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Klaus Kempter


Der Todestrieb des modernen Subjekts

Ernst Jüngers In Stahlgewittern

 


Vorbemerkung der Redaktion


Es wurde verschiedentlich bemerkt, dass der vor dem Hintergrund des westlichen Stellvertreterkriegs mit Russland in Europa – und ganz besonders in Deutschland – fröhliche Urständ feiernde Militarismus und Bellizismus manche Ähnlichkeit mit dem gesellschaftlichen Klima und insbesondere der Kriegsbegeisterung vor und während des Ersten Weltkriegs aufweist. Ganz offen wird heute wieder die „Kriegstüchtigkeit“ beschworen, und in Zeitungen kann man sogar Bekenntnisse einstiger „Kriegsdienstverweigerer“ lesen, die nun, wo es (wieder einmal) gegen die „Gefahr aus dem Osten“ geht, mit aller Emphase verlautbaren, ihrem Pazifismus abgeschworen zu haben und bereit zu sein, „für Deutschland“ und „unsere Freiheit“, „unsere Werte“ usw. zu kämpfen und ggf. auch zu sterben.


Unter dem Gesichtspunkt der Reminiszenz an die Situation von 1914ff. veröffentlichen wir an dieser Stelle den Beitrag Der Todestrieb des modernen Subjekts von Klaus Kempter. Dieser Text erschien erstmals 2021 im Sammelband Krise(n) der Moderne. Über Literatur und Zeitdiagnostik (hg. von Klaus Kempter und Martina Engelbrecht, Universitätsverlag Winter, Heidelberg) und befasst sich mit einem der berühmtesten literarischen Zeitzeugnisse über den Ersten Weltkrieg: Ernst Jüngers In Stahlgewittern. Wenngleich es beträchtliche historische Unterschiede zwischen der heutigen Weltlage und jener des frühen 20. Jahrhunderts gibt und auch der Phänotyp des bürgerlichen Subjekts heute kaum mehr Ähnlichkeiten mit dem von 1914 aufweist, erscheint doch einiges auf überraschende und geradezu gespenstische Weise aktuell – insbesondere die damals wie heute mit Händen zu greifenden selbstzerstörerischen Tendenzen. Allemal eine unleugbare Gemeinsamkeit und gleichsam Triebfeder des damaligen wie heutigen Willens zum Weltkrieg besteht in der vom Autor herausgestellten Leere der bürgerlich-kapitalistischen Existenz – eine Leere, die unter den spätpostmodernen Verhältnissen der Gegenwart noch viel augenfälliger ist (nicht von ungefähr sprach Robert Kurz gerade mit Blick auf das postmoderne Subjekt von einer „Null-Identität“). In Anbetracht der gesellschaftlichen Breite gegenwärtiger bellizistischer Diskurse und der Tatsache, dass es vor allem der (Links-)Liberalismus ist, der heute als führende Militarisierungsagentur fungiert, wäre dabei wohl auch die vom Autor am Ende des Beitrags skizzierte, tendenziell auf Rechtsextremismus und Fundamentalismus verengte Phänomenologie des bürgerlichen Todestriebs entsprechend zu erweitern. Der Todestrieb ist heute ubiquitär.


Ungeachtet der Aktualität vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, liefert der Beitrag darüber hinaus einige instruktive gesellschaftstheoretische Einsichten über den Ersten Weltkrieg im Kontext einer allgemeineren Geschichte der kapitalistischen Moderne.

 




Ernst Jüngers In Stahlgewittern gilt weithin als eines der bedeutendsten deutschen literarischen Werke über den Ersten Weltkrieg – vielleicht als das bedeutendste überhaupt.[1] Im Gegensatz zu etlichen anderen in der Weimarer Zeit populären Büchern hat es bis heute den Status eines literarischen Klassikers, einen Status, dem auch die Tatsache nichts anhaben kann, dass der Autor lange Zeit als politisch-weltanschaulich fragwürdige Gestalt galt und das Buch nicht mit dem Zeitgeist heutiger ‚postheroischer‘ und ‚postnationaler‘ Gesellschaften harmoniert. Auch pazifistische und linke Rezipienten zollten dem Werk große Anerkennung.[2] Wer nicht in das Lob der Stahlgewitter einstimmt, setzt sich leicht dem Verdacht einer bloßen Gesinnungskritik und eines damit korrespondierenden ästhetisch-literarischen Banausentums aus.


 

1. Langeweile in Stahlgewittern

 

Dessen ungeachtet ist hier ein Bekenntnis abzulegen: Beim Autor dieses Aufsatzes hat die Lektüre der Stahlgewitter zunächst die Empfindung der Langeweile hervorgerufen – ein durchaus überraschender, ja, irritierender Effekt, geht es darin doch um das ungeheuerliche Geschehen des ‚Großen Krieges‘, wie er in Frankreich und Großbritannien noch heute genannt wird. Und immerhin könnte man den Ersten Weltkrieg mit seinen Massenabschlachtungen, Bombardements, Gas-Attacken usw. als das bis dahin einschneidendste Ereignis der neuzeitlichen Geschichte betrachten: Die Todeszahlen und technischen Neuerungen gaben diesem Krieg eine zuvor noch nie gesehene Physiognomie.


Freilich ist diese Empfindung in der Rezeptionsgeschichte nicht gänzlich singulär, wie eine Kritik erweist, die nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahr 1963, in der Zeitschrift Alternative von deren Herausgeber Reimar Lenz veröffentlicht wurde. Lenz beschreibt dort zunächst, warum er sich mit Jünger beschäftigt, mit welchen positiven wie negativen Erwartungen er das Buch zur Hand nahm, und fährt sodann mit dem Bericht einer Enttäuschung fort: „die Entdeckungsreise des verspäteten Lesers von Jüngers Frühwerk sollte beschwerlich werden; sie führte mich durch trockenes, verkarstetes Sprachgelände.“ Nachdem Lenz einige Beispiele für Jüngers Sprache hervorgehoben hat, schließt er, In Stahlgewittern sei „ein tödlich langweiliges Buch, – sofern eine seelenlose Aufzählung von Kriegsgreueln, Mahlzeiten und Anekdoten langweilig sein kann und nicht unerträglich ist.“[3] Diese Schilderung eines subjektiven Leseerlebnisses ist nicht ohne weiteres als belastbares ästhetisches Urteil zu werten. Aber es handelt sich womöglich doch um einen Befund, den es versuchsweise ernst zu nehmen gilt. Woher also rührt die Empfindung der Langeweile?


Jünger selbst thematisiert immer wieder die Alltagslangeweile in den Schützengräben des Stellungskriegs.[4] Die Sprache des Buches, das zunächst Tagebuch war und auf dieser Grundlage zu einem chronologisch geordneten ‚Bericht‘ ausgearbeitet wurde, ist der Position kongruent, die der Autor für sich selbst gewählt hat, derjenigen des ins Geschehen verwickelten, aber distanzierten, kühl beobachtenden Berichterstatters und Chronisten: trocken, sachlich, mit phänomenologischem Blick. Gefühlsregungen kommen kaum zur Sprache, und wenn, dann ebenfalls lediglich im trockenen Berichtsduktus. Es wird folglich keine ‚spannende‘ Geschichte erzählt, kein plot entwickelt. Erzählt wird aus der persönlichen ‚Froschperspektive‘ des Frontsoldaten und Offiziers Jünger: Er informiert darüber, was er erlebt und beobachtet, ohne größere Zusammenhänge einzubeziehen, den Krieg in seiner Entwicklung darzustellen oder das Erlebte mit dem Gesamtgeschehen in Verbindung zu bringen.


Daraus ergibt sich eine weitere Eigentümlichkeit von Jüngers Bericht: das Fehlen übergeordneter Ideen, Vorstellungen von Geschichte und aktuellen Zeitläuften, das Ausklammern von Hintergründen, die einen am Krieg Unbeteiligten interessieren könnten: die Ziele und Motive der einander gegenüberstehenden Mächte, die Genese des Konflikts, eventuell tieferliegende Ursachengeflechte. Was an Reflexionen allenfalls geboten wird, bezieht sich unmittelbar auf den Alltag an der Front. Jünger teilt Gedanken mit, die unmittelbar aus der Erfahrung eines Stoßtruppführers erwachsen: Da geht es um den Wert der Kameradschaft, der Opferbereitschaft, die notwendigen Eigenschaften eines Führers, letztlich also um so genannte Sekundärtugenden, denen in der Kriegssituation wesentliche Bedeutung beigemessen wird. Darüber geht die Analyse des Kriegsgeschehens, abgesehen von einigen generalisierenden Bemerkungen im Vorwort, nicht hinaus.


Die Rezeption des oben zitierten Reimar Lenz dürfte sich von derjenigen der Weimarer Zeit insofern fundamental unterschieden haben, als die Leser der zwanziger Jahre, darunter auch linke Intellektuelle, bei der Lektüre aufgrund ihrer Zeitgenossenschaft – als ehemalige Kriegsteilnehmer oder als Beobachter des Kriegsgeschehens – durch eigene Erfahrung emotional stark involviert waren: Ihre Anteilnahme musste nicht mittels einer spannenden Handlung oder Offenlegung des Innenlebens des Protagonisten geweckt werden. Bei den Rezipienten der zweiten Jahrhunderthälfte war das überwiegend nicht mehr der Fall, vor allem, weil der Erste Weltkrieg im deutschen Geschichtsbewusstsein und in der Erinnerungskultur – anders als in Frankreich und Großbritannien – fast vollständig von den noch traumatischeren Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs überlagert wird.


Ein möglicher Grund für das Empfinden der Langeweile wird von Jünger implizit thematisiert: die Ähnlichkeit des Kriegsgeschehens mit dem Alltag, der das Zivilleben in der Moderne prägt – mit der Arbeit an großen Maschinen und technischen Apparaten, mit der hochdifferenzierten Arbeitsteilung und der daraus resultierenden Platzierung des Individuums in schmalen Segmenten des Gesamtprozesses, mit der Undurchschaubarkeit der industriellen Organisation für den einzelnen Arbeiter und der langweiligen Routine einfacher spezialisierter Handgriffe. Der Einzelne verliert sich in einer uniformen und gesichtslosen Masse.


Was in der Kriegsdarstellung der Stahlgewitter deutlich zu Tage tritt, ist der Widerspruch zwischen der Industrialisierung, der Technisierung und dem ‚Massen‘-Charakter des modernen Krieges auf der einen Seite und dem Wunsch des Soldaten, jedenfalls Jüngers, sich als Einzelner hervorzutun, seinen Heroismus unter Beweis zu stellen, wie es die Helden der Ilias taten, auf der anderen. Die Sicht Jüngers auf den modernen Krieg sei nun etwas eingehender betrachtet.


 

2. Ernst Jünger und der Krieg

 

Symptomatisch für die Kohorten, die 1914 als erste in den Krieg zogen, ist die Überraschung darüber, dass die Vorstellungen, die man sich vom großen Kampf gemacht hatte, so gar nicht mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen waren. Jünger schreibt im Vorwort der Erstausgabe von 1920:

 

„Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompanien. Das wäre Hohn gewesen. Keine Fahnen schwangen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrées, das Morgenrot leuchtete keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten umwand der Lorbeer die Stirne des Würdigen.“

 

Stattdessen konstatiert er, das Hauptmerkmal dieses neuartigen Krieges auf den Begriff bringend, [d]ie überragende Bedeutung der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände wurden wieder und wieder an den Brennpunkten der Front zu Schlacke zerglüht […]. Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtbild eine Wüste des Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete.“ (18)

 

Damit musste man als abenteuerlustig und heroisch gestimmter junger Mann erst einmal zurechtkommen. Bald aber kristallisierte sich heraus, dass es auch im Stellungskrieg in den Grabenanlagen der Westfront und besonders im Bewegungskrieg der Frühjahrsoffensive der Obersten Heeresleitung 1918 zumal für den ‚Stoßtruppführer‘ Jünger heroische Bewährungsproben und Gelegenheiten gab, sich auszuzeichnen. „Auch dieser Krieg“ hatte „seine Männer und seine Romantik“, „Helden“, „Draufgänger“, „eherne Gesellen“, „Überwinder der Furcht“, „geschmeidige Tiger der Gräben“ (18f.).


Doch derlei individuelles Heldentum musste dem Wirken der Maschinerie abgetrotzt werden; es fand in den Nischen statt, die der Materialkrieg ließ. Die Modernität der technischen Mittel freilich und die im Vergleich zu den romantischen Bildern, mit denen die Frontsoldaten in den Krieg gezogen waren, ernüchternden Erfahrungen mit dem industriellen Kampfgeschehen bewirken bei Jünger eigentümlicher Weise nicht, wie bei vielen anderen Frontkämpfern, Abscheu oder gar eine Ablehnung des Krieges. Seine Sicht bleibt von Anfang bis Ende – auch wenn er immer wieder den Tod von Kameraden bedauert – affirmativ, auch in Bezug auf die technisch-industrielle Form des Krieges. Jünger betreibt eine Art von moderner Mythologisierung. Schon im emblematischen Titel seines Buchs zeigt sich eine Überblendung von moderner Technik und Naturereignis, eine Naturalisierung nicht nur des Krieges als solchen, sondern auch des Massen- und Maschinenkriegs. Der Krieg lässt sich nicht aus gesellschaftlichen Ursachengeflechten ableiten, er ist für Jünger ein Geschick, das über die Menschen hereinbricht, eine Naturmacht. Und in modernen, technisch fortgeschrittenen Zeiten ist er eine durchtechnisierte, durchmechanisierte Naturmacht.


Dieser „Ontologisierung des Krieges“[5] korrespondiert bei Jünger eine Anthropologie, die indes in den Stahlgewittern nicht deutlich zum Ausdruck kommt. Implizit allerdings scheint sie in den Charakterisierungen seiner Kameraden und seinen Selbstbeschreibungen auf: in der Rede von den „Helden“ und „Draufgängern“, vom „wahren Mann“, von dem „unscheinbare[n], echte[n], vom Geist getriebene[n] Krieger, der seine Pflicht tut, am letzten Tage wie am ersten“, von der „Auslese der Tüchtigsten, die sich dem Tode in die Arme warf – mit stets gleichbleibender Freudigkeit.“ (21) Und Jünger geht noch weiter, schildert, wie er selber nicht nur die geforderte, notwendige Tötungsarbeit verrichtet, sondern in der „Großen Schlacht“ im März 1918 von der Lust am Töten getrieben wird:


„Der große Augenblick war gekommen. Die Feuerwalze rollte auf die ersten Gräben zu. Wir traten an. // In einer Mischung aus Gefühlen, hervorgerufen durch Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß gingen wir im Schritt auf die feindlichen Linien los. […] Ich kochte vor einem mir unbegreiflichen Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten beflügelte meine Schritte. // Der ungeheure Vernichtungswille, der über der Walstatt lastete, konzentrierte sich in den Gehirnen. So mögen die Männer der Renaissance von ihren Leidenschaften gepackt sein […], Werwölfe, die heulend durch die Nacht hetzen, um Blut zu trinken.“ (519f.)


Der Mensch, also der Mann, ist ein zum Krieg taugliches Wesen; im Krieg wird er zu dem, der er ist: Das ist eine zentrale Botschaft der Stahlgewitter. Doch das Buch enthält sich philosophischer oder anthropologischer Aussagen. Expliziter wird Jünger in einer späteren, den Bericht vom äußeren Kriegsgeschehen ergänzenden Publikation, in seinem Essay Der Kampf als inneres Erlebnis aus dem Jahr 1922. Dort hebt Jünger gegen den vermeintlichen ‚Fortschritt‘ der modernen Zivilisation das unveränderliche Wesen des Menschen hervor:


„Doch unter immer glänzender polierter Schale, unter allen Gewändern, mit denen wir uns wie Zauberkünstler behängten, blieben wir nackt und roh wie die Menschen des Waldes und der Steppe. Dies zeigte sich, als der Krieg die Gemeinschaft Europas zerriß, als wir hinter Fahnen und Symbolen, über die mancher längst ungläubig gelächelt, uns gegenübertraten zu uralter Entscheidung. Da entschädigte sich der wahre Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft […] Im Kampfe, im Kriege, der alle Übereinkunft vom Menschen reißt wie die zusammengeflickten Lumpen eines Bettelmannes, steigt das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grunde der Seele.“[6]


Jünger vertritt hier, beglaubigt durch sein eigenes langjähriges und intensives Kriegserlebnis, anthropologische, philosophische und soziologische Einsichten, die zeitgenössisch im Schwange waren, etwa in der von Friedrich Nietzsche inspirierten Lebensphilosophie oder auch in Max Webers Soziologie und Sigmund Freuds Psychoanalyse. Anklänge an Webers düstere Diagnose in seiner Schrift über die Protestantische Ethik, wonach im „stahlharten Gehäuse“ des modernen Kapitalismus „die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen [gewannen], wie niemals zuvor in der Geschichte“ und sie zu „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“ machten[7], sind ebenso zu finden wie an Freuds kurz nach dem Krieg vollzogene Einführung des Todestriebs in seine bis dato auf der Libido fußenden Psychoanalyse und Kulturkritik.[8] Anders allerdings als Weber oder Freud wendet sich Jünger aktivistisch gegen die als einengend empfundene, aber eben unentrinnbare Moderne und bejaht die angebliche Wiederkunft des vorzivilisatorischen Menschen. Der Krieg ist ihm eines der notwendigen Mittel – neben dem Eros und dem Rausch –, gegen die Zumutungen und Einhegungen der Zivilisation, gegen ihre Ödnis und Erstarrung aufzubegehren und die wahre Menschennatur wieder zum Vorschein und zur Geltung zu bringen. „In der Selbstverschwendung, in den Ekstasen des Kampfes“, fasst Heimo Schwilk Jüngers Haltung zusammen, „befindet sich der Krieger in Übereinstimmung mit den kosmischen Gesetzmäßigkeiten, der Kampf wird gleichsam zur religiösen Handlung, zur Kommunion mit dem Weltgeist.“[9]


Jünger publizierte diese Reflexionen in Der Kampf als inneres Erlebnis wenige Jahre nach seinem Erstling. In den Stahlgewittern ist bereits manches angelegt, doch es besteht auch eine gewisse Spannung zwischen dem Berichtsduktus des teilnehmenden, aber kühl notierenden Beobachters des ersten Buchs und Jüngers späteren naturalisierend-zivilisationskritischen Proklamationen. Bei der Lektüre der Stahlgewitter könnte der Leser auf den Gedanken kommen, hinter der Sachlichkeit, Distanziertheit und Kälte des Autors verberge sich eine psychopathische Persönlichkeit – oder aber, wie in Klaus Theweleits Männerphantasien beschrieben, ein emotional verhärteter, gepanzerter, präfaschistischer Mann[10], eine Charakterstruktur, die so gar nicht zu den behaupteten Urtrieben des Naturwesens Mensch zu passen scheint.


Der heruntergekühlten Berichterstattungssprache der Stahlgewitter korrespondiert zudem, wie erwähnt, die auffällige Abwesenheit von Reflexionen zu inhaltlichen Kriegszielen, die man von einem gebildeten, den Krieg bejahenden Soldaten erwarten könnte. Stattdessen findet sich neben der Begeisterung für den Kampf als solchen, zumindest in der Fassung von 1924, die recht unbestimmt anmutende „Idee des Vaterlandes“, die Berufung auf „Ideale, denen gegenüber das Leben des Einzelnen und selbst des Volkes keine Rolle spielt“ (642) und auf „große[ ] und erhabene[ ] Werte[ ] (644), die aber nicht benannt und inhaltlich gefüllt werden.


In Stahlgewittern ist in seiner Melange aus Sachlichkeit, angeklebtem ‚Idealismus‘ und Nationalismus und seiner Naturalisierung von Krieg und Kampf letztlich ein nihilistisches Buch. Es geht darin nicht um eine ‚Wertordnung‘, sondern um das Erleben des „gefährlichen Augenblicks“ und des „Daseinskampfes“ als Zweck in sich.[11] Und vermutlich erweist sich in diesem Nihilismus des Buches stärker als in jeder späteren politischen oder weltanschaulichen Stellungnahme des Autors sein zeit- und modernediagnostisches Potential.



3. Der Erste Weltkrieg in der Geschichte der Moderne


Der Kriegsteilnehmer und Schriftsteller Ernst Jünger stellt ein signifikantes, wenn auch – in seiner spezifischen intellektuellen Gestalt – nicht ganz repräsentatives Beispiel für die mentale Verfassung der Kriegsgeneration dar, die sich nach der Zertrümmerung der alten modernen Welt des 19. Jahrhunderts in einer sozialen, moralischen, politisch-‚weltanschaulichen‘ und metaphysischen Unbehaustheit und Leere wiederfand und aus ihren Erfahrungen den Schluss zog, dass weder die Fortführung der bürgerlichen Welt in Form der Weimarer Demokratie noch die Restauration der restfeudalen Verhältnisse der Vorkriegszeit eine adäquate Antwort auf die neuen modernen Zustände darstellten.


Jüngers Antwort, wie die vieler seiner Generationsgenossen und auch der folgenden, jüngeren Kohorten, die nicht mehr rechtzeitig zu ihrem Fronterlebnis gekommen waren, war revolutionär-nationalistisch, gewaltverherrlichend, dabei ‚sachlich‘ und damit nihilistisch.


Im Hinblick auf den neuen nihilistischen Rechtsextremismus und Faschismus der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, dem sich Jünger wie viele andere anschloss, relativiert sich unter anderem die oft zitierte Diagnose vom Ersten Weltkrieg als der ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts‘.[12] Ganz neu erscheint das alles nicht, wenn man die unmittelbare Vorgeschichte des ‚Großen Kriegs‘ und der Vorläufer-Subjekte der Kriegsgeneration von 1914 in die Betrachtung einbezieht, wie das etwa Hannah Arendt in ihrem Werk über die Ursprünge des Totalitarismus unternimmt. Arendt stützt sich in ihrer Analyse eines der ‚Ursprünge‘, des Imperialismus, ganz wesentlich auf Joseph Conrads Novelle Herz der Finsternis[13] und entwickelt aus dieser Lektüre die Typen des Kolonialabenteurers und des Glücksritters – „überflüssige Menschen“, die von den europäischen Gesellschaften „ausgespien“ worden seien.[14]


In ihrem Bemühen, die Vorgeschichte der ‚totalen Herrschaft‘ und besonders des Nationalsozialismus zu ergründen, benennt Arendt vor allem zwei Elemente der imperialistischen Ära, die starke Wirkung entfaltet hätten: zum einen den Rassismus und den Glauben, Ausrottung fremder ‚Rassen‘ sei ein probates Mittel, die Welt zu ordnen und zu zivilisieren (bei Conrad ruft der berüchtigte Kurtz aus: „Exterminate all the brutes!“). Zum anderen deutet sie auf die entwurzelten, de-sozialisierten Menschenmassen, den ‚Mob‘, der im Bündnis mit der Elite den Umsturz herbeiführte und so den Weg in die totale Barbarei bahnte.[15]


Bemerkenswert erscheint im Lichte der Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Krise ein Hinweis Arendts auf die Mentalität der modernen Menschen, auf den Charakter der modernen Subjektivität überhaupt. In einer längeren Passage spricht sie über Thomas Hobbes und dessen Anthropologie.[16] Als zentrale Axiome Hobbes‘ notiert sie erstens seine Behauptung, der Wert des Menschen sei „sein Preis, das ist das, was für den Gebrauch seiner Kraft gegeben werden würde“, also eine rein ökonomische Betrachtung des Menschen; zweitens ergeben sich aus dieser rein auf Austauschbeziehungen und der daraus resultierenden „Konkurrenz aller mit allen“ konzentrierten Anthropologie und Gesellschaftstheorie Hobbes‘ Einsichten vom letztlich einzig ausschlaggebenden Faktor der Vergesellschaftung: der „Macht“, und des „Wille[ns] zur Macht als Grundleidenschaft des Individuums“. Für Arendt hat Hobbes damit das Weltbild der Moderne, lange vor deren voller Entfaltung, gültig auf den Begriff gebracht:


„Hobbes ist in der Tat der einzige Philosoph, auf den die Bourgeoisie sich je hätte berufen können; ihre Weltanschauung jedenfalls, gereinigt von aller Heuchelei und unbeirrt von allen christlichen Zugeständnissen, die die bürgerliche Gesellschaft dann doch durch Jahrhunderte zu machen sich gezwungen sah, ist von ihm entworfen und nahezu endgültig formuliert worden, Jahrhunderte bevor die neue Klasse den Mut fand, sich ausdrücklich zu ihr zu bekennen, wiewohl sie zu entsprechenden Verhaltensweisen eindeutig gezwungen worden war.“


Arendt konstatiert eine „prinzipielle Verwandtschaft“ der Hobbes’schen Ideen mit den „nihilistischen Weltanschauungen“ der „neueren Zeit“[17], also dem Sozialdarwinismus, Rassismus und radikalen Nationalismus, dem Kult der Gewalt und dem Faschismus, die für sie offenbar die adäquaten Formen des ‚bürgerlichen‘ Bewusstseins in der imperialistischen Ära darstellen. Sie bilden gewissermaßen die gültige Weltanschauung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.


Vor dem Hintergrund dieser Vorgeschichte stellt der Erste Weltkrieg nur in einem eingeschränkten Sinn die ‚Urkatastrophe‘ des Jahrhunderts dar. In ihm liefen die schon lange vorhandenen Komponenten zusammen, die in Kombination die große Explosion verursachten. Die Soldaten von 1914/18 wurden auf das Schlachtfeld der imperialistischen Mächte geschickt, die sich um die Erde als Beute stritten, und viele von ihnen, darunter Ernst Jünger, zogen mit einer Begeisterung aufs Schlachtfeld, deren tiefere Motive letztlich mittels sozialpsychologischer Instrumente zu ermitteln wären. Die bewussten, offen ausgesprochenen Beweggründe – jenseits des Geredes von Vaterlandsverteidigung und ‚nationaler Ehre‘, der so genannten ‚Ideen von 1914‘ oder der sozialdemokratischen Kriegsrechtfertigung, es gehe gegen die ‚russische Despotie‘ – waren rein negativer Natur, jedenfalls bei den intellektuellen Befürwortern: Der Krieg sollte das Ende einer verhassten Periode des platten bürgerlichen Materialismus, der Langeweile und der Heuchelei herbeiführen.


„Die Elite zog 1914 in der jubelnden Hoffnung in den Krieg, daß die ganze Welt und Zivilisation, wie sie sie gekannt hatte, in ‚Stahlgewittern‘ (Ernst Jünger) untergehen werde, und ihre Gedichte galten, wie Thomas Mann als erster bemerkte, nicht den Siegen ihrer Vaterländer, sondern dem Krieg, dem ‚Reiniger‘ und ‚Erlöser‘ als solchem.“[18]


Bemerkenswert ist daran vor allem die Tatsache, dass man offenbar bereit war – auch hier ist Jünger ein beredtes Beispiel –, zugunsten des rein negativen Ziels der Vernichtung einer verhassten sinnentleerten Zivilisation nicht nur zu töten, sondern auch das eigene Leben dranzugeben. Wie lässt sich dies angesichts der weit verbreiteten und meist unbezweifelten Überzeugung vom Selbsterhaltungstrieb des Menschen erklären? Arendt spricht von der ‚Selbstlosigkeit‘ des modernen Individuums, das sich als bloßen Teil einer Masse, als ‚überflüssig‘ betrachtet und am eigenen Schicksal zunehmend desinteressiert ist. Womöglich könnte man, wie Freud es unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs getan hat, vom gegenstrebigen menschlichen ‚Todestrieb‘ sprechen, allerdings nicht von einem anthropologisch verwurzelten, sondern einem historisch-spezifischen?[19] Vermutlich ist in der Struktur moderner Gesellschaften ein tiefes, existentielles Problem angelegt: dass sich diese Gesellschaften um ein Zentrum herum organisiert haben, das ganz und gar leer ist – die Konkurrenz aller mit allen zum alleinigen Zweck des Geldverdienens (Marx) und der Machtakkumulation (Hobbes). So ist es möglicherweise weder – wie die Geschichtswissenschaft behauptet – eine Anhäufung von Zufällen und irrationalem Regierungshandeln noch die ontologisch starre Ur-Natur des Menschen, die die Zivilisation 1914/18 und 1939/45 in den Krieg getrieben hat, sondern die Moderne selbst, deren fortschreitende Auflösung aller vormodernen Glaubensüberzeugungen, Bindungen und Tugenden und ihre Ersetzung durch den einen Mechanismus der Konkurrenz die Individuen zu leeren Hüllen macht, die sich fast notwendigerweise mit (Selbst-)Vernichtungswünschen füllen.


Betrachtet man heutige Phänomene wie die islamistischen Selbstmordsekten, die Serie von Amokläufen, die Attentate von ‚White Supremacists‘ in Amerika, Europa und Neuseeland oder den grimmigen Stolz von Wählern rechtsextremer Parteien und roher, gewalttätiger Politiker darauf, die ohnehin recht ineffizienten Gesetze und Verordnungen aufheben zu können, die die natürlichen Existenzgrundlagen der Menschheit vor der vollständigen Ruinierung bewahren, liegt die Annahme eines solchen Todestriebs der modernen Zivilisation und ihrer Subjekte nicht fern.[20] Auch in dieser Hinsicht könnte In Stahlgewittern eine Schlüssellektüre zur Destruktivität der Moderne darstellen.





Endnoten


[1] Benutzt wird hier die Historisch-Kritische Ausgabe von Helmuth Kiesel (Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe: Die gedruckten Fassungen unter Berücksichtigung der Korrekturbücher, hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2013 [Bd. 1: Texte; Bd. 2: Variantenverzeichnis, Kommentar, Wirkungszeugnisse]). Seitenangaben zu In Stahlgewittern (Bd. 1) im Folgenden im Fließtext.


[2] Zur Rezeptionsgeschichte siehe Jünger, In Stahlgewittern 2, S. 452–516.

[3] Zit. n. ebd., S. 507f.

[4] Vgl. Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 190f.

[5] Schwilk, Heimo: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biografie, München/Zürich 2007, S. 242.

[6] Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 61936, S. 3 [Hervorhebungen von K. K.].

[7] Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 203f.


[8] Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips (1920), in: ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt a. M. 1992, S. 191–249.


[9] Schwilk, Ernst Jünger, S. 241.

[10] Theweleit, Klaus: Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977/78. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, S. 196.

[11] Schwilk, Ernst Jünger, S. 239.

[12] Siehe Kiesel, Helmuth: Ernst Jüngers In Stahlgewittern – das Buch der ‚Urkatastrophe‘ als Auftakt der ‚heroischen Moderne‘, in: Kempter, Klaus & Engelbrecht, Martina (Hg.): Krise(n) der Moderne. Über Literatur und Zeitdiagnostik, Heidelberg 2021, S. 161–172.

[13] Siehe die Beiträge von Caroline Lusin und Alexandra Kemmerer in Kempter & Engelbrecht, Krise(n) der Moderne, S. 137–148 und S. 149–160.

[14] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München / Zürich 1986, S. 313.

[15] Ein drittes Element ist die Bürokratie, das ‚Regime der Verordnungen‘, das die „Idee des Verwaltungsmassenmordes“ (ebd., S. 309) hervorbrachte.


[16] Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 241ff.

[17] Ebd., S. 242.

[18] Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 530.

[19] Young, Deborah: Rethinking the Shotgun Marriage of Freud and Marx: Monetary Subjects without Money, the Socialization of the Death Drive, and the Terminal Crisis of Capitalism, in: Mediations 32.2 (Spring 2019), S. 99–138.


[20] Vgl. hierzu Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt a. M. 1999, und die dort zu findenden Bemerkungen über Ernst Jünger, sowie ders.: Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003, S. 59–62, 68–74.