen die „Überflüssigkeit“ bereits in einem manifesten Stadium, sichtbar werdend in der rapiden Verelendung großer Teile der Bevölkerung sowie in der fortschreitenden Verslumung von Städten (vgl. Davis 2007).[11]
Seitens der Wert-Abspaltungs-Kritik wird schon seit langer Zeit nachdrücklich darauf hingewiesen, dass mit dieser kaum noch zu leugnenden und empirisch evidenten „Krise der Arbeit“ eine fundamentale Krise der kapitalistischen Produktionsweise und der darauf beruhenden modernen Gesellschaftsform insgesamt markiert ist. Bereits 1986 sprach Robert Kurz in seinem Text Die Krise des Tauschwerts von einer „absoluten logischen und historischen Schranke“ (Kurz 1986: 28), die der Kapitalismus mit dem zunehmenden Überflüssigwerden der Arbeit durch fortschreitende Automatisierung der Produktion erreiche: „Sobald das Kapital die Wertschöpfung nicht mehr absolut ausdehnen kann durch Verlängerung des Arbeitstages, sondern nur noch seinen relativen Anteil innerhalb des geschöpften Neuwerts mittels Produktivkraftentwicklung zu steigern vermag, findet (…) eine gegenläufige Bewegung statt, die sich historisch selbst verzehren und auf den totalen Stillstand der Wertschöpfung selbst hinarbeiten und hinauslaufen muß. Mit der Produktivkraftentwicklung steigert das Kapital den Grad der Ausbeutung, aber es unterminiert damit Grundlage und Gegenstand der Ausbeutung, die Produktion des Werts als solchen. Denn (…) die Verwissenschaftlichung des stofflichen Produktionsprozesses schließt die Tendenz zur Eliminierung lebendiger unmittelbarer Produktionsarbeit als einziger Quelle der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung ein“ (ebd., Herv. im Orig.).
Kurz greift dabei auch auf Thesen von Karl Marx zurück, der diese immanent kapitalistische Krisendynamik bereits im 19. Jahrhundert (wohlgemerkt zu einer Zeit, als der Kapitalismus seinen größten (fordistischen) Akkumulationsschub erst noch vor sich hatte) vorhergesehen und als „prozessierenden Widerspruch“ des Kapitalismus bezeichnet hat: „In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder (…) in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion. (…) Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch (dadurch), daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren sucht, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“ (Marx 1983: 600, 601f.). Damit, so Marx (ebd.: 601), müsse auf lange Sicht „die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen[brechen].“
Im Klartext heißt das: Indem der Kapitalismus kraft seiner eigenen Produktivitätslogik Arbeit zusehends überflüssig macht, untergräbt er seine eigenen Existenzgrundlagen. Kapitalismus ohne Arbeit ist ein Widerspruch in sich, eine menschenleere Fabrik ein logisches Unding, weil in ihr keine Arbeit mehr verwertet, damit aber auch keine Wertschöpfung mehr stattfinden würde[12] – und dennoch ist es seine eigene Verwertungsdynamik höchstselbst, die den Kapitalismus auf diesen eigentlich unhaltbaren Zustand zutreiben lässt (dazu auch Ortlieb 2009).[13]
Mit dieser bis hierher skizzierten „Krise der Arbeit“ gehen nun auf der anderen Seite auch Entwicklungen im Bereich des Strafrechts und des staatlichen Strafvollzugs einher, die sich im Sinne einer „Renaissance des repressiven Strafrechts“ (Schlepper 2014b) interpretieren lassen. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, werden derartige Tendenzen in der Kriminalsoziologie bereits seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „Punitivität“ (Garland 2001; Rzepka 2004; Krasmann 2003; Pratt et al. 2005) diskutiert. Einschlägige Diagnosen beziehen sich dabei insbesondere auf eine beobachtbare Zunahme von strafrechtlicher Kriminalisierung, von Inhaftierungen und Verurteilungen sowie auf einen zunehmenden Trend zur Verschärfung bestehender bzw. zur Schaffung neuer Strafrechtsnormen in zahlreichen westlichen Industrieländern. In den USA wie auch in Europa sei der kriminalpolitische Diskurs zunehmend geprägt von Strategien und Ideologien wie „zero tolerance“ und „war on crime“, die ein hartes Durchgreifen gegen Normabweichungen und Kriminalität propagierten (vgl. Hansen 1999; Simon 2007; Hinton 2016). Als ein besonders kräftiges Indiz für einen sich abzeichnenden „punitive turn“ (Garland 2001) im Strafrecht wird vor allem auch gewertet, dass das in den entwickelten kapitalistischen Staaten jahrzehntelang zentrale Vollzugsziel der Resozialisierung sukzessive zugunsten eines bloßen Verwahrvollzugs zurückgedrängt und wieder verstärkt zu einer Politik des „Wegsperrens“ zurückgekehrt werde.
Mit der „Krise der Arbeit“ und der sich ausbreitenden strukturellen Massenarbeitslosigkeit, so hat es also den Anschein, steigen nicht nur Armut und Prekarisierung, sondern nehmen auch das Strafrecht und die staatliche Kriminalpolitik wieder deutlich repressivere Züge an. Ein konstitutiver Zusammenhang zwischen beiden parallel verlaufenden Tendenzen ist dabei insofern nicht nur anzunehmen, sondern geradezu evident, als die entsprechenden punitiven kriminalpolitischen Strategien und Maßnahmen gerade als Reaktionen auf die mit der „Krise der Arbeit“ verbunden sozialen Verwerfungen begriffen werden können, die offenbar (in Ermangelung anderer systemimmanenter Lösungsansätze) mithilfe des Strafrechts zunehmend repressiv verwaltet werden sollen.
Besonders – aber längst nicht nur – in den USA zeichnet sich bereits seit Jahren die Tendenz ab, auf steigende Massenarbeitslosigkeit, Prekarisierung, soziale Depravierung und Armut mit den Mitteln des Strafrechts zu antworten (vgl. Garland 2001; Wacquant 2000, 2009; Reiman/Leighton 2012; Goffman 2015; Hinton 2016). Dort ist beispielsweise die Haftrate in den letzten Jahrzehnten geradezu explodiert: Lag die Haftrate in den USA im Jahr 1970 noch bei etwa 100 pro 100.000 Einwohnern (vgl. Beatty et al. 2007: 2), so liegt dieser Wert in der Gegenwart (Stand 2013) laut offizieller Statistik bei sage und schreibe 910 (Glaze/Kaeble 2014: 11). Wie Loïc Wacquant (2009: 149) konstatiert, „nahm die Zahl der Amerikaner unter strafrechtlicher Überwachung innerhalb von 20 Jahren um mehr als viereinhalb Millionen zu: Sie stieg von 1,84 Millionen im Jahre 1980 auf 4,35 Millionen im Jahre 1990 und 6,47 Millionen im Jahre 2000, eine Zahl, die 3% der gesamten erwachsenen Bevölkerung der USA und jedem 20. weißen und jedem zehnten schwarzen männlichen Erwachsenen entspricht“. Gefüllt seien die Gefängnisse dabei auch überwiegend weniger mit Gewaltverbrechern, womit die massive Wegsperrpolitik in den USA für gewöhnlich legitimiert wird, sondern hauptsächlich „mit nicht gewalttätigen Delinquenten und Kleinkriminellen, von denen die meisten (...) aus den sozial schwächsten Fraktionen der Arbeiterklasse kommen“ (ebd.: 147), insbesondere aus den schwarzen Ghettos. Wacquant spricht in diesem Zusammenhang recht plastisch vom „Bestrafen der Armen“ (Wacquant 2009) und vom „Elend hinter Gittern“ (Wacquant 2000).[14] Noch deutlicher formuliert es Nils Christie (1995), der mit Blick auf die rapide steigenden Gefangenenraten speziell in den USA sehr treffend von „Gulags westlicher Art“ spricht.
Ähnliche Tendenzen lassen sich durchaus auch – wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau – in Europa feststellen. In den meisten westeuropäischen Ländern ist die Gefangenenrate in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten nachweislich gestiegen (vgl. Dünkel/Geng 2013: 45). Besonders starke Zuwachsraten verzeichnen dabei Länder wie die Niederlande, Portugal oder Spanien, wo sich die Gefangenenraten in diesem Zeitraum verdoppelt bis nahezu vervierfacht haben (ebd.). Beachtlich sind die Zuwachsraten auch in Belgien und England/Wales, wo die Gefangenenraten seit Mitte der 1980er Jahre zwischen 60 und 100 Prozent gewachsen sind (ebd.: 47). Auch in Deutschland lässt sich vor allem für die 1990er Jahre ein deutlicher Anstieg nachweisen, der allerdings ab der Mitte der 2000er Jahre (praktisch parallel zum seither zu verzeichnenden Rückgang der Arbeitslosigkeit im Gefolge von deutscher Exportorientierung und Hartz IV) wieder in ein stetes Sinken der Gefangenenrate übergegangen ist.
Wie fahrlässig und letztendlich jede kritische Einsicht systematisch verhindernd man übrigens mit solchen empirischen Daten umgehen kann, lässt sich gerade an den beiden hier zitierten Kriminologen Dünkel und Geng hervorragend illustrieren: Diese verwenden ihre Zahlen über die langfristige Entwicklung von Gefangenenraten in Europa nämlich – ganz anders als der vorliegende Text – nicht als Argument für, sondern gegen punitive Tendenzen. Ihnen zufolge sei die Entwicklung der Gefangenenraten in Europa von Land zu Land von zu vielen verschiedenen Faktoren abhängig, als dass sie so ohne weiteres als Beleg einer zunehmenden strafrechtlichen Punitivität gewertet werden könnte. Beispielsweise seien steigende Gefangenenraten wie z.B. in Deutschland in den 1990er Jahren vor allem auf Gesetzesverschärfungen bei Gewalt- und insbesondere Sexualdelikten zurückzuführen. In anderen Ländern (z.B. Frankreich) seien dagegen eher demographische Faktoren wie Migration und hohe Ausländeranteile ausschlaggebend. Zuletzt stark steigende Gefangenenraten in Italien führen sie etwa auf die hiesige Politik gegen Flüchtlinge aus Afrika zurück. Nun ist nicht zu bestreiten, dass dies alles sehr berechtigte und wichtige empirische Differenzierungen sind. Allerdings stellt sich durchaus die Frage, inwieweit diese auch als Argument gegen die Annahme einer zunehmenden Punitivität taugen. So ist etwa ganz und gar nicht einzusehen, weshalb eine Erhöhung von Gefangenenraten infolge von Verschärfungen bei Gewalt- und vor allem Sexualdelikten gegen einen „punitive turn“ sprechen sollen, zumal dergleichen in der Punitivitätsdiskussion ja gerade als ganz wesentliche Indizien für punitive Tendenzen gewertet wird (z.B. Lautmann 1993; Lautmann/Klimke 2008). Ebenso ließe sich die in Italien offenbar die Gefangenenraten in die Höhe treibende „Wegsperrpolitik“ gegen Flüchtlinge durchaus im Sinne der Punitivität interpretieren, zumindest wenn diese in der hier verhandelten „Krise der Arbeit“ kontextualisiert wird. Denn dann könnte diese Politik als Reaktion auf die immer zahlreicher aus der kapitalistischen Peripherie nach Europa kommenden Flüchtlingsströme verständlich werden, die auch der hiesige Arbeitsmarkt nicht mehr zu integrieren vermag und die daher tendenziell in Kriminalität und Schattenwirtschaft abrutschen. Bei aller empirischen Vielfalt und notwendigen analytischen Differenzierung sollte man also vielleicht auch versuchen, zu vermeiden, vor lauter Bäumen irgendwann den Wald nicht mehr zu sehen.
Was bleibt, ist, dass es hinsichtlich punitiver Entwicklungen – wie speziell Gegner der Punitivitätsthese innerhalb der Kriminologie häufig betonen (z.B. Schneider 2014: 127) – beträchtliche quantitative und qualitative Unterschiede zwischen den USA (auf die sich die Diagnose der „Punitivität“ ursprünglich primär bezog, vgl. Garland 2001) und Europa gibt. Das Vorhandensein punitiver Tendenzen lässt sich aber auch in Europa schwerlich leugnen bzw. nur, wenn man diese Tendenzen gegenüber den deutlich übleren Verhältnissen in den USA quasi herunterspielt oder empirische Befunde, die eine punitive Tendenz belegen könnten, wie gezeigt, so lange in ihrer empirischen „Vielfältigkeit“ und ihren Differenzen ersäuft, bis eine solche Tendenz in der Tat kaum noch erkennbar ist – jedenfalls nicht aus einer positivistisch-empiristischen Perspektive. Man kann also die „Punitivität“, wie Daniela Klimke (2009) richtig feststellt, durchaus „wegdefinieren“, wenn man sich die Empirie nur passend zurechtlegt und vor allem entsprechende Tendenzen unter Verweis auf den Mangel einer eindeutigen empirischen Evidenz bestreitet, weil man/frau unwillens oder unfähig ist, empirische Einzeldaten in ihren möglichen Zusammenhängen zu betrachten. Damit ist zwar das Problem der „Punitivität“ natürlich nicht weg, befindet sich aber zumindest zeitweilig außerhalb des eigenen, unmittelbaren Wahrnehmungsbereichs.
Hier kommt hinzu, dass sich das Vordringen punitiver Entwicklungen in Europa nicht bloß auf steigende Gefangenenraten beschränkt, sondern beispielsweise auch die zunehmende Abkehr vom Prinzip der Resozialisierung betrifft. So hat etwa Christina Schlepper empirisch anhand der deutschen Strafgesetzgebung seit Mitte der 1970er Jahre nachgewiesen, dass inhaltlich, mit Blick auf die in den jeweiligen Reformzielen und den Begründungen für Gesetzesänderungen reflektierten Strafzwecke, eine bedeutende Schwerpunktverlagerung weg vom Strafzweck der Resozialisierung hin zur Abschreckung und zum Schutz der Bevölkerung zu beobachten ist (vgl. Schlepper 2014b). Das heißt, Gesetze und Gesetzesänderungen werden zunehmend häufiger mit der Abschreckung von Straftätern und dem Schutz der Bevölkerung vor Kriminalität als mit dem Ziel der Wiedereingliederung von Straffälligen begründet, wobei Schlepper hier eine besonders drastische Verschiebung seit den frühen 1990er Jahren feststellt. Auch das befindet sich somit auf einer Linie mit US-spezifischen Befunden (z.B. Garland 2001) – ob in Ausmaß und Intensität unmittelbar vergleichbar mit den USA, sei hier dahingestellt. In jedem Fall zeigt es deutlich an, in welche Richtung die Entwicklung auch hierzulande geht. Auch mit Blick auf die Sanktionierungs- und Verurteilungspraxis lässt sich beobachten, dass nicht nur in den USA, sondern auch in europäischen Staaten die Verhängung härterer Sanktionen tendenziell zunimmt (z.B. längere Haftstrafen), während etwa vorzeitige Entlassungen aus dem Strafvollzug zurückgehen (vgl. Kury/Obergfell-Fuchs 2006).
Wie weit die Zurückdrängung des Resozialisierungsgedankens inzwischen gediehen ist, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass mittlerweile sogar unmittelbar mit der Resozialisierung von Straftätern befasste Institutionen, wie z.B. Bewährungshilfeorganisationen, immer öfter mit dem „Schutz der Bevölkerung“ argumentieren (oder sich jedenfalls, angesichts des zunehmend punitiven kriminalpolitischen Klimas, dazu genötigt sehen): So warnte etwa kürzlich die österreichische Bewährungshilfeorganisation Neustart, vor dem Hintergrund der drastischen Sparpläne der neuen Rechtsregierung unter Sebastian Kurz, vor Budgetkürzungen im Justizbereich, da sich dies nämlich „negativ auf die öffentliche Sicherheit auswirken“ würde (vgl. Presseaussendung vom 22. 3. 2018).[15] Einsparungen bei der Bewährungshilfe würden insbesondere dazu führen, dass viele verurteilte Straftäter länger in den ohnehin bereits überfüllten Gefängnissen sitzen (auch Österreich hat ja ein lange und im europäischen Vergleich recht ausgiebig gepflegte Tradition des „Verknastens“; vgl. Stangl 1988), wodurch zwangsläufig auch das Rückfallrisiko ansteigen würde. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang bereits die in der Presseaussendung nach außen kommunizierte Selbst- und Leistungsbeschreibung von Neustart: „Der Verein [Neustart, A.U.] erbringt seine Leistungen für die Gesellschaft im Kernbereich Sicherheit. Die Kontrolle und Begleitung von Klienten und Klientinnen in Freiheit erfolgt mit dem Ziel der Rückfallvermeidung und somit der Erhöhung der objektiven und subjektiven Sicherheit der Bevölkerung.“ Um „Resozialisierung“ und „Wiedereingliederung“ von Straftätern in die Gesellschaft ist es dabei wahrscheinlich auch irgendwann einmal gegangen. Aber davon wollen inzwischen offenbar nicht einmal mehr diejenigen etwas wissen, in deren unmittelbaren Tätigkeitsbereich diese Aufgaben fallen, und die jahrzehntelang die Resozialisierung von Straftätern mit am stärksten als notwendige Orientierung und sogar primären Zweck staatlichen Strafens propagiert haben.[16]
Im Zusammenhang mit der zunehmenden Abkehr vom Vollzugszweck der Resozialisierung zugunsten des Schutzes der Bevölkerung ist auch die sogenannte „Sicherheitsverwahrung“ zu betrachten. Dabei handelt es sich um eine freiheitsentziehende Maßregel zum Schutz der Allgemeinheit vor „gefährlichen“ Straftätern. Diese kann sowohl im Urteil angeordnet bzw. vorbehalten als auch nachträglich(!) angeordnet werden. Nun ist zwar an solchen Regelungen nicht bereits grundsätzlich etwas neu – ähnliche Regelungen gab es in vielen europäischen Ländern bereits in den 1920er Jahren, diese wurden jedoch nach dem 2. Weltkrieg praktisch überall wieder als rechtswidrig abgeschafft. Seit einigen Jahren sind sie allerdings wieder unter verschiedenen Namen (in Österreich nennt sich das ganze z.B. „Maßnahmenvollzug“; vgl. Stangl et al. 2015) massiv auf dem Vormarsch.[17] Das heißt, als „gefährlich“ eingestufte Straftäter werden in zunehmendem Maße nach Verbüßung ihres Urteils einfach weggesperrt bzw. „sicherheitsverwahrt“ (vgl. Pollähne/Rode 2010; Böhm 2011; Alex 2013). Getoppt wird das ganze einmal mehr nur durch die USA: Dort besteht in den meisten Bundesstaaten überhaupt die Möglichkeit, Straftäter zu Haftstrafen von über 100 Jahren zu verurteilen.[18] In Ländern wie Deutschland oder Österreich muss dagegen ein Straftäter zumindest die Perspektive auf eine Freilassung haben, womit sich eben auch die Notwendigkeit einer Regelung wie der „Sicherheitsverwahrung“ ergibt, wenn Straftäter möglichst dauerhaft oder gar für immer weggesperrt werden sollen – eine Notwendigkeit, die in den USA gar nicht erst gegeben ist.
Bei all den genannten strafrechtlichen Entwicklungen ist wohlgemerkt – wie überhaupt im gesamten Text – von „Tendenzen“ die Rede. Damit ist nicht gesagt (und eben genau damit haben positivistisch-empiristische Kriminolog/innen oftmals ein Problem), dass es empirisch nicht teilweise auch, jedenfalls auf den ersten Blick, gegenläufige Entwicklungen geben kann. So bedeutet z.B. ein tendenzieller Rückgang vorzeitiger Haftentlassungen durchaus nicht, dass nicht auch nach wie vor Maßnahmen und Richtlinien erlassen werden können, die im Sinne des Resozialisierungsgedankens stehen. Umgekehrt wird durch das Vorhandensein solcher Maßnahmen aber auch nicht schon automatisch die längerfristige Tendenz zum Rückgang vorzeitiger Entlassungen dementiert. Mitunter können punitive Tendenzen und ein an Resozialisierung orientierter Strafvollzug auch nebeneinander existieren. So haben etwa Dollinger et al. (2015) für das Jugendstrafrecht in Deutschland gezeigt, dass wir es dort einstweilen noch mit einer eher selektiven Punitivität zu tun haben, die auf sogenannte „Hochrisikogruppen“ zielt, während die breite Masse der jugendlichen Normabweicher weiterhin in den Traditionen der wohlfahrtsstaatlichen Reformen der 1970er Jahre bearbeitet wird. Dasselbe gilt für die (empirisch eindeutige) Tendenz ansteigender Gefangenenraten. Auch damit ist nicht gesagt, dass die Gefangenenrate permanent steigen muss, sondern diese kann (und wird auch in der Regel) zwischendurch sogar sinken. Durch ein solches Stagnieren oder Sinken der Gefangenenraten wird aber genauso wenig umgekehrt die langfristig seit den 1970er Jahren beobachtbare Tendenz steigender Haftraten dementiert.
Eine spezifische Variante der oben angesprochenen, zunehmenden Ausrichtung des Strafrechts auf den Schutz der Bevölkerung (zuungunsten des vormals primären Strafzwecks der Resozialisierung) kann im Übrigen auch in der geradezu beispiellosen Karriere des „Opferschutzes“ gesehen werden, der mittlerweile sogar in den Rang eines eigenständigen Strafrechtszwecks erhoben wurde. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Problematik des Opferschutzes als eigenständigen Strafrechtszweck in allen ihren Implikationen zu diskutieren. Es dürfte auch so hinreichend ersichtlich sein, welche verfahrensimmanente Kräfteverschiebung damit potentiell verbunden ist, wenn mit dem Straftatopfer eine zusätzliche (neben dem Ankläger als weiterer Prozessgegner des Beklagten auftretende) Partei im Strafprozess erscheint, dessen Zweck ja primär darin besteht, über die Schuld oder Unschuld eines Beklagten zu befinden. Nicht von ungefähr besteht ein wesentlicher, seitens Kriminologie und Rechtssoziologie häufig vorgebrachter Kritikpunkt darin, dass die neue Opferorientierung in Strafprozessen unmittelbar mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung konfligiere, da sowohl Täter als auch Opfer eigentlich erst mit der Rechtskraft eines Urteils feststünden (z.B. Pollähne 2012). Vor allem aber lässt sich auch ein unmittelbarer Zusammenhang feststellen zwischen zunehmender strafrechtlicher Opferorientierung und fortschreitenden punitiven Tendenzen. Denn die neue (von Kritikern als „viktimistisch“ bezeichnete, vgl. Klimke 2008: 42f.; Cremer-Schäfer/Steinert 1998: 210f.) opferorientierte Kriminalpolitik geht unübersehbar auch mit einer repressiveren Politik gegen Straffällige in Form von Strafrechtsverschärfungen und einer verstärkten Kriminalisierung einher, zumindest aber wird eine solche dadurch erheblich begünstigt (vgl. Garland 2001; Jung 2000; Hassemer/Reemtsma 2002, Rzepka 2004, Trotha 2010).
Garland (2001: 142ff.) betrachtet etwa die neue Opferorientierung des Strafrechts als ein wesentliches Merkmal einer kriminalpolitischen Strategie der „punitiven Segregation”: „The need to reduce the present or future suffering of victims functions today as an all-purpose justification for measures of penal repression, and the political imperative of being responsive to victims’ feelings now serves to reinforce the retributive sentiments that increasingly inform penal legislation. (…) If the centre-piece of penal-welfarism was the (expert projection of) the individual offender and his or her needs, the centre of contemporary penal discourse is (a political projection of) the individual victim and his or her feelings” (ebd.: 143f.).
Die „Renaissance des Opfers” (Jung 2000) verdankt sich somit im Wesentlichen – oder geht jedenfalls Hand in Hand mit – einer „Re-Emotionalisierung“ (Karstedt 2007) und „Re-Moralisierung“ (Frommel 2016) der Strafjustiz, d.h. Empathie mit den Opfern von Straftaten (insbesondere Gewalt- und Sexualopfern) und die Berücksichtigung ihrer Gefühle wird sowohl zu einer Anforderung, die nunmehr an den Strafprozess gestellt wird, als auch zu einem zentralen Element von Kriminalpolitik insgesamt.
Dies spiegelt sich nicht zuletzt auch in bestimmten Sanktionsformen wider, wie etwa der „Beschämung“, die in jüngerer Zeit (wieder) vermehrt z.B. im außergerichtlichen Täter-Opfer-Ausgleich zum Zweck der Normverdeutlichung eingesetzt wird (vgl. Münster 2013). Dabei geht es darum, bei einem Delinquenten durch eine Art zeremonieller Missbilligung Reue und Schuldgefühle auszulösen, die ihn vor weiteren Straftaten abhalten sollen – eine Strafform, die eine auffällige strukturelle Ähnlichkeit mit längst vergangen geglaubten Sanktionsformen wie etwa dem frühneuzeitlichen Pranger aufweist (auch wenn in einschlägigen kriminologischen Theorien die „reintegrative“ Funktion der heutigen Praxis der „Beschämung“ betont und ausdrücklich von „desintegrativen“ Formen wie dem Pranger abgegrenzt wird; vgl. Braithwaite 1989). Es dürfte in diesem Lichte gerade besagte emotionale Dimension des strafrechtlichen Opferdiskurses sein, die besonders einer expressiven Punitivität Vorschub leistet.
Großen Einfluss hatten (und haben) hier nicht zuletzt feministische Gender-Diskurse, die in den vergangenen Jahrzehnten zusehends das Problem der Männergewalt gegen Frauen, insbesondere im sozialen Nahraum, in den strafrechtlichen Fokus gerückt und u.a. zu zahlreichen Anpassungen im Sexualstrafrecht (so z.B. zur Schaffung des Straftatbestands der innerehelichen Vergewaltigung) wie auch zu diversen Gesetzen zum Schutz vor häuslicher Gewalt geführt haben (siehe exemplarisch zu entsprechenden Diskursen Hagemann-White 2002; Künzel 2003; Lembke 2012, 2014). Gerade auch der Zusammenhang von Opferorientierung und Punitivität wird in der Kriminologie und der Rechtssoziologie überaus kontrovers entlang dieser Geschlechter-Dimension und im Kontext geschlechtsbezogener Gewalt diskutiert, wobei sich rasch mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, offenkundig feministische Rechtspolitik diskreditieren zu wollen, wer Verbesserungen beim Schutz von Frauen vor sexueller und anderen Formen von Männergewalt sowie damit oft einhergehende Kriminalisierungs- und Strafforderungen mit punitiven Tendenzen des Strafrechts in Verbindung bringt (vgl. Lembke 2014: 273f.). Dass dieser Vorwurf angesichts in letzter Zeit stark zunehmender anti-feministischer Tendenzen wohl nicht immer ganz von der Hand zu weisen sein dürfte, wie auch die unzweifelhafte Tatsache, dass strafrechtliche Entwicklungen im Bereich des Gewaltschutzes und des Sexualstrafrechts eine erhebliche Verbesserung der Situation vieler Frauen bedeuten, schmälert aber freilich noch nicht die Plausibilität des Befunds, dass sich diese Verbesserungen in eine zunehmend repressive Tendenz der Strafrechtsentwicklung einfügen bzw. damit einhergehen. Hier wäre wohl aus einer wert-abspaltungskritischen Sicht auf die „Verwilderung des Patriarchats“ (Roswitha Scholz) zu verweisen, in der eine gegen (in der Krise drastisch zunehmende) Männergewalt gegen Frauen gerichtete feministische Politik, solange sie systemimmanent bleibt, offenbar mit Notwendigkeit Gefahr läuft, einer Punitivierung und repressiveren Ausrichtung des Strafrechts das Wort zu reden. Dabei besteht im Übrigen auch eine so klar ersichtliche wie bedenkliche offene Flanke feministischer Opferschutzpolitik zu rechtspopulistischen Diskursen: Vor allem rechtspopulistische Parteien gefallen sich ja besonders in der Rolle als „Opferschützer“ – siehe etwa in Österreich die FPÖ, die in praktisch jedem Wahlkampf der letzten Jahre mit Slogans wie „Opferschutz statt Täterschutz“ auf Stimmenfang ging.[19] Der Grund für die Begeisterung von Rechtspopulisten für „Opferschutz“ liegt freilich auf der Hand: Opferschutz ist bereits grundsätzlich ein zutiefst patriarchales Motiv. Wenn also feministische Politik sich heute den Opferschutz an ihre Fahnen heftet, so bestätigt das nur umso mehr die „Verwilderung“, dem das kapitalistische Patriarchat mittlerweile unterliegt. Rechtspopulisten sind es denn auch, die parallel zur Forderung nach Opferschutz am vehementesten eine repressive Law-and-Order-Politik vertreten, die stets eine härtere Gangart gegenüber und das Wegsperren (bzw. Abschieben) von (ausländischen) Straftätern propagiert. Im seit Jahren grassierenden (und heute zunehmend im Neofaschismus kulminierenden) Rechtspopulismus wird somit am deutlichsten der patriarchale und tendenziell repressive Kern von Opferschutzbestrebungen kenntlich, der nicht zufällig Hand in Hand mit einer zunehmenden Punitivierung des Strafrechts geht.[20]
Nicht nur die zunehmende strafrechtliche Punitivität, auch die in den letzten Jahren zunehmend virulent gewordenen Sicherheitsdiskurse sowie die rasante Ausbreitung damit assoziierter staatlicher Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen (dazu Hansen 1999; Kunz 2005; Haffke 2005; Singelnstein/Stolle 2006; Albrecht 2010; Groenemeyer 2010) müssen wohl im Kontext einer fortschreitenden „Krise der Arbeit“ betrachtet werden. Dies liegt insofern nahe, als sich einschlägige Sicherheitsgesetzgebungen der letzten Jahre durchaus nicht nur auf die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität beschränken (womit entsprechende Gesetze und Maßnahmen hauptsächlich begründet werden), sondern im Prinzip und in zunehmendem Maße auf die Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung insgesamt gerichtet sind (vgl. Trojanow/Zeh 2009).[21] Unter den Bedingungen von steigender Massenarbeitslosigkeit und Prekarisierung geht Gefahr für die „innere Sicherheit“ gerade von der eigenen Bevölkerung aus, die ein wachsender staatlicher Überwachungsapparat präventiv abwehren muss. Das neue repressive Strafrecht äußert sich also nicht nur in einer Verschärfung des Strafvollzugs als solchem, sondern folgt auch einer Präventionslogik: Wenn statistisch gesehen potentiell jeder gefährlich werden kann, bedarf es einer Vollüberwachung, um die „Gefährder“ auszusortieren.[22] Punitivität und kriminalpolitischer Sicherheitsdiskurs haben so ihre gemeinsame Grundlage in der „Krise der Arbeitsgesellschaft“, in der die sozialen Verhältnisse in dem Maße unsicherer werden, wie die Arbeit prekär wird bzw. für einen immer größeren Teil der Bevölkerung als einzige (systemimmanente) Lebensgrundlage überhaupt verloren geht. Der Schutz der „inneren Sicherheit“ bildet daher auch nicht von ungefähr eine wesentliche Legitimationsgrundlage für punitive Maßnahmen, insbesondere die Verschärfung bestehender und die Schaffung neuer Strafrechtsnormen.[23]
Dabei ist wahrscheinlich auch eine unmittelbar politische Funktion der Punitivität zu berücksichtigen, die über die bloße Verwaltung von Massenarbeitslosigkeit, wachsender Armut und Kriminalität hinausgeht: Wie etwa Garland (2001) betont, kann die Punitivierung der Kriminalpolitik zum Teil auch als Ersatzhandlung der Politik verstanden werden, um angesichts massiver Steuerungsverluste in wirtschaftlichen Fragen mit populistischen Mitteln politische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Mit Blick auf die „Krise der Arbeit“ (die Garland freilich in dieser Form nicht im Blick hat, sondern den „punitive turn“ vor allem in den Kontext von Neoliberalismus und „Ökonomisierung“ stellt) ließe sich also sagen, dass gerade Kriminalität und deren Bekämpfung zu einem umso bedeutenderen Politikfeld werden, je weniger die Politik es noch mit sozialen Problemen zu tun hat, durch deren Lösung sie sich Massenloyalität sichern kann, sondern zunehmend mit solchen, die sie nur noch zu verwalten vermag – und die „Krise der Arbeit“ kann eben systemimmanent nicht mehr gelöst werden, da sie aus der kapitalistischen Verwertungs- und Produktivitätsdynamik selbst resultiert.
Gerade auch ein vehementer Kritiker von Rusche/Kirchheimer wie Heinz Steinert hat in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder kritisch auf solche populistischen kriminalpolitischen Tendenzen und das Phänomen einer neuen „Straflust“ hingewiesen (z.B. Cremer-Schäfer/Steinert 1998). All diese Phänomene können aber wahrscheinlich gar nicht hinreichend in ihrer Tragweite und erst recht nicht in ihren Ursachen erfasst und begriffen werden, wenn die Kontextualisierung des neuen repressiven Strafrechts in besagter Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ausbleibt, sondern entsprechende Interpretationen womöglich, ganz im Gegenteil, unter den Generalverdacht des Ökonomismus gestellt werden. Die „Krise der Arbeit“ ist nicht einfach nur ein ökonomisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem mit entsprechend gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen und Implikationen. Mit der Arbeit erodiert der modernen, kapitalistischen Gesellschaft eine ihrer wesentlichsten Grundlagen, auf der sie und ihre Institutionen, insbesondere der Wohlfahrtsstaat, errichtet sind. Folgerichtig besteht eine der primären Reaktionen der Politik auf diese Krisentendenz in der sukzessiven Demontage sozialstaatlicher Strukturen, wie sie in praktisch allen westlichen Staaten (in unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlichem Ausmaß) seit Jahren beobachtet werden kann (Hartz IV usw.). Eine andere, komplementäre Reaktion, die nicht zuletzt die Folgen jenes selbst politisch ins Werk gesetzten sozialen Kahlschlags zu bearbeiten hat, besteht wiederum in der zunehmend repressiven Verwaltung der um sich greifenden Armut und Prekarisierung. Beides verweist auf den umfassenden Charakter und die Tiefe des Problems, das mit der „Krise der Arbeit“ verbunden ist: Wenn mangels Arbeit keine Aussicht mehr darauf besteht, Arbeitslosigkeit und Armut mit Erfolg zu bekämpfen, kann die Politik nur noch dazu übergehen, die Armen und Arbeitslosen selbst zu bekämpfen. Und ein wesentliches Instrument dafür ist das Strafrecht.
Dabei scheinen in der gegenwärtigen Situation in gewisser Weise sogar manche Parallelen zu der von Marx so genannten „Blutgesetzgebung“ in der Frühphase der kapitalistischen Moderne auf – freilich mit dem wesentlichen Unterschied, dass die aktuelle „repressive Wende“ des Strafrechts (jedenfalls derzeit noch) nicht annähernd Form und Intensität der damaligen Repressionen gegen Arme, Bettler und Kriminelle erreicht; vor allem aber auch, dass es sich im einen Fall um ein Phänomen der noch unabgeschlossenen Konstitution und unzureichenden Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, im anderen Fall aber gerade um ein Symptom der Krise der kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ selbst handelt. War die strafrechtliche Repression des frühen Kapitalismus gegen die vielen „Überflüssigen“ gerichtet, die in der erst allmählich Gestalt annehmenden kapitalistischen Gesellschaft „auf den Arbeitsmarkt geschleudert“ (Marx) wurden, ohne dort bereits ausreichend Arbeitsplätze vorzufinden, sind es heute die „Überflüssigen“ einer allmählich arbeitslos werdenden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, deren Arbeitskraft im Produktionsprozess nicht mehr benötigt wird, ohne dass dadurch aber die Menschen schon vom Zwang, sich durch Lohnarbeit materiell zu reproduzieren, befreit wären. Erzeugte das System also damals noch nicht genug Arbeit, um die Massen in Lohnarbeitszusammenhänge zu integrieren, erzeugt es diese heute nicht mehr. Die Konsequenzen sind dabei – auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsniveaus – mehr oder weniger dieselben: nämlich die Entstehung einer stetig wachsenden Masse pauperisierter, in Kriminalität und Schattenwirtschaft abgedrängter Menschen, der die kapitalistischen Funktionseliten nur noch repressiv – wenn auch derzeit sicherlich noch in sehr unterschiedlicher Intensität – mithilfe des Strafrechts beizukommen wissen.
Die historischen Parallelen reichen dabei zum Teil sogar bis auf die Ebene der konkreten Sanktions- und Bestrafungsformen: Wie bereits erwähnt, hat in den letzten Jahren mit dem sogenannten „reintegrative shaming“ ein neues (oder vielmehr „neues altes“) Konzept Eingang in die Kriminologie gefunden, das auf die öffentliche Beschämung eines Täters abzielt (dazu Münster 2013) – eine Strafform, die wohl unmittelbar Erinnerungen an einen Pranger wachruft. Hier lässt in der Tat das ansonsten mit Vorliebe (und zu Unrecht) gegenüber der „humanisierten“ Gegenwart als besonders „unmenschlich“ und „barbarisch“ denunzierte „finstere Mittelalter“ grüßen.
Eine weitere – weniger (oder jedenfalls nicht primär) das Strafrecht betreffende, sondern allgemein-gesellschaftliche – Parallele zur frühkapitalistischen Phase kann wahrscheinlich nicht zuletzt auch in der massiven Zunahme von Antiziganismus in der aktuellen Kapitalismuskrise gesehen werden. Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, war schon die frühkapitalistische Repression gegen all die „Überflüssigen“, die der sozial verheerende Umwälzungsprozess von der mittelalterlich-feudalen zur kapitalistischen „Arbeitsgesellschaft“ hervorbrachte, mit handfesten Ausrottungsabsichten verbunden, die sich insbesondere gegen die als besonders „überflüssig“, weil primär als Arbeitsscheue und Gauner wahrgenommenen „Zigeuner“ richtete. Laut Roswitha Scholz (2007: 212) stellt „der Zigeuner“ den „Homo sacer par excellence des warenproduzierenden Patriarchats“ dar[24], weil er all das verkörpert, was die kapitalistische Gesellschaft ihren Mitgliedern versagt bzw. das moderne Waren- und Arbeitssubjekt sich selbst in eiserner Arbeits- und Selbstdisziplin versagen muss. Die daraus resultierende Aggression richtet sich daher gegen solche Bevölkerungsgruppen, die sich diesen Versagungen und dieser (Selbst-)Disziplin (tatsächlich oder vermeintlich) entziehen können, wobei eine bevorzugte Projektionsfläche für solche Phantasien traditionell eben „Zigeuner“ waren und sind. Gerade in der heutigen „Krise der Arbeitsgesellschaft“, in der immer größere Teile der Bevölkerung für die Arbeit faktisch „überflüssig“ werden oder jedenfalls zunehmend von der „Überflüssigkeit“ bedroht sind (vgl. Scholz 2008), nehmen derartige Projektionen wieder besonders rabiate Formen an, die sich nicht nur, aber insbesondere in einer massiven Zunahme von Antiziganismus artikulieren. Dabei ist es vor allem die drohende gesellschaftliche „Überflüssigkeit“, die damit abgewehrt werden soll, was gerade nicht in eine Kritik an den zunehmend untragbar werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen mündet, sondern vielmehr in einer unerbittlichen Aggression gegen bzw. Abgrenzung von den bereits manifest „Überflüssigen“ Gestalt annimmt. Nicht zufällig nehmen in diesem gesellschaftlichen Klima auch Formen der staatlichen Diskriminierung und Repression gegen „Zigeuner“ wieder zu (vgl. Espinoza 2014).[25]
Dieser freilich auch ein wenig spekulative Vergleich von frühkapitalistischem und spätkapitalistischem repressivem Strafrecht ist dabei selbstverständlich nicht als These eines „Rückfalls“ des Strafrechts in frühere, womöglich gar vormoderne Formen oder Aggregatzustände (miss) zu verstehen. Eher (und ganz im Gegenteil) ist damit darauf verwiesen, dass frühmodernes und spätmodernes Strafrecht auf ein und demselben Kontinuum liegen und es sozusagen lediglich einen graduellen, jedoch keinen absoluten Unterschied zwischen der „Blutgesetzgebung“ des Frühkapitalismus und dem vermeintlich humanisierten Strafrecht der Gegenwart gibt. Der bürgerliche Rechtsstaat hat einen repressiven Kern, und alle Rechte und Annehmlichkeiten wie Menschenrechte usw. gelten nur unter Vorbehalt, sind an eine gelingende Wertverwertung gebunden und können daher auch wieder zurückgenommen werden (so wie alle materiellen Errungenschaften wegen Unfinanzierbarkeit geschlossen und stillgelegt werden können). Deshalb kann auch das strafrechtliche Pendel, wie aktuell, wieder in eine repressivere Richtung ausschlagen, wenn die gesamtgesellschaftlichen Umstände dies erfordern – wenn auch die Repression qua Strafrecht wahrscheinlich nicht oder jedenfalls nicht mehr so ohne weiteres die Form von systematischen Folterungen oder Hinrichtungen annehmen wird. Kategorisch ausschließen lässt sich dies gleichwohl nicht, wie etwa die USA mit der Behandlung von sogenannten „ungesetzlichen Kombattanten“ im berühmt-berüchtigten Gefangenenlager von Guantánamo bewiesen haben (vgl. Rose 2004).
In diesem Zusammenhang ist generell auch auf die Entstehung eines sogenannten „Feindstrafrechts“ hinzuweisen. Bezeichnet wird damit eine (gegenwärtig unübersehbar zunehmende) Einschränkung und Begrenzung rechtsstaatlicher Garantien, „indem bestimmte Sachverhalte und Personen(-gruppen) von deren Schutz ausgenommen werden und einer Entrechtung ausgesetzt sind“ (Singelnstein/Stolle 2006: 106). Evident sind solche Einschränkungen etwa bei Anti-Terrorgesetzen, Gesetzen gegen organisierte Kriminalität oder in der aktuell ständig verschärften Asylgesetzgebung. Günter Jakobs, der Begriffsbegründer und rechtswissenschaftliche Apologet des „Feindstrafrechts“, begründet dieses rechtsphilosophisch insbesondere unter Rekurs auf Thomas Hobbes und Immanuel Kant. Demnach stelle sich eine Person, die durch ihr Handeln den „Gesellschaftsvertrag“ aufkündige, außerhalb der Gesellschaft, weshalb sie nicht nur alle Rechte, sondern auch ihre Eigenschaft als Person verliere und so zu einem Feind der Gesellschaft werde, der entsprechend bekämpft werden müsse (z.B. Jakobs 2010). Die Nähe zur Agambenschen Figur des „homo sacer“ (Agamben 2002) ist hier geradezu frappant: Eine als Feind der Gesellschaft definierte Person hört auf, ein Rechtssubjekt im engeren Sinne und damit auch „Mensch“ zu sein. Das Subjekt (oder vielmehr Objekt) des Feindstrafrechts ist im wahrsten Sinne des Wortes vogelfrei, ein Wesen ohne bürgerliche Rechte und somit nichts weiter mehr als ein Stück Biomasse („nacktes Leben“, wie es Agamben bezeichnet). Gegen solche Tendenzen müssen auch die Einwände von Demokratiefetischisten wie Oskar Negt hilflos bleiben, wenn sie geradezu moralisch monieren, dass „das Gesetz (…) nicht nur Gesellschaft und Staat vor dem Verbrecher [schützt], sondern auch umgekehrt: das Gesetz schütze auch den Verbrecher vor den willkürlichen Zugriffen des Staates und Racheakten der Bürger. Mit Bedacht haben die Verfasser des Grundgesetzes den Schutz der Menschenwürde nicht auf den rechtsbewussten Bürger beschränkt; sie sprechen vielmehr von der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, aller Menschen“ (Negt 2010: 109, Herv. im. Orig.). Gerade die Existenz des Feindstrafrechts beweist, was „Kritiker“ wie Negt negieren möchten: dass das Recht (wie auch die rechtsförmig verfassten modernen Demokratien) im Zweifel sehr wohl einen Unterschied kennen zwischen Personen, die Rechtssubjekte sind, und solchen, die eben kein Rechtssubjekt (mehr) sind, dadurch aber auch aufhören, Menschen im engeren (menschen-)rechtlichen Sinne zu sein. Flüchtlinge, die mit Mauern und Stacheldraht am Grenzübertritt gehindert werden sollen, können jeden Tag am eigenen Leib erfahren, was der Unterschied ist zwischen ihnen und etwa einem EU-Bürger mit dem grundrechtlich verbrieften Recht auf Freizügigkeit. Schon der Gedanke erscheint absurd, es würde einem mit militärischer Gewalt am Grenzübertritt gehinderten Flüchtling etwas nützen, sich auf seine Menschenrechte zu berufen. In einer spätkapitalistischen Welt, die immer mehr ökonomisch „Überflüssige“ produziert, produzieren Demokratie und Rechtsstaat ebenso viele rechtlose „homines sacri“, die in Schach gehalten, kontrolliert, eingesperrt und – wer weiß – in letzter Instanz vielleicht auch getötet werden müssen (vgl. Böttcher 2016).[26]
Fazit
Rusches und Kirchheimers These vom Zusammenhang von Sozialstruktur respektive Arbeitskräftebedarf und Strafvollzug erweist sich vor diesem Hintergrund auch heute noch – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen – als brandaktuell. Sie taugt insbesondere dazu, wie in diesem Beitrag zumindest ansatzweise gezeigt werden sollte, die auch in der akademischen Kriminologie wahrgenommenen und vieldiskutierten punitiven Tendenzen im Strafrecht der Gegenwart gesellschaftstheoretisch noch näher zu begründen. Die damit eröffnete theoretische Perspektive geht dabei allerdings insofern über die Punitivitätsthese in ihrer überwiegend vertretenen Form hinaus und bietet daher einen weitergehenden Erklärungsansatz, als entsprechende Entwicklungen – wie schon die „Krise der Arbeit“ selbst – nicht primär auf Neoliberalismus, Ökonomisierung und damit assoziierte staatliche Restrukturierungen zurückgeführt werden. Sondern diese neoliberalen Restrukturierungen werden selbst nur als politische Reaktionen auf einen viel umfassenderen Prozess des sukzessiven „Verschwindens“ von Arbeit aus dem kapitalistischen Produktionsprozess und damit zusammenhängenden sozialen und ökonomischen Effekten betrachtet, die im Strafrecht die Form zunehmender Punitivität, Sicherheitsideologien und staatlicher Überwachung annehmen.
Die „Krise der Arbeit“ ist dabei auch längst noch nicht an ihrem Höhepunkt angelangt. Glaubt man aktuellen Studien zur „Zukunft der Arbeit“, steht uns dank weiterer Fortschritte auf dem Gebiet digitaler Technologien unmittelbar ein neuer Automatisierungsschub bevor, der in den nächsten zwei Jahrzehnten gut die Hälfte aller Arbeitsplätze vernichten könnte (vgl. Frey/Osborne 2017; Bowles 2014). Selbst wenn die mit der Digitalisierung assoziierten Arbeitseinsparungen nicht so stark ausfallen sollten, wie die zitierten Studien prognostizieren, würde dies zwangsläufig einen massiven Anstieg der global ohnehin bereits hohen Arbeitslosigkeit bedeuten. Wenn die in diesem Beitrag aufgestellte These eines konstitutiven Zusammenhangs von „Krise der Arbeit“ und strafrechtlicher Punitivität zutreffend ist, dann ist also durchaus davon auszugehen, dass auch die repressiven und punitiven Tendenzen im Strafrecht der letzten Jahre nur eine vorläufige Entwicklung beschreiben und in dem Maße weitere Verschärfungen drohen, wie die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ weiter voranschreitet.
Die konkrete Entwicklung hängt dabei freilich maßgeblich von der weiteren Verlaufsform der Krise ab. Sollte die Krise in absehbarer Zeit auch in den westlichen Zentren in das Stadium des manifesten Zerfalls staatlicher Strukturen übergehen, wie es in den zahlreichen und stetig mehr werdenden „gescheiterten Staaten“ an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems längst Realität ist, wird sich die in diesem Beitrag aufgeworfene Frage der Punitivierung des Strafrechts wahrscheinlich nicht mehr oder zumindest anders stellen. „Gescheiterte Staaten“ führen besonders eindringlich vor Augen, was in unseren Breiten gerne vergessen oder verdrängt wird: nämlich dass Aufbau und Erhaltung staatlicher Strukturen wesentlich von einer gelingenden Wertverwertung abhängen, die überhaupt erst die Grundlage ihrer Finanzierung (qua Abschöpfung von Steuern) schafft. Fällt diese Grundlage weg, erodiert auch die Staatsmacht, und in den betroffenen Ländern breiten sich anomische und bürgerkriegsähnliche Zustände aus (oftmals spielen dabei gerade Angehörige des erodierten und entsprechend „verwildernden“ staatlichen Sicherheitsapparats eine tragende Rolle). Die Diagnose einer „Rückkehr des repressiven Strafrechts“ ist vor diesem Hintergrund daher auch nicht als These der Wiederkehr eines „starken Staats“ misszuverstehen. Ganz im Gegenteil: Der Staat betreibt lediglich mit den Mitteln, die er hat (und solange er sie noch hat), Krisenverwaltung – und eines seiner bevorzugten Mittel hierfür ist das Strafrecht.
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Endnoten
[1] Otto Kirchheimer (1905-1965) ist der einen oder dem anderen möglicherweise ein Begriff als Mitglied des „erweiterten Kreises“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung rund um Horkheimer und Adorno. Er bildete dort gemeinsam mit Franz Neumann sozusagen die (wenngleich nur sehr peripher eingebundene) rechtswissenschaftliche Abteilung innerhalb der Kritischen Theorie – von Franz Neumann stammt etwa das recht bekannte Werk Behemoth, mit dem er eine kritische Theorie des nationalsozialistischen Staates vorlegte (Neumann 1984, erstmals veröffentlicht 1942, in erweiterter Form 1944). Ein brisantes historisches Detail ist, dass Kirchheimer ein „Lieblingsschüler“ von Carl Schmitt war, mit dem Kirchheimer später jedoch, nach dessen Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“ (Koenen 1995), aus naheliegenden Gründen brach. Die Grundlage für Sozialstruktur und Strafvollzug stammt hauptsächlich von Georg Rusche (1900-1950). Dieser hatte bereits 1931 als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung einen kurzen Aufsatz über den Zusammenhang von Arbeitsmarkt und Strafvollzug verfasst, woraufhin er mit einem Buchprojekt zum Thema beauftragt wurde. Eine Zusammenfassung des Projekts erschien 1933 in der Zeitschrift für Sozialforschung (Rusche 1933). Nachdem sein über 400 Seiten starkes Manuskript für überarbeitungsbedürftig befunden wurde, Rusche jedoch infolge seiner Emigration nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die Überarbeitung nicht selbst leisten konnte (als „Halbjude“ emigrierte Rusche zunächst nach Paris, dann nach Großbritannien und zeitweilig nach Palästina, um schließlich wieder nach Großbritannien zurückzukehren, wo er bis zum Ende seines Lebens unter höchst prekären materiellen Bedingungen lebte – in Großbritannien wurde er während des Zweiten Weltkriegs u.a. auch als „enemy alien“ inhaftiert und nach Kanada deportiert, wo er bis 1941 in verschiedenen Internierungslagern festgehalten wurde), wurde Otto Kirchheimer mit dieser Aufgabe betraut. Das Resultat der Überarbeitung ist das 1939 unter beider Namen erschienene Buch Punishment and Social Structure, das damals die erste Publikation des Instituts für Sozialforschung nach der Übersiedlung ins US-Exil darstellte. 1974 wurde erstmals eine Rückübersetzung in deutscher Sprache veröffentlicht.
[2] Auf „Krimpedia“, einem Online-Lexikon der Kriminologie der Universität Hamburg, findet sich übrigens unter dem Stichwort „Punitivität“
(https://www.krimpedia.de/Punitivität) ein Eintrag, der im Anschluss an Rusche und Kirchheimer den heute schwindenden Bedarf an Arbeitskräften als mögliche Erklärung von Punitivität zumindest in Betracht zieht. So weit ich sehe – und wie auch in besagtem Krimpedia-Artikel eingeräumt wird – wurde diesem Zusammenhang seitens der (kritischen) Kriminologie bislang jedoch nicht systematisch nachgegangen. Die Erklärung punitiver Tendenzen als Folgen von Neoliberalismus und Ökonomisierung scheint für Kriminolog/innen nun einmal ungleich attraktiver zu sein, wofür es vermutlich ganz handfeste, wissenschaftsimmanente Gründe gibt: Eine Kontextualisierung der Punitivität in der „Krise der Arbeitsgesellschaft“ ließe als Perspektive eigentlich nur noch die Abschaffung des Kapitalismus und damit auch des Strafrechts (jedenfalls in seiner heutigen Form) und der Kriminologie selbst (inklusive der Subjektform „Kriminologe“ bzw. „Kriminologin“) übrig. Die verkürzte kritische Bezugnahme auf neoliberale Restrukturierungen und Ökonomisierungsprozesse als Ursache der Punitivität erlaubt es hingegen, die Sache auf ein Problem des „falschen“ Strafrechts und der „falschen“ Kriminologie herunterzubringen, die zumindest potentiell durch ein „besseres“ Strafrecht bzw. eine „bessere“ Kriminologie zu ersetzen wären. Es scheint sich hier also einmal mehr recht eindrucksvoll die Marxsche These zu bestätigen, dass (und in welchem Ausmaß) „das Sein das Bewusstsein bestimmt“ (vgl. Marx 1971/1859: 9).
[3] Siehe in diesem Zusammenhang auch eine Untersuchung von William Chambliss (1964) – einem anderen „Klassiker“ der Kritischen Kriminologie (Chambliss machte sich in der Kriminologie vor allem als Begründer einer marxistisch ausgerichteten „political economy of crime“ (Chambliss 1975) einen Namen) – über Entstehung und Wandel der englischen Vagabundengesetze. Recht instruktiv – wenngleich mit stark ausgeprägten traditionsmarxistischen Verkürzungen, die ähnlich verschwörungsideologische Züge hervorbringen wie die in der Einleitung genannten („Straftrecht als bloßes Instrument einer herrschenden Kapitalistenklasse“) – beschreibt er, wie sich mit der Durchsetzung des Kapitalismus im 16. Jahrhundert die Funktion von Vagabundengesetzen (die im Spätmittelalter noch eher darin bestanden hatte, einen u.a. durch die verheerenden Pestepidemien entstandenen Arbeitskräftemangel zu bearbeiten) dahingehend wandelt, dass nunmehr ein sozial schädliches, als kriminell definiertes Verhalten abgewehrt werden sollte. Landstreicherei bekam somit den Status einer kriminellen Handlung, deren sich praktisch jeder und jede strafbar machte, der bzw. die trotz Arbeitsfähigkeit nicht offenkundig einer regelmäßigen Arbeit nachging. Die Verurteilung als „Vagabund” war dabei verbunden mit äußerst drakonischen, peinlichen Strafen, die sich vom Auspeitschen, dem Abschneiden eines Ohrs, der Brandmarkung (dem Einbrennen des Buchstaben „V“ in die Brust mit einem Brandeisen) bis hin zur Todesstrafe erstreckten. Unübersehbar sind hier auch die Parallelen zur These von Rusche/Kirchheimer hinsichtlich des Zusammenhangs von Arbeitskräftebedarf und Strafvollzug.
[4] Durchaus ähnlich wie Rusche/Kirchheimer verficht auch Foucault die These, dass die Entwicklung des modernen Strafens nichts mit einer „Humanisierung“ des Strafvollzugs zu tun hatte (obwohl ein entsprechendes Menschenrechtspathos diese Entwicklung freilich ideologisch begleitete), sondern vielmehr einen Wandel hinsichtlich des gesellschaftlichen Zwecks der Bestrafung reflektiert: „In Wirklichkeit hat sich hinter diesen Veränderungen eine Verschiebung im Ziel der Strafoperation vollzogen. Es handelt sich nicht so sehr um eine Intensitätsminderung als vielmehr um eine Zieländerung“ (Foucault 1994: 25). Zweck der Strafe sei nunmehr die Besserung und Umformung des kriminellen Subjekts, das Gefängnis konstituiere eine „Technologie zur Besserung des Individuums“ (ebd.: 301). Was Foucault freilich verabsäumt, ist eine systematische Analyse des Zusammenhangs dieser Entwicklungen mit der historischen Konstitution und Durchsetzung des Kapitalismus, wodurch seine Befunde erst ihr volles kritisches Potenzial entfalten würden, indem auf diese Weise die „Verschiebung im Ziel der Strafoperation“ als Disziplinierung der Menschen für die abstrakte Arbeit kenntlich würde. Stattdessen ist bei ihm von einer mysteriösen „Disziplinarmacht“ die Rede, die sich in diesen Entwicklungen geltend mache.
[5] Zahlreiches historisches Material über Maßnahmen zur Disziplinierung und Abrichtung der Menschen für die abstrakte Arbeit im Frühkapitalismus wie auch über die offene Menschenverachtung und Perfidie ihrer „Erfinder“ und Anwender finden sich in Kurz 2009.
[6] Die Ausbreitung von Geldstrafen dürfte auch, wie bereits erwähnt, nicht überall gleichermaßen bzw. in derselben Extensität vor sich gegangen sein, so z.B. in den USA weniger stark als in anderen westlichen Ländern (vgl. Jancovic 1977).
[7] Es ist beispielsweise ein alter Hut und allgemein bekannt, dass Verschärfungen im strafrechtlichen Normenbestand nicht im Mindesten die abschreckende und kriminalitätsreduzierende Wirkung haben, mit der sie für gewöhnlich begründet werden. Eher sorgen sie für eine Zunahme an Verurteilungen und eine Steigerung der Inhaftierungsraten. Strafrechtliche Verschärfungen gehören zu den bevorzugten Strategien einer repressiven Kriminalpolitik, die bestimmte negative Begleiterscheinungen der kapitalistischen Gesellschaftsform bewältigen helfen sollen, die aber nun einmal die Eigenschaft haben, eben durch diese Gesellschaftsform selbst produziert zu sein (Kriminalität als Folge von sozialer Ungleichheit, Armut etc.). Deshalb verbietet es sich im Übrigen schon von vornherein, die „Funktion“, die das Strafrecht im Kapitalismus erfüllt, in einem schlecht funktionalistischen Sinne zu verstehen, wonach es ganz gezielt – womöglich auch noch von einer das (Straf-)Recht kontrollierenden herrschenden „Kapitalistenklasse“ – zur Erzielung bestimmter gewünschter Wirkungen eingesetzt werden könnte, um so das „Funktionieren“ des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu gewährleisten. Gerade die anstehende Diskussion der Rückkehr des repressiven Strafrechts in der „Krise der Arbeitsgesellschaft“ wird deutlich machen, dass von einer solchen „Funktion“ des Strafrechts nicht (und heute immer weniger) ausgegangen werden kann, insofern mit dem Strafrecht im Grunde schon immer nur gesellschaftliche Widerspruchsbearbeitung betrieben wurde und dieses in der gegenwärtigen Situation überhaupt nur noch als politisches Instrument für ein permanentes und dabei mit Fortschreiten des Krisenprozesses zunehmend repressiver werdendes Krisenmanagement herhalten muss.
[8] Die nur eingeschränkte Tauglichkeit von amtlichen Arbeitslosenstatistiken zur empirischen Plausibilisierung einer Krise der Arbeit hat vor allem den Grund, dass diese Statistiken oft bis an die Grenze zur mutwilligen Täuschung frisiert sind. So hängt deren Aussagekraft bereits wesentlich davon ab, wie eigentlich „Arbeitslosigkeit“ definiert und operationalisiert wird. Claus Peter Ortlieb (2014) weist darauf hin, dass „[n]ach den von eurostat gegebenen methodischen Hinweisen (…) eine Person im Alter von 15 bis 74 Jahren als erwerbslos [gilt], wenn sie in der Berichtswoche der Erhebung ohne Arbeit ist, innerhalb von zwei Wochen eine Arbeit aufnehmen könnte und in den vergangenen vier Wochen aktiv eine Arbeit gesucht hat. Insbesondere der letzte Punkt ermöglicht es, Arbeitslose aus der Statistik herausfallen zu lassen, etwa indem man sie in Qualifizierungs-Maßnahmen abkommandiert oder zu Frührentnern erklärt, die dem Arbeitsmarkt gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch Arbeitslose, die sich aus dem System zurückziehen, weil sie sich keine Chancen ausrechnen, werden hier nicht erfasst. Es ist daher davon auszugehen, dass die amtlichen Erwerbslosenquoten die tatsächliche Arbeitslosigkeit massiv unterschätzen. Das sollte man im Auge behalten, wenn man versucht, die amtlichen Daten zu interpretieren.“
[9] Diese Quote lag zwischenzeitlich, Mitte des letzten Jahrzehnts (2004/2005), sogar noch wesentlich höher, nämlich bei rund 20:1. Zur Zeit der „Vollbeschäftigung“ in den 1960er Jahren war hingegen das Verhältnis von Arbeitslosen und offenen Stellen noch umgekehrt, d.h. damals gab es zahlenmäßig mehr offene Stellen als Arbeitslose.
[10] Dazu steht nur auf den ersten Blick in Widerspruch, dass sich für diejenigen, die noch den Luxus einer „normalen“ Vollzeitbeschäftigung haben, Arbeitszeit sowie Arbeitsintensität und damit gewissermaßen der Ausbeutungsgrad tendenziell erhöhen (in Österreich z.B. soll demnächst wieder der 12-Stunden-Arbeitstag eingeführt werden). Für eine stetig wachsende Masse von Menschen bedeutet die „Krise der Arbeit“ Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung, während sich zugleich für die noch voll im Erwerbsprozess Befindlichen die Arbeitszeit eher verlängert und die Arbeit immer weiter intensiviert und verdichtet. In diesen Zusammenhang gehören dann wiederum so postmoderne Phänomene wie das heute allseits bekannte und sich offenbar epidemieartig ausbreitende „Burn-out“.
[11] Ein Prozess, der aber durchaus bereits auch in Metropolen des kapitalistischen Zentrums beobachtet werden kann (z.B. New York, London, Paris, Berlin etc.). Hinsichtlich der Verelendung weiter Bevölkerungsteile haben unter den avancierten kapitalistischen Volkswirtschaften freilich die USA klar die Nase vorn: Laut einem im Jahr 2014 veröffentlichten Bericht der US-Behörde für Landwirtschaft haben rund 44 Millionen Amerikaner/innen (von insgesamt 320 Millionen) nicht genügend zu essen und sind auf Lebensmittelmarken angewiesen (vgl. Coleman-Jensen et al. 2014). Der MIT-Ökonom Peter Temin (2017) attestiert den USA in einer kürzlich publizierten Studie mittlerweile sogar ganz explizit Dritte-Welt-Verhältnisse für einen immer größeren Teil der Bevölkerung. 80 Prozent der US-Bevölkerung seien verschuldet und/oder von extrem prekären und unsicheren Arbeitsverhältnissen betroffen.
[12] So stellt sich das Problem jedenfalls auf gesamtgesellschaftlicher Ebene dar. Ein Einzelkapital kann durchaus (nahezu) vollständig automatisiert sein und trotzdem (bzw. gerade deshalb) hohe Profite erzielen. Auf der Ebene des Gesamtkapitals geht die Tendenz zunehmender Automatisierung von Produktionsabläufen hingegen mit einem Schrumpfen der Mehrwertmasse einher. Umso größer wird die Konkurrenz um Anteile an diesem ständig kleiner werdenden Mehrwert-„Kuchen“.
[13] Die Unhaltbarkeit dieses Zustandes sollte schon allein daran ersichtlich werden, dass eine Gesellschaft von Arbeitslosen unmöglich noch in dem (stetig steigenden) Ausmaß Waren konsumieren (sprich: kaufen) kann, wie dies angesichts der immanenten Wachstums- und Produktivitätszwänge kapitalistischer Ökonomien für eine längerfristige Reproduktion und Fortsetzung derselben notwendig wäre – jedenfalls nicht, solange dieser Konsum eine entsprechende Kaufkraft voraussetzt, die für die absolute Mehrheit der Weltbevölkerung nur aus einem Erwerbseinkommen stammen kann. Hier hilft sicher auch keine „Maschinensteuer“ oder „Automatisierungsdividende“, wie sie in letzter Zeit, angesichts der drohenden Verwerfungen durch fortschreitende Automatisierung und Digitalisierung, gelegentlich angedacht werden (z.B. Gundlach et al. 2016) – so hoch kann eine Maschinensteuer wahrscheinlich gar nicht veranschlagt werden, wie erforderlich wäre, um den durch Massenarbeitslosigkeit verursachten Verlust von kaufkräftiger Nachfrage sozialstaatlich zu kompensieren (dass eine Steuer von solchem Umfang jede Wirtschaft unmittelbar abwürgen würde, steht dabei wieder auf einem ganz anderen Blatt). Ähnliches gilt für ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es ebenfalls als potentielle Maßnahme zur Bewältigung der Krise der Arbeit und ihrer Folgen gehandelt wird (z.B. Franzmann 2010): Wovon sollte dieses finanziert werden, wenn dem (zumeist ohnehin bereits hoffnungslos verschuldeten) Staat durch das Wegbrechen von Lohn- und damit in weiterer Folge Konsumsteuern ein großer Teil seiner finanziellen Grundlagen verlorengeht? Das Problem der drohenden Geldentwertung infolge schrumpfender Mehrwertproduktion (die ja nur auf der Verwertung von Arbeit beruhen kann) ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.
[14] Zu den kritischen Befunden von Wacquant siehe etwas ausführlicher auch die Rezension von Thomas Meyer (2017) in EXIT! Nr. 14.
[16] Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch größer angelegte, systematisch durchgeführte Studien zu diesem Thema, so z.B. Schlepper/Wehrheim 2017b.
[17] In Deutschland wurde die Sicherheitsverwahrung, wie so manche andere Schweinerei (z.B. Hartz IV), massiv unter Rot-Grün vorangetrieben. Der einen oder dem anderen wird wahrscheinlich noch der entsprechende Slogan von Gerhard Schröder in Erinnerung sein: „Wegsperren, und zwar für immer!“
[18] Das kann dann natürlich auch lächerlich absurde Ausmaße annehmen: So hat etwa ein texanischer Richter im Jahr 2008 einen Mann wegen sexuellen Kindesmissbrauchs in allen 40 Fällen zu jeweils einmal lebenslang verurteilt, woraus sich eine insgesamt zu verbüßende Haftstrafe von über 4000 Jahren ergab. Kurioser als solche Urteile ist eigentlich nur noch die Ernsthaftigkeit, mit der dergleichen betrieben wird, etwa wenn anschließend die Staatsanwaltschaft Berechnungen anstellt, wann der Verurteilte erstmals um Freilassung auf Bewährung ansuchen dürfen wird – im konkreten Fall frühestens im Jahr 3209 –, und dies genauso bierernst wie folgt kommentiert: „Wir glauben, dass das ein gerechtes Ergebnis ist“ (siehe http://www.spiegel.de/panorama/justiz/40-mal-lebenslang-us-amerikaner-zu-4060-jahren-haft-verurteilt-a-563598.html). Ein Schelm, wer darin nur die Realsatire eines modernen Strafprozesses zu erkennen vermag, die an Absurdität fast noch Kafkas Prozess in den Schatten stellt.
[20] Der logische Endpunkt dieser „Schizophrenie“ des feministischen Opfer- bzw. Frauenschutzes kann auf geradezu beeindruckende Weise in einem im Onlinemagazin Telepolis publizierten Artikel von Birgit Gärtner (2018) besichtigt werden. Unter dem Titel „Die Obergrenze für (tödlichen) Frauenhass ist erreicht“ geht sie der Frage nach, „[w]arum es die Linken den Rechten so leicht machen, den Feminismus zu kapern“. Konkret moniert sie, dass die Linke auf fahrlässige Art und Weise dazu neige, die Problematisierung aktuell dramatisch zunehmender Gewalt gegen Frauen, insbesondere durch Täter mit muslimischem Hintergrund, einseitig als rassistisch zu kritisieren und damit ein real bestehendes (und mit dem nicht abreißenden Strom von Flüchtlingen vor allem aus muslimischen Ländern weiter wachsendes) Problem faktisch zu negieren. Dies treibe Frauen, die völlig zu Recht Angst hätten (und überwiegend alles andere als Rassistinnen seien), zunehmend in die Hände von AfD und Co., die diese Ängste ernst nähmen. Nun ist an Gärtners Diagnose der Naivität und Realitätsverweigerung aktueller linker Politik sicherlich so einiges Wahres dran. Was hier jedoch Anlass bieten könnte, kritisch über den Zustand einer Gesellschaft nachzudenken, in dem linke Politik offenbar nur noch die Wahl hat, nach Rechts abzubiegen oder aber als Linke zunehmend weltfremde Positionen zu vertreten, mündet bei Gärtner in einen schwindelerregenden Eiertanz um die Notwendigkeit einer de facto rechtsgerichteten linken Politik, die aber gefälligst nicht „rechts“ sein soll. Dass dies ein Tanz ist, der nur damit enden kann, knöcheltief in Eidotter und Eierschalen zu waten, ist so evident wie es von Gärtner mit enormem argumentativem Aufwand zu kaschieren versucht wird. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass die Linke laut Gärtner zur Kenntnis nehmen muss, dass ein Punkt erreicht ist, an dem Toleranz und Akzeptanz ihre Grenzen haben. Wenn Frauen sich im eigenen Land nicht mehr sicher fühlen können, besteht dringend Handlungsbedarf. Und dazu gehören insbesondere strengere Regeln bei der Zuwanderung, vor allem für junge, muslimische Männer. Denn „die Gesellschaft – und zwar die gesamte Gesellschaft – muss vor Gewalttätern geschützt werden“ (ebd.). Was ist das aber anderes, als eben das, was Gärtner mit ihrer recht ausführlich und umständlich dargelegten Argumentation zu widerlegen versucht – nämlich das Plädoyer für eine repressivere und damit bereits per definitionem „rechte“ Ausrichtung linker Politik? Der von den Rechten „gekaperte“ Feminismus soll von den Linken durch eine „rechte“ Politik zurückerobert werden, ohne dass diese Politik als „rechts“ zu denunzieren sein soll. Gärtners Text legt somit ein beredtes Zeugnis davon ab, wie wenig heute systemimmanent noch eine differenzierte Diskussion geführt werden kann, ohne dabei Krisenideologie zu produzieren oder überhaupt den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren – eben das zeigt aber auch an, wie weit die „Verwilderung“ des Denkens in der Krise des warenproduzierenden Patriarchats bereits fortgeschritten ist.
[21] Für aktuelle „Trends“ im Bereich der Überwachung und Kontrolle durch neue digitale Technologien, „Big Data“ usw. vgl. Jansen 2015; Meyer 2018.
[22] In diese Kategorie sollen offenbar bald auch psychisch Kranke fallen (vgl. Duncker 2018).
[23] Hier kommt hinzu, dass auch organisierte Kriminalität und wachsende Terrorgefahr selbst nicht unabhängig von der zunehmend desaströsen sozialökonomischen Situation speziell in der kapitalistischen Peripherie gesehen werden können (dazu Bedszent 2014).
[24] Scholz greift hier auf den Begriff des „homo sacer“ von Giorgio Agamben (2002) zurück, der damit einen vogelfreien, jederzeit tötbaren und damit gewissermaßen auf das „nackte Leben“ reduzierten Menschen beschreibt.
[25] Zum Antiziganismus gehört nicht zuletzt auch die Feindschaft gegen Obdachlose und Bettler. Nicht zufällig ist zunehmend von einer „Bettelmafia“ die Rede (vgl. Schreiter 2015).
[26] Der Anfang könnte in nicht allzu ferner Zukunft mit dem Schießbefehl an den Grenzen gegen die immer mehr werdenden Flüchtlinge gemacht werden. Darüber wurde ja bereits mehr als einmal hinter gar nicht mehr so vorgehaltener Hand nachgedacht (siehe http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd-chefin-frauke-petry-fodert-schiessbefehl-an-grenze-14044672.html).