Druckversion/PDF

Klaus Kempter

 

Im toten Winkel der Ökonomie

Das Ende des politischen Denkens



Vorbemerkung der Redaktion:

 

Der vorliegende Beitrag wurde bereits im Januar 2017 verfasst und ist seither unveröffentlicht geblieben. Er gehört zu einer Reihe von Texten des Autors, die aus der Motivation heraus geschrieben wurden, wertkritische Einsichten und Befunde in den bürgerlich-politischen sowie akademischen Diskurs einzuspeisen (siehe hierzu z.B. auch Kempter 2016) – ein Ansinnen, das in diesem Fall nicht von Erfolg gekrönt war, weshalb der Artikel bis jetzt ein Dasein in der Schublade fristete.

Nach mehr als fünf Jahren wird der Beitrag nun auf dieser Webseite veröffentlicht, da er unseres Erachtens mit Blick auf die neue Qualität, die der „Verfall des Politischen“ seit 2020 angenommen hat, eine hohe Aktualität besitzt. Freilich mag manches inzwischen von der Geschichte überholt worden sein, sehr aktuell und auf schwindelnde Höhen geklettert ist allerdings insbesondere die vom Autor konstatierte Verdrängungsleistung in Politik, Medien und Academia. Wo sich die Realität nicht mehr ganz verdrängen lässt, kommt es heute zu jener verqueren, ideologisierten und gemeingefährlichen „Propaganda der Tat“, von der am Schluss des Beitrags – unter anderen Vorzeichen – die Rede ist, und die ihm aus heutiger Sicht doch einen etwas bitteren Nachgeschmack verleiht. Was der Autor beschreibt, ist mithin auch der Vorschein eines neuen Krisenschubs, der mit der Corona-Krise, dem Ukraine-Krieg und dem perpetuierten Ausnahmezustand auch die kapitalistischen Zentren voll erfasst hat. Er geht unübersehbar mit einer weiteren und sich offenbar beschleunigenden Erosion des Politischen Hand in Hand.




 

Nicht wenige Zeitgenossen haben im Zusammenbruch der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 für den global herrschenden neoliberalen Kapitalismus ein Menetekel erblickt, wie es der Fall der Berliner Mauer 1989 für den real existierenden Sozialismus gewesen war. Die Maschinerie der gesellschaftlichen Reproduktion erlitt einen Motorschaden, ihre Räder schienen zum Stillstand zu kommen, die Funktionäre des Systems wirkten ratlos, und ihre Slogans, aus einer besseren Zeit konserviert, klangen hohl und abgeschmackt. Wie 1989 die Hüter der bisherigen Ordnung in Osteuropa wussten, dass der Sozialismus eben nicht siegt, sondern im Begriff stand, seine nur noch zombiehafte Existenz endgültig auszuhauchen, so trat 2008 offen zutage, dass die westliche Welt, wie sie bis dahin funktioniert hatte, an ihr Ende gekommen war.


Allerdings wurde diese Einsicht rasch wieder verdrängt. Es trat Gewöhnung an die neuen Verhältnisse ein. Manche Regionen des globalen Systems, darunter Deutschland, blieben aufgrund spezifischer Strukturen und Traditionen von den schweren Auswirkungen verschont, die weite Teile der industriellen Zentren wie auch der Schwellen- und Drittweltländer jahrelang in einer zähen Stagnation mit tiefen sozialen Verwerfungen verharren ließen. In anderen Gegenden erreichten die Staaten mithilfe von heterodoxen wirtschaftspolitischen Notmaßnahmen – bail-outs für Banken und Industrieunternehmen, keynesianisches deficit spending und dauerhafte Flutung der Geldmärkte mit von den Notenbanken aus dem Nichts geschöpfter Liquidität – eine prekäre, aber immerhin nun schon seit Jahren tragfähige Stabilisierung der Wirtschaftsdaten, vor allem im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung. Optimistische Nachrichten sollten die gereizten Nerven der Wirtschafts- und Wahlbevölkerungen beruhigen. Jahr für Jahr wurde der nächste zyklische Aufschwung als unmittelbar bevorstehend oder schon in Gang befindlich annonciert, wurden wahlweise die Dynamik der Schwellenländer akklamiert, die amerikanischen Wachstumszahlen gefeiert oder die Krise der Eurozone für beendet erklärt. Allein: Beschwörungsformeln können in der Politik eine Zeitlang ihre propagandistische Wirkung entfalten und Wahlkämpfe antreiben, die wirkliche Wirtschaftsentwicklung lässt sich davon nicht beeindrucken. Wirtschaft ist, entgegen einer verbreiteten Floskel, eben nicht zur Hälfte Psychologie, sondern zu 100 Prozent Produktion, Handel und Verteilung. Sie lässt sich in Zahlen messen und als persönlicher Wohlstand unmittelbar spüren.


Während die Regierungen und die ihnen zunehmend unkritisch gegenüberstehenden traditionellen Medien versuchten, angesichts der objektiv trüben Lage gute Stimmung zu verbreiten, haben verschiedene Intellektuelle des linksliberalen Spektrums die Krisenbewältigungspolitiken kritisch kommentiert. In Europa lösten die 2010 aufgetretene und seither immer wieder aufflammende angebliche Staatsschuldenkrise – besonders die griechische – und die damit sichtbar gewordenen fundamentalen Dysfunktionalitäten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (und danach die Flüchtlingskrise im Sommer 2015) Diskussionen aus und bildeten den Anlass zu programmatischen Entwürfen. In diesen Debatten schälte sich zunächst ein politisch-philosophisches Lager heraus, das die erprobten Rezepturen des westlich-progressiv-kosmopolitisch-demokratischen Wertekanons anzuwenden und zu verfeinern suchte. Intellektuelle wie Jürgen Habermas, Susan Neiman, Navid Kermani, Robert Menasse oder Ulrike Guérot und prominente Politiker wie Guy Verhofstadt, Daniel Cohn-Bendit und viele andere betreiben appellative Publizistik, indem sie sich wie eh und je für eine engere europäische Zusammenarbeit, den Ausbau des institutionellen Rahmens der EU und die Reparatur von deren vielberedetem Demokratiedefizit, die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit und „Zivilgesellschaft“ aussprechen und jedenfalls in „Mehr Integration“ oder gar einer „Europäischen Republik“ (Guérot 2016) den Ansatz zur Behebung der Misere sehen. Flankiert werden sie seit einiger Zeit durch gesinnungsstarke EU-Freunde, die regelmäßig auf innerstädtischen Straßen und Plätzen unter dem Motto „Pulse of Europe“ EU-Flaggen schwenken.


Die nationalstaatlich-nationalistische Wende, die sich diskursiv und publizistisch seit langem anbahnt und mit dem für viele schockierenden Brexit-Votum im Sommer 2016 ein erstes institutionelles Fanal gesetzt hat, ist der Gottseibeiuns dieser (Links-)Liberalen – und wird damit zum einigenden Band: Alle Vernünftigen sind nun aufgerufen, gegen die Feinde von Demokratie und Rechtsstaat zusammenzustehen, um einen Rückfall in totalitäre oder faschistische Zeiten zu verhindern. Dabei gelten nicht nur Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński und Marine Le Pen, sondern sogar intellektuelle Elendsgestalten wie Thilo Sarrazin oder Götz Kubitschek als politische Gefahr, und „echte Demokraten“ müssen „jetzt wachsamer sein als je zuvor“ (Steinke 2017).


Abseits des unmittelbaren Problemhorizonts der europäischen Wirtschaftsintegration kursieren im liberalen Milieu die abgegriffenen Münzen der „Friedensmacht“ Europa mit ihrer vorgeblichen soft power, aber auch der „Verantwortung“ für den Schutz und die Verbreitung von Freiheit, Rechtsstaat & Menschenrechten in der ganzen Welt, notfalls dann doch mit Aufrüstung und militärischer Gewalt, sowie für die robuste Eindämmung eines neuen Autoritarismus, verkörpert vor allem im Russland des schrecklichen Wladimir Putin. Letzteres ist wesentlich das Thema von in die Jahre gekommenen rot-grünen Politkadern, die sich in der Pose des späten Antifaschisten gefallen, aber auch von progressiven Nachwuchskräften, die einer existentiellen Herausforderung ins Auge blicken wollen. „Pro bonum – contra malum“ ist offenbar in diesem Mainstream des kritischen politischen Denkens die Losung.


Ebenfalls aus dem ehemaligen rot-grünen Lager kommend, vom Hauptstrom des Linksliberalismus mittlerweile weitgehend abgekoppelt, operieren ein paar versprengte Individuen und Projekte am altsozialdemokratischen Rand. Das Blog „Nachdenkseiten“, vom Planungschef des Kanzleramts der siebziger Jahre, Albrecht Müller, gegründet, gehört ebenso dazu wie der frühere Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Heiner Flaßbeck, dessen Plattform „Makroskop“ ebenfalls im Internet situiert ist, sowie Wolfgang Streeck, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, oder auch, um die mitteleuropäisch-provinzielle Enge dieser Betrachtungen zu überschreiten, der italienische Ökonom Alberto Bagnai und der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, Gründer der transnationalen Bewegung DiEM 25 (Democracy in Europe Movement). Als gelernte Wirtschaftswissenschaftler – Streeck als ökonomisch gebildeter Soziologe – konzentrieren sich diese Zeitdiagnostiker und Politaktivisten auf die ökonomischen Prozesse, die das Krisengeschehen maßgeblich beeinflussen, beschränken sich aber nicht darauf. Während Varoufakis in einer großen, argumentativ starken Erzählung vor einigen Jahren im Zusammenbruch des globalen Überschuss- und Defizitkreislaufs die tiefere systemische Ursache der anhaltenden weltwirtschaftlichen Schwäche sah – die amerikanische Wall Street könne die Überschusserlöse der großen Exportnationen, v. a. Chinas, Japans und Deutschlands nicht mehr absorbieren (Varoufakis 2011) –, ist das Narrativ der linken Publizisten aus Deutschland im Wesentlichen auf den Klassenkampf von oben fixiert, der die Massenkaufkraft geschwächt und das dynamische Nachkriegsgleichgewicht zerstört habe. Diese – anders als die idealistischen Sonntagsreden der Linksliberalen mit den Realien des ökonomisch-politischen Lebens argumentierenden – Analysen münden in keynesianisch-sozialdemokratische Nostalgie. Man erblickt das Heil in der Wiederherstellung des bis in die siebziger Jahre gültigen Nachkriegskonsenses: Die Gewinne aus Produktivitätsfortschritten sollen in Form von Lohnerhöhungen und Rentensteigerungen an die Gesamtgesellschaft verteilt werden, statt sie in den Geldspeichern der oberen Zehntausend verschwinden zu lassen, und die Wirtschaft gerät wieder ins Lot. Da das in der Eurozone aufgrund der in fast zwei Jahrzehnten drastisch gewachsenen Ungleichgewichte zwischen dem starken Kern und der schwächelnden Peripherie und wegen der Hartleibigkeit der politischen Interessenvertretung dieses Kerns – Deutschlands – nicht mehr zu bewerkstelligen ist, neigt ein immer größer werdender Teil der Linken zur Rückkehr in die angestammte politische Form des Keynesianismus, den Nationalstaat. Das „Goldene Zeitalter“ des Kapitalismus (Eric J. Hobsbawm) soll wiedererstehen, die Instrumente dafür liegen bereit, man hat sie in den siebziger Jahren, während der neoliberalen Wende unter Margaret Thatcher und Ronald Reagan, mutwillig beiseitegelegt, um den Anteil der Vermögensbesitzer am Nationaleinkommen auf Kosten der abhängig Beschäftigten sowie der Arbeitslosen und Rentner zu erhöhen. Wiederauferstehen soll neben der staatsinterventionistischen Makropolitik und einer offensiven gewerkschaftlichen Lohnpolitik auch der weithin abgewrackte Sozialstaat, um die funktionsfähige, aber stillgelegte Wohlstandsmaschine per Nachfragesteigerung wieder anzuwerfen und die politischen Krisen mit neuer Prosperität zu bekämpfen.


Die aufs Ökonomische und auf Interessen- und Verteilungspolitik zielende Ursachenanalyse der übriggebliebenen dezidierten Sozialdemokraten ist zweifellos realitätsgerechter als der westlich-zivilgesellschaftliche Politkitsch der linksliberalen Feuilletonelite. Hier wird zumindest anerkannt, dass die Probleme auf einer anderen als der Ebene der politischen Institutionen, der juristischen Regelwerke oder des idealistisch-europäischen Bewusstseins angesiedelt sind. Es lässt sich aber bezweifeln, dass die Dinge so einfach liegen und ein Zurück zur Wirtschaftspolitik der sechziger Jahre eine Erfolgsgarantie wäre – wenn sie überhaupt im Bereich des Möglichen läge. Denn die Probleme am Beginn unserer Epoche, der Zeit „nach dem Boom“ – so heißt das heute in der Zeitgeschichtswissenschaft –, die ungefähr mit der Ölpreiskrise von 1973 einsetzte, sind nicht nur komplex, sondern vor allem fundamental. Sie lassen sich nicht auf Klassenkampf von oben und irrige wirtschaftspolitische Entscheidungen reduzieren.

 

 

Die Zäsuren der 70er und 80er Jahre

 

Im Rückblick wird erkennbar, dass das Goldene Zeitalter der hohen Wachstumsraten, der Vollbeschäftigung und der relativen Freiheit von Krisen schon am Ausgang der 1960er Jahre sich dem Ende zuneigte. In Europa war man zwar von dieser Erkenntnis trotz des konjunkturellen Zwischentiefs von 1966/67 noch weit entfernt, doch im Kernland des Weltsystems mehrten sich die Anzeichen für eine neue, weniger glorreiche Ära: Die Finanzierung des Vietnam-Kriegs und des Sozialstaatsausbaus unter Lyndon B. Johnson („Great Society“) riss tiefe Löcher in die öffentlichen Budgets, die Geldschöpfung der Regierung erhöhte die Inflation kräftig und brachte die Stellung der internationalen Leitwährung, des US-Dollars, ins Wanken. Im August 1971 zog Präsident Nixon die Konsequenz. Er hob die Goldbindung des Dollars auf und eröffnete damit eine neue Epoche der modernen Wirtschaft. Erstmals wurde die Bindung des Geldes an eine werthaltige Ware, Edelmetall, komplett und global gelöst. Seither leben wir mit Fiat-Geld, das aus dem Nichts geschöpft wird und daher eines erheblichen Managementaufwands bedarf. In der Folge dieser Entscheidung brach 1973 das Wechselkurssystem zusammen, das 1944 in Bretton Woods ausgehandelt worden war und knapp drei Jahrzehnte lang symbolisch für die Stabilität einer prosperierenden und gleichmäßigen weltwirtschaftlichen Entwicklung stand. Exportfirmen mussten nun neue Risiken gewärtigen, Währungen wurden zu Spekulationsobjekten, Inflationsraten und Staatsverschuldung stiegen auf breiter Front. Die Ära freier Wechselkurse brachte seither eine Reihe von schweren Finanzkrisen und dauerhafte weltwirtschaftliche Instabilität mit sich.


Als im selben Jahr 1973 auch noch, nicht zuletzt wegen des Wertverlusts der Welthandelswährung Dollar, das Kartell der ölexportierenden Länder erhebliche Preissteigerungen für den wichtigsten industriewirtschaftlichen Rohstoff durchsetzte, war auch für die breite Bevölkerung erkennbar, dass der „kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) ausgeträumt war. Überall stockte die Konjunktur, zur Inflation trat massen- und dauerhafte Arbeitslosigkeit hinzu, die Wachstumsraten blieben von nun an unterhalb des langjährig gewohnten Maßes. Der Ölpreisschock von 1973 war der Auftakt für die zweite Phase der Nachkriegszeit: Dem scheinbar ewigen Aufstieg folgte, wie man heute weiß, ein – zumindest relativer – langer Abschwung (Brenner 1998).


Die Wirtschaftspolitik reagierte irritiert und konfus auf die neuen Umstände. Anfangs versuchte man es mit „more of the same“ und betrieb antizyklische Krisenpolitik mittels deficit spending. Bald aber begannen die Notenbanken, vor allen anderen die deutsche Bundesbank, die neuen Lehren des Monetarismus von Milton Friedman anzuwenden, und konterkarierten den expansiven Keynesianismus der Regierungen mit geldpolitischer Straffung. Am Ende des Jahrzehnts setzten sich dann der Monetarismus und der heute so genannte Neoliberalismus durch: Der amerikanische Notenbankchef Paul Volcker beendete die Inflation mit gewaltigen, die Wirtschaft in eine tiefe Krise versetzenden Zinserhöhungen, und gleich darauf setzte der neue US-Präsident Reagan auf Angebotsorientierung, supply side economics: Steuersenkungen für die Vermögenden, Abbau von Marktregulierungen, Privatisierung von öffentlicher Infrastruktur, Schwächung der Gewerkschaften, Abbau von Sozialleistungen und die drastische, gewissermaßen rechtskeynesianische, Erhöhung des Militärbudgets sollten neue Wachstumskräfte freisetzen.


Zugleich schritt die Globalisierung voran, die freilich erst in den neunziger Jahren zur Kenntnis genommen und als solche benannt wurde. Vor allem die früheren Leitbranchen der industriellen Revolutionen Westeuropas und Amerikas, die Textil- und die Schwerindustrie, wanderten in die Länder der sogenannten Dritten Welt ab. Der amerikanische Mittelwesten, das lothringische Erzbecken, Wallonien, das Ruhrgebiet und Nordengland, die alten Zentren der industrialisierten Welt, sahen sich in einem langanhaltenden und unaufhaltsamen Niedergang begriffen. Die Arbeitskosten im globalen Süden waren viel geringer, die technische Ausstattung und die Anforderungen an das Qualifikationsprofil der Arbeiterschaft wenig anspruchsvoll, die Transport- und Kommunikationskosten sanken rapide, sodass sich die Investitionen für expandierende westliche Konzerne, aber auch für aufsteigende einheimische Unternehmungen lohnten. Den alten Industrien folgte der Aufbau fordistischer Massenproduktion – etwa Autofabriken, die man in Mexiko, Brasilien oder Südafrika einfach nach dem europäischen Muster nachbaute. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden immer größere Fertigungsabschnitte auch von Hochtechnologie-Produkten in Billiglohnländer verlagert. Die Zerlegung der Produktionsketten und ihre Verteilung über den Globus bildeten den Kern der neuen Globalisierungswelle seit den achtziger Jahren.


Die Globalisierung galt vielen Analytikern als der Kern der Wirtschaftsentwicklung im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Der Eindruck eines dynamischen, unwiderstehlichen, naturwüchsigen Geschehens von unheimlicher Wucht, das die moderne Wirtschaft auf ein ganz neues Niveau ihrer Existenz heben würde, griff um sich. Verkannt wurde dabei, dass es sich bei der Globalisierung wie bei der neoliberalen Wende in Wirtschaftstheorie und -politik in erster Linie um eine Reaktion auf die Krisenprozesse der siebziger Jahre handelte. Was damals zutage getreten war, hat der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Robert Brenner als Krise der Profitabilität beschrieben – hervorgerufen zunächst durch den Marktzugang immer neuer konkurrenzfähiger Produzenten in Ostasien und anderswo (ebd.).


Die siebziger Jahre bildeten nicht allein den Schlusspunkt der Nachkriegsprosperität und damit der einzigen Periode des Jahrhunderte zurückreichenden kapitalistischen Wirtschaftens, die einigermaßen krisenfrei verlaufen und mit materiellen Wohlstandsgewinnen für den weit überwiegenden Teil der Beteiligten verbunden war. Zu Ende ging auch die Aufstiegsphase einer „langen Welle“ der Produktion im Sinne des heterodoxen sowjetischen Theoretikers Nikolai Kondratieff und machte einer der regelmäßig zu beobachtenden langen Abschwungphasen Platz. Joseph Schumpeter, der sich in seiner Theorie des wirtschaftlichen Wachstums auf das Konzept der Kondratieff-Zyklen stützte, sah für deren Auftreten die Entdeckung und Einführung von Basistechnologien als ursächlich an, die in einem Prozess „schöpferischer Zerstörung“ neue arbeitsintensive Produktionszweige ins Leben riefen und alte zum Verschwinden brachten. Dem langen Zyklus, der in der Nachkriegszeit zunächst von der Basistechnologie des Automobilbaus sowie den elektrischen Haushaltsgeräten  – Kühlschränken, Küchenmaschinen, Unterhaltungselektronik etc. – genährt wurde, folgte aber nach seinem allmählichen Auslaufen kein neuer oder: ein ganz untypischer.


Seit den achtziger Jahren gibt es – pointiert gesagt – zwei neue Basisindustrien, die sich freilich von ihren fordistischen Vorgängerinnen darin unterscheiden, dass sie die Vernichtung alter Arbeitsplätze nicht mit der Schaffung von neuen (über-)kompensieren: die Mikroelektronik, die in Gestalt von Personal Computers zwar das berufliche wie private Alltagsleben der Einwohner der westlichen Welt flächendeckend und fundamental verändert und als dritte industrielle Revolution eine durchgreifende Rationalisierung bewirkt hat, ohne ihrerseits große gesellschaftliche Arbeitsvolumina auf sich zu ziehen; und die so genannte Finanzindustrie, die zwar sehr viel mehr Menschen beschäftigt als in den goldenen Jahren des Produktionskapitalismus, aber den Wegfall von Arbeitsplätzen etwa in der Eisen-, Stahl- und Metallindustrie in den kapitalistischen Zentren bei weitem nicht ausgleichen kann.


Wie schon der neue Globalisierungsschub und die neoliberale Umverteilungspolitik „von unten nach oben“ kann die sogenannte Finanzialisierung weniger als schlichte Autopoiesis oder als Willkürakt der Mächtigen, sondern muss vielmehr als eine bewusst-unbewusste Reaktion auf die wirtschaftlichen Stockungen der siebziger Jahre begriffen werden. Auf der Suche nach Auswegen aus der Stagnation mendelte sich in einem Trial-and-error-Verfahren zunächst in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan eine neue Gestalt der modernen Wirtschaft heraus, die der Tatsache Rechnung trug, dass die endogenen Kräfte der Industriegesellschaft erlahmten. Die Wirtschaft benötigte ein Dopingmittel: massenhaftes ungedecktes Geld. Schulden und darauf basierende handelbare Finanztitel, mit denen ein Geldüberhang (gegenüber den Gütermärkten) erschaffen werden konnte, eine Masse an „fiktivem Kapital“ (Marx), die der lahmenden Akkumulation in der heute so genannten Realwirtschaft Beine machen konnte. Die Finanzbranche – Banken, Börsen, Fonds – zog an der Wall Street und in der City of London die Vermögen der Welt an, um sie in gewinnträchtige Aktien und Anleihen, in Derivate und Derivate von Derivaten zu verwandeln und auf diese Weise gigantische Geldreichtümer zu generieren. Die Finanzialisierung, die zugleich eine Blasen-Ökonomie war, bildete neben der neoliberalen Angebotspolitik und der globalistischen Zerlegung der Produktionsketten den dritten und wichtigsten Pfeiler des neuen, stets instabilen, postkeynesianischen Gleichgewichts.


Die achtziger Jahre stellten sich den Zeitgenossen und stellen sich heute den Zeithistorikern weitaus weniger krisenbeladen dar als das Jahrzehnt davor. Zwar blieb die Arbeitslosigkeit in den meisten Industrieländern auf hohem Niveau, auch stieg die Staatsverschuldung kontinuierlich an, doch schien es, als ob das neue Arrangement funktionieren könne. Die hellsichtigen soziologischen Diagnosen vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ blieben jedenfalls ein weitgehend akademisches Thema, der Zeitgeist war der Affirmation des Gegebenen hold: Reagan wurde mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt, ebenso Thatcher, und in der Bundesrepublik etablierte sich unter Helmut Kohl eine maßvolle, noch recht sozialdemokratische Variante der wirtschaftspolitischen und „geistig-moralischen“ Wende. Am Ende glaubte wenigstens die angelsächsische Wirtschaftswissenschaft, nun doch in der besten aller möglichen Welten angekommen zu sein, und sprach von der „Great Moderation“, die ein für alle Mal die Zyklen von boom and bust gemildert, gedämpft, überwunden habe: das „Ende der Geschichte“ des krisenhaften Kapitalismus.


Das politische Denken im engeren Sinn, das sich unter dem Einfluss der French Theory bereits in den 70ern von der großen, holistischen Gesellschaftsveränderung abgewandt hatte, nahm derweil, wie auch die Neuen Sozialen Bewegungen, Partialprobleme in den Blick. Es ging nicht mehr ums große Ganze, um reformerischen Umbau oder revolutionären Sturz des „Systems“, sondern um Emanzipationsansprüche einzelner Gruppen, den Abbau von Diskriminierungen, gleiche Rechte für alle und Freiheit der privaten Lebensführung, bei Akzeptanz der gegebenen und sich weiterentwickelnden sozioökonomischen Strukturen. Nicht nur einzelne disparate Identitäten, sondern „die Zeit“ auf den Begriff zu bringen, gelang den Intellektuellen nicht mehr, entsprechende Versuche unterblieben zusehends. „Post“-Diagnosen machten Karriere und zeugten von dem Bewusstsein, dass man eine bestimmte soziale Ordnung hinter sich gelassen hatte, aber sich nicht im Klaren war, wohin die Reise gehen würde: Postmoderne, Posthistoire oder, etwas konkreter: Postfordismus und postindustrielle Gesellschaft schienen angebrochen, die (Hoch-)Moderne also war offenkundig zu Ende, doch an welchem Punkt des historischen Zeitstrahls man sich nunmehr befand, erschloss sich in der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) nicht. Einstweilen betrachtete man das freilich nicht als alarmierendes Krisensymptom, sondern entspannte sich und mäßigte die eigenen epistemischen und politischen Ansprüche.

 

 

1989: Der Irrtum vom Sieg über den Sozialismus

 

Gleichwohl blieb in den achtziger Jahren angesichts der Diskrepanz der Leistungen des Wirtschaftssystems gegenüber denen des vorangegangenen Goldenen Zeitalters ein untergründiges Krisenempfinden erhalten. Neben gesunkenen Wachstumsraten, erhöhter Sockelarbeitslosigkeit und steigender Staatsverschuldung schlugen – in regional unterschiedlicher Ausprägung – stagnierende Lohneinkommen, schwächelnde Mobilisierungskraft der Arbeitnehmervertretungen und allmählich wachsende Vermögensungleichheit sowie der erste heftige Börsenkrach von 1987 auf der Debet-Seite der wirtschaftspolitischen Bilanz zu Buche. Auch die seit den Berichten des Club of Rome in den siebziger Jahren debattierte ökologische Krise und die Rückkehr des Kalten Krieges erzeugten ein Klima nervöser Unruhe, das von der glitzernden Popkultur und dem Talmi-Konservatismus der Dekade nicht vollständig überdeckt werden konnte.[1]


Doch dann ereignete sich etwas, was die westlichen Selbstzweifel in Windeseile zerstreute: Der große planetarische Konkurrent, das angeblich alternative Entwicklungsmodell des „real existierenden Sozialismus“, brach 1989 fast von einem Tag auf den anderen zusammen. Der kapitalistisch-demokratische Westen sah auf einmal alle seine Prinzipien auf das Glänzendste bestätigt, er begann zu glauben, nicht nur grundsätzlich, sondern in allem und zu allen Zeiten auf dem richtigen Weg gewesen zu sein. Den Herold dieses glücklichen Endes der Geschichte gab der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama (1992). Sein master narrative verkündete, der Geschichtsverlauf habe sein Ziel und seinen Endpunkt erreicht. Das Vernünftige: freie Wirtschaft und demokratische politische Ordnung, war wirklich geworden, das Wirkliche erwies sich als vernünftig. Unter amerikanischer Führung unternahm es der universal gewordene Westen, endlich seine one world zu errichten und die letzten Bastionen der fortschrittswidrigen Unvernunft zu beseitigen. Die folgenden Interventionskriege in Kuwait/Irak und Jugoslawien wurden menschen- und völkerrechtlich begründet, und die meisten politischen Intellektuellen – auch jene, die noch wenige Jahre zuvor eine sozialistische, sozialökologische oder sonstige Alternative zum imperialistischen Westen gefordert hatten – waren begierig, endlich einmal auf der richtigen Seite zu stehen, derjenigen des Rechts und der Humanität, und begrüßten die universalistisch-menschenfreundlichen Bombardements der westlichen Luftwaffen. Unter Völkerrechtlern gelten die neunziger Jahre, als es im UN-Sicherheitsrat endlich keine dunkle Veto-Macht mehr gab, als goldene Dekade.


Hatte der Untergang der Sowjetunion die universalistische Selbstgewissheit der Politiker und politischen Denker kräftig gesteigert, so zeigte das Auftreten einer neuen antiwestlichen Front denselben Effekt: Der 11. September 2001 markierte zwar den offensichtlichen Schlusspunkt des kurzen Sommers der unipolaren Welt. Doch der islamistische Terrorismus stellte das Selbstverständnis der westlichen Welt als Hort von Vernunft, Freiheit und Menschenrechten und als Sieger in allen weltanschaulichen Wettbewerben nicht in Frage – im Gegenteil: Die Barbarei des asymmetrisch-terroristisch operierenden Feindes wirkte als Aufputschmittel für die erlahmende Moral.


Derweil hätte es genügend Anhaltspunkte für Zweifel gegeben: Die wirtschaftlich – nimmt man die Aktienkurse als Indiz – vergoldeten neunziger Jahre brachten heftige Börsenbeben an der weltwirtschaftlichen Peripherie. Lateinamerika-, Asien‑ und Russland-Krisen zerrütteten ganze Volkswirtschaften, und der Dotcom-Krach 2000 im Herzen des Weltsystems, den USA, bildete den Höhepunkt dieser Serie: Die neue Basisindustrie nährte keineswegs alle, die sich ihr hingaben, viele hoffnungsfrohe Startup-Gründer standen plötzlich vor dem Nichts, und noch viel mehr Anleger verloren einen erheblichen Teil ihres Vermögens. Die amerikanische Zentralbank sah sich gezwungen, die Geldschleusen weit zu öffnen, und bescherte der Welt auf diese Weise eine weitere, für die Konjunktur dringend benötigte Finanzblase, die die soeben geplatzte ersetzte.


Das Hauptmerkmal des politischen Denkens in dieser Zeit blieb die Weigerung, aus Erfahrungen zu lernen oder sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen: Der angebliche Triumph über den Staatssozialismus, im Grunde nur ein (vorläufiges) Übrigbleiben nach dessen kläglichem Zusammenbruch, benebelte die Sinne. Statt vom stattgefundenen Kollaps war von phantasierten „friedlichen Revolutionen“ die Rede. Die politischen Intellektuellen richteten sich überwiegend im Beschwörungs- und Bekenntnismodus ein. Nach der „Ankunft im Westen“ mit seinen Menschenrechten, seiner liberalen Demokratie, seiner bellizistisch grundierten Humanität und seiner freien Wirtschaft wollte man nicht wieder in intellektuell und ideell unwegsames Gelände aufbrechen. Dass die vielbeschworene Marktwirtschaft nur noch blasengetrieben funktionierte, dass die Volatilität auf den Finanzmärkten stetig zunahm und die Realwirtschaft keineswegs unberührt ließ, dass der Anhäufung von sagenhaften Reichtümern bei den einen die dauerhafte Arbeitslosigkeit und Verarmung der anderen gegenüberstand, dass ganze Regionen deindustrialisiert wurden und die ehemaligen Arbeiter die Hoffnung auf ihren Teil am Wohlstand zusehends verloren, das alles war kein Thema der politischen und intellektuellen Debatten. So blieb nicht nur die Einsicht, die der wertkritische Theoretiker Robert Kurz als einziger gleich nach 1989 äußerte, wonach der Zusammenbruch des Ostblocks nicht etwa den Sieg der marktwirtschaftlichen Moderne bedeutete, sondern vielmehr den Untergang einer verspätet aufgetretenen und daher zurückgebliebenen Spielart dieser Moderne, der überdies auf den Kollaps des Gesamtsystems vorausweise (Kurz 1991), den Intellektuellen verschlossen. Selbst der naheliegende Gedanke, dass das Ende des Staatssozialismus zwar die Überlegenheit der westlichen Marktwirtschaft, aber keineswegs ihre dauerhafte krisensichere Funktionsfähigkeit bewiesen hatte, kam kaum einem in den Sinn.

 

 

2008: Getriebeschaden des Weltsystems

 

Dann aber ereignete sich am vorläufigen Kulminationspunkt der Börsenkrisenspirale das globale Finanzbeben von 2008. Die Umleitung der Spekulationsströme von den „neuen Märkten“ der Digitalisierung auf den althergebrachten, bewährten Markt der Wohneigentumsfinanzierung – eine von mehreren double bubbles der Wirtschaftsgeschichte (Perez 2002) – funktionierte einige Jahre, dann aber platzte auch diese Blase. Nun war es an den den Helden der Wirtschaft verhassten Regierungen, den freien Markt herauszuhauen: Banken, Versicherungen, Autoproduzenten, fast alle – mit der berüchtigten Ausnahme des Investmenthauses Lehman Brothers – bekamen Staatsgarantien in exorbitanter Höhe, manche auch richtiges Geld, mitunter 11-stellige Beträge, und durften überleben. Spätestens seitdem spielt die Weltwirtschaft Wile E. Coyote, die Zeichentrickfigur: Er läuft und läuft und läuft, auch über Abgründe hinaus – so lange, bis er hinunterschaut und bemerkt, dass er nichts unter den Füßen hat als (heiße) Luft.


Anfänglich bestand der Laufgrund der Weltwirtschaft aus ungedeckten Staatszusagen – man erinnere sich an den gespenstischen Sonntagabend, als Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück dem Volke versicherten, seine Bankeinlagen seien sicher –, dann übernahmen die Zentralbanken: Geld gab es erst zum Schleuderpreis, dann wurden positive Realzinsen ganz abgeschafft, Liquiditätshaltung wurde bestraft, und am (vorläufigen) Ende kauften die Notenbanken einfach alles an Wertpapieren auf, was zu haben war, damit die auf die Märkte flutenden Geldmassen schließlich doch irgendwann in produktive Investitionen flossen. Die taten das aber nicht. Warum nicht? Die einen sagen so, die andern sagen so: In deprimierten Ökonomien fehlt die Nachfrage, behaupten die Keynesianer, vor allem, wenn die Einkommen und Vermögen sich da konzentrieren, wo ohnehin viel davon vorhanden ist. Es braucht mehr „Reformen“, damit „Vertrauen“ entstehen kann, sagen die Neoliberalen. Frei übersetzt: Wenn man erst die Ansprüche der Arbeitsbevölkerungen in Griechenland, Italien und allüberall so tief gedrückt haben wird, dass niemand mehr gegen Hungerlöhne aufmuckt, dann wird das Kapital, das „scheue Reh“, sich zutraulich zeigen.


Wie dem auch sei. Zehn Jahre nach Krisenbeginn ist festzuhalten: Das globale Schwungrad der US-Defizit-Maschine, das die Weltwirtschaft seit den 1970er Jahren angetrieben hat (Varoufakis 2011), wird wohl nie mehr funktionieren wie zuvor. Nicht erst der protektionistische Präsident Trump, sondern schon – wenn auch dezenter – die Vorgängerregierung hat deutlich gemacht, dass die Defizite nicht unbegrenzt ausgeweitet werden können. Von den Klagen und den elektoralen Neigungen des ehemaligen Industrieproletariats in Pennsylvania, Ohio oder Michigan, das den überraschenden Wahlausgang im November 2016 verursachte, ist dabei noch gar nicht die Rede.


Die Schwellenländer, mit leuchtenden Augen als Retter begrüßt, pfeifen auch schon auf den letzten Löchern. Ohnehin sind die BRICS eine Illusion: Brasilien steckt in einer tiefen Krise, Russland ist vor allem ein Rohstofflieferant, Südafrika wird nie ein weltökonomischer Motor sein können. Bleiben China und Indien. China hat einige Jahre hindurch tatsächlich die Weltkonjunktur am Laufen gehalten, aber zu dem Preis, etwas zu wiederholen, was in den Zentren 2008 in der Sackgasse endete: eine schwere Überschuldung der Gesamtwirtschaft. Neu errichtete Geisterstädte und ‑autobahnen sind eben kein nachhaltiger Aufbau der Wirtschaft. Indien, dessen Wachstumsraten große Ausschläge ausweisen, bleibt weit hinter China zurück. Bis auf weiteres haben die großen emerging markets jedenfalls die Schwelle zum Zentrum der kapitalistischen Entwicklung noch nicht überschritten. Dass man einer Illusion aufsaß, gibt unter den westlichen Experten keiner offen zu. Man schweigt stattdessen über die früheren Prognosen und hofft, wie in so vielen Fällen, auf die Vergesslichkeit des Publikums. Klar ist jedenfalls, dass auf absehbare Zeit keine Nationalökonomie und auch kein Wirtschaftsblock die Rolle übernehmen kann, die die USA als Zentrum des Weltsystems und der globalen Defizitkreisläufe bislang gespielt haben. Und die USA selbst wollen (und können) ihre gewohnte Funktion nicht mehr ausüben.


Aber diese globalen Zirkulationsschwierigkeiten sind freilich sekundärer Natur. Viel entscheidender ist das Produktionsproblem des globalen Kapitalismus. Das Auslaufen des fordistischen Booms in den 1970er Jahren konnte, genau betrachtet, auf der Produktionsebene nie kompensiert werden, und die voranschreitende Digitalisierung macht eine solche Kompensation auf Dauer unmöglich. Die Arbeitsmenge, die im Goldenen Zeitalter in den hochindustrialisierten Ländern verausgabt wurde – mit den entsprechenden Folgen für Massennachfrage und -konsum –, wird nie mehr benötigt werden. Zwar mag die „Industrie 4.0“ wesentlich ein PR-Begriff sein – die Sache selbst, die weitere durchgreifende Automatisierung und Rationalisierung, ist unabweisbar. Es ist diese technologische Entwicklung, die der vor allem in der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaft, etwa von Larry Summers und Paul Krugman, inzwischen aber auch von Hans-Werner Sinn diagnostizierten secular stagnation zugrunde liegt (Sinn 2017; vgl. Gordon 2016).


Hier ist der Kern der politischen Turbulenzen der Gegenwart – Politik- und Demokratieverdruss, Europamüdigkeit, Rechtsextremismus, „Populismus“ in den Zentren, um sich greifender Gesellschaftszerfall, Anomie und Bürgerkriege in weiten Teilen der Peripherie – zu finden. Es ist nicht primär die als Telos der Geschichte gefeierte demokratische Staatsform, die ins Straucheln gerät, sondern der noch viel alternativlosere Kapitalismus, der den Menschen seit einigen hundert Jahren so zur zweiten Natur geworden ist, dass sie sich ein Leben nach dessen Ende noch viel weniger vorstellen können als die nicht marktförmige präkapitalistische Vergangenheit, in der, anders als Adam Smith glaubte, die Menschen nicht einer natürlichen „Neigung zum Tausch“ folgten.


Was geschieht also, wenn der Arbeitsgesellschaft wirklich, wie von Hannah Arendt in den 1960er Jahren und in den Soziologendebatten der 1980er Jahre prognostiziert, die Arbeit ausgeht, die sie ersetzenden Maschinen und Algorithmen aber, wie von Karl Marx nachgewiesen, keinen Mehrwert, keine Verteilungsmasse und ergo keine Lohnnebenkosten und Sozialversicherungsbeiträge, keine Altersrenten, Krankengelder und sonstige Lohnersatzeinkommen erzeugen? Was, wenn kein Innovationsschub mehr auftritt, der die unnütz werdende menschliche Arbeitskraft beschäftigen kann? Der Gesellschaftsmaschinerie beruht auf der Fähigkeit des Wirtschaftssystems, als ungeplante Nebenfolge ihres Funktionierens menschlichen Wohlstand zu erzeugen. Wo das nicht mehr gewährleistet ist, verlieren die Politik, die Demokratie und das Rechtssystem, die sekundären Mechanismen der gesellschaftlichen Integration, nicht nur an Reputation und Vertrauenskapital; sie gehen de facto ihrer materiellen Existenzgrundlagen verlustig. Den vor Jahrzehnten diagnostizierten Legitimationsproblemen des Spätkapitalismus gesellen sich viel fundamentalere Hemmnisse der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion bei: Das objektiv abschmelzende Mehrprodukt kann nicht mehr großzügig auf alle Interessengruppen verteilt werden; die Nationalökonomien beginnen, sich gegenseitig Anteile am stagnierenden Weltmarkt abzujagen; im innergesellschaftlichen Verteilungskampf wird der Geldreichtum „unten“, bei den Arbeitenden und den Sozialleistungsempfängern, abgezogen und „nach oben“ umverteilt; es bildet sich eine stetig wachsende Schicht von Überflüssigen – Individuen, Beschäftigtengruppen, Gesamtökonomien – heraus.


Im politischen Diskurs hat man öffentlich lange die neoliberale Illusion genährt, wenn ein „Ruck“ (Roman Herzog) durchs Land ginge, wenn nur alle sich gehörig am Riemen rissen, könnte mittels Entfesselung der Marktkräfte eine neue Welle der Akkumulation erzeugt werden. In Deutschland scheint es sogar funktioniert zu haben: Die Wirtschaft wächst, wenn auch mit recht kümmerlichen Raten. Aber in der europäischen Volkswirtschaft, im Euro-Währungsgebiet, ist wie in einem System kommunizierender Röhren der deutsche Gewinn der italienische und französische Verlust. Wenn alle auf Kosten der Nachbarn zu leben versuchen, wenn keiner die Verluste tragen will, wenn eine Wirtschaftsgemeinschaft auf erbarmungslose Konkurrenz gegründet ist, kann sie auf Dauer nicht bestehen.


Traditionalistisch-sozialdemokratische Versuche der „gerechteren“ Verteilung waren national wie international erfolgreich, als das Gesamtprodukt stetig wuchs. In Zeiten des Niedergangs können sie allenfalls gutgemeinte Krisenverwaltung darstellen – ohne Aussicht auf eine Trendumkehr bei den Fundamentaldaten. Die Folgen im politischen Betrieb sind seit einem knappen Jahrzehnt zu besichtigen: Die Politik navigiert „auf Sicht“, sie operiert im permanenten Krisenmodus, implementiert Übergangslösungen und unterlässt es, stichhaltige Konzepte für die objektiv unlösbaren Reproduktionsprobleme zu suchen, camoufliert dies mit immer fadenscheinigeren ideologischen Parolen sowie kurzfristiger Mobilisierung durch neue Parteien und neue Erlöserfiguren (Kempter 2017) und hofft auf ein Wunder: das Wiederanspringen des kapitalistischen Wachstumsmotors wie nach den großen Krisen der vergangenen zwei Jahrhunderte – in Zeiten der mikroelektronischen Revolution ein Ding der Unmöglichkeit.


Die politischen Intellektuellen aber, statt den verzweifelten Aktionismus des Betriebs offenzulegen und die zugrundeliegenden fundamentalen Schäden der Gesellschaftsmaschine zu thematisieren, tun so, als handelte es sich um Probleme aus dem Feld, auf dem sie sich auskennen, dem politisch-ideologischen: Das Anwachsen von nationalistischen, wohlstandschauvinistischen, rassistischen und antifeministischen Ausbrüchen wird als Phänomen sui generis betrachtet. Man tut so, als ob die anthropologische Grundausstattung, die Angst vor Fremden, phylogenetisch induzierte Überlegenheitsgefühle und ähnliches, nach einer langen Latenzphase gewissermaßen naturwüchsig wieder an die Oberfläche träten. Man debattiert über die Methoden des „Populismus“, über die erneute Attraktivität „bösen“ Denkens, über die antiaufklärerische Wirkung neuer Medien. Man bekennt sich zu den „Werten“ der Guten, Liberalen, Aufgeklärten, Europäer und imaginiert sich in historische Reprisen: Ein neuer Faschismus erhebe sein Haupt und anders als in den 1930er Jahren müssten die Demokraten nun den Anfängen wehren und die bösen Buben umgehend in die Schranken weisen. Was aber dann? Wird es denn helfen, den Leuten zu beweisen, dass die Le Pens und Wilders‘ und Höckes schlechte Menschen und zudem unfähige Verwalter sind? Wird dann wieder alles gut?


Und was, wenn die Projekte der liberalen Intellektuellen sich durchsetzten: Wenn die Europäische Union „vertieft“ wird? Wenn es eine „europäische Republik“ gibt? Oder zumindest einen europäischen Finanzminister? Wenn die Rechte von Minderheiten, ihre „Anerkennung“, immer wieder feierlich proklamiert werden? Wird alles besser, wenn Donald Trump aus dem Amt entfernt wird – oder reicht es, wenn er gänzlich zum alternativlosen Liberalismus konvertiert? Kommt der Umschwung, wenn Frankreich die lang ersehnten „Reformen“ des Arbeitsmarkts und des Sozialsystems nach deutschem Vorbild vornimmt? Wenn Italien „regierbarer“ wird? Was wäre damit gewonnen? Würden die Gesellschaften des Westens dann den von der Peripherie in die Zentren sich ausbreitenden Kolbenfresser des Wirtschaftskreislaufs, das Verschwinden von Arbeitsplätzen, die Senkung von Sozialleistungen, die Altersarmut und die Absonderung einer kleinen Gruppe von immer Reicheren in gated communities besser verkraften? Hilft der herrschaftsfreie Diskurs gegen die Erlahmung der produktiven Potenzen des Kapitalismus? Die Gesinnungsproduktion der derzeitigen politischen Publizistik ist hohl, ihre Analysen, die sich in der Sphäre der Politik und des (Menschen-)Rechts bewegen, sind nutzlos.

 

 

Der Kapitalismus an seinem Ende

 

Dass die warenproduzierende Moderne, die „auf dem Wert beruhende Produktionsweise“ (Marx), die man gemeinhin Marktwirtschaft oder Kapitalismus nennt, an ihrem historischen Ende angekommen ist, sollte spätestens nach den Erfahrungen seit 2008 keine abwegige Erkenntnis mehr sein. Wenn schon die offensichtliche Unmöglichkeit, ohne Doping mittels staatlicher wie privater Schulden, mittels massenhafter Erzeugung von Fiat-Geld durch die Zentralbanken einen neuen selbsttragenden Wachstumszyklus anzustoßen, diese Einsicht nicht befördert, sollte die breite ökonomische und (para-)militärische Zerstörungsschneise, die in den letzten Jahrzehnten die globale Entwicklung kennzeichnet, zu denken geben. Weite Teile der Welt werden und bleiben, aller Schönfärberei zum Trotz, dauerhaft von einem Weltmarkt abgekoppelt, in den sie erst einen historischen Augenblick früher hineingezwungen wurden. Staaten, die sich in den „goldenen“ 1950er und 1960er Jahren auf den Weg der Modernisierung und Verwestlichung begeben haben, sind mittlerweile hoffnungslos abgehängt und verwalten nach Millionen zählende Heere von aus ihren alten sozialen Kontexten gerissenen, beschäftigungs- und ziellosen Menschen. In weiten Teilen der ehemaligen „Entwicklungs“-Länder machen sich Anomie und „molekularer Bürgerkrieg“ (Hans Magnus Enzensberger) breit. Mit ihren gewaltsamen Versuchen, einen Rest an Ordnung und ausbeutungsdienlichen Strukturen aufrechtzuerhalten, zerstören die Streitkräfte des Westens diese ruinierten Staaten und Gesellschaften immer mehr: Afghanistan, der Irak, Libyen, Syrien und Jemen bezeugen die Unfähigkeit der sogenannten internationalen Gemeinschaft, eine einigermaßen erträgliche Form gesellschaftlicher Reproduktion herzustellen. Die Folgen sind bekannt: barbarische antiwestliche Guerillaarmeen und Wellen von „Wirtschaftsflüchtlingen“. Dieser Terminus, in seinem polemischen Bemühen, die Fluchtmotive der Millionen von Eigentums- und Perspektivlosen herabzuwürdigen, verrät unabsichtlich die entscheidende Fluchtursache. Die ökonomische und militärische Zertrümmerung weiter Gebiete der Erde – von den ökologischen Verheerungen ganz abgesehen – lässt nur vorläufig noch ein paar Wohlstandsinseln übrig, auf denen sich alle zu drängen versuchen. Soviel zur „Bekämpfung der Fluchtursachen“, die in jeder Talkshow zum Thema als Königsweg beschworen wird.


Die verbliebenen Mächte nehmen in Konkurrenz zueinander die wenigen Expansionschancen – jeweils auf Kosten aller anderen – wahr. Um fast jeden Preis wollen sie im Nullsummen- und Verlustbegrenzungsspiel auf der Gewinnerseite stehen. Dabei nehmen sie immer größere Risiken in Kauf. In der Ukraine und in Syrien stehen sich der Westen und Russland schon fast auf Armeslänge gegenüber; die Gefahr eines mit Nuklearwaffen geführten Krieges wird immer akuter. Auch die Frontstellung auf der koreanischen Halbinsel führt nicht etwa zu Mäßigung und Besonnenheit, sondern zu einer allenfalls mit den Mitteln der Tiefenpsychologie begreiflichen militärischen Kraftmeierei. Absehbar ist, dass an existentiellen Krisenherden auch in Zukunft kein Mangel herrschen wird.


Bislang reagiert das politische Denken mit umfassender Verleugnung. Der offenkundig katastrophische Charakter des derzeitigen Weltsystems wird nicht wahrgenommen. Man betrachtet die Krisenerscheinungen isoliert voneinander: Die ausbleibende Erholung der Wirtschaft im Süden der Eurozone, die radikal-expansive Geldpolitik der Zentralbanken, das Umsichgreifen von sogenannten populistischen Bewegungen, der Anstieg von Separatismus und Nationalismus in Europa, der Aufruhr in den arabischen Ländern, die westliche militärische Interventionspolitik, all das wird als jeweils selbständiges Problem behandelt, eine systematische Verknüpfung dieser voneinander gar nicht so weit auseinanderliegenden Felder unterbleibt in der Regel. Schon gar nicht diskutiert man die krisenhafte Dynamik der kapitalistischen Weltwirtschaft als den Nährboden der genannten Probleme. Nach wie vor erfreut sich die intellektuelle Lobrede auf die Wohlstandsmaschine „Kapitalismus“ als der besten aller möglichen Welten großer Beliebtheit (Deaton 2017).[2] Ähnlich verhält es sich mit dem offen zutage liegenden imperialistischen Charakter der globalen machtpolitischen Auseinandersetzungen: Die Intellektuellen, statt den westlichen Krisenimperialismus beim Namen zu nennen, reden von einer Phantasiewelt, in der die Politik einerseits von schlimmen antiwestlichen Despoten (Assad, Maduro, Putin, Lukaschenka etc.) und anderseits von Demokratiebewegungen, Farbenrevolutionären, Arabellionen und sonstigen „Zivilgesellschaften“ bestimmt wird.

 

 

Schluss mit dem politischen Diskurs

 

Woran also krankt der politische Diskurs? Weshalb geraten systematisch offenkundige Zusammenhänge in den toten Winkel der Wahrnehmung? Spekulativ-psychologisch wäre wohl von einer vielleicht notwendigen Verdrängungsleistung zu sprechen, die von der Größe und Komplexität der Weltkrise und der Unlösbarkeit der damit verbundenen Probleme herrührt. Eine unmittelbar erkennbare Hürde für das Verständnis der geistigen, politischen und materiellen Situation der Zeit stellt die Ausschließung ökonomischer Fragestellungen aus dem intellektuellen politischen Diskurs seit den siebziger Jahren dar. Um „1968“ herum ereignete sich im Gefolge der Lektüre der Frankfurter Schule eine Renaissance des manchmal allzu ökonomistisch daherkommenden historischen Materialismus, zu deren Folgewirkungen die Anerkennung der erheblichen Rolle der „Wirtschaft“ für den politischen und kulturellen „Überbau“ der Gesellschaft gehörte. Ökonomisch imprägnierte Theoreme fanden Eingang in die Geistes- und Sozialwissenschaften wie auch in den politischen Alltagsverstand. So ist zum Beispiel die neuere deutsche Sozialgeschichtsschreibung von Hans-Ulrich Wehler und seinen Generationsgenossen, die seit Ende der 1960er Jahre für einige Zeit zum dominanten Paradigma der Geschichtswissenschaft wurde, ohne den marxistisch beeinflussten Zeitgeist nicht denkbar – obwohl sie sich im Kern nicht auf Marx, sondern auf Max Weber berief.


Seither aber fand ein tiefgreifender ideengeschichtlicher Wandel statt, der sich in den genannten Wissenschaften besonders gut beobachten ließ, aber auch im allgemeinen intellektuellen Leben sich offensichtlich niederschlug: Die Wirtschaft als eigenständiges Thema verschwand mehr und mehr aus Publikationen und Debatten. Sieht man von der Volkswirtschaftslehre ab, so spielten ökonomische Fragen immer seltener eine Rolle. Die Wirtschaftsgeschichte als Zweig der Historie wurde personell und institutionell abgebaut, die Sozialgeschichte transformierte sich in Kulturgeschichte, die Soziologie zog sich allmählich wieder aus den harten ökonomischen Sektoren zurück und behandelte die Ökonomie mehr und mehr als gegebene, unabhängige Variable des allein als solchen zu untersuchenden sozialen Wandels, und in den Philologien verschwand die Frage nach gesellschaftlicher, von der wirtschaftlichen Basis erzwungener Totalität so weitgehend aus den Forschungsprogrammen, dass sich an ihre einstige Präsenz kaum einer mehr erinnert. Die oben skizzierten wirtschaftlichen Veränderungsprozesse fanden lange Zeit weder in der Wissenschaft noch in der aktuellen Publizistik die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt hätte.


Geändert hat sich das erst mit der globalen Finanzkrise von 2008. Nun wurde schlagartig deutlich, dass die Wirtschaft, wie Walther Rathenau sagte, „unser Schicksal“ geblieben ist. Seither wird wieder über ökonomische Kreisläufe gesprochen, allerdings auf einem ganz anderen und weitaus niedrigeren Niveau als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Dürftigkeit der in Politik und Presse gern verwendeten Hausväterweisheiten und betriebswirtschaftlichen neoklassischen Pseudotheoreme, die periphere Stellung aller auch nur sachte makroökonomisch orientierten Diskussionsteilnehmer hemmen jede halbwegs fundierte Auseinandersetzung. Besonders hinderlich aber ist, dass der einzige theoretische Zugang zur Gesamtkomplexität der modernen, auf dem „Wert“ beruhenden Gesellschaft, nämlich die auf Marx zurückgehende fundamentale Kritik der politischen Ökonomie, seit den Kapital-Lesekursen der siebziger Jahre aus der „Ordnung des Diskurses“ hinausgedrängt wurde. Marx‘ fundamentale Einsicht, dass die modernen Gesellschaften sich primär über die „Verwertung des Werts“, also über Warenproduktion und Warentausch mit dem Ziel der Geldvermehrung integrieren, ist heute – obwohl sie Offensichtliches benennt – nicht mehr bekannt. Dass alles, was es darüber hinaus an gesellschaftlicher Integration gibt – Recht, Staat, Politik, Kultur etc. –, von diesem Fundamentalzusammenhang abhängig ist und in Dysfunktion gerät, wenn dieser stockt, ist nicht so schwer zu verstehen, wird aber im politischen und publizistischen Diskurs nirgends thematisiert.


Dieser blinde Fleck der Debatte, der gerade den Zusammenhang ausblendet, ohne den alles andere unverständlich wird, ist unter anderem eine Folge des Abschieds von der Kritik der Politischen Ökonomie, der sogar vom westlichen Marxismus, etwa der Frankfurter Schule, vollzogen wurde. In Deutschland etwa hat der Übergang der auf Adorno und seine Mitstreiter folgenden Generation von den Fundamentalzusammenhängen, wie sie Marx beschrieben hat, hin zur Sprach-, Kommunikations- und Diskurstheorie das politische Denken des wesentlichen Instrumentariums zur Diagnose der Wirklichkeit beraubt. In anderen westlichen Ländern spielte die Hinwendung zum Poststrukturalismus, der die „Macht“ fast überall suchte, aber selten in den Zwängen der Selbstverwertung des Werts, beim „automatischen Subjekt“ des Kapitals, eine ähnliche Rolle.


In jüngerer Zeit sind intellektuelle Gegenbewegungen zu beobachten; als Reaktion auf die populistische Welle ist eine Art Selbstbefragung festzustellen. Linke und liberale Intellektuelle fragen sich, welchen Anteil die progressiven Diskurse und Politiken am Aufschwung einer neuen Rechten haben könnten. Allerdings enden diese Denkbewegungen – etwa bei den inzwischen auch hierzulande zu großer Prominenz gelangten französischen Autoren Didier Eribon, Geoffroy de Lagasnerie und Édouard Louis – regelmäßig in der Wiederentdeckung der sozialen Frage, der „Abgehängten“, der Ungleichheit, der Interessenpolitik und des Klassenkampfs, also auf einer soziologischen Ebene. Die Krise der Wertverwertung, von der auch die bekannten sozialen Umbrüche abhängen, kommt hier ebenso wenig in den Blick wie bei den eingangs genannten wirtschaftspolitischen Linkskeynesianern Heiner Flaßbeck, Wolfgang Streeck und anderen.


Dieser Leerlauf des politischen Denkens verweist am Ende auf die Erkenntnis, dass mit „Politik“ in der Tat nichts mehr zu machen ist. So sehr sich die Psyche auch der Intellektuellen nach Jahrhunderten des Wirkens kapitalistischen Wirtschaftens und staatlich-politischen Betriebs gegen diese Einsicht sträubt: Die Moderne, der Fundamentalzusammenhang der Selbstverwertung des Werts und alle daran geknüpften „Subsysteme“ der Gesellschaft, auch das der Politik, sind am Ende. Das Zusammenleben der Menschen kann nicht länger nach den Mechanismen funktionieren, die uns allen zur zweiten Natur geworden sind. Das Überleben der Menschheit erfordert, die Formen des politischen Denkens hinter uns zu lassen. Die Intellektuellen müssen die Benjaminsche „Notbremse“ suchen, um den rasenden Zug der Moderne zum Halten zu bringen. Orientierung ist in solcher Lage fürs erste womöglich nur zu finden bei einigen wenigen Propagandisten der Tat, die Sandkörner ins Getriebe werfen, etwa den Whistleblowers Snowden, Assange und Manning, und bei den raren klarsichtigen Künstlern und Schriftstellern, die, wie etwa Michel Houellebecq, in ihren Werken zum Ausdruck bringen, dass „der Westen“, man könnte auch sagen: die Moderne, „für ein menschenwürdiges Leben ungeeignet“ ist (Houellebecq 2010, S. 36).



 

Literatur

 

Robert Brenner, The Economics of Global Turbulence. A Special Report on the World Economy, 1950-98. New Left Review 229, May/June 1998.

 

Angus Deaton, Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen, Stuttgart 2017

 

Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.

 

Robert Gordon, The Rise and Fall of American Growth. The U.S. Standard of Living since the Civil War, Princeton, NJ 2016.

 

Ulrike Guérot, Warum Europa eine Republik werden muss!, Bonn 2016.

 

Michel Houellebecq, „Ich habe einen Traum“. Neue Interventionen, Köln 2010.

 

Klaus Kempter, Macron, Schulz und andere Heilsbringer, in: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft, 7/2017. https://archiv.ossietzky.net/7-2017&textfile=3895

 

Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt/M. 1991.

 

Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1984.

 

Carlotta Perez, Technological Revolutions and Financial Capital: The Dynamics of Bubbles and Golden Ages, Cheltenham 2002. 

 

Hans-Werner Sinn, Was uns Marx heute noch zu sagen hat, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S. 73-89.

 

Ronen Steinke, Hipster und Hetzer, in: Süddeutsche Zeitung vom 25./26.3.2017, S. 11-13.

 

Yanis Varoufakis, The Global Minotaur. America, the True Origins of the Financial Crisis and the Future of the World Economy, London/New York 2011.

 



Endnoten 


[1] Das Auftreten des Punk mit seinem Slogan „No future“ zeigte das.


[2] Siehe in diesem Zusammenhang auch Max Rosers Webpage „Our World in Data“ (https://ourworldindata.org).