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Anselm Jappe


Narziss oder Orpheus?

Bemerkungen zu Freud, Fromm, Marcuse und Lasch



Zuerst veröffentlicht im April 2022 in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 19, S. 112-146


 

 

1. Einleitung


Der Zweck dieses Aufsatzes ist es, die Kritiken zu verstehen und zu kommentieren, die Christopher Lasch – der Verfasser von Das Zeitalter des Narzissmus[1] und The Minimal Self[2] – in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts an Herbert Marcuse und Norman Brown, den Verfasser von Life against death (1955)[3] gerichtet hat. Letztere kritisierten die sogenannten neo-freudianischen Revisionisten (vor allem Erich Fromm), weil diese ihrerseits gewisse Aspekte von Sigmund Freuds Werk kritisiert hatten.


Zu betonen ist allerdings, dass die Auseinandersetzung mit Lasch, Marcuse usw. keineswegs nur von historischem Interesse motiviert wird, sondern dazu beitragen soll, die gesamtgesellschaftlichen (sozialpsychologischen) Veränderungen im Kontext der postmodernen Krisenprozesse verstehen zu können. Hierzu gehört neben einer Analyse und einer Kritik eines narzisstischen Sozialtypus in der Spätpostmoderne[4] auch einer Auseinandersetzung mit der inner-psychoanalytischen Geschichte, in der der Triebbegriff zugunsten einer widerspruchsfreien Ich- und Selbstpsychologie weitestgehend aufgegeben worden ist. In der Diskussion um Laschs Kritik an Marcuse und Brown werden dabei sowohl eine Veränderung auf der Ebene des Sozialcharakters, aber auch veränderte Schwerpunktsetzungen innerhalb psychoanalytischen Denkens deutlich, wobei letztere wiederum mit den veränderten soziopsychischen Bedingungen, die wiederum auf die gesellschaftliche Realität verweisen, vermittelt sind.


Bemerkenswert an dieser Kette von Kritiken ist, dass in dieser Debatte alle – außer Freud selber – im Namen einer Form sozialer Emanzipation und der Kapitalismuskritik argumentieren, aber jeder auf seine Weise, die oft den anderen entgegengesetzt ist. Jeder nimmt den Standpunkt einer grundsätzlichen Kritik des Konsumkapitalismus an und wirft seinen Vorgängern vor, nur eine Pseudokritik ausgeübt zu haben, oder eine Kritik, die ungewollt im Rahmen der Gesellschaft verbleibt, die sie überwinden will.[5]


Die Freud’sche Psychoanalyse stellte bei ihrem Erscheinen am Anfang des 20. Jahrhunderts eine große Herausforderung für das herkömmliche Denken dar – und ist es bis heute geblieben. Nur wenige Theorien sind Gegenstand so heftiger Diskussionen seit mehr als einem Jahrhundert gewesen, und auf der Seite ihrer Anhänger wie der ihrer Gegner haben sich stets sehr unterschiedliche Menschen versammelt, auch was die politische Ebene angeht.


Auch für die offenen Gegner des Kapitalismus bildete die Psychoanalyse stets ein Problem. Der sogenannte ›orthodoxe‹ Marxismus hat sie fast immer verurteilt. In Die Zerstörung der Vernunft (1954), wo György Lukács eine große Freske der von ihm als ›irrational‹ abqualifizierten Strömungen des bürgerlichen Denkens malt, rückt er Freud sogar in die Nähe des Faschismus. Die Psychoanalyse wurde in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion verboten, nachdem sie anfangs ein gewisses Interesse hervorgerufen hatte, das sich vor allem in Michail Bachtins 1927 veröffentlichtem Buch Freudismus[6] geäußert hatte. Pawlows Behaviorismus, die offizielle Psychologiedoktrin in der Sowjetunion, war natürlich besser zur Massendisziplinierung geeignet.


Freud selber ist stets ein Liberaler (oder ein ›Liberal-Konservativer‹) und ein Gegner des ›Bolschewismus‹ gewesen. Er hat nie die Versuche ermutigt, aus der Psychoanalyse revolutionäre Schlussfolgerungen auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene zu ziehen; Schriften wie Das Unbehagen in der Kultur sind sogar oft als ›reaktionär‹ eingestuft worden. Ein Teil der Linken war davon überzeugt, dass die Psychoanalyse mit einem sozialrevolutionären Programm unvereinbar ist, oder dass sie auf jeden Fall nichts dazu beiträgt und auf sie verzichtet werden kann. Dieses Misstrauen besteht übrigens weiterhin, aber ohne immer offen aufzutreten – was nicht heißt, dass es immer grundlos sei.


Die ›klassenkämpferischsten‹ Strömungen verachteten in erster Linie die sexuellen Thematiken als ›kleinbürgerlich‹ und betrachteten ganz allgemein Neurosen als ein Problem, das nur das Bürgertum betrifft und diejenigen, die nicht arbeiten. Aber auch weniger grobgestrickte Linke befanden, die Psychoanalyse habe den großen Mangel, sich auf eine angebliche ›menschliche Natur‹ zu berufen, also auf ein anthropologisches und biologisches, und deshalb unwandelbares Substrat. Der Bezug auf die ›Natur‹ ist jedoch im Allgemeinen ein Merkmal der ›Rechten‹ (und ›Liberalen‹): im reaktionären Diskurs, jedenfalls in seiner traditionellen Version, ist es die Natur, die die Menschen ungleich gemacht und die Hierarchien zwischen Rassen, Klassen und Geschlechtern erzeugt habe. Die Menschen würden mit unterschiedlicher Intelligenz und Talenten geboren, heißt es, und die Konkurrenz und die Verfolgung des Privatinteresses seien ›natürlich‹. Der Mensch sei von Natur aus Egoist und strebe nur nach seinem persönlichen Vorteil, oder dem seiner Familie. Andere fügen hinzu, dass der Mensch von Natura aus Religion brauche, oder einen ›Herrn‹, oder behaupten, dass Homosexualität, oder Frauen die arbeiten und dem Manne gleich sein wollen, ›widernatürlich‹ seien. Jeder Versuch – fährt diese Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft fort, – die ›menschliche Natur‹ zu verändern, mündet zwangsläufig in Totalitarismus und Gewalt. Man versteht nur allzu gut, dass Thomas Hobbes mit seinem Homo homini lupus der Urvater dieser Naturalisierung der gesellschaftlichen Beziehungen ist, die bis zum Sozialdarwinismus und zur Eugenik reicht.


Für die Linke, im Gegensatz dazu, zählen Kultur, Gesellschaft und Erziehung weit mehr als eine hypothetische ewige menschliche Natur. Der Vorrang der Kultur vor der Natur beim Menschen stellt sogar die Grundlage der Behauptung dar, dass die Menschen, wenn sie kollektiv handeln, ihr Schicksal in die Hand nehmen können – und das ist die Grundlage jeder Revolutionstheorie. Alle Übel, ohne beinah, seien der Klassengesellschaft zuzuschreiben, und nicht dem Menschen als solchen. Es ist also prinzipiell möglich, sie zu überwinden oder sogar einen »neuen Menschen« zu erschaffen, der unter anderem keinen Egoismus mehr kennt.[7]


Freuds Theorie nimmt nicht an diesem Prometheischen Enthusiasmus teil. Ihr zufolge legt das Unbewusste, dessen Struktur weitgehend fix ist, der Veränderbarkeit der menschlichen Verhaltensweisen enge Grenzen auf. Die im Somatischen wurzelnden Triebe seien nicht modifizierbar, sondern höchstens kontrollierbar. Die Wichtigkeit, die Freud der Kindheit zuschreibt, dem am wenigsten »gesellschaftlichen« Abschnitt des Lebens, in dem die Individuen am wenigsten nach kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren differenziert sind, beschränkt notwendigerweise die Möglichkeiten einer bewussten Selbstschöpfung der Gesellschaft. Die Vorstellungen vom gesellschaftlichen Leben, die Freud vor allem ab Totem und Tabu (1913) entwickelt hat, haben den ›anti-utopischen‹ Zug der Psychoanalyse verstärkt: die Gesellschaft ist für Freud nichts anderes als die vervielfältigte Version des einzelnen Individuums und seiner Triebstruktur. Sie reproduziere eine archaische Struktur und aktualisiere das Drama der ›Urhorde‹: die Ontogenese wiederhole die Phylogenese sogar im psychischen Bereich.[8] Das Unbehagen in der Kultur (1930) scheint diese illusionslose, wenn nicht sogar reaktionäre Tendenz zu krönen: Freud behauptet dort, das Glück sei individuell wie gesellschaftlich unmöglich. Man könne lediglich das Unglück beschränken (zum Beispiel durch eine etwas tolerantere Sexualmoral). Aber Freud ging nie bis zur Idee einer ›sexuellen Befreiung‹, wie es sein rebellischer Schüler Wilhelm Reich tat (vgl. Reich 1973).[9] Freud führt außerdem ab 1919 den Begriff des ›Todestriebes‹ ein: Kriege und Aggressionen, Destruktivität und Sadismus seien nicht die Folgen einer kranken Gesellschaft, sondern Teil unserer menschlichen Ausstattung.


Es scheint kaum möglich, eine solche Auffassung des Lebens in den Dienst einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwandlung zu stellen, wie die Linke sie für möglich hielt. Die Ausstrahlung und Überzeugungskraft von Freuds Ideen waren aber so groß, dass auch auf der Linken einige schon bald versuchten, diese Ideen zu benutzen, um soziale Emanzipationsprozesse voranzutreiben. Otto Gross und Wilhelm Reich sind die ersten gewesen, Georg Groddeck, Sandór Ferenczi, Otto Fenichel, Géza Róheim und andere folgten, jeder auf seine eigene Art.[10]



2. Die Frankfurter Schule und die Psychoanalyse – Die Auseinandersetzungen zwischen Fromm, Adorno und Marcuse


Das Frankfurter Institut für Sozialforschung (das den Ursprung der sogenannten Frankfurter Schule bildet) lancierte 1931, als Max Horkheimer dessen Leitung antrat, das bis dahin wichtigste Projekt, um die Instrumente des marxistischen Materialismus mit der Psychoanalyse zu verbinden. In der Tat ist für die Autoren des Instituts die Psychoanalyse ›materialistisch‹, aber in einem sehr weiten Sinne: hier bedeutet materialistisch nicht ökonomistisch. Anfänglich wurde diese Untersuchung sehr von Erich Fromm geprägt, wie die 1936 veröffentlichten Studien über Autorität und Familie zeigen. Deren Autoren versuchten vor allem, psychologische ›Charaktertypen‹ mit den vom Kapitalismus geschaffenen Klassen zu verbinden. Ein zentrales Beispiel ist dabei der Zusammenhang zwischen dem ›analen‹, auf Anhäufung und Ersparnis fixierten Charakter und der bürgerlichen Klasse, für die diese Verhaltensweisen keine Neurosen sind, sondern die Grundlage ihrer gesellschaftlichen Rolle bilden. Dieser Charaktertyp neigt zum blinden Gehorsam und geht leicht in die ›autoritäre Persönlichkeit‹ voller Vorurteile und Ressentiments über, weshalb er die ideale Beute faschistischer Propaganda darstellt. In den 1940er Jahren führten die in die USA emigrierten Institutsmitglieder diese Untersuchungen weiter mit der großen, halb theoretischen, halb empirischen Studie Die Autoritäre Persönlichkeit, die 1950 veröffentlicht wurde. Aber die Freud-Interpretation derjenigen, die mittlerweile den Kern des Instituts ausmachten – nämlich Horkheimer, Adorno und Marcuse – hatte sich zwischenzeitlich stark gewandelt. Erich Fromm, der ab 1937 in immer stärkeren Konflikt zum Institut – und vor allem zu Adorno – geraten war, wurde am Ende zur Zielscheibe von Angriffen und in die Nähe des ›Neo-Freudianischem Revisionismus‹ gerückt.[11] Gegenüber dem Revisionismus nahm sich das Institut vor, zum ›echten‹ Freud zurückzukehren, und zwar auch zu denjenigen Aspekten, die am unvereinbarsten mit einer kritischen Gesellschaftstheorie schienen.[12] Freuds späte, von den Revisionisten gemiedene oder abgelehnte Schriften schienen im Gegenteil den Autoren der Dialektik der Aufklärung besonders wichtig zu sein beim Versuch, den Aufstieg des Faschismus mittels der Begriffe der Verinnerlichung sozialer Zwänge und des gewalttätigen Charakters aller Zivilisation zu verstehen.


Die Neo-Freudianer (hauptsächlich Fromm, Karen Horney und Harry Stack Sullivan) schreiben den Trieben, vor allem den sexuellen, eine geringere Rolle als Freud zu; sie bestehen auf der Rolle der Erziehung, der sozialen und kulturellen Faktoren und suchen nach Bezügen zur Anthropologie und Soziologie. Ihre Theorie setzt die Bedeutung der Kindheit in der individuellen Geschichte sowie die des Ödipuskomplexes herab, dessen universellen Charakter sie abstreiten. Sie lehnen erst recht die Annahme eines ›Todestriebes‹ sowie im Allgemeinen die unüberwindbaren Konflikte im Inneren des Menschen ab. Für die Neo-Freudianer geht es darum, Freud zu ›humanisieren‹ und ihn von seiner biologistischen Seite, dem Pessimismus seiner späten Werke und dem zur Verzweiflung führenden Begriff des ›Todestriebs‹ zu befreien, um in seinem Werk die Voraussetzungen des individuellen Glücks und der gesellschaftlichen Harmonie zu finden. Freude irrte sich ihnen zufolge, als er eine Unvereinbarkeit zwischen Trieben und Kultur annahm; es würde reichen, die Triebunterdrückung zu verringern, um ein individuelles wie kollektives Gleichgewicht zu schaffen – eine Art psychischer Sozialdemokratie, ein Zusatz zum Sozialstaat. Aber zumindest bei Fromm ging das stets mit einer sehr kritischen Ansicht der kapitalistischen Gesellschaft einher, die die Möglichkeit einer emanzipatorischen Auto-Transformation offen lässt, im Gegensatz zu Freuds an Hobbes erinnernden Pessimismus.[13] Was Fromm 1941 aufgegeben hatte war Freuds Libidotheorie.[14] Sie schien ihm unvereinbar mit einer marxistischen Lektüre der sozio- ökonomischen Ursprünge der Merkmale der einzelnen Gesellschaftsklassen. Wenn der anale Charakter typisch für die Bourgeoisie ist, warum soll man ihn dann mit den Sauberkeitsritualen der frühen Kindheit erklären, die in den verschiedenen Klassen dieselben sind? In den Augen Fromms sind es die den sozio-ökonomischen Verhältnissen entsprechenden gesellschaftlichen Beziehungen, die direkt ab der Kindheit den Charakter formen, ohne den Weg über die Libidophasen zu gehen.


Den ersten öffentlichen Angriff auf Fromm startete Adorno mit einem Vortrag, den er 1946 auf Englisch vor der Psychoanalytischen Gesellschaft in San Francisco hielt.[15] Er attackierte dort in Wirklichkeit vor allem Karen Horney, eine in die USA emigrierte deutsche Psychoanalytikerin, die eine Zeit lang Fromm nahestand – aber Adornos Kritiken sind vor allem an letzteren gerichtet. Er nimmt dort das Wesentliche der Kritiken vorweg, die Marcuse zehn Jahre später äußern sollte. Adorno zufolge drückt Freuds »Atomismus« eine soziale Realität aus, nämlich die Spaltung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Die Revisionisten »die über den Reaktionär Freud indigniert sind, während sein unversöhnlicher Pessimismus die Wahrheit bezeugt über die Verhältnisse, von denen er nicht spricht«, wollen »einer inhumanen Realität den Glanz des Humanen« leihen, »indem sie die unmenschlichen Beziehungen so behandeln, als wären sie schon menschliche«.[16]


Adornos Argumentation wirkt auf den ersten Blick paradox, ebenso wie die spätere Marcuses: Die beiden Autoren, die sich nicht in erster Linie für den klinischen – therapeutischen – Wert der Psychoanalyse interessieren, sondern für deren potentiellen Beitrag zur »Möglichkeit eines Fortschritts über die ›vaterzentrierte‹, auf Erwerb eingestellte Kultur hinaus«, werfen Fromm »Soziologismus« vor und verteidigen Freuds Trieblehre, welche die intersubjektiven Beziehungen – und damit die ganze Gesellschaft – als sekundär einstuft gegenüber einer weitgehend angeborenen Triebstruktur, die nur auf der individuellen Ebene existiere.[17] Die Insistenz der ›Kulturalisten‹ auf der Bedeutung der ›Umwelt‹ und der interpersönlichen Beziehungen ab dem Beginn des individuellen Lebens scheint der marxistischen Theorie viel näher zu stehen, die den Hauptakzent auf die gesellschaftliche Dimension der menschlichen Existenz legt, während Freuds Menschenbild dem bürgerlichen Liberalismus verwandt scheint, für den die einzige Realität das Individuum mit seiner ›pursuit of happiness‹ ist und der schon immer das gedacht hat, was Margaret Thatcher dann offen ausgesprochen hat: »There is no such thing as society!«.


Um Adornos und Marcuses Positionen zu verstehen, sind einige Erläuterungen nötig. Marcuse hat die Hauptpunkte seine Kritik an Fromm in einem Artikel aus dem Jahre 1955 formuliert, den er in demselben Jahr als Nachwort in Eros and Civilisation aufnahm. Er legt dort erst einmal die ursprünglich ehrenwerten Beweggründe des Neo-Freudianischen Revisionismus dar: »Der psychoanalytische Begriff des Menschen mit seinem Glauben an die grundsätzliche Unveränderlichkeit der menschlichen Natur erschien jetzt als ›reaktionär‹; die Freudsche Theorie schien zu besagen, dass die humanitären Ideale des Sozialismus menschlich unerreichbar seien. Nun begannen die Neuerer in der Psychoanalyse Auftrieb zu gewinnen«.[18] Nach kurzen Erwähnungen des linken Flügels der Psychoanalyse – für den der Name Wilhelm Reich steht – und des rechten Flügels (C. G. Jung) geht Marcuse zum »›Zentrum‹ des Revisionismus« über: »Freud entdeckte das Werk der Unterdrückung und Verdrängung noch in den höchsten Werten der Kultur – die Unfreiheit und Leiden voraussetzt und zur Dauer erhebt. Die Neo-Freudianischen Schulen befürworten nun die gleichen Werte als Heilmittel gegen Unfreiheit und Leiden – als Sieg über die Unterdrückung«.[19] Die Revisionisten räumen den Beziehungen zwischen Erwachsenen Vorrang ein, und damit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, »während Freud, der seine Aufmerksamkeit ganz auf die Schicksale der Primärtriebe richtete, den Einfluss der Gesellschaft noch in den verborgensten Schichten der Gattung (des Genus) und des Einzelnen entdeckte«.[20] Marcuse räumt ein, dass Fromm am Anfang seiner Laufbahn versuchte, Freuds Theorie von ihrer Identifizierung mit der zeitgenössischen Gesellschaft zu lösen. Aber Fromm sei diesen Anfängen nicht treu geblieben, behauptet Marcuse, und sogar als er später fortfuhr, den Kapitalismus anzuklagen, blieb seine Kritik oberflächlich und reduzierte die Problematik auf eine Frage der »Werte«, die es auch im Rahmen einer unfreien Gesellschaft zu verwirklichen gelte. Im Gegensatz zu Freud wolle Fromm nicht sehen, dass diese »höheren Werte« sich auf Kosten der Einzelnen und ihres libidinösen Glücks verwirklichen: die Revisionisten eliminieren die explosivsten Begriffe und geben einem Drang zum Positiven nach.[21]


Das »Recht auf Glück« im hier und heute anzuerkennen, wie es Fromm will, bedeutet jedoch, so Marcuse, es auf eine Weise zu definieren, die mit dieser Gesellschaft kompatibel ist – und so werden diese Werte selber repressiv. Freuds Metapsychologie enthalte ein größeres kritisches Potential als seine Therapeutik, denn diese komme nicht umhin, die gegebene Realität sowie die Notwendigkeit zu berücksichtigen, die Patienten zu heilen, ohne abzuwarten, dass sich die ganze Gesellschaft ändert. Die Revisionisten stellen ihre »soziologische« Lesart einer auf das Individuum zentrierten Sicht gegenüber. Auch Freud war durchaus der Meinung, dass der Einzelne vom »allgemeinen Schicksal« abhänge, aber dass dieses allgemeine Schicksal sich im wesentlichen in der frühen Kindheit zeige. Dort gilt:

»Die allgemeine Unterdrückungstendenz formt das Individuum und macht selbst seine persönlichsten Züge zum Allgemeingut«.[22] Marcuse zufolge überschätzen die Revisionisten die individuellen Differenzen: »Die entscheidenden Beziehungen sind damit diejenigen, die am wenigsten ›zwischenmenschlich‹ sind. In einer entfremdeten Welt stehen Exemplare der Gattung einander gegenüber: erst Eltern und Kinder, Männer und Frauen, dann Herr und Knecht, Chef und Angestellter«.[23] Marcuse behauptet, dass gerade der »härteste«, der »biologischste« Freud die stärksten kritischen Wahrheiten über die kapitalistische Gesellschaft aussagt, selbst weit über seine Absichten hinaus:


»Im Gegensatz dazu reichen Freuds ›biologische‹ Grundauffassungen über die Ideologie und ihre Spiegelungen hinaus: seine Weigerung, eine verdinglichte Gesellschaft als ein ›sich entwickelndes Netzwerk zwischenmenschlicher Erfahrungen und Verhaltensweisen‹ und ein entfremdetes Individuum als eine ›Gesamtpersönlichkeit‹ zu behandeln [wie es die ›humanistischen‹ Neo-Freudianer tun, A.J.], entspricht der Realität und enthält ihren wirklichen Begriff. Wenn er sich nicht darauf einlässt, die unmenschliche Existenz als einen vorübergehenden, negativen Aspekt der sich voran bewegenden Menschheit anzusehen, dann ist er menschlicher als die gutmütigen, duldsamen Kritiker, die seine ›unmenschliche‹ Kälte brandmarken«.[24]


Freuds »statische« Auffassung der Gesellschaft kommt für Marcuse der Wirklichkeit näher als die »dynamische« der Revisionisten, weil jede Gesellschaft auf der Triebunterdrückung beruhe. Freuds Minimalprogramm sei es, das Unglück zu begrenzen; zu glauben, man könne in dieser Gesellschaft viel mehr ausrichten heißt, eine viel zu rosige Vorstellung von ihr zu haben.


Die Revisionisten wollen das »Potential« ihrer Patienten entwickeln. Aber wenn die Gesellschaft so entfremdet ist, wie Fromm sie beschreibt, wie ist es dann möglich, fragt Marcuse, dort verantwortungsbewusste, produktive und entfaltete Personen hervorzubringen? So kehren sie zu einer idealistischen Ethik zurück, im Gegensatz zu Freud, der sich, auch unter Benutzung der Ironie, weigert, »der Unterdrückung einen anderen Namen zu geben als eben diesen; die Neofreudianer sublimieren sie gelegentlich in ihr Gegenteil«.[25] Fromm kritisiert in der Tat die Marktgesellschaft und die Konkurrenz, aber glaubt trotzdem daran, dass man in ihr »höhere Werte« und »konstruktive Arbeit« verwirklichen könne. Er vergisst gleichfalls, dass die erotischen Triebe stets auf irgendeine Weise mit den destruktiven vermischt sind.


Freud weiß hingegen, dass es in »unserer Kultur« keinen Platz für eine gleichzeitig zärtliche und sinnliche Liebe gibt. Aber die Revisionisten halten es für möglich, eine harmonische Lösung zu finden. In ihren Augen sind die entscheidenden Konflikte, wie die gesellschaftliche Unterdrückung, nicht einmal soziologisch, sondern banal moralisch: So kehren sie zur Abwertung der materiellen Bedürfnisse zurück. Sie glauben nicht an einen »fundamentalen Konflikt zwischen dem Lust- und dem Realitäts-Prinzip«[26]: Ihnen zufolge kann die triebhafte Natur des Menschen ein gesellschaftlich anerkanntes Glück erreichen. Deshalb bleibt ihr »Humanismus« hinter der furchtbaren Hellsichtigkeit Freuds zurück, für den das Grundunglück der Triebunterdrückung niemals durch Sublimierungen in der »produktiven Liebe« oder andere Pseudo-Glücke kompensiert werden kann.


Die Revisionisten haben das Glück und die Freiheit spiritualisiert und können deshalb glauben, dass das Glück selbst in einer repressiven Gesellschaft möglich sei. Bei Freud ist es hingegen der Rückgriff auf das Biologische, der das Ausmaß der Repression offenbare und keine billigen Illusionen wie bei den »Kulturisten« gestatte. Statt Freuds Lehre eine kulturelle oder soziologische Theorie »hinzuzufügen«, sollte man lieber, laut Marcuse, den soziologischen und historischen Inhalt seiner scheinbar biologischen Kategorien extrapolieren. Die Schwächung des Individuums habe die Anwendung der Psychologie auf gesellschaftliche Ereignisse unmöglich gemacht, und es gehe jetzt darum, »die politische und soziologische Substanz der psychologischen Begriffsbildungen zu entwickeln«[27]: Die Gesellschaft befinde sich viel mehr im Inneren des Individuums als umgekehrt.[28]


Fromm konnte sich nur wundern über die Heftigkeit der Angriffe, die ein ehemaliger Weggefährte auf ihn startete. In den Vereinigten Staaten der fünfziger Jahre, wo Konformismus und Anti-Kommunismus herrschten, hielt er zweifelsohne seine Haltung schon für sehr gewagt, ketzerisch und subversiv. Außerdem widersetzte er sich der damals in den USA sehr geläufigen Reduktion der Psychoanalyse auf die bloße Heilung einer individuellen Neurose und erinnerte stattdessen daran, dass die individuelle Krankheit eher die Folge einer Krankheit der Gesellschaft als solcher ist und dass die Grundprinzipien der amerikanischen Gesellschaft, wie die allgegenwärtige Konkurrenz, an sich schon pathogen sind. Es musste ihm seltsam vorkommen, dass ein anderer Marxist ihm eine solche Lektion in Radikalismus gab und ihm genau das vorwarf, was er, Fromm, immer behauptet hatte zu bekämpfen: die Anpassung der Psychoanalyse an einen repressiven Kontext, was sie jedes wirklich subversiven Gehalts beraube. Und wie konnte ein Marxist es ihm vorwerfen, die Rolle der Beziehungen zwischen Erwachsenen, und damit der Gesellschaft, in der psychischen Struktur der Individuen unterstrichen zu haben?


Fromm hat in der Tat in derselben Zeitschrift Dissent Marcuse scharf geantwortet.[29] Er wirft zuerst einmal Marcuse vor, die oft weit auseinandergehenden Positionen der verschiedenen »Revisionisten« durcheinanderzuwerfen und ihm selber Meinungen zuzuschreiben, die eher die Horneys und Sullivers sind[30] – die sich viel weniger als Fromm für Gesellschaftskritik interessierten. Aber Fromm gibt zu, dass er auch an Freud selber gewichtige Einwände zu richten habe: dieser habe eine »darwinistische« Ansicht vom Menschen und identifiziere den Menschen seines Zeitalters und seiner Gesellschaft mit dem zivilisierten Menschen überhaupt. Indem er jede Form von Liebe auf den Sexualtrieb zurückführe, müsse Freud zwangsläufig auf dem Fundament jeder Kultur einen unaufhebbaren Konflikt entdecken. Keine Gesellschaft kann ihm entgehen – es sind bloß einige bescheidene Reformen im Bereich der Sexualmoral möglich, wie es Freud selber sagt. Und das, so fragt Fromm, soll eine radikale Kritik der entfremdeten Gesellschaft sein? Der »Materialismus«, den Marcuse bei Freud lobt (um ihn dem angeblichen »Spiritualismus« der Revisionisten gegenüberzustellen), ist laut Fromm nichts anderes als der physiologische, »bürgerliche« und vormarxistische Materialismus des 19. Jahrhunderts. Es sei im Gegenteil nur auf der Grundlage von Marx’ Materialismus, als dialektische Natur-Kultur-Beziehung unter dem Zeichen der Praxis, dass ein Mensch möglich sei, der sich nicht auf die Befriedigung seiner Triebbedürfnisse beschränkt. Andererseits hat der Wunsch nach unbeschränkter sexueller Befriedigung nichts Radikales an sich: Die Nazis ihrerzeit und vor allem die Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit bieten sie gleichfalls an. In Aldous Huxleys Brave New World stellt sie ein Grundprinzip dar. Sie erzeugt konfliktlose und glückliche Leute, die zum Gehorsam nicht erst gezwungen werden müssen.[31]


Fromm unterstreicht, dass sich seine Auffassung von Glück und Liebe von der vorherrschenden eindeutig unterscheide, aber dass es nicht unmöglich sei – nur sehr schwierig – sie in einer entfremdeten Gesellschaft zu verwirklichen. Das würde sogar, so fügt er hinzu, einer Form von Gesellschaftskritik und von Rebellion gleichkommen. Die Vernachlässigung des »menschlichen Faktors«, genauer gesagt die nihilistische Einstellung zum Menschen, sei einer der Grundfehler des Leninismus und Stalinismus. Er schließt mit den Worten: »Marcuses Position ist ein Beispiel von menschlichem Nihilismus, der sich als Radikalismus verkleidet«.[32]


In seiner Antwort an Fromm behauptet Marcuse, dass weder Freud noch er selbst jemals unbegrenzte und sofortige sexuelle Befriedigung mit Glück identifiziert haben. Aber er unterstreicht gleichzeitig, dass alle Sublimierung einen Anteil von Unfreiheit und Repression in sich trage. Die Auswirkungen von Freuds Theorie (jenseits seiner unbestreitbaren Befangenheit im Horizont seiner Zeit) seien weit anti- kapitalistischer als Fromms naive Ideen zur Mitbestimmung der Arbeiter am Management. Es gebe keinen 19.-Jahrhundert-Materialismus in der Metapsychologie Freuds, der sich eher auf Platon berufe. »›Nihilismus‹ im Sinne einer Anklage gegen unmenschliche Lebensumstände kann eine echt humanistische Haltung sein – als Teil der ›Großen Weigerung‹, das Spiel zu spielen und sich mit dem schlechten ›Positiven‹ zu kompromittieren. In diesem Sinne akzeptiere ich es, wenn Fromm meine Position ›menschlichen Nihilismus‹ nennt«.[33]


In seiner letzten Erwiderung zitiert Fromm noch einmal Freud, um zu zeigen, dass für diesen das Glück tatsächlich in einer unbeschränkten Sexualität bestehe, und um diese Ansicht zu kritisieren. So bestätigt er noch einmal, dass er nicht von Marcuses Freud-Lektüre abweicht, sondern von Freuds Sexualtheorie als solcher. Obwohl weder Fromm noch Marcuse es tun, hätten sie beide Adornos berühmten Ausspruch aus den einige Jahre vorher in Deutschland veröffentlichten Minima Moralia zitieren können: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«.

Marcuse hatte seine eigene Deutung Freuds 1955 in Eros and Civilisation dargelegt.[34] Sie ist sicherlich befremdend für diejenigen, die meinen, dass ein Aufgreifen von Freuds Denken in einer marxistischen Perspektive (der Marcuse bekanntlich viel näher geblieben war als die anderen Institutsmitglieder) nur in einer Erklärung der individuellen Neurosen durch die gesellschaftliche Repression bestehen könne und dass die »anthropologischen Konstanten«, die in Freuds Spätwerk eine so große Rolle spielen, abgelehnt werden müssen.


Marcuse bezieht sich jedoch gerade auf Freuds Metapsychologie, und vor allem auf den Begriff des ›Todestriebs‹[35] und die Bedeutung, welche Freud der Vorgeschichte der Menschheit zumisst, um die gegenwärtigen Gesellschaften zu erklären: Die ›Urhorde‹ und der ›Vatermord‹ seien der Ursprung eines anhaltenden Schuldgefühls, das sogar die ›Thermidore‹ erkläre, also die Rückkehr von Revolutionen zum vorhergegangenen Zustand.[36] Für Marcuse besteht Freuds Größe gerade in seinem unerbittlichen Beharren auf der Existenz eines Todestriebs und der Tatsache, dass die unsublimierte Befriedigung der Libidotriebe tatsächlich die ganze Kultur in ihrer heutigen Gestalt bedroht. Freud legt den Menschen nicht nahe, sie könnten in Harmonie mit dieser Gesellschaft leben; er schlägt ihnen nur vor, ihre Triebbefriedigungen einzuschränken – ohne jemals abzustreiten, dass es sich dabei um einen sehr harten Verzicht handelt – um nicht in einen für das Individuum verheerenden Konflikt zu geraten.


Aber muss man deshalb Repression und Sublimierung akzeptieren und in ihnen den unvermeidlichen Preis sehen, um die Kultur zu retten? Freuds Analyse, sagt Marcuse, sei richtig – aber unter der Bedingung, sie nicht zu ontologisieren. Sie gelte nur für die kapitalistische oder für andere repressive Gesellschaften. Die Abschaffung der Arbeit – also die radikale Verringerung der Arbeitszeit und die Verwandlung der Arbeit in libidinöse Tätigkeit – die die kapitalistische Entwicklung von arbeitssparenden Technologien in der Nachkriegsgesellschaft möglich gemacht habe, eröffne die Möglichkeit eines historischen Wandels der Triebstruktur und deren Versöhnung mit der Kultur. Es handelt sich also um eine ›konkrete Utopie‹: Narziss und Orpheus werden Ödipus ersetzen.


Keinem therapeutischen Eingriff, so Marcuse, keiner moralischen Anstrengung werde es gelingen, Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft zu schaffen, solange die entfremdete Arbeit und die ›zusätzliche Repression‹ weiter existieren. Die Neo-Freudianer irren sich, wenn sie diesen Einklang im Hier und Jetzt für möglich halten. Aber Freud irrte sich seinerseits mit seiner Behauptung, das Lustprinzip müsse bis in alle Ewigkeit dem Realitätsprinzip untergeordnet sein, denn nichts könne jemals die Vorherrschaft der Ananke aufheben – also der Notwendigkeit, des Bedürfnisses, des Mangels. Bis heute, räumt Marcuse ein, wären alle Gesellschaften tatsächlich von den unzureichenden Mitteln geprägt gewesen, die sie der Natur abgerungen hätten. Deshalb war das Leben ein Kampf ums Überleben. Unter diesen Umständen wären die Triebunterdrückung und der Arbeitszwang, jedenfalls teilweise, notwendig, um den Fortbestand der Menschen zu ermöglichen. Diese lange Repressions- und Entfremdungsepoche habe jedoch die Bedingungen zu ihrer eigenen Überwindung geschaffen: Dank den Technologien sei die Gesellschaft jetzt reif dafür, um mit einem Minimum an Entfremdung und Unterdrückung auszukommen. Alles, was dieses unvermeidbare Minimum übersteige, bildet eine »zusätzliche Repression«, wie sie Marcuse nennt, eine »surplus repression«, deren einzige Funktion darin bestehe, die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen zugunsten einer Minderheit aufrechtzuerhalten. Sie entbehre also jeder wirklichen Rechtfertigung. Eine tiefgehende Veränderung der Triebstruktur sei deshalb möglich, auch kurzfristig. Der Todestrieb könne stark verringert werden, wenn es die Gesellschaft den konstruktiven Kräften des Eros erlaubte, so viel Raum wie möglich im individuellen und kollektiven Leben einzunehmen.


Marcuse wendet gewissermaßen Freuds Behauptung, dass die weitgehend fixe Triebstruktur jeder denkbaren gesellschaftlichen Veränderung enge Grenzen setze, in ihr Gegenteil um. Für Marcuse ist es umgekehrt: Die Triebe, die aggressiven wie die libidinösen, sind nur schlecht in die kapitalistische Gesellschaft integrierbar und bilden ein andauerndes Rebellions- und Unzufriedenheitspotential – ein »Unbehagen« – das jeden Versuch scheitern lassen wird, eine »glatte«, im Sinne der Herrschaft »befriedete« Gesellschaft zu schaffen.


Triebstruktur und Gesellschaft wird heute oft als ein Buch empfunden, das eng mit der Atmosphäre der sechziger Jahre verbunden ist, als es intensive Diskussionen in verschiedenen Ländern auslöste. Trotzdem kann es nicht auf ein Handbuch der »sexuellen Revolution« reduziert oder mit den Studenten identifiziert werden, die auf Demonstrationen »Marx-Mao-Marcuse« brüllten. In Wirklichkeit war dieses Buch in einem ganz anderen Kontext entstanden, wie bereits erwähnt, und andererseits hat es bis heute Diskussionen angeregt, wie seine häufigen Neuauflagen in vielen Sprachen zeigen.


Welche Kritiken kann man an ihm vom Standpunkt einer radikalen Kritik des Warenfetischismus üben? Es fällt heute sofort auf, dass seine Überwindung des Traditionsmarxismus – wie auch bei Adorno – in vieler Hinsicht sehr wichtig, aber keineswegs vollständig ist. Marcuse kritisiert die »entfremdete Arbeit« (ohne sie zu definieren), aber gelangt nie bis zur Kategorie der abstrakten Arbeit, und deshalb auch nicht zu denen des Werts, des Geldes, des Warenfetischismus oder der geschlechtlichen Abspaltung. Die Kritik an der ›Ware‹ verweist weniger auf das Arbeitsprodukt in seiner Doppelnatur (abstrakt und konkret) als auf die Konsumgegenstände, die oft auf eine Art betrachtet werden, die eher an Thorstein Veblen und den ›Prestigekonsum‹ erinnert. Diesen Zug teilt er mit beinah allen Autoren, die in den sechziger Jahren die ›Ware‹ abhandelten.


Marcuse legt, ganz wie die Traditionsmarxisten, ein großes Vertrauen in den ›Fortschritt‹ und die Segnungen der Technologie zu Tage, wenn diese nur richtig benutzt werde! Er geht sogar so weit, in der Automatisierung der Produktion eine conditio sine qua non für die Errichtung einer erotischen Gesellschaft zu sehen![37] Die ›zivilisatorische Mission des Kapitals‹ kehrt hier ganz unerwartet zurück. Marcuse glaubt, dass die Automation der Produktion die »Herrschaft« bedrohe und diese versuche, sie zu behindern! Er behauptet auch, dass Fromm recht habe, wenn er sagt: »Niemals zuvor ist der Mensch der Erfüllung seiner höchsten Hoffnungen so nahe gekommen als heute. Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen und unsere technischen Errungenschaften lassen uns den Tag voraussehen, an dem der Tisch für alle gedeckt sein wird, die essen wollen«. Aber, so fügt Marcuse hinzu, noch nie haben sich dem so schwere Hindernisse in den Weg gelegt.[38] Noch nie war die Befreiung so nah, und nur eine anachronistische Klassenherrschaft, die jede historische Funktion verloren habe, widersetze sich ihr noch. Aber das ist weit von einer fetischismuskritischen Perspektive entfernt!


Der technologische Fortschritt bleibt für Marcuse eine unverzichtbare Voraussetzung der Befreiung. Er stellt eine List der Vernunft dar, einen dialektischen Umschlag: Das Endergebnis des Realitätsprinzips ist seine Verwandlung und die Aufhebung seines Gegensatzes zum Lustprinzip. Man könnte in dieser optimistischen Dialektik eine andere Version der traditionsmarxistischen Auffassung sehen, der zufolge die Entwicklung der von der Bourgeoisie geschaffenen Produktivkräfte am Ende die Produktionsverhältnisse umstürzen werden. Allerdings stellt dieser technische Fortschritt für Marcuse kein Ziel als solches dar, und die Anzahl der Fernseher oder der Traktoren (eine Anspielung auf die Sowjetunion) macht noch kein gutes Leben aus.[39] In diesem Zusammenhang zitiert Marcuse einen bemerkenswerten Satz aus Charles Baudelaires Mon cœur mis à nu: »Wahre Kultur liegt nicht in Gas, Dampf oder Drehscheiben. Sie liegt in der Tilgung der Ursünde.«[40]


Man kann sicherlich bei Marcuse gleichfalls einige Voraussetzungen des ökologischen Denkens antreffen. Das Vertrauen in die Technologie, das er in Triebstruktur und Gesellschaft ausdrückt, erstaunt uns heutzutage jedoch wegen seiner Naivität – obgleich er es mit beinah allen Denkern seiner Zeit teilt, und mit den ›linken‹ erst recht! Sein Lob der Technologie und deren Bedeutung für die Abschaffung der entfremdeten Arbeit weist bemerkenswerte Parallelen zu den Ideen auf, die die Situationistische Internationale in derselben Epoche entwickelte. Vor allem die ihr angehörigen Künstler Asger Jorn[41], Constant und Pinot Gallizio, aber auch Guy Debord selbst waren davon überzeugt, dass die arbeitssparenden Technologien den kapitalistischen Produktionsmodus objektiv überflüssig gemacht hätten und nun eine freie Assoziation der Individuen ermöglichten, die nicht länger auf der Arbeit beruhen würde. Wenn es in der Nachkriegsgesellschaft an sich möglich geworden war, zu einer auf Freizeit und Spiel beruhenden Zivilisation überzugehen, dann war das die direkte Folge des ›Siegs über die Natur‹, die es ermöglicht, Arbeit und Ökonomie abzuschaffen. Die Situationistische Internationale behauptete, dass Arbeit und Ökonomie nur am Leben gehalten werden, um die Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten; es gehe jetzt darum, diese von der Geschichte bereits geschriebene Sentenz in die Wirklichkeit umzusetzen. Debords nunmehr zugängliche Archive enthalten seine Lesenotizen und seine Vorarbeiten zur Gesellschaft des Spektakels, wo er gewisse Ähnlichkeiten zwischen Marcuses Schriften und seiner eigenen Spektakeltheorie unterstreicht. Er zitiert dort ebenfalls Begriffe wie Marcuses »repressive Entsublimierung«. Aber er hatte stets Vorbehalte gegenüber der Technologie[42] und hat ab 1971 eine sehr deutliche Kehrtwendung in Richtung einer immer ausdrücklicheren Kritik an der Rolle der Technologien vorgenommen.


Marcuse behauptet, die Technologien hätten eine unverzichtbare Rolle bei der Überwindung der ursprünglichen materiellen Armut in der Geschichte gespielt, als das ganze Leben der Menschen nur um seine bloße Reproduktion kreiste. Da, wo die verfügbaren Ressourcen knapp sind, herrscht die ›Ananke‹, die Lebensnot, und keine Emanzipation ist möglich. Die Technologien erschaffen den Überfluss und sind deshalb, in Marcuses Augen, eine Art »notwendiges Übel«. Es handelt sich um eine Variante der im Marxismus weit verbreiteten Vorstellung, dass der Kapitalismus eine zwar schreckliche, aber letztendlich notwendige Etappe gewesen sei, um die Menschheit aus der ursprünglichen Misere herauszuführen. Sie ist aber mittlerweile von zahlreichen historischen und anthropologischen Untersuchungen widerlegt worden. Die wohl wichtigste ist die 1972 veröffentlichte Studie Stone Age Economics des nordamerikanischen Anthropologen Marshall Sahlins. Er legt in ihr dar, dass die vorkapitalistischen Gesellschaften durchaus nicht immer in der Not lebten; oft war die Existenz dort weniger hart als in den modernen Gesellschaften. Einen ursprünglichen materiellen Mangel und eine Ressourcenknappheit als Grundzustand der Menschheit anzunehmen stellt eher selber eine bürgerliche ideologische Konstruktion dar. Marcuse teilt jedoch, wie viele andere Marxisten, diese basale Voraussetzung des modernen Utilitarismus, ohne sie in Frage zu stellen.


Ein anderer Zug Marcuses, der heute überholt wirken kann, ist seine Überschätzung der Rolle der Sexualität im allgemeinen und der »polymorph-perversen Sexualität« insbesondere. Der Begriff der »repressiven Entsublimierung« bezweckte, das Unzureichende einer bloßen Ausdehnung der »Toleranz« gegenüber der genitalen, »normalen« Sexualität in den Nachkriegsgesellschaften aufzuzeigen. Er behauptet, in der Rückgewinnung des infantilen und ›totalen Erotismus‹ liege das wirkliche Zentrum der Befreiung. Heute jedoch kann man feststellen, dass selbst eine gewisse Verbreitung der pervers-polymorphen Sexualität (die zweifelsohne stattgefunden hat, aber stets in warenförmigen und von vornherein normierten Formen) die Gesellschaft keineswegs umgewälzt hat. Die Sexualität als solche hat nichts Revolutionäres an sich. Sie ist nicht unvereinbar mit der Arbeit, oder höchstens mit der schweren körperlichen Arbeit. Der von Zygmunt Bauman oder Luc Boltanski und Ève Chiapello beschriebene »neue Geist des Kapitalismus« libidinisiert auf seine Art und Weise die Arbeit und die menschlichen Beziehungen.


Die heute fast komplette Rekuperation der erotischen Energie im Rahmen der Verwertung des Werts und der Totalisierung der Wertform sollte den Blick auf gewisse Elemente der früheren Gesellschaftskritiken ändern. Was eine Befreiungsinstanz sein wollte, kann sich im Rückblick als ein unfreiwilliger Beitrag zum Übergang zum nächsten Stadium der kapitalistischen Entwicklung herausstellen. Das gilt auch für die Kritik an den autoritären und ödipalen Strukturen und Verboten, die so typisch für die sechziger Jahre war. Sie schien damals das Nonplusultra des Protestes auszumachen. Heutzutage kann man sagen, dass die Rebellen von damals oft nichts anderes taten als Nietzsches Ermahnung zu folgen: »Was fällt, das soll man auch noch stoßen«. Die Identifikation des Kerns des Kapitalismus mit der persönlichen Autorität und einem »ödipalen« Über-Ich war zumindest einseitig (obwohl diese Identifikation bis heute durch viele Köpfe spukt). Man sollte in der Folge sehen, dass das Warensystem genauso gut mit einer kleineren Dosis Autoritarismus (obwohl dieser nie ganz wird verschwinden können) und mit vielen »flüchtigen« Strukturen (Z. Bauman) funktionieren kann. Der wirkliche Autoritarismus ist dann derjenige des »automatischen Subjekts«: der Wert und seine fetischistische Logik.


Seinerzeit wurde Marcuse manchmal vorgeworfen, er würde eine »regressive Utopie« befürworten, in der gerade die am wenigsten »reifen« Züge der psychischen Entwicklung des Individuums die wahrhaft menschliche Dimension ausmachen und deshalb so stark wie möglich aufgewertet werden müssten. Dieser Einwand hatte oft einen konservativen Ton und stellte sich auf den Standpunkt eines »Erwachsenseins«, das kaum von der bloßen gesellschaftlichen Anpassung zu unterscheiden war. Marcuse hat sich jedenfalls von dem distanziert, was ihm »regressiv« schien und Wilhelm Reichs »verallgemeinernden Primitivismus« abgelehnt: »zwischen repressiver und nicht-repressiver Sublimierung besteht kein wesentlicher Unterschied« bei Reich; dieser ziele nur auf die sexuelle Befreiung ab.[43] Bei Marcuse soll die »Befreiung« der Libido mit deren »Transformation« einhergehen, mit der Verwandlung von Sexualität in Eros und einer Erotisierung des gesamten Körpers sowie einer Erotisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen einschließlich der Arbeit, so dass am Ende »die Lebensnot selbst zum primären Feld libidinöser Entwicklung wird«.[44]



3. Das Subjekt in der Postmoderne – Laschs Auseinandersetzung mit dem Narzissmus


Es ist die Warengesellschaft als solche, die seit den siebziger Jahren regressive Züge angenommen hat: Die Infantilisierung galoppiert und jedes Realitätsprinzip wird verleugnet. Oft gelangen die Individuen in ihrer frühen Entwicklung gar nicht mehr bis zum Ödipuskomplex und zur Bildung eines Über-Ichs, Vertreter der Repression. Sie halten schon vorher inne und verwandeln ihren primären Narzissmus in sekundären Narzissmus, der dann das ganze Leben andauert. Dieser Narzissmus äußert sich nicht immer in den expliziten Formen eines asozialen und egoistischen Verhaltens (die ›narzisstische Persönlichkeitsstörung‹ bei Vorgesetzten und in der Paarbeziehung, die zur Zeit den Medien so gefällt), sondern auch in zahlreichen subtileren Formen. Aber es geht letztlich immer um den Versuch, die ursprüngliche Mutter-Kind-Trennung zu verleugnen, wie Christopher Lasch behauptet.


Der Narzissmus wird oft für die wichtigste psychologische Störung unseres Zeitalters gehalten – auch wenn gesagt werden muss, dass die mit diesem Begriff assoziierten Ideen sowohl bei den Spezialisten als auch im alltäglichen Gebrauch stark schwanken. Der Narzissmus scheint ebenso sehr mit dem postmodernen und flüchtigen, flexiblen und ›individualisierten‹ Kapitalismus (der seinen typischen Ausdruck im ›Netz‹ findet) verbunden zu sein wie die Zwangsneurose mit dem fordistischen und autoritären, repressiven und pyramidalen Kapitalismus zusammenhing (dessen Sinnbild das Fließband war).


Der positive Bezug auf Narziss in Triebstruktur und Gesellschaft ist also durchaus problematisch.[45] Sicherlich dachte Marcuse an etwas ganz anderes als an den Konsumnarzissmus von heute. Aber seine Interpretation des Orpheus-Mythos ist überzeugender als die von Narziss, und sein Loblied auf letzteren war prophetischer, als es ihm recht sein konnte. Gleichzeitig jedoch – und das spricht für die Breite seines Denkens – unterstrich Marcuse bereits 1963, dass das in einer »permissiven« Familie geborene Kind umso weniger in der Lage sei, sich der bestehenden Welt zu widersetzen.[46] Er sah die Entwicklung hin zu einer »vaterlosen Gesellschaft« voraus[47] – und das war genau der Titel des 1963 veröffentlichten Buchs des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich, der der Frankfurter Schule nahestand.


Die Einführung des Narzissmusbegriffs in den Bereich der Gesellschaftstheorie ist weitgehend Christopher Laschs 1979 in den Vereinigten Staaten veröffentlichtem Buch Das Zeitalter des Narzissmus geschuldet, dessen Analysen er in The Minimal Self (1984) fortführte.[48] Dieser keiner Denkrichtung zuzuordnende Autor liefert dort eine pessimistische Beschreibung der westlichen, und vor allem der nordamerikanischen, Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre.[49] Seine reiche und originelle Kritik besteht im Wesentlichen darin, mittels eingehender Analysen auf den verschiedensten Feldern die Anzeichen eines fundamentalen Narzissmus aufzudecken. Was versteht er jedoch unter Narzissmus? Er untersucht die Beiträge Freuds, Melanie Kleins, Bela Grunbergers und vieler anderer Autoren, um zu folgender Definition zu gelangen: Der sekundäre Narzissmus besteht in dem pathologischen Versuch, die ursprüngliche Trennung von der Mutterfigur zu leugnen und das furchterregende Ohnmachtsgefühl des Neugeborenen durch eine imaginäre Allmacht zu ersetzen. Diese nimmt einerseits die Gestalt von Verschmelzungsphantasien, andererseits die von Herrschaftswünschen an. Deshalb können sowohl das pseudo-mystische Bestreben, sich mit dem Kosmos oder der Natur zu vereinigen, wie es in der New-Age-Bewegung geschieht, als auch der Wunsch, die Natur technologisch vollkommen zu kontrollieren – was totale Selbstgenügsamkeit des Subjekts bedeuten würde – als Formen des Narzissmus betrachtet werden.[50]


Sein Narzissmusbegriff ist gut im folgenden Absatz zusammengefasst, der trotz seiner Länge zur Gänze zitiert werden soll:


»Der psychische Ausdruck dieser Abhängigkeit ist der Narzissmus. In seiner pathologischen Spielart entsteht der Narzissmus als Abwehr gegen das Gefühl hilfloser Abhängigkeit während der frühen Kindheit, dem er mit ›blindem Optimismus‹ und grandiosen Illusionen über eine eigene Selbständigkeit zu begegnen sucht. Da die moderne Gesellschaft die Erfahrung der Abhängigkeit bis ins Erwachsenenleben hinein verlängert, fördert sie mildere Formen von Narzissmus auch bei Menschen, die sich sonst womöglich mit den unausweichlichen Grenzen ihrer persönlichen Freiheit und Macht ausgesöhnt hätten – Grenzen, die im Wesen der ›condition humaine‹ liegen –, indem sie Fähigkeiten als Arbeiter oder Eltern entwickelt hätten. Aber in eben dem Augenblick, da unsere Gesellschaft es zunehmend schwerer macht, Befriedigung in Liebe und Arbeit zu finden, überrieselt sie jeden einzelnen mit vorfabrizierten Träumen und totaler Befriedigung. Der neue Paternalismus predigt nicht Selbstverleugnung, sondern Selbstverwirklichung. Er agiert im Sinne der narzisstischen Impulse und vereitelt ihre Mäßigung durch die Entwicklung lustvoller Selbstverlässlichkeit, sogar in einem begrenzten Bereich – unter günstigen Bedingungen eine Begleiterscheinung der Reifung. Während er obendrein überwältigende Phantasien von Omnipotenz fördert, entwertet der neue Paternalismus bescheidenere Träume, lässt er die Fähigkeit zu Zweifeln verkümmern und verbaut den Zugang zu harmlosen Ersatzbefriedigungen vor allem in Kunst und Spiel, die das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins – typisch narzisstische Merkmale – zu lindern vermögen.«[51]


Der Narzisst ist nicht unbedingt ein Egoist, aber er ist stets jemand, der nicht die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich zu bestimmen vermag.


An Laschs weit ausgreifender Theorie interessiert hier vor allem die Kritik, die er an Marcuse richtet, obwohl er sich selber oft auf die Frankfurter Schule bezieht. Es ist nötig, den oft sehr subtilen Argumenten Laschs zu folgen, wenn er einerseits im wesentlichen den Einwänden beipflichtet, die Marcuse an die Neo-Freudianer richtet, aber gleichzeitig Marcuses und Norman Browns Freud-Revision entschieden ablehnt. Lasch legt seine eigene Version der Rückkehr zum späten Freud vor. Er wirft Marcuse vor, trotz allen Anstrengungen innerhalb der Kultur des Narzissmus verblieben zu sein.


Lasch sieht den Narzissmus sowohl in der Mainstreamkultur als auch in der vorgeblichen Protestkultur am Werke: »Die narzisstischen Überlebensstrategien geben sich als Emanzipation von den repressiven Lebensbedingungen der Vergangenheit aus und verhelfen so einer ›Kulturrevolution‹ zur Entstehung, die die schlimmsten Eigenschaften eben der zerfallenden Kultur reproduziert, die sie zu kritisieren vorgibt.«[52] Aber dieser »Kulturradikalismus« kritisiert nur Werte und Modelle, die nunmehr sowieso von der Entwicklung des Kapitalismus überholt worden sind. Er behauptet, eine Infragestellung der autoritären Strukturen im Namen der Entfaltung des Individuums zu sein. Es handelt sich also um einen Angriff auf den »Vater« und auf das Über-Ich, das der Vertreter einer repressiven Gesellschaft sei. Um frei zu sein, so sagt die Kultur der persönlichen Befreiung, muss sich das Individuum vom Über-Ich befreien. Aber Lasch hält das für eine Illusion: Es gebe Über-Ichs, die viel schlimmer als der klassische »Vater« und dessen gesellschaftliche Verlängerungen seien. Der Niedergang der Familie erzeuge ein archaisches und grausames Über-Ich im Inneren der angeblich »befreiten« Individuen. Er schreibt:


»Die sich wandelnden Bedingungen des Familienlebens führen nicht so sehr zu einem ›Verfall des Über-Ichs‹ als vielmehr zu einer Veränderung seiner Inhalte. Wenn die Eltern bei der Aufgabe versagen, als Vorbilder disziplinierter Selbstbeherrschung zu dienen oder das Kind in Schranken zu halten, so bedeutet das nicht, dass das Kind ohne Über-Ich aufwächst. Im Gegenteil, damit wird die Entwicklung eines strengen und strafenden Über-Ichs gefördert, das weitgehend auf archaischen, mit grandiosen Ich-Vorstellungen verschmolzenen Bildern der Eltern beruht. Unter diesen Bedingungen besteht das Über-Ich vor allem aus elterlichen Introjekten statt aus Identifizierungen. Es präsentiert dann dem Ich einen übersteigerten Maßstab für Ansehen und Erfolg und verurteilt es mit wilder Unerbittlichkeit, wenn es sich diesem Maßstab nicht gewachsen zeigt. So erklären sich die Schwankungen des Selbstwertgefühls, die so häufig mit pathologischem Narzissmus einhergehen. Die rasende Wut, mit der das Über-Ich das Versagen des Ichs bestraft, weist darauf hin, dass es einen Großteil seiner Energie aus aggressiven Trieben im Es herleitet, die nicht mit Libido gemischt sind. Die konventionelle Simplifikation, wonach Über-Ich mit ›Selbstbeherrschung‹ und Es mit ›Sichgehenlassen‹ gleichzusetzen und zu behandeln sind, als wären sie einander diametral entgegengesetzt, ignoriert die irrationalen Züge des Über-Ichs und das Bündnis zwischen Aggression und strafendem Gewissen. Der Verfall der elterlichen Autorität und äußerer Sanktionen im allgemeinen, der das Über-Ich in mancher Hinsicht schwächt, verstärkt jedoch paradoxerweise zugleich seine aggressiven, diktatorischen Elemente und macht es daher den Triebregungen schwerer denn je, akzeptable Ventile zu finden«.


Das Bündnis zwischen Über-Ich und Thanatos entfesselt »gegen das Ich einen Sturzbach unerbittlicher Kritik«.[53]


Diese Beobachtungen scheinen heute noch wahrer zu sein als zu Laschs Zeiten. Um nur ein besonders verbreitetes Phänomen zu erwähnen: In der Depression derjenigen, denen es nicht gelingt, ›schlank‹ zu sein oder anderen ›Schönheits‹kriterien zu entsprechen, äußert sich ein grausames Über-Ich, das nur darauf lauert, das Ich mit Vorwürfen zuzudecken und ihm die gesamte Verantwortung für seine Niederlagen zuzuschreiben. Ein Über-Ich, dass umso heimtückischer und allgegenwärtiger ist, weil es nicht mehr im Namen äußerer Anforderungen auftritt (Pflicht, Vaterland, Religion, Ehre usw.), sondern im Namen der Lebensfreude des Individuums, das nur gegen sich selbst sündigt, wenn es ihm nicht gelingt, den Erfolg im Leben zu haben, von dem man ihm versichert, dass er nur von ihm abhängt.[54]


Das zeitgenössische Individuum fühlt sich ständig schuldig, weil es Erwartungen nicht erfüllen kann, die in Wirklichkeit, und erst recht im Rahmen der Krise des Kapitalismus, völlig unrealistisch sind und für deren Erfüllung ihm im allgemeinen alle Mittel fehlen.[55] Die zeitgenössischen Subjekte schwanken deshalb ständig zwischen Allmachts- und Ohnmachtsgefühlen. Die Folge ist der sichtbare Wille, im individuellen und kollektiven Leben alles zu kontrollieren – zu ›managen‹ – und die Managementlogik auf alle Sphären, auch die privatesten, zu übertragen.


Die in den sechziger und siebziger Jahren entstandenen sozialen Bewegungen wollten vor allem gegen das Über-Ich ankämpfen, das auf den Ödipuskomplex zurückgeht: Das (männliche) Kind nimmt seine Niederlage hin und identifiziert sich am Ende mit dem Vater, der ihm den Zugang zur Mutter verwehrte. Dieser Vorgang wird zum Modell aller darauffolgenden Verbote und aller Machtstrukturen. Der Kampf gegen den kastrierenden Vater ist also der Beginn des Kampfes gegen alle Formen von Unterdrückung. Der damals weitverbreitete Freudo- Marxismus schlug vor, auf diese Weise persönliche Befreiung und soziale Revolution miteinander zu verbinden.


Lasch hingegen lehnt diese Perspektive ab. Aber er lehnt sie ab, weil er in ihr eine Falle sieht, eine andere Form des Narzissmus, der den Kern des zeitgenössischen Kapitalismus bildet. In seiner Kritik des »kulturellen Radikalismus«[56] beruft er sich auf Freuds Spätwerk (also seine Werke ab etwa 1920). »Das Über-Ich repräsentiert die verinnerlichte Angst vor Bestrafung, bei der aggressive Impulse gegen das Ich gerichtet werden. Das Über-Ich – oder jedenfalls seine primitiven und bestrafenden Anteile – repräsentieren weniger verinnerlichte soziale Zwänge als die Furcht vor Vergeltung, eine Folge der mächtigen Impulse, die Quellen des Lebens selbst zu zerstören.«[57] Der Ödipuskomplex stellt »eine andere Variante der tieferliegenden Themen der Trennung, der Abhängigkeit, der Inferiorität und der Wiedervereinigung« dar, nachdem die oralen Phantasien an der Realität gescheitert sind. In seinen Schriften Das Ich und das Es (1923) und Hemmung, Symptom und Angst (1926) vertrat Freud die Existenz einer »minoisch-mykenäischen Schicht« unterhalb des ödipalen Konfliktes und behauptete, dass »die Angst vor der ›Trennung von der schützenden Mutter‹ die ursprüngliche Quelle des psychischen Konflikts sei«[58], einschließlich des Ödipuskonfliktes. »Es ist nun klar, dass es das wachsende Bewusstsein des Kindes über die Kluft zwischen seinem Wunsch nach sexueller Vereinigung mit der Mutter und der Unmöglichkeit seiner Verwirklichung ist, das zum Untergang des Ödipuskomplexes führt«. Die Vorstellungskraft des Kindes übersteigt seine wirklichen körperlichen Fähigkeiten. »Die Verfrühtheit der psychischen und emotionellen Entwicklung des Kindes, die Verfrühtheit seiner sexuellen Phantasien im Vergleich zu seinen physischen Fähigkeiten stellt den Schlüssel nicht nur zum Ödipuskomplex dar, sondern auch zu einem Großteil seiner späteren Entwicklung.«[59] Es sind nicht nur die väterlichen Verbote, sondern auch der Mangel an physischer Reife, die die Verwirklichung der inzestuösen Wünsche der Kinder (beider Geschlechter) verhindern. »Der Penisneid verkörpert die ›Tragödie der verlorenen Illusionen‹, wie Chasseguet-Smirgel sagt«, eine französische Psychoanalytikerin, auf die sich Lasch oft bezieht. »Sie behauptet weiterhin, dass wir, da wir uns niemals vollständig mit dem Verzicht auf diese Illusionen abfinden können, weiterhin Phantasien erarbeiten, die jede Kenntnis der Geschlechterdifferenz ableugnen.«[60] Es handelt sich dabei natürlich nicht um ein individuelles Problem, sondern um die Grundverfassung des Menschen: »Vorzeitige Geburt und eine lange Abhängigkeit sind die entscheidenden Faktoren der menschlichen Psychologie.«[61] Und weiter:


»Wenn die Bezeichnung der zeitgenössischen Kultur als eine Kultur des Narzissmus einen Sinn hat, dann deshalb, weil diese Kultur dazu neigt, regressive statt ›evolutionäre‹ Lösungen, wie Chasseguet-Smirgel sie nennt, des Trennungsproblems zu verbreiten. Drei große Linien in der sozialen und kulturellen Entwicklung spielen eine besondere Rolle bei der Ermutigung zu einer narzisstischen Einstellung gegenüber der Erfahrung: das Auftreten der sogenannten gleichberechtigten Familie; der wachsende Kontakt des Kindes mit anderen Sozialisierungsinstanzen als der Familie; und die allgemeine Auswirkung der modernen Massenkultur, die die Unterscheidungen zwischen Illusionen und Wirklichkeit niederreißt.«[62]


Lasch kommt so zu seiner besonderen Form von Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft: Sie verhindere die »evolutionären Lösungen«. Worin sollen diese bestehen? »Die unvermeidbaren Tatsachen der Trennung und des Todes sind nur deswegen erträglich, weil die beruhigende Welt menschengemachter Gegenstände und menschlicher Kultur das Gefühl einer primären Verbindung auf einer neuen Grundlage wiederherstellt. Wenn diese Welt beginnt, ihre Realität zu verlieren, wird die Furcht vor Trennung beinah überwältigend, und das Bedürfnis nach Illusionen dementsprechend stärker denn je.«[63]


Die beste Antwort auf dieses Bedürfnis, beruhigt zu werden, besteht laut Lasch in den ›Übergangsobjekten‹, von denen der Psychoanalytiker Donald Winnicott spricht. Das Übergangsobjekt bildet nicht nur einen Ersatz für die Mutterbrust, sondern erlaubt es auch, sich an die Erschließung einer Außenwelt zu machen, die gleichzeitig in ihrer Autonomie anerkannt wird. So ist ein Ausweg aus der Verschmelzung möglich. Am Ende überwindet das Kind das Bedürfnis nach Übergangsobjekten, weil die Übergangsphänomene sich nunmehr überall befinden und das ganze Zwischenfeld zwischen der Innenwelt und der Außenwelt besetzt haben. Lasch erinnert daran, dass bei Winnicott das Spiel und seine Entwicklung in der Kunst nicht, wie bei vielen Psychoanalytikern, Ersatzbefriedigungen sind, sondern wesentliche Vermittlungen zwischen der emotionellen Trennung und der Vereinigung darstellen.


»Es ist also das Zwischenreich der vom Menschen hergestellten Objekte, das in Gesellschaften zu verschwinden droht, die auf Massenproduktion und Massenkonsum beruhen. Wir leben inmitten von vom Menschen hergestellten Objekten, aber diese dienen nicht länger sehr wirksam dazu, zwischen der inneren und der äußeren Welt zu vermitteln. [...] Die Warenwelt ist, wie zahlreiche marxistische Denker unterstrichen haben, eine Art ›zweiter Natur‹ geworden, die genauso wenig menschlicher Leitung und Kontrolle untersteht wie die Natur selber. Sie weist nicht mehr den Charakter einer vom Menschen gemachten Umgebung auf. Sie steht uns einfach gegenüber: gleichzeitig aufregend, verführerisch und erschreckend. Statt einen ›potentiellen Raum zwischen dem Individuum und der Umgebung‹ – so Winnicotts Beschreibung der Welt der Übergangsobjekte – bereitzustellen, überwältigt sie das Individuum. Da sie keinen ›Übergangscharakter‹ aufweist, steht die Warenwelt als etwas vom Selbst völlig getrenntes da, und doch nimmt sie gleichzeitig den Anschein eines Spiegels des Selbst an, einer verwirrenden Menge Bilder, in der wir alles sehen können, was wir sehen wollen. Statt den Graben zwischen dem Selbst und seiner Umgebung zu überbrücken, löscht sie den Unterschied zwischen ihnen aus.«[64]


Lasch grenzt seine Auffassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und seine Interpretation der Psychoanalyse klar von denen Marcuses ab. Er unterscheidet drei »Parteien« im Amerika seiner Zeit: die des Über-Ichs (die Konservativen), die des »Ichs« (die Humanisten und die Kulturliberalen, aber auch die herkömmliche Linke) und die des »Ich-Ideals«, die Partei der »Kulturrevolution«, die nicht nur gegen den Kapitalismus ist, sondern auch gegen die Industriegesellschaft. Er ordnet Marcuse letzterem Feld zu, die er auch die »Narziss-Partei« nennt.

Marcuse und Norman Brown hatten Lasch zufolge, der ihnen einige Seiten des »Der ideologische Angriff auf das Ich« genannten, letzten Kapitels von The Minimal Self widmet, gute Gründe, um den vorhergehenden Radikalismus von Reich, Fromm, Horney und anderen Neo-Freudianern anzugreifen, die auf den kulturellen Ursachen psychischer Phänomene bestanden und Freud von der mechanischen Wissenschaft und der bürgerlichen und patriarchalischen Kultur des 19. Jahrhunderts befreien wollten. »Feminismus, Marxismus und Psychoanalyse schienen also gemeinsame Sache zu machen bei der Beschreibung der autoritären Familie und der ›patrizentrischen‹ Persönlichkeit, die das Leiden als eine Schuld betrachtet statt als eine Ungerechtigkeit« und sich mit dem Angreifer identifiziert.[65]


Lasch fasst die Vorwürfe Marcuses und Browns an die Neo-Freudianer zusammen und stimmt ihnen im wesentlichen zu.[66] Aber er spricht seine Bedenken angesichts der Zentralrolle des Ödipuskomplexes bei Marcuse aus, der sogar seinen von Freud behaupteten historischen Ursprung für wahr hält (die berühmte »Urhorde«, die Lasch für »zweifelhaft« hält). Lasch zufolge basierte Freud seine soziologischen Spätschriften, vor allem Massenpsychologie und Ich-Analyse und Der Mann Moses und der Monotheismus, auf »einem Modell des psychischen Konflikts, das in den psychologischen Schriften im engeren Sinne seiner letzten Phase bereits überwunden worden war«.[67] In diesen, wie wir bereits erwähnt haben, führt er den Kern der psychischen Konflikte auf ein früheres Stadium der Entwicklung des Individuums zurück, wo es nicht der Vater ist, der die Verwirklichung der inzestuösen Wünsche verhindert, sondern die Physiologie des Kindes selbst. Dieses Stadium zeichnet sich vor allem durch die ersten Trennungsängste aus: zuerst der Ausgang aus der intrauterinen Situation, und dann das Ende von deren Verlängerung während der ersten Lebensmonate. Das Ergebnis des Ödipuskomplexes, so Lasch, der sich in völliger Übereinstimmung mit Freuds Spätwerk sieht, ist nicht nur die Unterwerfung unter das Realitätsprinzip: Der Vertreter der Repression ist in der Tat nicht nur die »Realität«. »Das gesamte Begriffsschema, das Lust und Realität einander gegenüberstellt und erstere mit dem Unbewussten und letztere mit der bewussten Zustimmung zur Elternmoral gleichsetzt, muss durch ein anderes Modell der Psyche ersetzt werden.«[68]


Lasch kommentiert einen Aufsatz Marcuses aus dem Jahr 1963, dessen Originaltitel »The Obsolescence of the Freudian Concept of Man« lautet, und stimmt dessen Zentralthese zu, dass die Entwicklung in die Richtung einer »vaterlosen Gesellschaft« gehe, in der die Gesellschaft direkt das Ich forme und diese »Veränderungen zu einer ›furchtbaren Abfuhr destruktiver Energie‹ und einer ›steigenden‹ Aggressivität führen, ›ohne die Triebbindungen an den Vater als Autorität und Gewissen‹«.[69] Aber, so fährt Lasch fort, »diese Entwicklungen setzen natürlich nicht ›Freuds Menschenbild‹ außer Kraft, sondern eine Gesellschaftstheorie, die, in Marcuses eigenen Worten, aus Freuds Extrapolation klinischer Daten in die Vorgeschichte ›extrapoliert‹ ist. Sie setzen eine Idee außer Kraft, die bereits in Freuds Spätwerk und in einem Großteil der später von der Melanie-Klein-Schule, den Objektbeziehungstheoretikern und den Ich-Psychologen veröffentlichten Arbeiten sehr eingeschränkt wurde: die Idee, dass die Repression die Folge der Unterwerfung des Lustprinzips unter den patriarchalischen Arbeitszwang sei. Aber trotzdem verurteilte Marcuse weiterhin, auch in seinen späteren Schriften, das ›Leistungsprinzip‹ als die Hauptquelle menschlichen Unglücks und Entfremdung.«[70] Für Marcuse, so Lasch, ist die Arbeit stets eine Entfremdung; für die Befreiung des Eros ist die technologische Abschaffung der Arbeit eine unerlässliche Voraussetzung. Lasch erinnert daran, dass Marcuse jede Absicht abstreitet, »›einen romantischen Rückschritt hinter die Technologie‹ zu befürworten« und das »Befreiungspotential industrieller Technologie« unterstreiche. Lasch sieht deshalb in Marcuses Argumentation ein »dialektisches«: »Nur die Automatisierung wird es Orpheus und Narziss ermöglichen, aus ihrem Versteck hervorzukommen. Der Sieg polymorpher Perversion hängt von deren Antithese ab: instrumentelle Rationalität, die bis zur absoluten Reglementierung geht. [...] Die Einrichtung ›libidinöser Arbeitsbeziehungen‹ scheint die Organisierung der Gesellschaft als eine große Armee der Industrie vorauszusetzen.«[71]


Lasch zufolge hat Marcuse viel mehr mit Fromm und vor allem mit Reich gemeinsam, als er glaubt:


»Trotz seinem Versuch, sich mit dem tiefen Pessimismus von Freuds Spätwerk zu messen, beruht Marcuses Interpretation der psychoanalytischen Theorie, wie die der Neo-Freudianer, beinah ausschließlich auf Freuds ersten Werken, in denen das psychische Leiden eine Folge der Unterwerfung des Lustprinzips unter eine repressive, von außen auferlegte Realität ist. Trotz seiner Verurteilung der neo-freudianischen ›moralistischen Fortschrittsphilosophie‹ teilt Marcuse deren Glauben – der Bestandteil des intellektuellen Erbes der sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts und der Aufklärung überhaupt ist – dass der Vernunft- und Technologiefortschritt, sobald er von den kapitalistischen Zwängen befreit ist, das Leben angenehm und schmerzlos machen wird. Triebstruktur und Gesellschaft endet mit dem frommen Wunsch, sogar der Tod, wie die Arbeit und die ›anderen Notwendigkeiten‹, könne ›vernünftig gestaltet werden – schmerzlos‹.«[72]


Lasch analysiert auch eingehend Norman Browns Werk, dessen Freud-Interpretation er in vieler Hinsicht für Marcuses Interpretation überlegen hält. Lasch zufolge ist Brown »ein schärferer Kritiker des neo-freudianischen Revisionismus als Marcuse. Nicht nur ›das revisionistische Bestehen auf dem Einfluss gesellschaftlicher Umstände‹ ist falsch angebracht, wie Marcuse behauptet. Die revisionistischen Kulturtheorien beruhen auf dem grundlegenderen Irrtum, dass die Repression eine Folge der elterlichen Kontrolle über die kindliche Sexualität sei.«[73]


Wenn die revisionistische Theorie wahr wäre, könnte man die Repression durch eine Erziehungs- oder Gesellschaftsreform abmildern – wie es die Neo-Freudianer wollen, aber auch Marcuse, nur auf eine radikalere Weise. Brown ist es, laut Lasch, viel bewusster, dass die kindlichen Triebe mit jeder Kultur unvereinbar sind, und wie Freud verweigert er sich jeder billigen Tröstung. Er entledigt sich der Vorstellung, der einzige Gegenstand der Repression sei die sexuelle Lust, und seines Korollariums, die Ursache aller Neurosen liege im Konflikt zwischen Lust und patriarchaler Arbeitsethik, zwischen Eros und bürgerlicher Moral. Er erklärt, dass diese Ideen eine Folge naiver Vorstellungen vom historischen Fortschritt seien, die Freud in seinen letzten psychologischen Arbeiten überwunden habe.


Es ist hier zwar nicht möglich, im einzelnen Laschs Analyse von Browns Ansichten zu verfolgen, aber seine Schlussfolgerungen verdienen es, wiedergegeben zu werden. Für Lasch sind Spiel und Kunst wichtige Modi, um eine nicht-narzisstische Beziehung zur Welt aufzubauen: Es geht nicht darum, die Trennung zu verleugnen, sondern sie erst einmal anzuerkennen, um sodann eine Kompensation zu schaffen. Die Kunst ist deshalb nicht nur, wie bei Marcuse und Brown, eine Ersatzbefriedigung mit pathologischen Zügen.


»Trotz ihrer Verachtung für die Ich-Psychologie verfallen Marcuse, Brown und ihre Schüler auf genau dieselbe Strategie [...] die darin besteht, gewisse bevorzugte Aktivitäten von der psychoanalytischen Untersuchung auszunehmen [...] für die Freudsche Linke sind das Kunst und Spiel [...]. Während Freud auf der untergründigen Verwandtschaft zwischen Kunst und Neurose bestand, versuchen Brown, Marcuse und Dinnerstein, Kunst und spielartige Kreativität vor der psychoanalytischen Kritik menschlicher Ambitionen zu retten, so wie Hartmann Wahrnehmung, Sprache und Gedächtnis davor zu retten versucht. Kunst ähnelt der allerregressivsten Psychose in ihrem Versuch, ein Gefühl des Eins-Seins mit der ursprünglichen Mutter wiederherzustellen. Was die Kunst von der Psychose oder Neurose unterscheidet ist die Anerkennung, dass die Trennung wirklich ist. Die Kunst verwirft den bequemen Weg der Illusionen.«[74]


Obwohl das Endergebnis der Kunst heiter sein kann, muss es in ihr immer die Verarbeitung eines Konflikts zwischen Vereinigung und Trennung geben. Die Rolle von Kunst und Spiel besteht deshalb darin, es dem Menschen zu ermöglichen, die Verzichte zu ertragen, die die Kultur – und zwar notwendigerweise jede Kultur – ihm auferlegt: Die Psychoanalyse »weigert sich, die Spannung zwischen Trieb und Kultur aufzulösen, in der sie die Quelle des Besten wie des Schlechtesten im menschlichen Leben sieht. Sie ist der Meinung, dass die Geselligkeit die Triebbedürfnisse nicht nur einschränkt, sondern gleichzeitig auch erfüllt; dass die Kultur nicht nur das Überleben der Menschengattung sicherstellt, sondern auch die echten Freuden liefert, die mit der gemeinschaftlichen Erforschung und Beherrschung der natürlichen Welt zusammenhängen; dass Erforschung, Entdeckung und Erfindung an sich auf spielhaften Impulsen beruhen; und dass die Kultur für den Menschen eben sein ›artgemäßes‹ Leben darstellt.«[75]


Lasch beansprucht, gegen die von ihm so genannte »Partei des Ich-Ideals« – die 68er-Linke – ein entscheidendes Argument ins Feld zu führen: die Rolle des Über-Ichs. Stets unter Bezugnahme auf Freuds Spätwerk behauptet Lasch, dass das Über-Ich nicht der Vertreter der Außenwelt sei, sondern der Innenwelt. Es ist nicht nur das Ergebnis der Verinnerlichung einer Repression, die von außen – von der Gesellschaft mittels des Vaters – kommt.


»Im Gegenteil besteht das Über-Ich aus den aggressiven Impulsen des Individuums selber, die anfänglich gegen seine Eltern oder Elternersatze gerichtet sind, auf sie projiziert werden, als aggressive und beherrschende Bilder der Autorität reinternalisiert und schließlich in dieser Form gegen das Ich gerichtet werden. Die Bilder destruktiver und strafender elterlicher Autorität haben ihren Ursprung nicht in den wirklichen Verboten der Eltern, sondern in der unbewussten Wut der frühen Kindheit, die unerträgliche Angst hervorruft und deshalb wieder gegen das Selbst gerichtet werden muss [...] wir können sagen, dass die Kastrationsangst selber nur eine spätere Form der Trennungsangst ist; dass das archaische und rachsüchtige Über-Ich ein Ergebnis der Furcht vor mütterlicher Vergeltung ist und dass die ödipale Erfahrung das strafende Über-Ich der Kindheit abmildert, indem es ihm ein unpersönlicheres Autoritätsprinzip hinzufügt, das ›von seinen emotionellen Ursprüngen unabhängig‹ ist, wie Freud sagt, und eher dazu neigt, sich auf universelle ethische Normen zu berufen, und deswegen weniger dazu tendiert, sich mit unbewussten Verfolgungsphantasien zu vermengen.«[76]


Das ödipale Über-Ich ist außerdem stärker mit dem Wunsch nach Wiedergutmachung verbunden, mit der Dankbarkeit gegen die Mutter, und bildet so den ersten Keim des Gewissens.


Für Lasch hängt der Konflikt zwischen Trieben und Kultur also nicht nur mit historischen Umständen zusammen, sondern ist in der Triebstruktur selbst verankert, die sich schon beim Neugeborenen zeigt. Was sich historisch verändert, und Gegenstand der Kritik sein kann, sind die – regressiven oder evolutiven – Antworten, die die verschiedenen Kulturen auf die Ur-Angst geben. Die Trennungsangst ist nicht kulturell, aber die Reaktionen darauf sind es. Lasch verurteilt die Warengesellschaft (ohne sie so zu nennen), weil sie besonders regressive Antworten auf dieses Problem gibt. Hier stimmt seine Kritik an der Konsumgesellschaft mit der Marcuses überein – aber mit weniger Illusionen.


Die heutige Lage ähnelt in der Tat erstaunlich Laschs Beschreibungen. Er hat sehr genau gesellschaftliche Erscheinungen vorausgesehen wie das obsessive Streben nach ›Autonomie‹ und den Wunsch, niemanden zu brauchen und von niemandem abzuhängen – also auf die anderen verzichten zu können. In Wirklichkeit befand er sich aber noch an der Grenze zwischen dem fordistisch-modernen Zeitalter und dem postmodernen. Er nennt manchmal Phänomene »narzisstisch«, die im Rückblick eher dem Fordismus zuzugehören scheinen (so etwa der Wohlfahrtsstaat mit seinen »mütterlichen« Zügen).


Aber was soll man mit dem Über-Ich anstellen, dem Ergebnis des Ödipuskomplexes? Ist sein Niedergang notwendigerweise positiv, bedeutet er eine größere individuelle Freiheit, das Ende des Patriarchats und der Arbeit? Oder hat er eine neue Form des Fetischismus hervorgerufen, die noch schwerer zu verstehen, zu benennen und zu bekämpfen ist, weil sie voll und ganz im Inneren der Individuen sitzt und mit ihrem Wunsch in Einklang zu stehen scheint, ›das Leben zu genießen‹?


Wie bereits gesagt, berief sich die politische Rechte sehr lange auf die ›Natur‹, und vor allem auf die ›menschliche Natur‹, und die Linke auf die ›Kultur‹. Für die Rechte setzt die Natur der Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern, sehr enge Grenzen; für die Linke ist beinah alles eine Folge der Gesellschaft und der Erziehung und kann deshalb verändert werden. Diese beiden Grundhaltungen dauern bis heute an. Aber ist die Einstellung der Linken notwendigerweise emanzipatorisch? Ist sie nicht nur allzusehr mit den techno-wissenschaftlichen Projekten der Weltumwälzung vereinbar, mit der Missachtung aller Grenzen, die sich sowohl in der Konsumwut als auch in der ökologischen Krise zeigt? Die unbeschränkte Formbarkeit des Menschen geistert weiterhin durch die zeitgenössische linke bzw. linksliberale Vorstellungswelt, am deutlichsten in dem weitverbreiteten Enthusiasmus für die Reproduktionsmedizin.[77] Technophilie und Narzissmus gehen stets Hand in Hand, wie man dies überaus deutlich beim Transhumanismus erkennen kann.[78]


Aber eine Frage bleibt bei Lasch weitgehend ungeklärt: Was sind die historischen Ursachen eines so bedeutenden Wandels, wie es der Aufstieg des Narzissmus war? Eine allgemeine Rückkehr zu vor-ödipalen Formen des psychischen Lebens stellt eine regelrechte »anthropologische Mutation« (wie es Pier Paolo Pasolini schon 1975 nannte[79]) dar und muss entsprechend gewichtige Ursachen haben.[80]


Aber hier bleiben seine Erklärungen oberflächlich: Er erwähnt vor allem den Niedergang der kleinen Unternehmen zugunsten der Großbetriebe, die Desintegration der traditionellen Familie und die Bürokratisierung der Existenz. Wie beinah alle damaligen Beobachter (in diesem Gebiet ist er weit weniger originell als in anderen), betrachtet er die Ersetzung der Konkurrenz durch die (staatlichen oder privaten) Monopole und den Wohlfahrtsstaat als das definitive Ergebnis der Geschichte des Kapitalismus. Wenige Jahre später sollte der Triumph des Neoliberalismus das Gegenteil beweisen – und vor allem sollte man sehen, dass es die neoliberale Kultur, und nicht die letzten Reste des Keynesianismus-Fordismus war, die den Narzissmus in den Rang einer universellen Forma Mentis erheben sollte. Die Tiefenlogik des Kapitalismus mit der Aufhebung der Konkurrenz (und der damit verbundenen Freiräume) zu identifizieren rückt Lasch, ohne dass er es merkt, in die Nähe von Marcuse und der ganzen Frankfurter Schule.[81]


Marcuse erklärt in der Tat gleichfalls die psychischen Veränderungen und die »technologische Aufhebung des Individuums« mit dem Ende des Familienbetriebs, der Herrschaft der »Monopole« und dem »Abstieg der sozialen Funktion der Familie«. Früher konnte es, vor allem bei der Auflösung des Ödipuskomplexes, zu einer wirklichen persönlichen Erfahrung kommen, die »schmerzliche Narben« hinterließ, aber auch eine »Sphäre des privaten Non-Konformismus« schaffen konnte. »Nun aber, unter der Herrschaft ökonomischer, politischer und kultureller Monopole, scheint die Bildung des erwachsenen Über-Ichs das Stadium der Individualisierung zu überspringen; das generische – der Gattung angehörige – Atom wird unmittelbar zum sozialen Atom.«[82] Die Beinah-Abschaffung der Konkurrenz – die für ihn eine Evidenz darstellt – verringert die Individualität.[83]


Das Verhältnis von Narzissmus und kapitalistischer Gesellschaft kann weit besser verstanden werden, wenn letztere vor allem als Warengesellschaft aufgefasst wird, die auf der Verwertung des Werts beruht, der seinerseits die fetischistische Repräsentation der abstrakten Seite der Arbeit ist. Was der Wert (und die ganze Gesellschaft, in der der Wert das gesellschaftliche Syntheseprinzip geworden ist) mit dem Narzissmus gemeinsam hat, ist die Abwesenheit oder Gleichgültigkeit jedes Inhalts – die konstitutive Leere. Der Narzissmus bedeutet im wesentlichen eine Entwertung der Außenwelt und eine Unfähigkeit, diese in ihrer Autonomie anzuerkennen: »Dem narzisstischen Sozialcharakter ist es dabei inhärent, dass er von einer Position zur anderen unmittelbar übergehen kann – vor allem dann, wenn er sich bedroht sieht. Damit aber ist ein narzisstischer Sozialtypus, dem immer mehr Möglichkeiten, sein fragiles Ich am Leben zu halten, wegbrechen, sehr anfällig dafür, seine narzisstische Ohnmachtsängste in ›neue‹ Eindeutigkeiten zu bannen. Und gerade dies ist eine Einfallstür für Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, Antifeminismus, Neofaschismus, etc.«[84] Der Narzissmus ist damit alles andere als harmlos.


Aber auch alle Warenwerte sind qualitativ gleich und stellen nur unterschiedliche Quantitäten derselben phantasmagorischen Substanz dar – der abstrakten Arbeit. Die Rolle des Unbegrenzten und des Tautologischen, das ständige Gehen vom Selben zum Selben, ohne jemals eine Andersheit anzutreffen, so dass alles mit allem gleich ist, aber auch die Demolierung der Grenzen zwischen den Generationen und den Geschlechtern, die genetische Manipulation und die Reproduktionsmedizin, bis hin zum Wunsch, seinen eigenen Körper, sein eigenes Geschlecht ›wählen‹ zu können[85]: Es ist unmöglich, heute diese Erscheinungen zu untersuchen, ohne gleichzeitig die Wertlogik und die Abspaltungslogik zu berücksichtigen.[86]


Was sind zum Beispiel Videospiele anderes als eine körper- und schrankenlose Welt, ohne Grenzen zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich?

Lasch berücksichtigt durchaus die soziale Funktion der Ware. Er unterstreicht die psychologischen Auswirkungen – die Derealisierungseffekte – des Warenkonsums, aber er ist weit entfernt von jedem Bezug auf die Kritik der politischen Ökonomie:


»Die völlige Abhängigkeit des Konsumenten von diesen außerordentlich komplexen und komplizierten sozialen Hilfsprogrammen, und allgemein gesagt von Gütern und Dienstleistungen, die von außen kommen, belebt einige der infantilen Hilflosigkeitsgefühle wieder. Während die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts anale Verhaltensmuster – Aufhäufung von Geld und Gegenständen, Kontrolle der Körperfunktionen, Affektkontrolle – verstärkte, belebt die Massenkonsumkultur des 20. Jahrhunderts orale Muster wieder, die in einer noch früheren Phase der emotionellen Entwicklung ihre Wurzeln haben, in der das Kind völlig von der Brust abhängt. Der Konsument erlebt seine Umgebung als eine Art Brusterweiterung, die abwechselnd Befriedigung und Frustration verschafft«.


Weder die Realität noch das Ich wirken stabil und dauerhaft. »Der Konsument sieht sich einer Welt gegenüber, die ein Spiegel seiner Wünsche und Ängste ist: zum Teil aufgrund der die Waren umgebenden Propaganda, die sie verführerisch als Wunscherfüllung anpreist, aber auch, weil die Warenproduktion ihrer Natur gemäß die Welt dauerhafter Objekte durch Wegwerfprodukte ersetzt, die für eine unmittelbare Obsoleszenz geplant sind.«[87]


Diese Argumentation bildet den Kern seiner Kritik an der Konsumgesellschaft: Die Produktion und der Konsum standardisierter Waren, die jeder Kontrolle durch die Individuen entzogen sind, stellen das Gegenteil der »Übergangsobjekte« dar. Die Erzeugnisse einer »sinnvollen« Arbeit, die auf das Spiel zurückgeht, bilden laut Lasch die einzige Möglichkeit, eine »freundschaftliche« Beziehung zur Welt aufzubauen und das Gewicht der »condition humaine« zu verringern. Laschs Kapitalismusbegriff ist ungenau und seine positiven Bezüge sind mehr als diskutabel (Arbeit, Gemeinschaft, Familie und sogar die Religion). Jedoch hat Lasch mit seinen Untersuchungen gezeigt, dass der moderne Konsum-Kapitalismus eine Regression der Menschen bewirkt, so dass sie als Narzissten immer weniger oder gar nicht mehr in der Lage sind, sich mit der Außenwelt auseinanderzusetzen. Vielmehr regredieren sie, wie man heute zweifellos sehen kann, in eine Infantilität, die zu kaum mehr in der Lage ist als Knöpfe von Smartphones zu drücken. Der Kapitalismus habe, so Lasch, die bescheidenen, aber wirksamen Mittel zerstört, mit denen die Menschheit seit langem versuche, die Widersprüche der Existenz zu meistern. Die Warengesellschaft habe diese Mittel zu dem einzigen Zweck zertrümmert, Waren zu verkaufen.


Aber auch diese eloquente Anklage Laschs bleibt auf der theoretischen Ebene unzureichend: Eine so weitreichene Umwälzung kann nicht durch eine Gegenüberstellung der ›Abwege‹ des neoliberalen Kapitalismus mit seinen vergangenen, angeblich ›gesunden‹ Phasen erklärt werden, sei es, dass man diese im 19. Jahrhundert verortet (wie es Lasch tut) oder in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts (wie die heutigen Sozialstaatsnostalgiker). Dass der Narzissmus heute eine Massenverbreitung gefunden hat, hat im Wesentlichen mit der Krise des Subjekts selbst zu tun.[88] Eine Krise der Arbeit ist auch eine Krise des Subjekts, die sich gewaltvoll manifestieren kann, so besonders deutlich in Amokläufen (d.h. in ›erweiterten Suiziden‹).


Dies muss unbedingt verstanden werden, um die Übel von heute wirksam zu bekämpfen. Die Debatte zwischen Fromm, Marcuse und Lasch darüber, wie Freud aufzufassen sei, kann wie eine längst vergangene Diskussion zwischen Spezialisten wirken. Wir hoffen, hier gezeigt zu haben, dass sie, ganz im Gegenteil, zentrale Punkte der heutigen Gesellschaftskritik berührt.

 

 


Endnoten


[1] Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzissmus, München 1986 (zuerst New York 1979)


[2] Lasch, Christopher: The Minimal Self. Psychic Survival in Troubled Times, New York 1984

[3] Brown, Norman O.: Life Against Death. The Psychoanalytical Meaning of History, Middletown 1959

[4] Vgl. Wissen, Leni: »Die sozialpsychologische Matrix des bürgerlichen Subjekts in der Krise«, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 14, 2017, S. 29-49


[5] »Mein Freund Marcuse und ich, wir sind Romulus und Remus, die sich darüber streiten, wer der wahre Revolutionär ist« – so beginnt Norman Browns Erwiderung auf Marcuses – sehr kritische – Rezension seines Buchs Love’s body (Brown, Norman O.: »A Reply to Herbert Marcuse«, in: Commentary 43(3), 1967, S. 83).


[6] Ursprünglich unter dem Namen seines Mitarbeiters Walentin Woloschinow veröffentlicht (englische Übersetzung: Freudianism, London 2012).


[7] Diese Vorstellung einer beinah unbegrenzten Plastizität des Menschen taucht dann, in einem ganz anderen Kontext, im postmodernen Diskurs wieder auf: alles sei nur Konstruktion, sogar das biologische Geschlecht. Es gab auf der anderen Seite auch Linke, die sich in ihrer Ablehnung und Kritik des Kapitalismus auf die ›Natur‹ beriefen, so z.B. anarchistische Strömungen. Das ist ein anderes Thema, das sich schlecht in einem Satz abhandeln lässt. Nicht zu vergessen ist der Sozialdarwinismus, der auch von sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Seite propagiert wurde, vgl. z.B. Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt/Main 1999, S. 312ff.


[8] Übrigens eine Grundannahme Freuds, die aber von seinen Nachfolgern weitgehend ausgeblendet wurde.

[9] Vgl. Reich, Wilhelm: Die sexuelle Revolution, Frankfurt 1973 (zuerst Kopenhagen 1936)

[10] Einige Autoren sprechen deshalb von einer ›Freud’schen Linken‹, wie man früher von einer ›Hegel’schen Linken‹ sprach (vgl. dazu Robinson, Paul: The Freudian Left: Wilhelm Reich, Geza Roheim, Herbert Marcuse, New York 1969 sowie Dahmer, Helmut: Libido und Gesellschaft. Studien über Freud und die Freudsche Linke, Münster 2013 [zuerst Frankfurt/Main 1973]). Auch Christopher Lasch benutzt diesen Ausdruck in The Minimal Self. Die Unterscheidung zwischen einem ›linken‹ und einem ›rechten‹ Flügel der Psychoanalyse findet man allerdings schon bei Marcuse (Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt/Main 1970 [zuerst Boston 1955]). Man kann allerdings nicht wirklich von einer Freud’schen Rechten reden (in der Tat bezieht sich Marcuse auf C. G. Jung, wenn er vom rechten Flügel des Freudismus spricht): Diejenigen, die nur Therapeuten sein und Individuen heilen wollen, sind ganz ›natürlich‹ dazu gekommen, die kapitalistische Gesellschaft als unüberschreitbaren Horizont zu akzeptieren und ihre Patienten dazu zu drängen, sich an die Welt, wie sie nun einmal ist, anzupassen. In den Vereinigten Staaten hat das eingesetzt, sobald Freuds Ideen ihre Verbreitung begannen, und nach dem Zweiten Weltkrieg auch im Rest der Welt. Außerhalb der Berufsanalytiker stellte vor allem der französische Surrealismus den ersten großen Versuch dar, die Ergebnisse der Psychoanalyse dazu zu benutzen, ›das Leben zu verändern‹. Marcuse bezieht sich darauf. Das kann hier an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden.


[11] Der von Adorno und Marcuse gebrauchte Begriff des »Neo-Freudianischen Revisionismus« ist eindeutig abwertend und spielt auf den Bernstein’schen »Revisionismus« im Marxismus am Anfang des Jahrhunderts an. Die Anhänger dieser Strömung nennen sich selber »kulturelle« oder »interpersonale« Schule.


[12] Zum Verhältnis zwischen Fromm und dem Institut für Sozialforschung siehe Maiso, Jordi: »Soggettività offesa e falsa coscienza. La psicodinamica del risentimento nella teoria critica della società«, in: Costruzioni psicoanalitiche 23, 2012; Rickert, John: »Die Fromm-Marcuse-Debatte im Rückblick«, in: Jahrbuch der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Band 2: Erich Fromm und die Kritische Theorie, Münster 1991, S. 82-127, sowie die klassischen Werke von Rolf Wiggershaus und Martin Jay zur Geschichte der Frankfurter Schule.


[13] Fromms Kritik beruft sich auf Marx’ Theorie. Sie ist jedoch vor allem in Klassenkategorien formuliert, statt fetischistische Lebens- und Bewusstseinsformen zu analysieren, die alle Mitglieder einer Gesellschaft betreffen. Deshalb wirkt sie heute weitgehend überholt: Für Fromm entsprechen die psychologischen Charaktertypen weitgehend den sozio-ökonomischen Positionen der Individuen. Das bildet auch eine der Grenzen der oben erwähnten ersten Versuche des Instituts aus den 1930er Jahren, Marx und Freud zusammen zu benutzen. Auch auf dieser Ebene wirken Marcuses Ansichten heute aktueller als die Fromms.


[14] Rickert, Die Fromm-Marcuse-Debatte, S. 6

[15] »Die revidierte Psychoanalyse«, auf Deutsch 1952 veröffentlicht (jetzt in Adorno, Theodor W.: Soziologische Schriften I, Frankfurt/Main 1972, S. 20-41). Sehr ähnliche Bemerkungen zur Psychoanalyse wiederholt Adorno in den §§ 36-40 der Minima Moralia, die 1951 veröffentlicht, aber ab dem Ende der 1930er Jahre verfasst wurden.


[16] Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, S. 36

[17] Ebd., S. 20, 28

[18] Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 234

[19] Ebd., S. 236

[20] Ebd.

[21] Ebd., S. 257

[22] Ebd., S. 249

[23] Ebd.

[24] Ebd., S. 250

[25] Ebd., S. 255

[26] Ebd., S. 262

[27] Ebd., S. 7

[28] Adornos Aufsatz »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie« (1955) unterstreicht diesen Punkt besonders stark (Adorno, Theodor W.: Soziologische Schriften I, Frankfurt/Main 1972, S. 42-85).


[29] Für eine detaillierte Kritik an Marcuses Fromm-Interpretation siehe Rickert, Die Fromm-Marcuse- Debatte, a. a. O.

[30] Fromm, Erich: »The Human Implications of Instinctivistic ›Radicalism‹. A Reply to Herbert Marcuse«, in: Dissent. A Quarterly of Socialist Opinion, Band 2, 1955, S. 342; deutsch als »Die Auswirkungen eines triebtheoretischen ›Radikalismus‹ auf den Menschen. Eine Antwort auf Herbert Marcuse«, in: Gesamtausgabe Band VIII, 1980/81, S. 113-120.


[31] Diese Kritik wirkt sehr berechtigt, und heute erst recht. Aber Marcuse verteidigte sicher nicht diese Art von »befreiter« Sexualität, die im Gegenteil dem entspricht, was er »repressive Entsublimierung« nennt.


[32] Fromm, The Human Implications, S. 349

[33] Fromm, Erich/Marcuse, Herbert: »A Reply to Erich Fromm« und »A Counter-Rebuttal«, in: Dissent. A Quarterly of Socialist Opinion, Band 3, 1956, S. 81, deutsch in: »Eine Erwiderung auf Herbert Marcuse«, in: Gesamtausgabe Band VIII, 1980/81, S. 121-122


[34] Vier Jahre später veröffentlichte der amerikanische Altphilologe Norman O. Brown Life against Death. The Psychoanalytical Meaning of History. In seiner Einleitung erwähnt Brown die Nähe seines Ansatzes zu dem Marcuses. Die beiden Autoren sind in den sechziger Jahren oft als ähnlich eingestuft worden. Es ist bemerkenswert, dass die USA der fünfziger Jahre, deren puritanische und bornierte Atmosphäre unter anderem von Edward Hoppers Bildern und Nabokovs Roman Lolita beschrieben worden ist, gleichzeitig so radikale Infragestellungen der puritanischen Kultur hervorgebracht haben, im Namen einer Art von kosmischem Erotismus.


[35] Marcuse fasst den Todestrieb nicht nur als Zerstörungstrieb auf, sondern auch, und vor allem, als extreme Form des Lustprinzips, als »Nirvanaprinzip« und Streben nach einer absoluten Ruhe und einer Auflösung aller Spannungen. Für ihn ist es nicht der Todestrieb, der alle Bemühungen um eine bessere Zukunft paralysiert, wie es Karen Horney behauptet, sondern es sind die sozialen Umstände, die die Lebenstriebe daran hindern, sich zu entwickeln und die Aggression »wirksam zu ›binden‹« (Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 267).


[36] Die Vormacht des Allgemeinen über die Individuen tritt besonders deutlich in den archaischen Überresten tief im Inneren jedes Individuums hervor. Aber das bedeutet, selbst bei Freud, einen historischen Ursprung des Unbewussten.


[37] »Je vollständiger die Entfremdung der Arbeit, desto größer das Potential der Freiheit: die totale Automation wäre hier das Optimum«, denn die materielle Produktion kann nie »ein Gebiet der Freiheit und Befriedigung« sein (Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 155).


[38] Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 263

[39] »Besitz und Beschaffung des Lebensnotwendigen sind Vorbedingungen, nicht Inhalt einer freien Gesellschaft.« (Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 193)


[40] Ebd., S. 152. Die von Marcuse verwendete Übersetzung ist ungenau. Die »table tournante« Baudelaires ist keine »Drehscheibe«, sondern bezieht sich auf das »Tischrücken« der Spiritisten, die Baudelaire ironisch gleichfalls zum »Fortschritt« zählt. Außerdem geht es Baudelaire nicht um die »Tilgung« der Ursünde, sondern um eine »Verringerung ihrer Spuren«, d.h. eine »Freiheit von Schuld und Angst«, wie Marcuse sagt.


[41] Vgl. z.B. Asger Jorns Artikel »Die Situationisten und die Automation« in der ersten Nummer der Zeitschrift Internationale Situationniste (1958), wo er unter anderem schreibt: »Erst von dem Augenblick an kann sich die Automation auch positiv weiterentwickeln, wo sie eine ihrer eigenen Festlegung entgegengesetzte Perspektive als Ziel hat und es gelingt, eine solche allgemeine Perspektive je nach ihrer Entwicklungsstufe durchzuführen«. Er will die von der Automation geschaffenen Gelegenheiten ausnützen: »Je nach dem Ergebnis kann man zur totalen Verdummung des menschlichen Lebens oder zur Möglichkeit geführt werden, ständig neue Begierden zu entdecken.« (Situationistische Internationale 1958-1969, Band I, Hamburg 1976, S. 30)


[42] Er unterhielt einige Jahre lang einen Briefwechsel mit Frankreichs damals wichtigstem Technologiekritiker, Jacques Ellul.

[43] Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 235. An Reich wäre darüber hinaus seine Naturalisierung der Arbeit und seine Heteronormativität zu kritisieren.


[44] Ebd., S. 210

[45] Marcuse wollte unter anderem die anfängliche »narzisstische« Beziehung zur Mutter aufwerten statt den Vater zu feiern als den Retter angesichts der Drohung, vom überwältigenden mütterlichen Schoß verschlungen zu werden (Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 227). Bereits 1946 betrachtete Adorno in seinem Vortrag den Narzissmus als eine Verteidigung des Individuums gegen eine repressive Gesellschaft: Er stelle einen verzweifelten Versuch des Einzelnen dar, das in der universellen Tauschgesellschaft erlittene Unrecht zu kompensieren. Außerdem müsse das Individuum die Triebenergien auf sich selbst richten, wenn die anderen Personen unerreichbar geworden sind (vgl. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, S. 33).


[46] Marcuse, Herbert: »Obsolescence of the Freudian Concept of Man«, deutsch in: Kultur und Gesellschaft, Band 2, Frankfurt/Main 1965.

[47] Ebd., S. xx

[48] Wir beziehen uns hier nur auf diese beiden Bücher Laschs, von denen das zweite, The Minimal Self, erstaunlicherweise nie auf Deutsch veröffentlicht worden ist.


[49] Andere Aspekte seines Denkens sind wesentlich zweifelhafter. Zu seinen schwachen Seiten gehören sein Populismus, d.h. sein Verherrlichen der ›normalen‹ Leute, das Fehlen jeder Kritik der politischen Ökonomie, seine nostalgische Vision des Amerika des 19. Jahrhunderts, seine Apologie des Sports und vor allem der Arbeit.


[50] Laschs Kommentatoren schenken im Allgemeinen seinen Beschreibungen viel mehr Aufmerksamkeit als seinen theoretischen Grundlagen und seiner Freud-Interpretation. Er hat wenig Interesse unter den professionellen Psychoanalytikern hervorgerufen, wie es meistens der Fall ist, wenn Nicht-Analytiker einen Beitrag liefern.


[51] Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, S. 256f.

[52] Ebd., S. 13f.

[53] Ebd., S. 202f.

[54] Vgl. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, 2. erw. Aufl., Frankfurt/New York 2015 (zuerst Paris 1998)


[55] Diese typische Situation wird besonders gut, ohne besondere Benutzung psychoanalytischer Kategorien, in Zygmunt Baumans Werken beschrieben.


[56] Mit diesem Ausdruck bezeichnet Lasch eine Art »kulturelle Linke«, zu der die »neue Linke«, der Feminismus, die Ökologiebewegung, die Alternativbewegung und andere Formen des Protestes gegen die herkömmliche Kultur gehören, die ab 1968 entstanden sind.


[57] Lasch, The Minimal Self, S. 170; Übersetzung dieses und aller folgenden Zitate aus The Minimal Self: A.J.

[58] Ebd., S. 171

[59] Ebd., S. 171f.

[60] Ebd., S. 172f.

[61] Ebd., S. 167f.

[62] Ebd., S. 185

[63] Ebd., S. 193

[64] Ebd., S. 195f.

[65] Ebd., S. 228

[66] Lasch kritisiert bei Fromm, dass dieser in seiner Schrift Die Seele des Menschen den Narzissmus einfach mit asozialen und individualistischen Verhaltensweisen identifiziert habe (vgl. Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, S. 49).


[67] Lasch, The Minimal Self, S. 232

[68] Ebd., S. 232f.

[69] Ebd., S. 233

[70] Ebd., S. 233f.

[71] Ebd., S. 234


[72] Ebd., S. 293. Allerdings fügt Marcuse dem hinzu: »Die Menschen können ohne Angst sterben, wenn sie wissen, dass das, was sie lieben, vor Elend und Vergessen bewahrt ist« (Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 233), was nicht sehr verschieden von dem ist, was Lasch im oben angeführten Zitat sagt.


[73] Ebd., S. 236

[74] Ebd., S. 247

[75] Ebd., S. 240

[76] Ebd., S. 175f.

[77] Vgl. Meyer, Thomas: »Zwischen Ektogenese und Mutterglück: Zur Reproduktion der menschlichen Gattung im krisenhaften warenproduzierenden Patriarchat«, 2018, exit-online.org


[78] Vgl. Meyer, Thomas: »Zwischen Selbstvernichtung und technokratischem Machbarkeitswahn – Transhumanismus als Rassenhygiene von heute«, 2020, exit-online.org


[79] Pasolini, Pier Paolo: »Die anthropologische Revolution in Italien« (Auszug aus den Freibeuterschriften) in: Jappe, Anselm: Schade um Italien! Zweihundert Jahre Selbstkritik, ausgewählt, eingeleitet und übersetzt von Anselm Jappe, Frankfurt/Main 1997, S. 226-233


[80] Auch Slavoj Žižek hat das, auf seine Weise, in seinem Vorwort zu der 1986 veröffentlichten kroatischen Ausgabe des Zeitalters des Narzissmus bemerkt: »Abgesehen von dem innerlich unvollständigen Charakter seines analytischen Begriffsapparates liegt Laschs schwacher Punkt darin, dass er keine ausreichende theoretische Definition dieser Wende in der sozio-ökonomischen Realität des Spätkapitalismus liefert, die dem Übergang vom ›Organisationsmenschen‹ zum ›pathologischen Narziss‹ entspricht. Auf der Diskursebene ist diese Wende unschwer zu bestimmen: es handelt sich um die Transformation der bürokratischen kapitalistischen Gesellschaft der vierziger und fünfziger Jahre in eine sogenannte ›permissive‹ Gesellschaft. Das geht mit einem ›post-industriellen‹ Prozess einher, der, auf dieser Ebene, mit der Theorie der ›Dritten Welle‹ von Schriftstellern wie Toffler beschrieben worden ist.« (Žižek, Slavoj: »›Pathological Narcissus‹ as a Socially Mandatory Form of Subjectivity«, in: Narcisistička kultura, Zagreb 1986). Zu Žižek vgl. Scholz, Roswitha: »Der Kapitalismus, die Krise … die Couch – und der Verfall des kapitalistischen Patriarchats. Einige kritische Bemerkungen zum Lacan-Marxismus von Slavoj Žižek und Tove Soiland«, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 17, 2020, S. 45-89.


[81] In seinem Vortrag von 1946 über die revidierte Psychoanalyse richtet Adorno an Karen Horney den überraschenden Vorwurf, dass sie einen zu großen Akzent auf die Konkurrenz lege. »Für die soziale Realität ist in der Epoche der Konzentrationslager Kastration charakteristischer als Konkurrenz.« (Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, S. 32) Adorno zufolge ist es ein Euphemismus, angesichts der allgegenwärtigen Gewalt von »Konkurrenz« zu sprechen. In der Tat hat Adorno damals zusammen mit Horkheimer den Begriff der »Rackets« entwickelt, die die Zirkulationssphäre ersetzt hätten – einer der schwächsten Momente seiner theoretischen Entwicklung, vgl. Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003 (zuerst Chicago/Cambridge 1993).


[82] Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 97f.

[83] Ebd., S. 103

[84] Wissen, Die sozialpsychologische Matrix, S. 30

[85] Vgl. Meyer, Thomas: »Geschlecht zwischen performativer ›Spielmarke‹ und Biologisierung – Eine Kritik spätpostmoderner Queerness und des medizinischen Diskurses um ›Transsexualität‹«, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 16, 2019, S. 182-214


[86] Vgl. Wissen, Die sozialpsychologische Matrix, a.a.O.

[87] Lasch, The Minimal Self, S. 34. Es ist bemerkenswert, dass diese Analyse 15 oder 20 Jahre vor Richard Sennetts The Corrosion of Character und Zygmunt Baumans Liquid Modernity geschrieben wurde, die ähnliche Themen entwickeln sollten.


[88] Vgl. Wissen, Die sozialpsychologische Matrix, a.a.O.