Anselm Jappe
Ist die Historie immer materialistisch?
Erschienen 2022 unter dem Titel „L’histoire est-elle toujours matérialiste?“ in: Jaggernaut no. 4
Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Urban
Dieser Artikel möchte dazu beitragen, mit den Instrumenten der Wertkritik, d.h. einer Kritik der abstrakten Arbeit, des Geldes und des Fetischismus, Themen zu analysieren, die bislang nur unsystematisch mit diesen theoretischen Instrumentarien angegangen wurden: Der ontologische und epistemologische Status des Materialismus; die Merkmale vormoderner Gesellschaften und vor allem der Stellenwert, den Opfer und Gabe in ihnen einnahmen, sowie ganz allgemein die Dimension des Symbolischen; der „natürliche“ oder „kulturelle“ Ursprung von Bedürfnissen und Motivationen; die Kontinuitäten und Brüche zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften; die Beziehung zwischen dem Warenfetischismus und anderen Formen des Fetischismus; schließlich die religiösen Ursprünge des Kapitalismus. Angesichts des Umfangs dieses Feldes und seiner zahlreichen Verflechtungen mit anderen Themenbereichen kann dieser einfache Artikel freilich nur einen sehr partiellen Beitrag im Hinblick auf künftige Arbeiten von größerer Tragweite darstellen. Er schließt nämlich nicht mit Antworten, sondern im Wesentlichen mit neuen Fragen ab – ein Forschungsprogramm, könnte man sagen.
Marxisten, ja alle Marx-Leser, ob Befürworter oder Kritiker, sind sich zumindest in einer Frage einig, abgesehen von ihren unterschiedlichen Interpretationen zu so ziemlich jedem Aspekt des Denkens des „alten Bärtigen“: Es ist materialistisch. Während der Dialektische Materialismus oder die Dialektik der Natur heute wenig beachtet werden oder sogar als Beispiele für dogmatische Verirrungen nach dem Tod des Meisters gelten, stellt der Historische Materialismus eine Art Minimalkonsens unter all jenen dar, die sich in irgendeiner Weise zum „Marxismus“ bekennen. Es ist bezeichnend, dass die wichtigste britische marxistische Zeitschrift Historical Materialism heißt: Sie will Marxisten vieler verschiedener Richtungen Raum geben, wobei aber davon ausgegangen wird, dass der Historische Materialismus eine gemeinsame Grundlage für alle bildet. Für Nicht- oder Ex-Marxisten hingegen ist diese Frage längst geklärt, und mit dem Marxismus haben sie auch den Historischen Materialismus entsorgt.
Was Marx selbst betrifft, lässt sich nicht leugnen, dass er von Anfang an Materialist war: Seine Doktorarbeit aus dem Jahr 1841 befasste sich mit Demokrit und Epikur, den wichtigsten materialistischen Philosophen der Antike. Wie bekannt, legte er in späteren Jahren die Grundlagen für sein eigenes Denken durch eine Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach und dessen Materialismus: Marx übernimmt diesen zunächst und markiert damit seinen Bruch mit dem Hegel’schen Idealismus, kommt aber – insbesondere in den Thesen über Feuerbach und im ersten Kapitel der Deutschen Ideologie – schnell dazu, dessen „naturalistischen“ Materialismus zu verurteilen, der nur ein geschichtsloses, unveränderliches und von der Natur bestimmtes menschliches Wesen vorsieht. Diese Form des Materialismus, ein Erbe der materialistischen Philosophen der französischen Aufklärung wie Diderot und Holbach, führt laut Marx zu einer kontemplativen Haltung gegenüber der Realität. Marx stellt dem einen aktiven und praktischen Materialismus gegenüber, der „die Welt“ umgestaltet. Zur gleichen Zeit entdeckte er in der materiellen Produktion – der Ökonomie – die Grundlage für die Ideen, auf die sich bis dahin die ganze Aufmerksamkeit derjenigen konzentriert hatte, die Gesellschaft und Geschichte verstehen wollten.
In der Deutschen Ideologie, die Marx und Engels 1846 verfassten, schrieben sie:
„Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“ (Marx/Engels 1968, S. 26f.)
In einem Brief an den russischen Journalisten P. Annenkow vom 28. Dezember 1846, der eine ausführliche Kritik an Pierre-Joseph Proudhons Philosophie des Elends enthielt, schrieb Marx:
„Nehmen Sie einen bestimmten Stand der Entwicklung der Produktivkräfte der Menschen an, und Sie haben eine entsprechende Form des Handels und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Handels, der Konsumtion, und Sie haben eine entsprechende Form der sozialen Verfassung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen, mit einem Wort: eine entsprechende bürgerliche Gesellschaft. Setzen Sie eine solche bürgerliche Gesellschaft, und Sie haben einen entsprechenden politischen Zustand, der nur der offizielle Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft ist. [...] Statt daher die politisch-ökonomischen Kategorien als etwas von den wirklichen, vorübergehenden, historischen, sozialen Beziehungen Abstrahiertes zu betrachten, erblickt Herr Proudhon infolge einer mystischen Umkehrung in den wirklichen Beziehungen nur Verkörperungen dieser Abstraktionen. [...] Noch weniger hat Herr Proudhon begriffen, daß die Menschen, die die sozialen Beziehungen, ihrer materiellen Produktion gemäß, produzieren, auch die Ideen, die Kategorien, d. h. die ideellen abstrakten Ausdrücke dieser selben sozialen Beziehungen hervorbringen. Demnach sind die Kategorien genau so wenig ewig wie die Beziehungen, deren Ausdruck sie sind. Sie sind historische und vorübergehende Produkte. Für Herrn Proudhon sind ganz im Gegenteil die Abstraktionen, die Kategorien die primäre Ursache.“ (Marx 1846)
Die Kategorien „Basis“ und „Überbau“ sind also in Marx’ Denken zu dieser Zeit bereits präsent, auch ohne diese Terminologie. In Das Elend der Philosophie (1847) sagt er: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ (Marx 1972, S. 130)
In der kurzen Einleitung seiner Abhandlung Zur Kritik der Politischen Ökonomie von 1859 gibt Marx dann eine sehr konzentrierte Zusammenfassung dessen, was noch nicht „Historischer Materialismus“ genannt wurde. Dort findet sich die berühmte Formulierung: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (Marx 1971/1859, S. 9).
Es muss zwischen mindestens zwei Formen des Materialismus unterschieden werden. Seit der Antike existiert der Materialismus im europäischen Denken mit Demokrit, Epikur und Lukrez (und als Randströmung auch in Indien und China) als Ontologie und Gnoseologie: Er ist eine Aussage über die Natur der Welt selbst (es gibt nur Materie, selbst das Denken hat einen materiellen Ursprung) und über das Wissen: Die Dinge existieren unabhängig von unserem Denken, und unsere Gedanken sind eine Reflektion derselben. Der Materialismus wurde im 17. Jahrhundert mit Gassendi und Hobbes wiederbelebt und setzte sich im 18. Jahrhundert mit La Mettrie und später den Philosophen der Aufklärung, insbesondere Diderot und Holbach, sowie in seiner radikalsten Form mit dem Marquis de Sade fort. Mechanismus, Determinismus und Atomismus, aber auch Sensualismus und Empirismus wurden oft mit ihm in Verbindung gebracht. Seit seinen Anfängen hatte der Materialismus einen zweifelhaften Ruf und wurde im Allgemeinen des Atheismus, der Leugnung der Unsterblichkeit der Seele und damit implizit der Subversion gegen die auf der Religion beruhenden Gesellschaftsordnung bezichtigt – außer bei Hobbes, wo der Materialismus mit der Rechtfertigung des absoluten Staates einherging. Er wurde auch verdächtigt, eine „materialistische“ Ethik zu fördern, die sich dem Genuss irdischer Güter widmete, ohne sich um moralische und religiöse Gebote zu kümmern.
Diese Marginalität des Materialismus, der fast als Kuriosität oder Ungeheuerlichkeit betrachtet wurde, könnte dennoch erstaunen, da man geneigt wäre, zu sagen, dass er die spontane, „natürliche“ Sichtweise des Menschen darstellt, der um sich herum nur Materie sieht. Aber gerade dieser „vorphilosophische“ Charakter ist es, der dazu führt, dass Berufsphilosophen die Ablehnung des Materialismus stets als Bedingung oder Beweis für die Fähigkeit, Philosophie zu betreiben, aufgestellt haben. Schließlich könnte man auch sagen, dass alle menschlichen Kulturen an die Existenz und die höchste Macht „unsichtbarer Mächte“ glauben, und dass der Materialismus keineswegs „spontan“, sondern das späte Ergebnis einer „säkularisierten“ Kultur ist, zumindest in einigen Teilen der Gesellschaft, wie es im alten Griechenland der Fall war.
Der ontologische Materialismus lebte im 19. Jahrhundert noch ein wenig weiter, vor allem in Deutschland (mit heute fast vergessenen Autoren wie Vogt, Moleschott und Büchner, die von Marxisten als „Vulgärmaterialisten“, d.h. als nicht „dialektisch“, bezeichnet werden). Im marxistischen Feld wurde er durch die von Engels auf seine alten Tage vorgeschlagene „Dialektik der Natur“ ersetzt, eine merkwürdige Mischung aus positivistischem Szientismus und hegelianischem Logizismus.[1] Er wurde später unter dem Namen „Dialektischer Materialismus“ von Stalin zum Dogma gemacht in seiner Schrift Über Dialektischen und Historischen Materialismus (1938), zur Staatsdoktrin in der Sowjetunion erhoben und trug mit Lyssenko seine schönsten Früchte, bevor er sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand (außer bei den Anhängern des Lesezirkels Marx au XXIe siècle und der Zeitschrift Période). Im Namen des „Diamat“ hatte man in der UdSSR sogar Einsteins Theorien geächtet – bevor man feststellte, dass sie für die Entwicklung einer sowjetischen Atombombe unerlässlich waren.[2] Die meisten Anarchisten waren nicht weniger materialistisch, und allen voran Kropotkin wollte aus dem Prinzip des libertären Kommunismus „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ die einfache Verwirklichung biologischer und natürlicher Grundlagen machen, die angeblich vom Kapitalismus fehlgeleitet worden seien.
Heute sind sowohl der „vulgäre“, „bürgerliche“ Materialismus als auch der Dialektische Materialismus unter dasselbe Urteil gefallen, „Metaphysik“ zu sein. Inwieweit die materialistischen Ontologien des späteren György Lukács (Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 1971), Ernst Blochs (Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, 1972) und Louis Althussers in dieser Hinsicht Anhaltspunkte liefern können, würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Auch Theodor W. Adorno stellte in seiner Negativen Dialektik (1966) sein zentrales Konzept, den „Primat des Objekts“, als eine Form des Materialismus dar.
Andererseits kann man die verschiedenen Theorien, selbst solche mit kritischem Anspruch, die sich auf die Linguistik oder Semiologie stützen, und generell die kulturalistischen und postmodernen Ansätze sowie die „Episteme“ von Michel Foucault als zumindest implizite Verneinungen des Materialismus betrachten. Dies ist jedoch nicht das Thema dieses Artikels, der vielmehr den Status des Historischen Materialismus und seine mögliche Revision im Rahmen einer Theorie des Kapitalismus analysiert, die den Kategorien des Werts, der Doppelnatur der Arbeit – abstrakt und konkret – und des Warenfetischismus eine zentrale Rolle zuweist.
Der Historische Materialismus wurde mit der Entstehung des „Marxismus“ in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts schnell zum Glaubensartikel gemacht. Manchmal bis zur Karikatur, etwa wenn Karl Kautsky, Cheftheoretiker der deutschen Sozialdemokratie und Autor von Die materialistische Geschichtsauffassung (1927) sowie mehrerer anderer Bücher zu diesem Thema, Spinozas Philosophie auf die Interessen des damaligen holländischen Wollhandels zurückführte. Mehrere Jahrzehnte später begann Lukács in Die Zerstörung der Vernunft (1954) seine Untersuchung von Kierkegaards Denken mit der Bemerkung, dass für seine gründliche Analyse „eine Kenntnis der Klassenverhältnisse und Klassenkämpfe in Dänemark im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts nötig“ sei (Lukács 1973, S. 220). Zwischen den beiden Weltkriegen versuchten Lukács, Antonio Gramsci, Karl Korsch und andere, den Historischen Materialismus auf eine weniger starre Weise zu definieren, insbesondere was die Rolle von Kunst und Kultur betrifft. Sie konnten sich, wenn sie bei der Orthodoxie bleiben wollten, auf den alten Engels stützen, der vor allem in einer Reihe von Briefen im Jahr 1890 gegen die übermäßig einseitigen und deterministischen Interpretationen des Historischen Materialismus Stellung bezogen hatte, die damals von vielen Marxisten vertreten wurden. Vor allem unter jenen, die in einem mehr oder weniger „marxistischen“ Rahmen die Geschichte der Literatur und Kunst und der Kultur im Allgemeinen, aber auch der Religion usw. studieren wollten, wurden bemerkenswerte Verrenkungen gemacht und Pirouetten gedreht, in denen insbesondere die magischen Begriffe „Rückwirkung“ und „wechselseitige Beeinflussung“ dazu dienten, alles unter einen Hut zu kriegen. Gleichzeitig unterschied man den Historischen (und eventuell auch den „Dialektischen“) Materialismus vom „Vulgärmaterialismus“, dessen man die bürgerlichen Wissenschaften gerne bezichtigte (selbst Lévi-Strauss sah sich mit diesem Vorwurf konfrontiert). Lukács fühlte sich übrigens ziemlich mutig, als er Die Zerstörung der Vernunft veröffentlichte, weil er sich darin dem in der Sowjetunion etablierten Dogma widersetzte, wonach das wichtigste Unterscheidungskriterium in der Geschichte des Denkens die Unterscheidung zwischen Materialismus und Idealismus sei. Lukács ersetzte sie durch die seiner Meinung nach subtilere Unterscheidung zwischen „Rationalismus“ und „Irrationalismus“ (d.h. fast die gesamte bürgerliche Philosophie nach Hegel). Er sah sich übrigens in der Notwendigkeit, die positive Bedeutung, die er Hegel zuschrieb, ausführlich zu begründen, weil er zugeben musste, dass Hegel deutlich „idealistischer“ sei als fast alle anderen Denker seiner Zeit.
Leben wir vom Brot allein?
In vielerlei Hinsicht ist der Historische Materialismus eine Theorie der Motivationen von Akteuren. Anscheinend handeln und kämpfen die Menschen für Gott oder den König, für das Vaterland oder ihr Volk, aus Sorge um die Menschheit oder um sich einen Platz im Paradies zu sichern. Doch hinter diesen edlen Beweggründen, sagt der Materialist, verbergen sich sehr materielle, sehr egoistische Interessen. So seien die Religionskriege nicht wirklich von religiösem Eifer getrieben gewesen, sondern von wirtschaftlichen Konflikten, zum Beispiel zwischen der aufstrebenden Bourgeoisie und der Aristokratie, die ihr widerstand. Oder, ein anderes Beispiel, die Konflikte zwischen afrikanischen „Stämmen“ hätten ihre Wurzeln nicht in grauer Vorzeit, sondern seien aus den Konflikten zwischen Bauern und Hirten in der Zeit der durch den Kolonialismus verursachten Verknappung des verfügbaren Landes entstanden. Die Liste der materialistischen Analysen dieser Phänomene ist sehr lang, und sie sind sicherlich fast immer angemessen. Im Übrigen hat auch die Wertkritik selbst dazu beigetragen. Vor allem in den 1990er Jahren, als in vielen Teilen der Welt (Jugoslawien, ehemalige UdSSR, Kaukasus, Naher Osten, Ruanda, Afrika im Allgemeinen) blutige Konflikte ausbrachen, die von den Medien und den Protagonisten selbst gerne als „ethnisch“ oder „religiös“ dargestellt wurden, oder gar als „Stammeskriege“ und als Ausdruck uralten Hasses, der im Rahmen des „Kampfes der Kulturen“ erklärbar sei, belegten die Autoren von Krisis, dass es sich dabei im Wesentlichen um das Ergebnis des „Kollaps der Modernisierung“ (Kurz) und des Kampfes um ihre Überreste handelte. Die Gründe für diese Kriege waren also durchaus „materieller Natur“.[3] Diese Erklärungen, die den in der Postmoderne sehr beliebten „kulturalistischen“ Interpretationen entgegengesetzt wurden, spielten eine entmystifizierende oder entheiligende Rolle: Die wahren, sehr schmutzigen Motive lägen hinter der ideologischen Oberfläche. Diese Geste ähnelt derjenigen der Psychoanalyse, die ebenfalls in den „edlen“ Teilen des menschlichen Lebens „Sublimierungen“ primitiver Triebe erkennt.
Sind diese „materialistischen“ Analysen, so wichtig sie auch sein mögen, ausreichend und decken sie das gesamte Feld der Untersuchung ab? Bertolt Brecht sagte in der Dreigroschenoper: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Lässt sich also alles auf das „Fressen“ reduzieren? Eine erste Frage ist, worin der „materielle“ Aspekt besteht. Ist er identisch mit der „wirtschaftlichen“ Sphäre? Wenn es nicht „ideelle“ Motive sind, die die kleinen und großen Akteure der Geschichte bewegen, sondern ihre „materiellen Interessen“, muss man sich fragen, welche „materiellen“ Bedürfnisse des Menschen zuerst befriedigt werden und andere Bedürfnisse und Wünsche als Vorwand oder Aushängeschild benutzen. Wenn der Katholik dem Protestanten den Kopf einschlägt, dann nicht wegen des Glaubens, sagt der Materialist, sondern um sich sein Feld oder sein Geschäft anzueignen. Na gut. Aber warum will er das Feld des anderen? Um dort das Leben eines Großgrundbesitzers zu führen. Aber warum will er das Leben eines Großgrundbesitzers führen? Um gut zu essen und zu trinken, in einem weichen Bett zu schlafen, im Winter in einem schönen, gut geheizten Salon zu sitzen, Bedienstete zu haben, die ihm jede lästige Arbeit abnehmen, mit Stolz seine Nachkommen zu betrachten, vielleicht seine sexuellen Gelüste zu befriedigen, auf die Jagd zu gehen, unter den benachbarten Herren in hohem Ansehen zu stehen, einen Ritterorden zu tragen, Zugang zum Hof zu haben, beim König Ansehen zu genießen, andere Ämter zu haben, zu wissen, dass er ein großartiges Begräbnis haben wird?
Wenn man diese Liste von Motivationen liest, stellt man fest, dass sie sich immer weiter vom „Materiellen“ entfernt. Was sind die „Bedürfnisse“, um deren Befriedigung sich die ganze Geschichte drehen soll? Natürlich beginnt man mit Essen und Trinken – aber man will nie einfach nur „essen“, sondern etwas essen, das man nicht verabscheut. Es gibt Menschen, die lieber sterben würden, als bestimmte Dinge zu essen, und das ist nicht nur bei religiösen Verboten der Fall.[4] Der rumänische Schriftsteller Panaït Istrati (1885–1935) erzählt in seiner autobiografischen Schrift Mes départs, wie er 1907 in Neapel als elender Vagabund, nachdem er tagelang nichts gegessen hatte, zu einem Eintopf eingeladen wurde, der angeblich aus Kaninchenfleisch bestand und den er für ausgezeichnet hielt. Als er jedoch erfährt, dass er in Wahrheit Katze gegessen hat, beginnt er, alles zu erbrechen.[5]
Die physiologischen Bedürfnisse – angemessene Temperatur, Logis, Abwesenheit von Schmerzen und übermäßiger Müdigkeit – sind eher leicht zu befriedigen und erreichen sogar schnell die Sättigung. „Montaigne erwähnt eine Person aus der Antike, Feraules, einen Günstling des persischen Königs Kyros, der ‚beide Glückspunkte durchlaufen war und befunden hatte, dass der Zuwachs an Vermögen nicht immer einen Zuwachs an Appetit zum Essen, Trinken und Umarmen mit sich bringe‘. Montaigne war daher der Ansicht, ‚wie hoch auch der Thron sei; wenn wir uns darauf niederlassen, sitzen wir doch nur auf unserem Hintern‘“. (Jappe 2017, S. 154) Wenn die Bedürfnisse jedoch so umfassend werden, dass es nicht mehr möglich ist, sie zu befriedigen, und das Individuum „unersättlich“ wird, handelt es sich offensichtlich nicht mehr um physiologische, sondern um kulturelle – und pathologische – Bedürfnisse. Wir haben es hier mit Habsucht zu tun, dem Wunsch, immer mehr zu haben, der seit der Antike (Aristoteles) beschrieben wird, aber im zeitgenössischen Kapitalismus zu einer Grundbedingung geworden ist. Es ist eine Grundannahme des bürgerlichen Denkens (abgeleitet u.a. von Augustinus und Hobbes), wenn es die „menschliche Natur“ begründen will (die in Wahrheit nur die Natur des Menschen in der Warengesellschaft ist): Die menschlichen Begierden seien von Natur aus grenzenlos.[6]
Selbst wenn man einräumt, dass Ökonomie und Arbeit nichts Transhistorisches sind, bleibt es oft bei der Vorstellung, dass es natürliche „Bedürfnisse“ gibt, einen „Sockel“ von Bedürfnissen auf biologischer Basis, die für alle Menschen gleich sind und die immer und überall in primis befriedigt werden müssen, bevor man zu den sekundären Bedürfnissen übergeht, die hingegen von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sind. Und doch sind diese primären Bedürfnisse nicht immer primär, und die Art und Weise, wie sie befriedigt werden, kann sehr unterschiedlich sein.
Der Appetit auf Prestige und Ehre, auf Lob und Auszeichnungen, ja sogar die Vorstellung von Nachruhm und Unsterblichkeit, die zu allen Zeiten unter den herrschenden Klassen so mächtig waren, sind nicht sehr „materiell“. Im Gegenteil, oft opfern Einzelne ihr materielles Wohlergehen für diese eher „symbolischen“ Güter. Auch zahlreiche Nachkommen zu haben, die dem Erzeuger Ehre machen, ist seit Abraham oft die Belohnung des Tugendhaften. Aber kann man diese Befriedigung als „materiell“ bezeichnen?
Die ungehinderte Befriedigung der Libido oder von Aggressionen und Rachegelüsten sind zweifellos besonders starke Motive für das Handeln. Aber wo bleibt die „materielle“ Seite, die bei diesen Leidenschaften oft vernachlässigt wird? Der physiologische Geschlechtsakt könnte noch als „materiell“ gelten, aber die große Rolle der Vorstellungskraft, der „Fantasien“ in der Sexualität ist das am wenigsten Materielle, das es gibt.
Bei Balzac zum Beispiel kann man die Zirkularität der Bestrebungen beobachten: Die soziale Stellung dient dazu, Liebe zu finden, aber die Liebe dient dazu, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen – und man fragt sich, welches Motiv grundlegender ist. Ist der Luxus der Reichen, selbst unter den heutigen Kapitalisten, ein Preis, den man zahlen muss – eine „Repräsentationsgebühr“ –, um wirtschaftlich mithalten zu können, oder ist er ein echter Zweck? Und wenn Väter Reichtum anhäufen und die Kinder ihn verschwenden, selbst unter Kapitalisten, zeigt diese Tatsache dann nicht die unwiderstehliche Anziehungskraft von Luxus und Verschwendung?
Hat der Asket nicht ein „Bedürfnis“ nach Entbehrungen, Hunger und Kälte? Ist das nur eine Perversion, eine Verleugnung des natürlichen Bedürfnisses nach körperlichem Wohlbefinden und Überleben? Marx sprach von Milton, der „das ‚Paradise Lost‘ aus demselben Grund [produzierte], aus dem ein Seidenwurm Seide produziert. Es war eine Betätigung seiner Natur. Er verkaufte später das Produkt für 5 £.“ (Marx 1965, S. 377) Wer künstlerisch tätig ist, tut dies in der Regel nicht mit dem Ziel, Geld zu verdienen, sondern als unbändiges Bedürfnis, das ihn oft sogar Geld kostet.
Man kann sich auch fragen, ob die Psychoanalyse „materialistisch“ ist. Einige Befürworter und Gegner behaupten dies, andere verneinen es. Carl Gustav Jung wandte sich gegen Freuds „materialistische“ Seite – seine angebliche „Überbetonung der sexuellen Instinkte“ – und stieß auf Zustimmung in Kulturkreisen, die Hinweise auf die materiellen, aber auch triebhaften Grundlagen des Lebens als „vulgär“ betrachten. Die Sozialwissenschaften haben schon vor einigen Jahren die Bedeutung der „Anerkennung“ entdeckt – die ebenfalls nicht sehr materiell ist. In einem Großteil der sozialen Kämpfe der letzten Jahrzehnte – feministische, antirassistische, gegen Diskriminierung, „intersektionale“ etc. – scheint der materielle, wirtschaftliche Aspekt nicht vorrangig zu sein. In Wirklichkeit haben die Schwarzen erkannt, dass selbst ein reicher Schwarzer immer noch ein „Neger“ ist.
Die theoretische Revolution, welche durch eine Marx-Lektüre bewirkt wird, die den Schwerpunkt auf den durch die abstrakte Seite der Arbeit geschaffenen Wert und den Warenfetischismus legt, muss zwangsläufig auch ihr Verhältnis zum Materialismus überdenken. Wenn der Gebrauchswert, den man die „materielle“ Seite nennen könnte, nur die sichtbare Seite einer grundlegenderen Realität ist, des Werts, der als solcher jedoch nur eine „Phantasmagorie“ ist, wie Marx es nennt, ein Hirngespinst, eine Projektion, handelt es sich dann nicht um eine Unterordnung des Materiellen unter das Ideelle, unter etwas rein Gedachtes? Ist das nicht eine Form von „realem Idealismus“? Die materielle Produktion ist in der Warengesellschaft zweitrangig. Sie ist ein bloßer Vorwand für die Akkumulation eines Phantoms: des Werts und des Mehrwerts. „Bisher hat noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt“, heißt es im Kapital (Marx 1986/1867, S. 98). Marx bezeichnete die Ware als „sinnlich-übersinnlich“ (ebd., S. 85). Sie ist eine Mischung aus Materiellem und Ideellem, wobei das Ideelle die Oberhand hat. Man könnte also sagen, dass die übersinnliche, metaphysische Dimension der gesellschaftlichen Existenz, die in nicht-warenförmigen Gesellschaften (welche offenbar von der Religion dominiert wurden, anders als die modernen Gesellschaften, die sich für „säkularisiert“ und „laizistisch“ halten) auf einen separaten Bereich der Existenz beschränkt war, nun in den kleinsten Gegenständen und Handlungen des täglichen Lebens präsent ist. Alles oder fast alles wird in der Warengesellschaft fetischistisch verehrt, nicht nur hölzerne Idole oder Madonnen. Das ist die wirklich verkehrte Welt, deren adäquate Beschreibung die Hegel’sche Dialektik ist: die wahre Beschreibung einer falschen Realität. Das ist die Realität, die sie beschreibt, als eine von Abstraktionen beherrschte, die vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss.
Diese Überlegungen, so unerhört sie auch erscheinen mögen, sind schon seit geraumer Zeit Teil der Wertkritik. Es müssen jedoch noch alle Konsequenzen daraus gezogen werden, und insbesondere muss damit begonnen werden, die notwendige Verbindung zu bestimmten Befunden der Kulturanthropologie herzustellen. Natürlich kann es sein, dass wir zum genauen Gegenteil des traditionellen Marxismus gelangen!
Die Frage ist nicht nur, ob es neben materiellen Interessen auch andere Motivationen gibt, sondern auch, ob materielle Interessen nicht selbst von anderen Bedürfnissen abhängen. Was wäre, wenn das Streben nach einem materiellen Vorteil nur der Vorwand für etwas anderes wäre? Was wäre, wenn wir in Umkehrung des „vulgären Historischen Materialismus“ hinter den materiellen Motiven wie der Anhäufung von Reichtum nach der Befriedigung anderer individueller und kollektiver Bedürfnisse suchen würden? Denn wie viele Dinge bleiben ohne „materialistische“ Erklärung, vom enormen Drogenkonsum in „primitiven“[7] und modernen Gesellschaften bis hin zum Holocaust, vom Selbstopfer des Kriegers bis hin zu verschwenderischem Geldausgeben? Es gibt immer irgendein „Bedürfnis“, das befriedigt wird – aber welches?
Gibt es eine tiefere Schicht als die rationale, auf die sich sowohl der traditionelle Marxismus als auch die bürgerliche politische Ökonomie konzentrieren? Marx machte sich über Ricardo lustig, der angenommen habe, dass bereits der prähistorische Fischer seine Fische zum Markt trug.[8] In der Folge ging die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft immer stärker von einem zeitlosen, ewigen homo oeconomicus aus, der immer und überall denselben Prinzipien der Optimierung seines Profits folgt: mit dem geringsten Aufwand möglichst viel zu erreichen. Im Übrigen erweist sich die bürgerliche Wissenschaft hier als weitaus „materialistischer“ als der vulgärste Marxismus, der zumindest immer eine gewisse „Klassensolidarität“ (unbekannten Ursprungs) annimmt. Aber hat der Marxismus selbst eine solche ahistorische Herangehensweise an die Produktion vermieden? Würde eine Ausweitung des „Primats der Ökonomie“ auf nicht-kapitalistische Gesellschaften nicht bedeuten, dass die Kategorie der Ökonomie als separate Sphäre verewigt wird?
Die andere Frage, die sich in der Diskussion über den Warenfetischismus stellt, ist sein Verhältnis zu anthropologischen Kategorien. Ist er vielleicht nur eine Variante, eine besondere historische Form einer anthropologischen Konstante? Ist der Warenfetischismus nicht der Nachfolger anderer Formen von Fetischismus oder Totemismus, ist der Wert nicht die Modernisierung des Mana, ist Geld nicht ein heiliges Objekt, sind die Märkte nicht unsere Gottheiten, nach deren unberechenbarem und unverständlichem Willen wir uns richten müssen? Diese Parallelen sind faszinierend, und sie sind auch ein wenig in Mode. Walter Benjamins Fragment über „Kapitalismus als Religion“ (1921) hat eine Flut von Kommentaren ausgelöst, die nicht immer hilfreich für unseren Zweck sind. Auf diese Weise wird auch ein etwas entsakralisierender Effekt erzielt: Man zeigt den Gesellschaften, die sich als „modern“ und „rational“ bezeichnen, dass sie immer noch im Heiligen und Irrationalen stecken. Der Warenfetischismus und der durch abstrakte Arbeit geschaffene Wert nehmen nur einen „Stelle“ ein (wie eine mathematische Variable in einer Gleichung), der in jeder menschlichen Gesellschaft immer existiert und von dem sich nur die äußere Erscheinung ändert. Der historische Bruch, der durch den Kapitalismus verursacht wurde, wird allerdings so stark abgeschwächt. Aus diesem Grund scheint es im Allgemeinen wesentlich besser zu sein, zuerst die modernen Phänomene des Warenfetischismus im Detail zu analysieren und erst dann nach Verbindungen zu anderen Gesellschaftsformen zu suchen, anstatt die modernen Phänomene im Wesentlichen als spezifische Variationen einer zeitlosen Konstante zu begreifen.
Diese Vorsichtsmaßnahme sollte jedoch nicht davon abhalten, bestimmte Ergebnisse der Anthropologie oder von der Anthropologie inspirierte Ideen zu nutzen, um eine kritische Theorie der Gegenwart zu entwickeln. Die meisten Anthropologen betrachten die Autonomie des Symbolischen als selbstverständlich. Der „kulturelle Materialismus“ von Marvin Harris, der zum Beispiel das Verbot, Rindfleisch zu essen, bei den Hindus mit der Bedeutung dieses Tieres für die lokale Wirtschaft erklärt, blieb eine sehr kleine Minderheit. Anthropologen, die sich als Marxisten bezeichneten, sahen sich oft zu zahlreichen Verrenkungen gezwungen, um das materialistische Dogma mit den anthropologischen Befunden irgendwie zusammenzufügen. Es scheint, als hätten die Anthropologen „des Symbolischen“ das Spiel haushoch gewonnen – vor allem über den traditionellen und ökonomistischen Marxismus, wie den des frühen Maurice Godelier, der in den 1970er Jahren allen Ernstes versuchte, den Arbeitswert der Salzstangen zu bestimmen, die in Neuguinea als Zahlungsmittel verwendet wurden.[9]
Im Allgemeinen dienen materielle Gegenstände in primitiven oder allgemein vormodernen Gesellschaften nicht nur oder hauptsächlich der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern vor allem der Herstellung sozialer Beziehungen. David Graeber schreibt in seiner Studie über den Fetischismus, der in Westafrika durch die Kontakte zwischen europäischen und afrikanischen Händlern im 17. und 18. Jahrhundert entstand: „Materielle Objekte waren vor allem insofern interessant, als sie in soziale Beziehungen eingebunden waren oder es ermöglichten, neue zu schaffen. [...] alles war sozial, nichts war fest, daher war alles gleichzeitig materiell und geistig“ (Graeber 2005, S. 432)[10] – während die Europäer nur an den Gegenständen interessiert waren, die sie bekommen wollten. Übrigens: In den Gefühlen, die wir heute noch mit Geschenken verbinden, die wir machen, mit „Familienschmuck“, den man nicht verkaufen sollte, mit Erinnerungsstücken usw., dienen manche Gegenstände weiterhin nur als Träger einer Beziehung, jenseits jeglicher Nützlichkeit.
Die Möglichkeit, mittels der Kritik am modernen Fetischismus die Beziehungen zwischen dem Materiellen und dem Symbolischen in vormodernen Kulturen zu verstehen, ist hingegen noch weitgehend unerforscht. Zwei Wege stehen offen: Entweder man beschränkt die Gültigkeit des Historischen Materialismus auf die kapitalistische Gesellschaft und geht davon aus, dass nur in ihr die Herrschaft der Ökonomie über die gesamte Gesellschaft und damit die Existenz einer Basis, die den Überbau bestimmt, gültig ist. In vorkapitalistischen Gesellschaften gab es keine „Ökonomie“, keine „Arbeit“, kein „Geld“ und keinen „Wert“. Die Phänomene, die ihnen angeblich ähneln, sind lediglich eine rückwärtsgewandte Projektion; sie waren vielmehr Teil eines sakralen Zusammenhangs. Die moderne Gesellschaft ist zwar für die Mehrheit ihrer Mitglieder ungerecht, aber alles in allem rational, weil sie zum Nutzen der herrschenden Klassen und von ihnen organisiert ist. Aber nur sie wäre demnach rational und materialistisch, während die früheren Gesellschaften davon auszunehmen wären.
Oder man geht noch weiter und behauptet, dass man, um die irrationalen Tendenzen des Kapitalismus zu erklären, die bis zur Selbstzerstörung und Autophagie reichen, annehmen muss, dass auch er immer, heimlich und unsichtbar, vom Heiligen beherrscht wird; scheinbar rationale wirtschaftliche und politische Kategorien, wie das Streben nach Profit, wären nur ein Lack, der über ganz andere Triebe gelegt wird. Aber welche?
Orthodoxe und heterodoxe Marxisten haben vor allem in den 1960er und 1970er Jahren viel um den Historischen Materialismus herum diskutiert und teilweise sehr interessante historische Forschungen hervorgebracht. Oft wurde unter diesem Begriff eine ganze „marxistische Geschichtsauffassung“ verstanden, mit ihrer angeblichen Abfolge von „asiatischer Gesellschaft – Sklaverei – Feudalismus – Kapitalismus“, von der allgemein angenommen wurde, dass sie notwendigerweise zum Kommunismus führen müsse. Wenn man andererseits den „Urkommunismus“[11] an den Anfang der Geschichte und den Kommunismus der Zukunft an ihr Ende setzt und damit den Kreis schließt, dann entspricht dies einer veritablen Teleologie, deren metaphysischer und sogar eschatologischer Charakter von den Gegnern immer wieder hervorgehoben wurde.
Doch die Einwände wurden immer zahlreicher: Das Schema von Basis und Überbau scheint kaum in der Lage zu sein, bestimmte historische Dynamiken zu erklären, wie etwa die Entstehung des Kapitalismus im späten Mittelalter. Zwischen der Entwicklung von Manufakturen, dem Aufkommen von Feuerwaffen, den demografischen Veränderungen, der Entstehung der abstrakten Zeit und der Uhren sowie der Herausbildung der Arbeitsmentalität lässt sich keine historische Vorrangigkeit angeben: Jeder Faktor erscheint gleichzeitig als Bedingung und Folge der anderen. Es gibt keinen technologischen Determinismus: Es ist bekannt, dass Erfindungen wie die Dampfmaschine mehrmals in der Geschichte gemacht wurden oder dass bestimmte Kulturen Entdeckungen machten, die sie nicht oder nicht systematisch nutzten, wie die Chinesen das Schießpulver oder die Maya das Rad. Technologie nützt nichts, sie bleibt eine leere Hülle, wenn die „Mentalität“ fehlt oder die soziale Notwendigkeit oder das „Personal“, das geeignet ist, sie zu nutzen. Es bedarf vor allem eines Strebens nach Unbegrenztheit, nach dem Aufbrechen von Gleichgewichten, nach unendlicher Eroberung und grenzenloser Akkumulation (also „ideeller“ oder „kultureller“ Faktoren), um von den bereits verfügbaren technischen Mitteln profitieren zu können.
Hier interessieren uns eher die radikalen Infragestellungen des Historischen Materialismus, die auch den Ökonomismus und Utilitarismus kritisieren und von einer Gegenüberstellung der kapitalistischen Gesellschaft mit jenen Sozietäten ausgehen, die von Anthropologen – und hier vor allem von Marcel Mauss – untersucht wurden. Wie wir sehen werden, wird der Potlatch der Kwakiutl-Indianer an der Pazifikküste Kanadas, der von Ethnologen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben und von Marcel Mauss in seinem 1924 erschienenen Essai sur le don (dt. Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften) zu einer fast universellen Kategorie erhoben wurde, von den Autoren, die wir hier behandeln, als ein zentrales Element, als eine Art Alternative zur Marktwirtschaft betrachtet.[12]
Wir beziehen uns hier auf die Werke von Georges Bataille, Jean Baudrillard und Marshall Sahlins. Diese Autoren bringen in all ihrer Unterschiedlichkeit[13] eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck, die in gewisser Weise vorgibt, radikaler zu sein als die von Marx und den Marxisten, indem sie diese implizit oder explizit beschuldigen, wider besseres Wissen im utilitaristischen und ökonomistischen Rahmen des Kapitalismus und der bürgerlichen Ökonomen zu verharren. Diese Autoren sehen im Potlatch sowie im Opfer und anderen „archaischen“ kulturellen Praktiken eine Form des gesellschaftlichen Lebens, die sich radikal vom kapitalistischen Austausch unterscheidet, und zwar stärker als die Gesellschaftsmodelle, die Marxisten üblicherweise dem Kapitalismus entgegenstellen. Diese Alternative würde über die gemeinsamen Wurzeln des Kapitalismus und des „Kommunismus“ hinausgehen.
Georges Bataille stellte solche Ideen in seinem Buch La Part maudite (1949, dt. Der verfemte Teil) vor, und schon viel früher in dem Artikel La notion de dépense, der 1933 in der Zeitschrift La Critique sociale des kommunistischen Dissidenten Boris Souvarine veröffentlicht wurde. Darin behauptet er, dass die Sonne, die Quelle aller Energie, den Lebewesen ständig einen Energieüberschuss liefert, der über ihr bloßes Überleben hinausgeht. Zunächst wachsen sie, doch wenn sie an die Grenzen ihres möglichen Wachstums stoßen, müssen sie, um nicht zu ersticken, eine Abfuhr für diesen Energieüberschuss finden. Bataille findet diesen Prozess sogar auf der Ebene des Lebens von Einzellern und der Entstehung der sexuellen Fortpflanzung: Es handele sich um eine „allgemeine Ökonomie“, von der die menschliche Wirtschaft nur ein Teilbereich sei. Ausgehend von diesen hochspekulativen Prämissen bietet Bataille eine sehr originelle und kraftvolle Interpretation der verschiedenen Kulturen (Potlatch, Azteken, Tibet, muslimische Expansion, Entstehung des Kapitalismus usw.), die sich um die „Verausgabung“ (frz. dépense) drehen, d.h. die Möglichkeiten einer Gesellschaft, ihren Überschuss, ihren „verfemten Teil“, zu verschwenden: in Luxus, Schmuck, Krieg, unproduktiver Erotik. Es seien Verschwendung und Zerstörung, die den Fortbestand des Lebens ermöglichten. Die verschiedenen Arten der Verschwendung überschüssiger Energie begründeten die Unterschiede zwischen den Kulturen und ihre Entwicklungen, so z.B. als die arabischen Gesellschaften von den vorislamischen Kulturen, die sich auf Poesie und Wein konzentrierten, zum kriegerischen Islam übergegangen seien.
Bataille zufolge kann selbst der Kapitalismus, obwohl er radikal mit der verschwenderischen Ethik der Vergangenheit bricht, nicht vollständig auf „unproduktive“ Ausgaben verzichten (natürlich zu unterscheiden von produktiven Ausgaben, der bloßen Investition im Hinblick auf einen zukünftigen Profit) und muss sich von seinen gigantischen produktiven Überschüssen befreien. Er versucht, den Marshallplan der Nachkriegszeit, aber auch die sowjetische Wirtschaft als Formen „nutzloser“ Ausgaben zu interpretieren – doch diesen letzten Seiten des Buches fehlt der historische Abstand und sie sind die am wenigsten überzeugenden.
La Part maudite ist auf seine Weise zu einem „Klassiker“ geworden und weckt seit 70 Jahren Interesse. Seine Ideen sind jedoch zu „spekulativ“ oder „unüberprüfbar“ für Anthropologen, Historiker und Soziologen vom Fach. Es wäre in der Tat wenig fruchtbar, die Details seines Ansatzes diskutieren zu wollen, die alle ziemlich anfechtbar oder sogar aus der Luft gegriffen sein können. Aber man kann nicht leugnen, dass seine Kritik am Utilitarismus, die im Namen einer Notwendigkeit für Individuen und Gruppen geübt wird, sich selbst zu verlieren und aufzuheben – ein Akt, der gleichzeitig den höchsten Genuss darstellt –, vielleicht die radikalste Infragestellung des Historischen Materialismus und seines Menschenbildes darstellt. Es ist das genaue Gegenteil eines Wesens, das die ganze Zeit über rationale Entscheidungen trifft, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, beginnend mit den Grundbedürfnissen, um dann immer größere Reichtümer anzuhäufen. Die Motivationen der Akteure sind hier umgekehrt, und die Rationalität ist nur ein Firnis auf einem Abgrund von Urwünschen, die den Akteuren nicht einmal bewusst sind. Obwohl Bataille seine Vision nicht im Sinne der Freud’schen Psychoanalyse darlegt, könnte man sie als die Analyse eines „kollektiven“ Unbewussten betrachten, in dem die „Primärprozesse“ vorherrschen. Unter der sichtbaren Oberfläche der Sekundärprozesse würde sich eine unbekannte Welt von Trieben verbergen, die weder Moral noch Zeit noch Kausalität kennen und nur auf die sofortige Entladung ihrer Energie abzielen, da sie sonst explodieren würden.[14] Nicht nur das Streben nach materiellem Wohlstand, sondern oft sogar das Streben nach physischem Überleben sind nur Vorwände, um „verpönte“, aber weitaus mächtigere Triebe zu befriedigen. Freuds „Todestrieb“, sein umstrittenstes und spekulativstes Konzept (dazu Jappe 2017), scheint Batailles Sichtweise zugrunde zu liegen. Die scheinbar rationalsten Verhaltensweisen, wie das moderne Wirtschaftsleben, und die scheinbar irrationalsten Verhaltensweisen, wie die Menschenopfer der Azteken oder die Erhaltung einer riesigen Schicht „parasitärer“ Mönche im buddhistischen Tibet, bildeten also keinen Gegensatz mehr, und weniger denn je ginge es darum, „irrationale“ Verhaltensweisen auf „rationale“, materielle oder unmittelbar ökonomische Motivationen zurückzuführen, die sich „dahinter“ verbergen würden. Bataille betont, dass die Konzepte, auf denen die moderne Sicht des Wirtschaftslebens beruht, wie „Produktion“, „Vorteilssuche“, „Akkumulation“, „Investition“, „Wachstum“ usw., keineswegs auf vormoderne Gesellschaften anwendbar sind, wie es sowohl die bürgerliche als auch die marxistische Wissenschaft, die von ihrem Produktivismus besessen sind, einhellig tun. Bei genauerem Hinsehen erklären solche Konzepte nicht einmal die Tiefenstruktur der modernen Gesellschaften. Sie stellen also keinen allgemeinen menschlichen Hintergrund dar, keine „menschliche Natur“, die von einer biologischen Basis aus verstanden wird, welche durch ihre unveränderlichen Bedürfnisse gekennzeichnet ist, überall und immer zu finden sei, und auf die die verschiedenen Produktionsweisen lediglich Antworten wären, die untereinander nach ihrer Fähigkeit, diese Bedürfnisse für die größtmögliche Anzahl von Menschen zu befriedigen, vergleichbar seien. Luxus, Verschwendung, Krieg, um Gefangene zum Opfern (und nicht zum Arbeiten) zu machen, erscheinen in Batailles Augen nicht als die Abirrungen einer Menschheit, die noch nicht weiß, wie sie es anstellen soll, um so viel wie möglich zu produzieren, sondern als das wahre Zentrum des menschlichen, ja sogar kosmischen Abenteuers, in Bezug auf das gerade der Kapitalismus eine absurde Abweichung darstelle.
Kritisiert werden muss jedoch seine Art der „Naturalisierung von Mauss“, wie Baudrillard es nannte, und ganz allgemein die Rückführung sozialer Phänomene wie den Potlatch auf biologische, natürliche oder sogar kosmische Gesetze, deren bloße Verlängerung sie wären. Der etwas bizarre Aspekt von La Part maudite mit seiner Verwendung oftmals zweifelhafter Analogien rührt hauptsächlich von dem Versuch her, die gesellschaftliche Verschwendung in der Funktionsweise der Sonne zu begründen. Diese Einebnung des Unterschieds zwischen Natur und Kultur entspricht seltsamerweise sogar der Kybernetik, die in denselben Jahren entstand. In Wahrheit können die verschiedenen Formen der Verausgabung in den Kulturen, die Bataille untersucht, als kulturelle Entscheidungen analysiert werden, ohne sich auf eine angebliche „allgemeine Ökonomie“ zu beziehen, die von Amöben bis zur stalinistischen Ökonomie reichen würde.
Man kann nicht sagen, dass La Part maudite in den Jahrzehnten nach seiner Veröffentlichung besonderen Einfluss auf die Geisteswissenschaften ausgeübt hat. Ein größeres Echo findet sich erst mehr als zwanzig Jahre später: in Jean Baudrillards frühen Büchern, insbesondere Pour une critique de l'économie politique du signe (1972) und Le Miroir de la production, ou l'illusion du matérialisme historique (1973). Für den Autor selbst stellte Le Miroir de la production vielleicht nur eine Ergänzung zu seinen drei vorherigen Büchern dar, in denen er einen breiteren Ansatz entwickelt hatte, der auf verschiedene wissenschaftliche Spezialgebiete zurückgriff. Le Miroir hingegen konzentriert sich stärker auf ein einziges Thema (vgl. hier und im Folgenden Baudrillard 1985): Es geht ihm darum, mit dem Historischen Materialismus, dem Marxismus, dem revolutionären Denken, dem kritischen Denken überhaupt abzurechnen, um dann mit L’Échange symbolique et la mort (1976, dt. Der symbolische Tausch und der Tod) zu einer Sichtweise überzugehen, die definitiv mit diesen Kategorien gebrochen hatte. Der etwas marginale Charakter von Le Miroir wird dadurch bestätigt, dass es zu den am wenigsten bekannten, am wenigsten diskutierten und am wenigsten übersetzten Werken Baudrillards zählt. Paradoxerweise gehört es auch zu seinen am wenigsten „brillanten“ oder „postmodernen“ Büchern – es ist innerhalb gewisser Grenzen systematischer und „ernster“.
Seine Kritik am Marxismus und auch am Denken von Marx selbst ist nicht nur „interessant“, sondern manchmal sogar essentiell und zählt zu den besten der damaligen Zeit. Man bemerkt natürlich den Einfluss der Situationisten, die Baudrillard gut kannte, aber ohne dass man seine Originalität allein auf diese Quelle reduzieren könnte. Bevor er schließlich jegliches kritische Denken im Namen des Simulacrums[15] ablehnt, unternimmt er noch eine Anstrengung, um auf dessen eigenem Terrain das zu überwinden, was er als die Aporien des kritischen Denkens empfindet. Er will revolutionärer sein als die Revolutionäre, kritischer als die Kritiker, subversiver als die Subversiven. Seine Kritik des Marxismus bleibt den heterodoxen Varianten des Marxismus fast nichts schuldig, und erst recht nicht dem bürgerlichen Denken. So wagt sich Baudrillard manchmal wie zufällig auf wirklich vielversprechende Pfade – zeitweise sieht es fast so aus, als würde er bestimmte Elemente der Wertkritik entdecken, und zwar fünfzehn Jahre im Voraus![16] Natürlich muss man ihm seinen unpräzisen und redundanten Stil vorwerfen, seine zahlreichen unbestimmten Begriffe, bei denen man nicht weiß, ob sie wörtlich oder als Metaphern zu verstehen sind, seine terminologischen Verwirrungen und Unklarheiten (wie der Begriff „Form/Ware“: Ist das die Marx’sche „Warenform“?), seine „wilden“ Entlehnungen von anderen Autoren und Theorien, seine übereilten Behauptungen, seine Tendenz, Argumentationen von einem Feld zum anderen im Modus einer nicht deklarierten Analogie zu transportieren, seine unzulässigen Verallgemeinerungen – worin besteht dieser „symbolische Austausch“, den er immer wieder als die eigentlich menschliche Dimension erwähnt, die viel umfassender sei als die „Produktion“? Er nennt praktisch nur den Potlatch – der jedoch selbst bei einer weiter gefassten Bedeutung nicht als universelle Praxis angesehen werden kann. Trotz dieser Mängel muss man dem Buch einige wirklich bemerkenswerte Einsichten zugestehen. Doch jedes Mal, wenn der Autor auf der „richtigen Spur“ ist – aus Sicht der Wertkritik, deren Vorreiter zu sein er die Ehre hätte haben können –, verliert er sie, und das auf absichtliche Weise. Im Grunde will er sie verlieren: Er will den Marxismus nicht erneuern, nicht einmal in der ketzerischsten Form, die möglich ist, und sucht stattdessen nach einer eleganten, neuartigen, originellen Art und Weise, den Marxismus zu verlassen, wie viele andere Menschen in jener Zeit, aber so, dass es den Anschein hat, als wäre er radikaler als alle anderen, anstatt mit eingezogenem Schwanz in den bürgerlichen Schoß zurückzukehren. Baudrillard ist nicht wie andere von einem Tag auf den anderen vom Maoismus zur vulgären Rechten übergegangen. Aber abgesehen von diesen historischen Umständen war er dem störenden Einfluss eines anderen magnetischen Pols ausgesetzt: der Semiotik. In diesem Buch kann man verfolgen, wie seine oft brillanten Analysen eines Marxismus, ja sogar von Marx selber, die immer auf dem Boden der politischen Ökonomie und des bürgerlichen Kults der „Produktion“ und vor allem der „Arbeit“ geblieben sind, auf Schritt und Tritt durch forcierte Parallelismen mit dem Paar Signifikant/Signifikat ins Abseits geführt werden. Dieses wird um jeden Preis in Analogie zum Paar Tauschwert/Gebrauchswert gesetzt. Im Übrigen wird der Unterschied zwischen Wert und Tauschwert nie berücksichtigt, obwohl Baudrillard die Randglossen zu Adolph Wagners „Lehrbuch der politischen Ökonomie“ von Marx zitiert, in denen dieser ihren Unterschied klar festlegt. Selbst die Bestimmung des Werts durch die abstrakte Seite der Arbeit scheint bei Baudrillard mit den gesellschaftlichen „Werten“ und anderen Interpretationen des Wortes Wert zu verschmelzen. Und seltsamerweise scheint er sogar zu ignorieren, dass der Gebrauchswert der Arbeitskraft darin besteht, Wert zu schaffen (vgl. Baudrillard 1985, S. 175). Die Sprache als einen „Austausch von Zeichen“ zu betrachten, der mit anderen Austauschmodalitäten, seien sie symbolisch oder „produktiv“, in Beziehung gesetzt werden muss, ist ein bloßes Spiel mit Worten. Die unterschiedlichsten Aspekte des Lebens auf „Codes“ zu reduzieren, entspricht der in dieser Epoche allgegenwärtigen Kybernetik freilich nur allzu gut.
Dies verleiht Le Miroir seinen bizarren Charakter: Der Zeitpunkt, an dem Baudrillard einer tiefgreifenden Untersuchung der eigentlichen Grundlagen des Marxismus am nächsten kommt, die in mancher Hinsicht über die anderen radikalen Ansätze der Zeit – Situationistische Internationale, Invariance, Frankfurter Schule – hinausgeht, ist auch der Moment, in dem er definitiv die Grundlagen für seine Theorie der Autonomie der Zeichen legt, mit der das radikale Denken bei ihm letztendlich auf ein frivoles Spiel reduziert wird, bei dem ein ’Pataphysiker[17] sein Publikum verspottet.
Die postmodernen und oft direkt absurden Schlussfolgerungen, zu denen Baudrillard wenige Jahre später gelangt, machen seinen Ausgangspunkt nicht unbedingt ungültig. Aber selbst diesen Ausgangspunkt entwickelte er von Anfang an in einer fehlerhaften Art und Weise, die oftmals verbale Übertreibungen und rhetorische Feuerwerke der konzeptionellen Strenge vorzieht. Sein rascher Übergang zum postmodernen Denken und sogar zur bloßen Rolle eines Hofnarren hat übrigens dazu beigetragen, jede marxistische Diskussion über seine Thesen aus jener Zeit zu verhindern. Als die Neue Marx-Lektüre und Krisis viel später die Kritik des Gebrauchswerts einleiteten, taten sie dies ohne Bezug auf Baudrillard (oder die Anthropologie im Allgemeinen). Baudrillard ist übrigens skeptisch gegenüber der Möglichkeit, den Historischen Materialismus zu „reformieren“, indem man die Basis auf nicht-ökonomische Faktoren wie „Bedürfnisse, Wissen, Sexualität“ ausweitet; er schlägt vielmehr vor, ihn ganz aufzugeben (ebd., S. 132f.).
Baudrillard ist nüchterner als Bataille und verwirrt den Leser nicht mit der Sonne, dem Wachstum von Kälbern (die Behandlung von Kälbern mit Wachstumshormonen gab es zu Batailles Zeit noch nicht...), dem Fressen und dem Aufkommen der sexuellen Fortpflanzung. Er verdankt ihm jedoch den Großteil seiner Ideen über den symbolischen Austausch. Er bleibt vorsichtig auf der gesellschaftlichen Ebene, weitet sie jedoch auf die Semiotik aus – was ihn schließlich in die Irre führt.
In Pour une critique de l'économie politique du signe kritisiert Baudrillard radikal und fast ohne Vorgänger das Konzept der „Grundbedürfnisse“, die unveräußerlich, natürlich und vorgesellschaftlich seien und den sekundären, sozialen und veräußerlichen Bedürfnissen gegenübergestellt werden. Er schreibt unter anderem:
„In Wirklichkeit gibt es das ‚anthropologische Existenzminimum‘ nicht: In allen Gesellschaften wird es residual durch die grundlegende Dringlichkeit eines Überschusses bestimmt: der Anteil Gottes, der Anteil des Opfers, die verschwenderische Verausgabung, der wirtschaftliche Profit. Es ist diese Luxusabgabe, die das Überlebensniveau negativ bestimmt und nicht umgekehrt (idealistische Fiktion). Überall gibt es eine Präzession des Gewinns, des Profits, des Opfers bei der Definition des gesellschaftlichen Reichtums, eine Präzession der ‚unnötigen‘ Verausgabung auf die funktionale Wirtschaft und die minimale Subsistenz. Es gab nie ‚Mangelgesellschaften‘ oder ‚Überflussgesellschaften‘, da sich die Ausgaben einer Gesellschaft ungeachtet des objektiven Umfangs der Ressourcen in Abhängigkeit von einem strukturellen Überschuss und einem ebenso strukturellen Mangel artikulieren. Ein enormer Überschuss kann neben dem schlimmsten Elend existieren. In jedem Fall koexistiert ein gewisser Überschuss mit einem gewissen Elend. Die Überlebensschwelle wird niemals von unten, sondern immer von oben bestimmt. Wenn es die sozialen Zwänge erfordern, gibt es schließlich überhaupt kein Überleben: Die Neugeborenen (oder Kriegsgefangenen) werden liquidiert“, man gibt alles für Feste aus und bleibt dabei in Armut. „Es ist unmöglich, ein abstraktes, ‚natürliches‘ Stadium des Mangels zu isolieren und absolut zu bestimmen, ‚was die Menschen zum Leben brauchen‘. Es kann jemandem gefallen, beim Pokern alles zu verlieren und seine Familie verhungern zu lassen“, und oft sind es die Armen, die am meisten verschwenden. „Das Überleben kann weit unter das Existenzminimum fallen, wenn die Produktion von Überschüssen es erfordert, und die Schwelle des Konsumzwangs kann weit über das absolut Notwendige hinausgehen, immer in Abhängigkeit von der Produktion des Mehrwerts: Das ist der Fall in unseren Gesellschaften, wo es niemandem frei steht, von rohen Wurzeln und frischem Wasser zu leben.“ (Baudrillard 1972, S. 84ff.)[18]
Baudrillard stellt hier die Frage nach den „Bedürfnissen“ oder den wahren Motiven oder, wenn man so will, nach den „Prioritäten“. Ein Beispiel: In mehreren Kulturen der Welt schwärmen die Menschen, vor allem die „Subalternen“, von Feuerwerkskörpern und Krachern. So geben unter den Indianern Mittelamerikas viele, sobald sie ein paar Pfennige übrig haben, diese lieber für den Erwerb von Feuerwerk aus als für zusätzliche Nahrung oder etwas „Nützliches“. Das ist für jede desarollista-Perspektive[19], sei sie kapitalistisch oder progressiv, unverständlich und kann (für die Rechte) nur durch den anhaltenden Archaismus oder gar Infantilismus dieser Bevölkerungsgruppen oder (für die Linke) durch eine aus der Kolonialisierung resultierende Verdummung erklärt werden. Dass man eine doppelte Ration Tortillas oder ein Fahrrad einer kurzen Knallershow vorziehen sollte, scheint jedem klar zu sein, außer den Betroffenen selbst. Grundbedürfnisse gegen sekundäre oder sogar „tertiäre“ Bedürfnisse. Wenn eine emanzipierte Gesellschaft der Zukunft, wie von allen Projektemachern geplant, demokratische Debatten über die Ausrichtung der Produktion einführt, kann man mit hübschen Diskussionen zwischen wohlmeinenden westlichen Linken und „verschwenderischen Wilden“ rechnen...
Kehren wir zu Baudrillard zurück. Er stellt die provokative, aber notwendige Frage nach der „Überwindung einer spontanen Sicht der Objekte in Bezug auf das Bedürfnis, der Annahme der Priorität ihres Gebrauchswerts“ (ebd., S. 7). Er behauptet laut und deutlich, dass, „da der Gebrauchswert oft nur die praktische Bürgschaft (oder sogar eine reine Rationalisierung) ist [...], eine echte Theorie der Gegenstände und des Verbrauchs nicht auf einer Theorie der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung, sondern auf einer Theorie der sozialen Leistung und ihrer Bedeutung beruhen wird“ (ebd., S. 8). In der Kula und im Potlatch finde der Verbrauch also statt, um soziale Beziehungen und Hierarchien zu etablieren. Die Logik des Potlatch sei in unseren Gesellschaften immer noch präsent (ebd., S. 25), aber es gehe nicht so sehr um das Streben nach sozialem Rang und Prestige, sondern um die Ebene „der unbewussten Strukturen, die die soziale Produktion von Unterschieden ordnen“ (ebd., S. 76). Baudrillard bleibt jedoch häufig im Rahmen einer Theorie, die den Konsum mit dem Streben nach sozialem Prestige verbindet. Er bezieht sich ausdrücklich auf Thorstein Veblens Theorie des „Geltungskonsums“: Der Konsum dient nicht dem persönlichen Genuss, sondern stellt eine soziale Institution dar. Gegenstände werden oft geschätzt, gerade weil sie „unnütz, sinnlos, überflüssig, dekorativ, nichtfunktional“ sind (ebd., S. 11). Diese Assoziation des Tauschwerts mit dem sozialen Prestige, das man „im Tausch“ erhält, ist, wie wir uns erinnern, ein Missverständnis des Marx’schen Begriffs des Tauschwerts. Dieser bezeichnet in Wahrheit die Waren, die man im Austausch gegen andere Waren auf der Grundlage ihres gemeinsamen Wertes erhält, der von der abstrakten Seite der Arbeit produziert wird. Diese Überbewertung des Konsums, um das Phänomen des Werts zu verstehen, war übrigens zu dieser Zeit weit verbreitet, selbst bei den besten Köpfen wie Adorno oder Debord. Außerdem will Baudrillard die „soziale Distinktion“ im Sinne Bourdieus zwanghaft mit der „Differenz“ als Grundlage der Zeichenlogik verknüpfen (und bezieht sich dabei auf Saussure). Er bemerkt, dass in den von der Ethnologie untersuchten Gesellschaften die Struktur des Tauschs den Individuen vorausgeht, aber er schließt die „Wörter“ zwischen den getauschten Objekten mit ein und schafft eine Parallele zur Sprache, die dem individuellen Bedürfnis zu sprechen vorausgeht (ebd., S. 76). Baudrillards anregendste Bemerkungen betreffen das „geschenkte Objekt“ – das weder Tausch- noch Gebrauchswert, sondern symbolischen Tauschwert hat –, welches vormoderne Gesellschaften kennzeichnet, aber selbst in zeitgenössischen Gesellschaften weiter existiert (ebd., S. 66).
Seine Kritik am Gebrauchswert geht weit über die Diskussionen unter kritischen Marxisten hinaus, wie z.B. Ágnes Hellers fast zeitgleiches Buch über Bedürfnisse (vgl. Heller 2022/1976). Er schreibt, dass „jede Gruppe oder jedes Individuum, noch bevor sie/es ihr/sein Überleben sichern kann, in der lebenswichtigen Notwendigkeit steht, sich als Sinn in einem System von Austausch und Beziehungen zu produzieren. Gleichzeitig mit der Produktion von Gütern besteht die Dringlichkeit, Bedeutungen, Sinn zu produzieren, das Eine-für-den-Anderen existieren zu lassen, bevor das Eine und das Andere für sich selbst existieren.“ (Baudrillard 1972, S. 76) Er hat insofern Recht, als es für die sogenannten „primitiven“ Gesellschaften ein absolut vorrangiges Bedürfnis ist, Klassifikationen der Wirklichkeit vorzunehmen und überhaupt eine Ordnung in das Chaos der sichtbaren Welt zu bringen. Das ist manchmal sogar notwendiger als zu essen. Die Anthropologie von Lévi-Strauss widmet sich ausführlich dieser Notwendigkeit des „wilden Denkens“. Baudrillard reduziert sie jedoch auf die „differentielle Struktur“ zwischen Zeichen. Bedürfnisse und Konsum wären nur ein Vorwand, eine nachträgliche Füllung, eine Rationalisierung der „grundlegenden strukturellen Mechanismen“ des „Bedeutungs- und Wertecodes“ (ebd., S. 77). Der Wert eines Objekts im Tausch wäre also weder durch seinen Gebrauchswert noch durch seinen Tauschwert gegeben, sondern durch die „differentielle Beziehung zum anderen, die er herstellt“ (ebd., S. 81): Der kurze Rock hat nur im Gegensatz zum langen Rock einen Sinn.
Für Baudrillard ist der Mensch nicht zuerst da, mit seinen Bedürfnissen, die nur danach verlangen, befriedigt werden zu können, und die der Kapitalismus entfremdet (ebd., S. 92) – die Bedürfnisse und der Konsum werden vom Wirtschaftssystem und nach dessen Anforderungen geschaffen und angeregt. Das Individuum mit seiner Moral und seinem Gewissen ist nur das von der Ökonomie gedachte Subjekt (ebd., S. 159). Der Warenfetischismus, ein Konzept, auf das sich Baudrillard häufig bezieht, schließt seiner Meinung nach sowohl die Fetischisierung des Gebrauchs als auch die des Tauschs ein (wie bereits erwähnt, bleibt die Bestimmung des Tauschwerts durch die abstrakte Seite der Arbeit bei Baudrillard sehr vage). Indem er sagt, er wolle radikaler sein als Marx selbst, kritisiert er die Vorstellung, man könne die „einfache Beziehung des Menschen zu seiner Arbeit und seinen Produkten“ wiederfinden, nachdem man sich von der „Warenwirtschaft, dem Geld und dem Tauschwert“ befreit hat (ebd., S. 155). Der Gebrauchswertfetischismus gehe sogar noch tiefer, sei „mysteriöser“ als der Tauschwertfetischismus, weil er sich als „natürlich“ darstelle. Marx, der von Robinson und seiner Insel spricht, behauptet, dass der Gebrauchswert dort „transparent“ sei. Für Baudrillard ist das jedoch bereits ein bürgerlicher Mythos, der den Menschen als Produktivkraft und als Mensch mit Bedürfnissen begreift (ebd., S. 171). Die „strenge Analyse des Fetischismus“ beziehe sich nur auf den Tauschwert, während man sich jetzt vom Gebrauchswert befreien müsse. Für Marxisten entziehe sich „der Gebrauchswert als solcher der historischen Klassenbestimmung“, sei nicht verdeckt, sondern offensichtlich und natürlich. Allerdings ist der Gebrauchswert laut Baudrillard ein soziales Verhältnis wie der Tauschwert und beruht immer auf Äquivalenz. „Der Code des Gebrauchswerts ist auch ein Code der abstrakten Äquivalenz von Objekten und Subjekten (von jedem von ihnen und von den beiden Ensembles in ihrer Beziehung).“ (ebd., S. 156) Marx irrt sich, sagt Baudrillard, wenn er die Unvergleichbarkeit der Gebrauchswerte postuliere. Um handelbar zu sein, „müssen die Produkte auch in Begriffen der Nützlichkeit gedacht und rationalisiert werden. Wo sie das nicht sind (im primitiven symbolischen Tausch), haben sie auch keinen Tauschwert. Die Reduktion auf den Status des Nutzens ist die Grundlage der (ökonomischen) Austauschbarkeit [...] Die Logik der Äquivalenz ist bereits ganz im Nutzen enthalten“, selbst wenn sie nichts „Quantitatives im arithmetischen Sinne“ ist (ebd.).[20] Nur die Objekte des symbolischen Austauschs bleiben singulär, persönlich, unvergleichbar. Die Form/Ware (erinnern wir uns, dass Baudrillard immer diese zweideutige Schreibweise verwendet) ist nur die Entwicklung des Nutzens als allgemeines Äquivalent. Dieser ist ein soziales Verhältnis, nicht ein Verhältnis „vom Bedürfnis des Menschen zu einer nützlichen Eigenschaft des Objekts“ (Baudrillard 1972, S. 157). Der Gebrauchswert ist nur der Ausdruck dieser Metaphysik der Nützlichkeit. Baudrillard kritisiert daher das Äquivalenzprinzip selbst, das im Gebrauchswert enthalten ist, sowie die Unterscheidung zwischen einer „guten“ und einer „schlechten“ Seite des Werts.
Diese Kritik des Gebrauchswerts ist einer der innovativsten Punkte in Baudrillards Theorie. Wenn er schreibt: „Die gesamte Anthropologie des ‚primitiven‘ Tausches zwingt uns, die natürliche Evidenz des Nutzens zu durchbrechen und die soziale und historische Genese des Gebrauchswerts neu zu betrachten, wie Marx es mit dem Tauschwert getan hat“ (Baudrillard 1985, S. 45, Anm. 9), der behauptete, dass der Gebrauchswert nur in Abhängigkeit vom (Tausch-)Wert existiert, so findet man eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den Thesen von Kurz über die Funktion des Gebrauchswerts für die Reproduktion des Kapitals.
In Le Miroir kritisiert Baudrillard sehr deutlich die Projektion moderner ökonomischer Kategorien auf vormoderne Gesellschaften, die auch von den Marxisten vorgenommen wurde: „Die Arbeit gehört definitiv zur Sphäre des Werts. Deshalb muss sie bei Marx (ebenso wie die Begriffe Produktion, Produktivkraft usw.) als ideologischer Begriff einer radikalen Kritik unterzogen werden. Es ist also nicht der Moment, sie an anderer Stelle mit all ihren Zweideutigkeiten als revolutionären Begriff zu verallgemeinern.“ (ebd., S. 42)
Im Zentrum dieser missbräuchlichen Projektion stünde der Begriff der „Produktion“: „Wenn man die Hypothese aufstellt, dass es buchstäblich nie eine andere Produktionsweise gegeben hat und geben wird als die von der kapitalistischen politischen Ökonomie regierte – wobei dieser Begriff nur im Hinblick auf die Wirtschaftsformation, die ihn hervorbringt (oder sogar auf die Theorie, die diese Wirtschaftsformation analysiert), einen Sinn hat –, dann ist die Verallgemeinerung, selbst die ‚dialektische‘, dieses Begriffs nichts anderes als die ideologische Universalisierung der Postulate dieses Systems.“ (ebd., S. 31)
Baudrillard betont schon lange vor der Wertkritik, dass Marx einer Ontologisierung der Arbeit anhängt, die keineswegs selbstverständlich ist:
„Arbeit und Produktion – noch vor dem Stadium des Tauschwerts und der Äquivalenz in abstrakter gesellschaftlicher Arbeitszeit – stellen bereits eine unerhörte Abstraktion, Reduktion und Rationalisierung im Vergleich zum Reichtum des symbolischen Austauschs dar. [...] Der wahre Schnitt verläuft nicht zwischen ‚abstrakter‘ und ‚konkreter‘ Arbeit, sondern zwischen dem symbolischen Tausch und der Arbeit (der Produktion, dem Ökonomischen). Die abstrakte gesellschaftliche Form von Arbeit und Tausch ist nur die vollendete, von der kapitalistischen politischen Ökonomie überdeterminierte Form eines längst inaugurierten Schemas der rationalen Verwertung, der Produktion, die mit der gesamten symbolischen Organisation des Tausches bricht.“ (ebd., S. 44f.)
Damit eröffnet sich ein wichtiger Ansatzpunkt für Reflexionen: Bisher hat die Wertkritik nur sehr wenig Aufmerksamkeit darauf verwendet, zu bestimmen oder zu definieren, was die menschlichen Tätigkeiten vor dem Aufkommen der Arbeit waren. Sie geht mehr oder weniger davon aus, dass jede Tätigkeit spezifisch für ihren Zweck und durch diesen Zweck bestimmt und daher mit anderen unvergleichbar war. Aber bleibt man dann nicht immer noch im utilitaristischen Rahmen des Bedürfnisses bzw. Wunsches und der angemessenen Anstrengung zu dessen Befriedigung gefangen? Schlägt man nicht vor, wie es der traditionelle Marxismus tut, die „wahre“ Nützlichkeit, die wahrhaftige Rationalität von Mitteln und Zwecken wiederzufinden, die nicht durch entfremdete Arbeit und Fetischismus verfälscht wurde? Wie sind in dieser Perspektive das Opfer, die Verausgabung und die Gabe ohne Gegenleistung aufzufassen? Sind sie als andere Formen des Fetischismus zu betrachten, die letztlich genauso falsch sind wie der moderne Warenfetischismus, und somit als ein weiterer Ausdruck der „Vorgeschichte“ des Menschen, von der Marx sprach? Beginnt die wahre Geschichte des Menschen erst nach dem Ende des Warenfetischismus, vorausgesetzt, es folgt weder eine Rückkehr zu anderen Formen des Fetischismus noch eine Regression zum Opfer oder zu der von Symbolen zusammengehaltenen Gemeinschaft oder zum Mythos (was die faschistische Antwort auf die Krise der Moderne darstellt)? Baudrillard scheint sich vage eine Rückkehr zum symbolischen Tausch vorzustellen und lobt dessen Fortleben in der heutigen Welt. Wie geht die Wertkritik mit diesem Problem um?
Die Marxisten haben das Gewicht der Religion fast immer unterschätzt und sie zu bloßem „Opium des Volks“ oder „Schwindel“ degradiert. Oder sie suchten das Bündnis mit den „progressiven“ Elementen der etablierten Religionen, wie etwa der Befreiungstheologie – wobei sie diese religiösen Strömungen in der Regel selbst „materialistisch“ interpretierten („Verteidigung der Armen“ usw.).[21] Die autonome Kraft der Religion bleibt missverstanden, wie im Fall der iranischen Revolution, des Islamismus im Allgemeinen, der Evangelikalen, der jüdischen Siedlung im Westjordanland und vielleicht auch der Sanfedisten, der Chouans im „Aufstand der Vendée“, der Canudos etc. Sie wird gerade noch für die entferntesten Epochen zugelassen, wie den Millenarismus des Mittelalters, den großen Bauernkrieg in Deutschland oder die Englische Revolution, die von Guy Debord charakterisiert wurde als „revolutionärer Klassenkampf, der zum letzten Mal die Sprache der Religion gebraucht“ (Debord 1978/1967, § 138). Die revolutionären Bewegungen haben diese Verkennung des Gewichts der Religion oft teuer bezahlt. Das religiöse Gefühl ist nicht nur – auch wenn es das natürlich sein kann – die Verkleidung, „hinter“ der die „wahren“ Motivationen zu suchen sind. Die Zerstörung des Weltbildes der Indianer scheint mindestens ebenso sehr wie direkte Gewalt zu ihrer Quasi-Ausrottung im 16. Jahrhundert beigetragen zu haben, indem sie ihren Lebenswillen und ihren Widerstand unterminierte. Clément Homs erinnert daran, „dass man, bevor man essen kann, den dem Gott geweihten Anteil abgeben muss, dass man, bevor man wohnen kann, den Tempel bauen muss usw. Alle Überreste der prähistorischen, griechischen und römischen Gesellschaften bis hin zu den Kathedralen und Moscheen zeugen von dieser politisch-religiösen Beziehung, die die Grundlage vieler vorkapitalistischer Gesellschaften bildet.“ (Homs 2012, S. 175)
Vielleicht ist die Unfähigkeit der Revolutionäre, dieses unsichtbare und „ideelle“ Phänomen zu verstehen, eine Parallele zum Unverständnis des Phänomens des Warenfetischismus – ich glaube nur, was ich sehen kann?
Es ist laut Baudrillard ohnehin fragwürdig, historische Gesellschaften und Epochen nach ihrer „Produktionsweise“ (Jäger und Sammler, „häusliche Produktion“ usw.) zu klassifizieren und dabei vorauszusetzen, dass der Rest – die Modalitäten des symbolischen Austauschs, würde er sagen – sich daraus wie die Konsequenz aus einer Prämisse ergibt. Die einzige „Produktionsweise“ in der Geschichte ist die unsere; in anderen Gesellschaften ist die Ökonomie nicht „in letzter Instanz bestimmend“. So „ist die Produktivität nicht zuerst als Gattungsdimension da, als menschlicher und sozialer Kern allen Reichtums, den es aus dem Gestein der kapitalistischen Produktionsverhältnisse herauszulösen gilt (die ewige empiristische Illusion), man muss dies alles umkehren und sehen, dass es die Entwicklung der abstrakten und verallgemeinerten Produktivität (die entwickelte Form der politischen Ökonomie) ist, die den Begriff der Produktion selbst als Bewegung und Gattungsziel des Menschen (oder auch den Begriff des Menschen als Produzenten) erscheinen lässt.“ (Baudrillard 1985, S. 28) Diese Zentralität der Produktion, die die moderne politische Ökonomie behauptet und die sie auf primitive Gesellschaften zurückprojiziert, beruht auf der Annahme, dass „Knappheit“ oder „Mangel“ die ewige Bedingung der Menschheit ist, bis ihm der Einsatz von Technologie den Zugang zur „Gesellschaft des Überflusses“ ermöglicht.[22]
In diesem Zusammenhang zitiert Baudrillard (ebd., S. 62) einen Artikel von Marshall Sahlins aus dem Jahr 1968, in dem dieser die Ergebnisse seines späteren Buches Stone Age Economics (1974) vorwegnimmt. Darin zeigt Sahlins, dass primitive Gesellschaften nicht in ständiger Not leben und dass das, was dem Westen als „Armut“ erscheint, in der Regel die Folge einer kulturellen Entscheidung ist: nur das Nötigste zu
arbeiten und einen Teil der Ressourcen ungenutzt zu lassen.[23] In seinem nächsten und stärker theoretischen Buch Culture and Practical Reason (1976) versucht Sahlins – manchmal unter Berufung auf Baudrillard – die Abkehr von der Anwendung „wirtschaftlicher“ Kategorien auf primitive Gesellschaften noch weiter zu treiben. Er erinnert daran, dass es niemals eine rein „natürliche“ Beziehung des Menschen zur Natur im Sinne einer einfachen Anpassung an die Umwelt gibt, die kulturelle Antworten hervorrufen würde: Jede Beziehung zur Natur sei kulturell kodifiziert und setze daher eine „Wahl“ voraus, auch wenn diese unbewusst und kollektiv sei. Die Natur habe immer eine kulturelle Bedeutung, sie sei nie eine rein empirische Tatsache (vgl. Sahlins 1980, S. 148). In Stammeskulturen bestimme das kulturelle Verständnis (wie die Verwandtschaft) das Handeln und nicht umgekehrt (ebd., S. 33). Könnte das auch für die bürgerliche Gesellschaft gelten?
Laut Sahlins werden für Marx sowohl die Produktion als auch der Konsum (und die Bedürfnisse, die durch ihn befriedigt werden) von den natürlichen Umständen und den technologischen und praktischen Antworten, die sie mit sich bringen, bestimmt. Nur ihre Organisation sei gesellschaftlich. Er schreibt Marx eine Reduktion der Produktivkräfte auf die Technologie zu, die mehr oder weniger gut Bedürfnisse befriedigen, welche sich historisch ändern können, aber einen natürlichen Charakter behalten. Sahlins stellt die Übereinstimmung des Historischen Materialismus mit dem bürgerlichen Utilitarismus fest, aber auch mit dem Funktionalismus in der Anthropologie, wie dem von Bronisław Malinowski: Selbst die scheinbar irrationalsten Aspekte von Kulturen, wie Tabus und Magie, müssen letztlich einem praktischen Interesse entsprechen, sei es der „Ökonomismus des rationalen Individuums“, also die Berechnung von Mitteln und Zwecken (innere Notwendigkeit) oder die Anpassung an die Umwelt (äußere Notwendigkeit) (ebd., S. 110). Sahlins erinnert daran, dass bereits Durkheim es ablehnte, die Ökonomie auf die Psychologie des berechnenden Menschen, also des abstrakten und ewigen Individuums, zurückzuführen (ebd., S. 139f.), und beobachtete, dass bei den Primitiven die soziale Organisation (des Clans usw.) auf die Natur projiziert wird, anstatt sich von ihr abzuleiten (ebd., S. 149).
Wenn Sahlins schreibt: „Entweder muss die kulturelle Ordnung als die Kodifikation des tatsächlichen intentionalen und pragmatischen Handelns des Menschen aufgefasst werden, oder es muss umgekehrt das Handeln des Menschen in der Welt als durch ein kulturelles Projekt vermittelt verstanden werden, das sowohl die praktische Erfahrung, die gewohnheitsmäßige Praxis als auch die Beziehung zwischen beiden ordnet“, dann meint er mit „kulturellem Projekt“ Strukturen wie Verwandtschaft oder Religion, die das praktische Leben und die materielle Reproduktion regeln. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Ansätzen ist klar: Entweder „Kultur ist ein instrumentelles System“ oder „das Instrumentelle ist Systemen anderer Art unterworfen“ – ein Kompromiss, ein Mittelweg ist nicht möglich (ebd., S. 77f.).
Sahlins findet seinen Ansatz jedoch in einem Teil von Marx’ eigenem Werk wieder: Dieser erinnerte oft daran, dass die Technologie und ihre Entwicklung keine letztgültige Erklärung darstellen, weil die Technologie selbst der Kultur untergeordnet sei. So seien Maschinen nur unter bestimmten Bedingungen Kapital (ebd., S. 164). Ebenso sind für Marx Bedürfnisse gesellschaftlichen, nicht natürlichen Ursprungs, und „das Einzelinteresse ist selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse“ (Zitat aus den Grundrissen, ebd., S. 170f.). Dies entspricht, so Sahlins, voll und ganz den Ansätzen der zeitgenössischen Anthropologie. Bei Marx sei ein kulturelles Moment vorhanden, das eine Folge der Vorstellung einer humanisierten Natur sei, die vor allem in den Manuskripten von 1844 ausgearbeitet wurde. Allerdings finde sich bei ihm (in allen Phasen, in der Deutschen Ideologie wie im Kapital) auch ein „natürliches Moment“, in dem die „materielle Konstitution der gesellschaftlichen Logik“ Vorrang vor der „gesellschaftlichen Konstitution der materiellen Logik“ habe (ebd., S. 175f.). Er beschränke dann „das Symbol auf die ‚Ideologie‘ und ermöglicht so der Handlung, in die Herrschaft des Pragmatischen zu gleiten“ (ebd., S. 178). Selbst die Sprache habe für Marx nur eine utilitaristische Funktion, wie in Malinowskis Funktionalismus, weil „ihre Klassifikationen Übersetzungen der von der Praxis aufgestellten utilitaristischen Unterscheidungen sind“ (ebd., S. 180).[24] Die „materialistische Geschichtsauffassung“ erkläre nicht den Ursprung der Bedürfnisse und Gebrauchswerte und deren historische Variabilität (ebd., S. 189), ebenso bleibe die Bestimmung des „moralischen und historischen Elements“, das nach Marx in den Wert der Arbeitskraft eingeht, sehr vage. Marx unterschätze die Rolle der Vorstellungskraft als Motor der Produktion (Kultur), indem er sich auf die bloße Wahrnehmung eines Bedürfnisses beschränke (was in den Bereich der Natur gehöre). Die Reduktion der sozialen Beziehungen auf die Ökonomie bedeute ihre Reduktion auf die Arbeit und ihre „instrumentelle Vernunft“ im Umgang mit der Natur, und damit auf Technologie.[25]
Sahlins kritisiert den Versuch einiger Anthropologen, „eine natürliche Neigung zum Wettbewerb um Prestige anzunehmen, die sich nur inhaltlich von der rationalisierenden Prämisse der klassischen politischen Ökonomie unterscheidet, und ihr die Rolle einer allgemeinen Triebkraft in menschlichen Angelegenheiten zuzugestehen“ (ebd., S. 123, Anm. 1). Er weist auch darauf hin, dass ein Teil der Strukturalisten das „Bedürfnis“, Klassifikationen zu erstellen, als ebenso notwendig erachtet wie das Bedürfnis zu essen: Damit bleiben sie aber, wie Sahlins einwendet, im funktionalistischen Rahmen, anstatt darin eine entscheidende Bedingung für Kultur zu sehen (ebd., S. 186). Für ihn sind weder das Streben nach Prestige noch der Wunsch, zu klassifizieren, als ontologische Bedürfnisse zu betrachten, die alle kulturellen Entscheidungen erklären.
„Die materielle Effizienz, das Praktische, existiert nicht in einem absoluten Sinn, sondern nur in dem Maße und in den Formen, die von einer kulturellen Ordnung projiziert werden [...]. Der Historische Materialismus setzt als universelle Logik die spezifische Logik einer bestimmten Kultur voraus.“ (ebd., S. 208f.) Marx selbst lehrt uns laut Sahlins, dass Menschen niemals als „biologische Wesen in einem Universum physischer Notwendigkeiten“ produzieren. „Menschen produzieren Objekte für bestimmte soziale Subjekte, indem sie Subjekte durch soziale Objekte reproduzieren“. (ebd., S. 211) „Der Gebrauchswert ist nicht weniger symbolisch oder weniger willkürlich als der Tauschwert“ (ebd., S. 214) und ergibt sich nicht aus den physischen Eigenschaften des Objekts.[26] Es habe kulturelle Gründe, dass in Amerika nicht der Hund, sondern das Rind gegessen wird, und dass Frauen Röcke und Männer Hosen tragen. Die Identifikation von Rindfleisch mit Männlichkeit und Reichtum habe enorme Konsequenzen für die Wirtschaft, aber auch für die Landschaft usw. Dies ist ein sehr gutes Beispiel, und heute noch gültiger als 1976. Es ist bekannt, dass die Abholzung des Amazonas weitgehend dazu dient, den enormen Rindfleischkonsum in den westlichen Ländern, insbesondere in den USA, zu ermöglichen (120 kg pro Person und Jahr, während es in Frankreich etwa 85 kg sind). Dieser auch für die globale Erwärmung bedeutende Faktor hat keine materiellen oder praktischen Ursachen, sondern hängt ausschließlich von den kulturellen Ernährungsentscheidungen bestimmter Bevölkerungsgruppen ab. Wenn die Menschheit die gleichen Proteine in Form von Bohnen zu sich nehmen würde, würde sich physiologisch und in Bezug auf das „Überleben“ wenig bis gar nichts ändern. Die Bevorzugung von Fleisch, in diesem Fall von rotem Fleisch, ist eine „willkürliche“ Entscheidung, wie die meisten kulturellen Entscheidungen. Aber die Konsequenzen sind materiell![27] Sahlins fragt sich auch, warum das Steak teurer ist als die Zunge des Rindes, obwohl in einem Rind mehr davon enthalten ist (ebd., S. 222). Es ist also nicht die Seltenheit, die den Ausschlag gibt, sondern eine kulturelle Entscheidung: ihr Wert für die soziale Differenzierung. Die Zunge und die Eingeweide sind für die Armen. In diesem Zusammenhang betont er auch das Fehlen eines praktischen Aspekts bei der Kleidung[28] (die einen sehr wichtigen Teil der Wirtschaft darstellt), welche eher im Rahmen eines totemistischen Klassifikationssystems zu interpretieren seien.
„Die materielle Aneignung der Natur, die wir ‚Produktion‘ nennen, ist eine Folge ihrer symbolischen Aneignung“ (ebd., S. 246) und „keine funktionale Erklärung ist für sich allein hinreichend, denn der funktionale Wert steht immer in Relation zu einem bestimmten kulturellen Schema“ (ebd., S. 256). Materielle Effekte existieren natürlich, aber sie hängen von ihrem kulturellen Umfeld ab. „Das praktische Interesse der Menschen an der Produktion wird symbolisch konstituiert“ (ebd., S. 257) und „die materiellen Kräfte werden zu solchen unter der Ägide der Kultur“ (ebd., S. 259). „In der westlichen Kultur ist die Wirtschaft der Hauptort der symbolischen Produktion“: So reflektiert die Kleidung dort die wirtschaftlichen Beziehungen (ebd., S. 262), wie es anderswo die Religion oder die Verwandtschaft ist, die ihre Struktur den anderen Lebensbereichen aufzwingen. Die symbolische Struktur wird hinter dem Rücken der Teilnehmer fortgeschrieben, die nur den Gewinn (als Produzent) oder den Erwerb (als Konsument) sehen (ebd., S. 265). Es handelt sich um eine unbewusste Struktur, bei der die materielle Seite die symbolische Seite verdeckt, ganz im Gegensatz zu dem, was der Historische Materialismus behauptet: „Alles im Kapitalismus hat sich verschworen, die symbolische Ordnung des Systems zu verbergen.“ (ebd., S. 273)
In Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft wurde Sahlins von Moishe Postone entgegengehalten, dass „die ‚Kultur‘, die letztlich die Produktion vermittelt, […] im Kapitalismus deshalb radikal von der anderer Gesellschaften verschieden [ist], weil sie selbst durch Arbeit konstituiert wird“ (Postone 2018, S. 284), mit der Folge, dass „Produktion um der Produktion willen betrieben wird statt zum Zwecke des Konsums“ (ebd., S. 284, Anm. 44). Es ist zutreffend, dass die Rolle der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft und ihre historische Einzigartigkeit in Sahlins’ Theorie keinen angemessenen Platz finden und dass er den Konsum und seine Zentralität zu einer Kategorie zu machen scheint, die gleichermaßen auf den Kapitalismus und vormoderne Gesellschaften anwendbar ist. Im Fall der Fleischproduktion gibt es jedoch keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Ansätzen: Es ist die Notwendigkeit einer tautologischen Akkumulation von Wert – Produktion um der Produktion willen –, die die Rindfleischproduktion bis zu einem Punkt hat explodieren lassen, an dem sie zu einem gewichtigen Faktor der sich abzeichnenden Klimakatastrophe wird. Die Tatsache, dass dieser Produktivismus auf Rindfleisch oder Getreide[29] angewendet wird und nicht auf Quinoa oder Meerschweinchen (die in Peru gegessen werden), ist jedoch eine kulturelle Entscheidung, die nicht durch die produktivistische Logik selbst erklärt werden kann.
Was tun mit dem Heiligen?
Es ist bekannt, dass Marx an einigen Stellen in seinem Werk den transhistorischen Charakter der Arbeit bezweifelt, ihn aber im Allgemeinen voraussetzt. Eine Infragestellung des Gebrauchswerts und des Bedürfnisses wäre bei ihm noch schwerer zu finden. Er schreibt im Kapital: „Die Produktion von Gebrauchswerten oder Gütern ändert ihre allgemeine Natur nicht dadurch, daß sie für den Kapitalisten und unter seiner Kontrolle vorgeht. Der Arbeitsprozeß ist daher zunächst unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form zu betrachten.“ (Marx 1986, S. 192) Wenn er sagt: „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen“ (ebd., S. 194f.), scheint er Bedürfnisse als nicht historischen Schwankungen unterworfen zu betrachten. Auch sein Begriff des Gebrauchswerts ist klar:
„Der Arbeitsprozeß, wie wir ihn in seinen einfachen und abstrakten Momenten dargestellt haben, ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam. Wir hatten daher nicht nötig, den Arbeiter im Verhältnis zu andren Arbeitern darzustellen. Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite genügten. So wenig man dem Weizen anschmeckt, wer ihn gebaut hat, so wenig sieht man diesem Prozeß an, unter welchen Bedingungen er vorgeht, ob unter der brutalen Peitsche des Sklavenaufsehers oder unter dem ängstlichen Auge des Kapitalisten […].“ (ebd., S. 198f.)
Heute scheint es zumindest zweifelhaft, dass sich der Geschmack von Weizen nicht ändert, je nachdem, wer ihn anbaut...
In Bezug auf die Schwierigkeiten, die selbst Historiker wie Karl Polanyi hatten, um aus dem „substantivistischen“ Paradigma auszubrechen – demzufolge eine gewisse ökonomische Dimension in allen Gesellschaften vorhanden sei, wenn auch in „eingebettetem“ Zustand, wie ein „Ei, das bereit ist zu schlüpfen“ oder wie ein Goldkorn in einem Gestein, – leistet der Artikel Critique du substantivisme économique de Karl Polanyi von Clément Homs einen wichtigen Beitrag. Darin schreibt er:
„Für diese Theoretisierung geht das Individuum in dem, was seine erste Beziehung zu den Dingen und seinen ‚Bedürfnissen‘ wäre, dem gesellschaftlichen Leben voraus. Die Gesellschaft wird in jedem Moment auf utilitaristische Funktionen zurückgeworfen, die durch das Prisma der vorgesellschaftlichen Beziehung des Individuums zu den Dingen und seinen ‚Bedürfnissen‘ betrachtet werden. In dieser naturalisierenden und instrumentellen Sicht des Sozialen wird die Gesellschaft permanent auf eine utilitaristische Organisation reduziert, auf ein einfaches Mittel, das von der individuellen präsozialen Dimension bestimmt wird und zwangsläufig historisch und kulturell invariant ist. Hier ist das gesellschaftliche Leben nicht etwas, das in einen eigenen und spezifischen Bereich fällt, es ist keine Manifestation des Lebens der Gruppe als Gruppe. [...] Das Individuum existiere in einer ersten und fundamentalen Beziehung zu den Dingen (unter den Begriffen ‚Bedürfnisse‘, ‚utilitaristische Beziehungen‘, ‚Produktionsweise‘, ‚Arbeit‘, ‚Arbeitsteilung‘ usw.) auf asoziale und ahistorische Weise. Diese Idee, die das Individuum vor der Gesellschaft existieren lässt, indem sie vom Individuum ausgeht, das allein für seine individuelle Natur gegenüber den Dingen verantwortlich ist, eliminiert nicht nur jede Autonomie der ‚Gesellschaft‘, sondern auch die eigenständige Präsenz von Phänomenen, die mit der Konstitution und der Geschichte menschlicher Gruppierungen als menschliche Gruppierungen zusammenhängen. Was dabei vergessen wird, ist eben die Existenz der Individuen als unmittelbar gesellschaftliche Individuen.“ (Homs 2012, S. 186ff.)
Diskurse über Bedürfnisse würden häufig die Form eines Gegensatzes annehmen zwischen jenen, die nur von „Bedürfnissen“ sprechen und diese im Extremfall auf die Kalorien reduzieren, welche den Bürgern eines Staates zur Verfügung gestellt werden (ebd., S. 174)[30], und jenen, die auch die „Wünsche“ ansprechen, die unendlich umfassender, subjektiver und stärker dem historischen und sozialen Wandel unterworfen seien. Ein weiterer gängiger Gegensatz ist der zwischen „echten“ (grundlegenden) und „falschen“ (durch Werbung usw. geweckten) Bedürfnissen. Eine Folge davon war der Versuch im 20. Jahrhundert, das „Existenzminimum“ zu bestimmen, d.h. das Niveau, auf das die Bedürfnisse eines Menschen reduziert werden können. Theoretisch sollte es angeben, was der Staat oder die Gesellschaft verpflichtet wäre, jedem Individuum zur Verfügung zu stellen, um ein erträgliches Leben zu führen. In der Praxis ist es zu dem geworden, womit sich der Einzelne oft begnügen muss. Der zweite Kongress für moderne Architektur, der 1929 unter der Leitung von Le Corbusier in Frankfurt am Main stattfand, hatte das Existenzminimum zum Thema, das Ernst May in derselben Stadt in Form von winzigen, aber „funktionalen“ Volkswohnungen realisierte.[31]
Bataille und seine Nachfolger, einschließlich der Situationisten, haben die „agonistische“ Seite (die bei Mauss nur ein Aspekt unter vielen ist) als Reaktion auf den vorherrschenden Utilitarismus vielleicht übertrieben und idealisiert. Im Gegensatz dazu den ganzen Fokus auf die „Kreativität“ zu legen, wie es David Graeber (2005) in seinem bereits zitierten Beitrag Fetishism as social creativity oder auch Cornelius Castoriadis mit seiner Betonung der Rolle des Symbolischen in der kulturellen Konstruktion tut, kann dazu führen, dass die agonistische Seite unterbewertet wird.
Sind die unangenehmen Seiten des Menschen, wie Gewalt und der Wunsch zu dominieren, die Folge der versäumten Befriedigung „natürlicher“, „gesunder“ Bedürfnisse? Oder sind sie manchmal selbst „Bedürfnisse“? Reicht es aus, die natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen, um die Entstehung unerwünschter Bedürfnisse zu verhindern, die somit einen sekundären, abgeleiteten Charakter hätten? In den 1980er Jahren antworteten zwei englische Hooligans, die wegen ihrer Gewalttätigkeiten verhaftet worden waren, auf die Frage von Soziologen, ob ihre Gewalttätigkeiten nicht eine Folge der Arbeitslosigkeit seien: „Nein, überhaupt nicht! Uns liegt die Gewalt im Blut!“. Was paradoxerweise sogar wie ein Anspruch auf Würde gegenüber dem Paternalismus wohlwollender Experten klingt, die besser als die Menschen selbst wissen, was diese „wirklich“ wollen. Das ist die ewige Illusion der Linken, für die es genügte, jedem Arbeitslosen eine Sozialwohnung und einen Job zum Mindestlohn oder etwas mehr zu geben, damit alle glücklich sind. Und wenn die Jugendlichen das Leben ihrer Vorfahren vermissen, die auf Kreuzzüge oder in den Dschihad gezogen sind? Once were warriors („Wir waren Krieger“) ist der Titel eines Films über das elende Leben der Maori im heutigen Neuseeland.[32] Und hat man nicht manchmal den Eindruck, dass manche Menschen zum Beispiel das „Bedürfnis“ haben, sich mit ihrem Motorrad umzubringen, dass sie nicht aufhören, das Schicksal herauszufordern, bis es sich erfüllt? Handelt es sich dabei zwangsläufig um verzweifelte Menschen, die mit dem Leben abschließen wollen? Oder ist das vielleicht das „richtige Leben“ für sie?
Man käme dann zu der Konsequenz, dass die Etablierung einer Gesellschaft, in der alle „vernünftigen“ Bedürfnisse befriedigt werden, keineswegs die Garantie für eine pazifizierte Gesellschaft bieten würde. Wie Raoul Vaneigem sagte: „Wir wollen keine Welt, in der die Garantie, nicht zu verhungern, gegen das Risiko getauscht wird, an Langeweile zu sterben“ und „Eine Gesellschaft, die jedes Abenteuer abschafft, macht die Abschaffung dieser Gesellschaft zum einzig möglichen Abenteuer“ (Vaneigem 1967, S. 5) – Sätze, die auch oft an Hauswänden zu lesen waren.
Aus all diesen Überlegungen ergeben sich einige Fragen, die für die Gesellschaftskritik von großer Bedeutung sind. Liegt das Problem in der faktischen kapitalistischen Abschaffung des symbolischen Tauschs, einer Abschaffung, die zu einer sinnlosen Anhäufung von Waren zwingt, oder gibt es den symbolischen Tausch immer noch, aber in nicht anerkannten Formen, seien es Kriege oder Vorstadtrevolten, wie etwa Baudrillard meint, indem er Castoriadis (unter dessen Pseudonym Cardan) zitiert (vgl. Baudrillard 1985, S. 120)? Setzt sich der symbolische Tausch trotz allem durch, „wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt“ (Marx)? Baudrillard zufolge besteht die wahre Krise des Kapitalismus heute in der Unmöglichkeit einer reinen Verausgabung, von Opfern, ohne etwas zurückzubekommen, von Verbrauch anstelle von Konsum. Der Kapitalismus muss dann die Verausgabung simulieren, zum Beispiel durch den Wohlfahrtsstaat.
Sollte man dem Kapitalismus seine gigantische Verschwendung vorwerfen oder im Gegenteil seine Unfähigkeit zu einer echten „Verausgabung“ feststellen? Oder sagen, dass die „falsche“, zerstörerische Verschwendung die Folge der Unmöglichkeit einer „richtigen“, sinnvollen Verschwendung ist? Ist die Verteidigung des Gebrauchswerts, der Vorschlag einer Revolution im Namen des Gebrauchswerts eine Art Revolte des „gesunden Menschenverstands“, des Common Sense gegen die metaphysischen Grillen des Werts, die Verteidigung einer Welt, in der man die Dinge beim Namen nennt und, wie es im Italienischen heißt, „Brot zum Brot und Wein zum Wein sagt“? Kann es einen reinen Nutzen geben? Man kann sich auch fragen, ob jede Vermittlung und jeder Fetischismus abgeschafft werden können. Und ist das Lob des symbolischen Austauschs nicht ein Lob der Metaphysik und anderer Formen des Fetischismus? Muss man, um den Kapitalismus zu überwinden, alle „Metaphysik“ abschaffen und zu einem rein materiellen und rationalen Ansatz kommen? Wird die Metaphysik nicht durch das Fenster wieder hereinkommen? Ist der post-fetischistische Triumph des Gebrauchswerts nicht vielmehr die beruhigende Rationalisierung eines Magmas aus ganz anderen Trieben, von denen wir nichts wissen wollen, die aber weiterhin unser persönliches und kollektives Verhalten bestimmen? Triebe, die unserem bewussten Teil „absurd“ erscheinen, so wie uns Träume beim Aufwachen absurd erscheinen? Ist das Streben nach Nützlichkeit nicht ein „sekundärer Prozess“ im Vergleich zu den Primärprozessen, die letztlich viel mächtiger sind? Es muss wirklich versucht werden zu erklären, warum Menschengruppen so oft in der Geschichte sich so wenig um ihre „Interessen“ kümmerten, also zu essen oder zu genießen, selbst zu überleben, und stattdessen bedeutende Energien für unangenehme, zerstörerische und selbstzerstörerische Aktivitäten aufwendeten. Viele Auffassungen – und hier könnte man wieder den unglücklichen Kautsky zitieren – setzen wie selbstverständlich voraus, dass das physische Überleben immer die erste und letzte Sorge der Menschen ist – obwohl es leicht zu erkennen ist, dass es anderen Erfordernissen untergeordnet werden kann. Die Menschen produzieren und reproduzieren ihre fetischistischen Beziehungen, ohne sich dessen bewusst zu sein, vor allem, indem sie Geld anhäufen, und produzieren damit auch ihr materielles Leben. Wenn die Reproduktion des Fetischs die materielle Reproduktion nicht mehr ermöglicht, führt die Logik der Warengesellschaft dazu, stattdessen die Reproduktion des Fetischs fortzusetzen, z.B. indem in Bomben statt in Landwirtschaft investiert wird. Selbst der homo oeconomicus und die Diktatur der Ökonomie wären demnach nur Masken. Das Streben nach Profit wäre also im Wesentlichen eine Reproduktion des Fetischs? Doch was wäre der letzte Zweck von all dem?
Will man mit der Behauptung, dass die Ökonomie noch eine Form des Heiligen, der Magie, des Irrationalen, des Fetischismus usw. sei, sagen, dass die Wirtschaft und die alten Formen des Heiligen alle noch Teil der Vorgeschichte des Menschen sind, auf die schlussendlich die Vernunft folgen sollte, die über alle Magie triumphiert, und sei sie auch als Wirtschaft, Wissenschaft usw. verkleidet? Oder wirft man der Ökonomie vielmehr vor, dass sie ihren Teil des Irrationalen und des Heiligen nicht annimmt, dass sie ein falsches Heiliges ist, das schlimmer ist als das wahre Heilige? Was bedeutet es, wenn man sagt, wie so oft zu hören ist, dass bestimmte Verhaltensweisen usw. die „Fortsetzung“ oder das „Wiederaufleben“ alter magischer Praktiken seien, dass das Heilige in der Wirtschaft oder im Sport „zurückkehre“ etc.? Ist das metaphorisch oder real?
Für Marxisten, aber auch für bürgerliche Utilitaristen und generell für die Erben der Aufklärung sind das Heilige und die Religion peinlich und stellen ein Skandalon dar, ein Phänomen, das eine noch unreife Menschheit kennzeichnet, deren Unreife gleichzeitig Ursache und Folge ihres Eingebettetseins in das Heilige ist. Man kann sie nur materialistisch interpretieren und zeigen, wie das Heilige materiellen Interessen oder der Herrschaft dient, oder seine praktische Funktion aufzeigen (Malinowski beschreibt Hexenmeister, die die Bevölkerung während eines Sturms beruhigen, indem sie praktische und zugleich magische Vorkehrungen treffen), oder sie als die Anfänge der späteren Wissenschaft betrachten.
Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die das Heilige wörtlich nehmen und zum Mythos zurückkehren wollen. Man hat Bataille, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, eine objektive Nähe zum Faschismus vorgeworfen. Das auch bei Walter Benjamin anzutreffende Vorhaben, den Mythos dem Faschismus zu „entreißen“, ist riskant. Die Surrealisten bekämpften die Religion, aber als Entartung des Heiligen, auf das sie (oder zumindest ein Teil von ihnen) mit Interesse schauten.
Das Heilige ernst zu nehmen, ohne von ihm fasziniert zu bleiben, das ist die Herausforderung. Die Kritik des Fetischismus könnte dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Doch welcher wäre das? Seit ihren Anfängen behauptet die Wertkritik, dass die Geschichte eine „Geschichte von Fetischverhältnissen“ (Robert Kurz) ist, nicht eine Geschichte von Klassenkämpfen. Diese wichtige Idee wurde von ihren Erfindern kaum weiterentwickelt. Vor allem blieb sie eingebettet in den Rahmen der Vorhersage einer finalen Überwindung jeglichen Fetischismus als Beginn der „wahren Geschichte“.
Zusammenfassend: Man kann sich also fragen, ob die alten und neuen Religionskriege a) ein Vorwand für den Klassenkampf sind, b) die psychologischen Spannungen, die durch Herrschaft entstehen, entladen (Sündenbocktheorie), c) aufrichtiger Fanatismus, d) unbewusste Manifestation des Todestriebs, e) eine Form der Verausgabung, ohne die die Gesellschaft nicht existieren kann?
Als Amadeo Bordiga einen seiner Artikel mit „Mai la merce sfamerà l’uomo“ („Niemals wird die Ware den Menschen sättigen“, 1954) betitelte, meinte er damit die kapitalistische Landwirtschaft. Doch man könnte diesen schönen Titel noch viel weiter interpretieren. Jedes Mal, wenn man heute von „Bedürfnissen“ spricht, definiert man sie als Zugang zu Waren und damit unweigerlich zu Geld (vgl. Illich 1990). Seit dem Zweiten Weltkrieg führt man Krieg gegen die „Armut“, indem man sie als Einkommen misst. Es ist jedoch bekannt, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, deren Einkommen extrem niedrig ist (in der Größenordnung von „einem Dollar pro Tag“), deren Existenz aber dank der Selbstversorgung, des lokalen nicht-monetären Austauschs und vor allem dank nicht-„ökonomischer“ Faktoren wie Gemeinschaftsnetzen, Verwandtschaft, Erotik und Festen erträglich ist. Ohne falsche Romantik kann man sagen, dass das Leben eines haitianischen Bauern in den 1960er Jahren, der laut Statistik der Ärmste unter den Armen war, viel glücklicher sein konnte als das eines Arbeiters in den USA. Erst die „Entwicklung“ machte ihnen klar, dass sie arm oder gar elend waren, weil sie weder ein Bankkonto noch einen Kühlschrank oder einen Fernseher besaßen. Ihr Versuch, diese Gegenstände zu erlangen, kostete sie alles andere. Später haben wohlmeinende Ökonomen Indizes geschaffen, bei denen auch nicht direkt wirtschaftliche Befriedigungen in Geld gemessen oder jedenfalls quantifiziert werden. So gibt es den Human Development Index (HDI) oder den Happy Planet Index (HPI)[33], das „Bruttonationalglück“ oder den von den Vereinten Nationen herausgegebenen „World Happiness Report“, der sogar die „wahrgenommene Großzügigkeit“[34] und die „Freiheit der Lebensentscheidungen“[35] misst. Und deshalb erscheint es nicht mehr so absurd, Feuerwerk einem Teller Tortillas vorzuziehen oder fünf Tage lang zu fasten, um Shakespeares Werke kaufen zu können, wie es der junge Jules Verne tat.
Die Geburt des Geldes aus dem Opfer nach Robert Kurz
Der wichtigste Versuch, die hier behandelten Themen aus der Perspektive der Wertkritik zu untersuchen, findet sich im letzten Buch von Robert Kurz, Geld ohne Wert (2012). Vor allem im ersten und im letzten Kapitel führt Kurz das Geld nicht auf einen bereits existierenden, durch Arbeit geschaffenen Wert zurück, wie es Marxisten stets proklamiert haben, sondern auf das archaische Opfer. In seiner Polemik gegen Theorien, die die Existenz von Wert und/oder Geld in den „Nischen“ vormoderner Gesellschaften behaupten, besteht Kurz darauf, dass ein isoliertes Element wie Geld sehr unterschiedliche Funktionen haben kann, je nach dem Ganzen, zu dem es gehört. Man könnte sagen: Wo alles Religion ist, hat auch das Geld eine religiöse Funktion; wo alles Wirtschaft ist, hat auch die Religion eine wirtschaftliche Funktion (indirekt, als Ideologie, Rechtfertigung, Befriedung usw.).
Auch Kurz kritisiert die Anwendung der Kategorie „Produktionsverhältnisse“ auf vormoderne Gesellschaften: „Aus der selbstverständlichen Tatsache, dass die Menschen immer ihre Lebensmittel produzieren müssen, folgt keineswegs automatisch, dass dieser Sachverhalt überhaupt der für sie entscheidende ist und eine ihre Sozietät bestimmende eigene Logik enthält, die alle anderen Momente ihres Lebens determiniert.“ (Kurz 2012, S. 86) Für die Urheber des Historischen Materialismus bedeutet der „Stoffwechsel mit der Natur“, von dem Marx spricht, alles Handeln und Denken aus der Produktion von Nahrung, Werkzeugen usw. abzuleiten, und sie nennen dies „Produktionsweise“ oder „Ökonomie“. Doch im Kapitalismus, so Kurz, dienen gerade diese Produktionen nicht der Befriedigung von Bedürfnissen. Die materielle Produktion spielt nur die Rolle des „Trägers“, der Repräsentation der vergangenen Arbeit, und in dieser Funktion wird die Produktion ontologisiert und als zentral deklariert, immer und überall. Kurz schreibt:
„Nur insofern die Formbestimmungen der Beziehungsverhältnisse zugleich materielle Reproduktionsverhältnisse ‚darstellen‘ und regulieren, kann man von einem ‚historischen Materialismus‘ sprechen im Gegensatz zu einer ‚idealistischen‘ Geschichtsphilosophie, die reale Reproduktionsverhältnisse ignoriert und Geschichte überhaupt als ungebrochene Ideengeschichte versteht, aus der die historischen Formationen abgeleitet werden (wie bei Hegel). Die bewussten Ideen als ideologische sind zwar umgekehrt abzuleiten aus der bewusstlosen fetischistischen Konstitution realer Lebensverhältnisse, die jedoch ihrerseits als solche gerade in ihrem Fetischcharakter keineswegs unmittelbar materiell ist.“ (ebd., S. 88f.)
Unter anderem unter Berufung auf Bernhard Laums Studie Heiliges Geld (1924) weist Kurz auf den Ursprung des Geldes im Opfer hin, sogar durch die Etymologie des deutschen Wortes Geld, das auch die „Belohnung“ bezeichnete und die Rache ersetzt (z.B. „Brautpreis“).[36] Alle persönlichen und institutionellen Verpflichtungen kommen vom Opfer (vgl. Kurz 2012, S. 96). Danach wurden die Opfer immer substitutiver: Zuerst waren es Menschen, die geopfert wurden, dann Tiere, dann Darstellungen dieser Tiere, dann Gebäck und Hostien und schließlich runde Münzen mit einem Bild. Aber die Rinder (auf die das Wort „Kapital“ zurückgeht) oder andere geopferte Lebewesen waren kein Tauschmittel zwischen den Menschen, sondern ein sakrales Zahlungsmittel. Die sozialen Beziehungen strukturierten sich damals nach „Schuld“ und die Verpflichtungen nach dem Muster des Opfers.
Erst am Ende des Mittelalters, vor allem dank der neuen Bedürfnisse, die der Wettlauf um Feuerwaffen bei den Staaten weckte, ändert das Geld seinen Status, und die Logik des Opferns wird zu einer tautologischen Bewegung, einem „tautologischen irdischen Zweck“, der sich vom Bezug auf das Göttliche löst. Das ist das berühmte G – W – G‘ („Geld – Waren – mehr Geld“), von dem Marx spricht. Dieser abstrakte Reichtum ist jedoch kein Gott, wie manche behaupten. Es ist die Wiederkehr des verselbständigten Opfers. Jetzt sind die Menschen nicht mehr gegenüber der Gottheit, sondern der „Opfergegenständlichkeit“ selbst „verschuldet“. Das Geld ist wirklich präsent und regelt das gesamte gesellschaftliche Leben, während die alten Gottheiten durch persönliche Vertreter anwesend waren.
Das moderne Geld steht stellvertretend für die abstrakte Arbeit; diese bildet seine „Substanz“. Mit der Erschöpfung der wertbildenden Arbeit, die durch Technologien ersetzt wird, verliert das Geld seit einigen Jahrzehnten seine Substanz. Es nähert sich dann laut Kurz wieder seinem Opfer-Ursprung, nun aber auf unkontrollierte und barbarische Weise: „Waren die Metamorphosen des Geldes vom Menschenopfer zur symbolischen Ersatzgegenständlichkeit ein partieller Zivilisationsprozess auf dem unüberwundenen Boden von Fetischverhältnissen, so hat der Kapitalfetisch eine verdinglichte Opferbewegung in Gang gesetzt, die im Resultat alle zivilisatorischen Elemente der bisherigen menschlichen Geschichte zurücknimmt.“ (ebd., S. 413)
Wir sagten, dass mit dem „sinnlich-übersinnlichen“ Wert die Metaphysik auf die Erde herabgestiegen sei, während zuvor die irdische und die jenseitige Sphäre klar voneinander getrennt waren. Aber ist das wirklich so? In primitiven Gesellschaften scheint keine Handlung nur „praktisch“ zu sein, sondern bringt die Menschen mit den jenseitigen Kräften in Verbindung. So entschuldigt man sich dort bei dem Baum, den man fällt, und rollt ihn dann zum Nachbardorf, damit sich der Zorn des Baumgeistes auf die feindlichen Nachbarn richte. Die Indianer Lateinamerikas werfen auch heute noch oft einen Tropfen aus ihrem Glas auf den Boden, bevor sie trinken. Oder könnte man sagen, dass das Christentum eine Art „Reduzierung“ des Bereichs des Heiligen mit sich brachte, eine erste Form der „Entzauberung der Welt“, die der Kapitalismus rückgängig gemacht hat, indem er zu einem diffuseren, weiter gestreuten und allgegenwärtigeren Heiligen zurückkehrte? Sollte man also sagen, dass der Kapitalismus, weit davon entfernt, aus dem Christentum hervorzugehen oder sein „Parasit“ zu sein, wie Benjamin im „Fragment“ sagt, eher eine Rückwärtsbewegung in Bezug auf eine Art „Säkularisierung“ darstellt, die bereits unbewusst und unfreiwillig vom Christentum selbst vollzogen wurde?[37] Werden wir nach Tausenden von Jahren, die von Opferverhältnissen beherrscht wurden, zu einer völlig opferfreien, immanenten und durchsichtigen Gesellschaft gelangen? Oder sollten wir uns darauf beschränken, das viel größere und absurdere Opfer – den Wert – abzuschaffen?
Kurz überwindet die falsche Alternative zwischen dem modernen Fetischismus als bloßer Variante eines zeitlosen Fetischs und der Moderne als vollendeter Säkularisierung, als eines Stadiums der Menschheitsgeschichte, in dem jeder Fetischismus überwunden worden sei. Das Opfer ist Ursprung jeder Gesellschaft (ebd., S. 73), aber zwischen dieser „transzendenten“ Verfassung und dem „transzendentalen“ Geldfetisch gibt es einen Bruch, einen qualitativen Unterschied, und nicht nur eine Entwicklung: Im Geld ist das fetischistische Prinzip sichtbar, im täglichen Leben präsent (ebd., S. 76). Der Fetischismus liegt dann in den Objekten, nicht in den Personen, wie in den religiösen Verfassungen.[38] Der „Funktionär“ oder „Exekutor“ des Kapitalfetischs ist der Verwalter (ob Manager oder Eigentümer) „einer pseudo-naturhaften Versachlichung“, während „der Exekutor der jenseitigen Macht als ‚Interpret‘ eines pseudo-persönlichen göttlichen Willens“ fungiert (ebd., S. 83). Deshalb ist die unmittelbare Identifikation des Kapitals mit einer Religion, wie sie bei Benjamin zu finden ist, unzutreffend. Es handelt sich lediglich um eine Analogie. „Es gibt also zwar eine Kontinuität von Fetischverhältnissen, aber keine lineare, sondern eine gebrochene.“ (ebd., S. 396) Es ist die veränderte Rolle des Geldes in der Moderne, die den Unterschied macht.
Dieser Beitrag endet weniger mit Gewissheiten als vielmehr mit Fragen. Zukünftige Forschungen müssen sich vor allem darauf konzentrieren, die Natur des Heiligen (zu dem das „Opfer“ gehört) besser zu verstehen und seine Ursprünge in den Kategorien des Reinen und Unreinen, der Kontamination und des Tabus, der Macht und der Projektion zu finden. Eine solche Forschung muss sich natürlich auf einen Überblick über die Literatur in Ethnologie und Anthropologie sowie in Vorgeschichte und Geschichte stützen. Sie wird der Dimension der Wert-Abspaltung viel Platz einräumen. Das kategoriale Paar „sakral-profan“ überschneidet sich weitgehend mit dem Paar „männlich-weiblich“, ohne dass man sagen kann, wer der Ursprung des anderen war. Eine solche Untersuchung – die wahrscheinlich die Mitarbeit mehrerer Personen oder sogar einiger „Experten“ erfordern würde – könnte ein neues Licht auf zwei für jede Gesellschaftstheorie zentrale Felder und ihre Verflechtung bzw. gegenseitige Entstehung werfen: den letzten Ursprung des Werts, seines Fetischs und der damit verbundenen Phänomene sowie den Ursprung der männlichen Herrschaft.
Literatur
Baudrillard, Jean (1972): Pour une critique de l'économie politique du signe. Paris: Gallimard.
Baudrillard, Jean (1985/1973): Le Miroir de la production, ou l'illusion du matérialisme historique. Paris: Éditions Galilée.
Debord, Guy (1978/1967): Die Gesellschaft des Spektakels. Hamburg: Edition Nautilus. Online unter: theoriepraxislokal.org
Graeber, David (2005): Fetishism as social creativity: or, Fetishes are gods in the process of construction, in: Anthropological Theory 5(4), S. 407-438.
Heller, Ágnes (2022/1976): Theorie der Bedürfnisse bei Marx. Hamburg: VSA.
Homs, Clément (2012): Critique du substantivisme économique de Karl Polanyi, in: Sortir de l’économie no. 4, S. 140-194, online unter sortirdeleconomie.ouvaton.org
Illich, Ivan (1990): Needs, pudel.samerski.de
Jappe, Anselm (2005): Die Abenteuer der Ware. Für eine neue Wertkritik. Münster: Unrast.
Jappe, Anselm (2017): La société autophage. Capitalisme, démesure et autodestruction. Paris: La Découverte.
Jappe, Anselm (2023): Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus. Wien/Berlin: Mandelbaum.
Kurz, Robert (2003): Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung. Bad Honnef: Horlemann.
Lohoff, Ernst (1996): Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg: Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung. Bad Honnef: Horlemann.
Lukács, Georg (1973/1954): Die Zerstörung der Vernunft, Bd. 1: Irrationalismus zwischen den Revolutionen. Darmstadt & Neuwied: Luchterhand.
Marx, Karl (1846): Karl Marx an Annenkow, projekt-gutenberg.org
Marx, Karl (1965): Theorien über den Mehrwert, Erster Teil (MEW 26.1). Berlin: Dietz.
Marx, Karl, (1971/1859): Zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: MEW 13. Berlin: Dietz, S. 3-160.
Marx, Karl (1972/1847): Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“, in: MEW 4. Berlin: Dietz, S. 63-182.
Marx, Karl (1986/1867): Das Kapital, Bd. 1 (MEW 23). Berlin: Dietz.
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1968/1846): Die deutsche Ideologie, in: MEW 3. Berlin: Dietz, S. 5-530.
Postone, Moishe (2018): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx (5. unveränderter Nachdruck). Freiburg/Wien: ça ira.
Sahlins, Marshall (1980): Au cœur des sociétés. Raison utilitaire et raison culturelle. Paris: Gallimard. (Engl. Original: Culture and Practical Reason, Chicago 1976)
Vaneigem, Raoul (1967): Traité de savoir-vivre à l’usage des jeunes générations. Paris: Gallimard.
Endnoten
[1] Es muss jedoch daran erinnert werden, dass Engels einen Teil dieser Philosophie, insbesondere den Anti-Dühring, mit der Zustimmung von Marx verfasst hat. Die Vorstellung, dass Engels allein für die positivistischen Entartungen des Marxismus verantwortlich sei, während Marx über all dem stand, ist eine Art Legende. Marx selbst war manchmal sehr „traditionsmarxistisch“.
[2] In seinem Roman Leben und Schicksal (geschrieben 1959) erzählt Wassili Grossman von dem Atomphysiker Shtrum, einem sowjetischen Juden, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch den aufkommenden Antisemitismus ins Abseits gedrängt wird. Man wirft ihm seine „talmudischen“ Vorstellungen von Physik vor – tatsächlich bezieht er sich auf die Relativitätstheorie des Juden Einstein. Er wird jedoch mit einem Telefonanruf von Stalin persönlich, dem die Bedeutung dieser Theorien für die Entwicklung der Kernenergie verdeutlicht wurde, wieder in den Dienst gerufen.
[3] Siehe vor allem Ernst Lohoffs Buch Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg: Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung (Lohoff 1996). Der Autor zeigt, wie der Zerfall Jugoslawiens entlang seiner „ethnischen“ Bruchlinien ab 1980 streng parallel zum fortschreitenden Bankrott seines Wirtschaftsmodells verlief. Kurz’ 2003 erschienener Weltordnungskrieg gibt dagegen den „irrationalen“ Faktoren mehr Raum.
[4] Kurz führte gerne folgenden Fall an: Die Amerikaner hatten Lebensmittel über Afghanistan abgeworfen, um ihr Wohlwollen gegenüber der Bevölkerung zu demonstrieren. Die Medien spotteten darüber, als sie erfuhren, dass die Amerikaner, die für ihre Ignoranz gegenüber den Bräuchen anderer Menschen bekannt sind, unter den Spenden auch Schweinefleischkonserven hatten, die für Muslime absolut inakzeptabel sind. Ein afghanischer Bauer, der von Journalisten zu diesem Thema befragt wurde, sagte jedoch nur: „Mir hat es geschmeckt!“
[5] Ebenso erklärte mir ein afrikanischer Flüchtling, der mich in Italien auf der Straße um Geld bat, dass er es brauche, weil er in einem „Aufnahme“-Zentrum untergebracht und verpflegt worden sei, aber das italienische Essen ihn zum Erbrechen bringe und er deshalb afrikanisches Essen kaufen müsse.
[6] Ich verweise abermals auf La societé autophage (Jappe 2017), aber auch auf die Studien von Dany-Robert Dufour, David Graeber, Marshall Sahlins, in der Zeitschrift Revue du MAUSS usw.
[7] Im Folgenden werden wir das Wort „primitiv“ ohne Anführungszeichen und in einem neutralen Sinn verwenden, wobei wir uns seines problematischen Charakters bewusst sind. Natürlich könnte man auch von „archaischen“, „kalten“, „geschichtslosen“ oder „ethnologischen“ Gesellschaften sprechen, aber jeder Begriff hat seine eigenen Probleme.
[8] „Im übrigen betrachtet Ricardo die bürgerliche Form der Arbeit als die ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit. Den Urfischer und den Urjäger läßt er sofort als Warenbesitzer Fisch und Wild austauschen, im Verhältnis der in diesen Tauschwerten vergegenständlichten Arbeitszeit. Bei dieser Gelegenheit fällt er in den Anachronismus, daß Urfischer und Urjäger zur Berechnung ihrer Arbeitsinstrumente die 1817 auf der Londoner Börse gangbaren Annuitätentabellen zu Rate ziehen.“ (Marx 1971, S. 46)
[9] Stephen Olsson, Alisson Jablonko und Maurice Godelier: To Find the Baruya Story, Dokumentarfilm, CNRS images, 1982 (Minute 26).
[10] Übersetzung aus dem Englischen: „Material objects were interesting mainly insofar as they became entangled in social relations, or enabled one to create new ones. […] everything was social, nothing was fixed, therefore everything was both material and spiritual simultaneously.“
[11] Die Marxisten – und Marx und Engels selbst – glaubten, den Beweis für seine Existenz in den Arbeiten des amerikanischen Ethnologen Lewis Morgan über die primitive Gruppenehe zu finden. Morgans Theorie wurde jedoch durch spätere Forschungen entkräftet.
[12] Wir erinnern daran, dass der Potlatch aus einem agonistischen Austausch zwischen Stammesführern bestand, bei dem jeder seinen eigenen Reichtum zeigen wollte, in der Hoffnung, dass der andere nicht in der Lage wäre, mit einem gleichwertigen oder größeren Geschenk zu antworten, in welchem Fall man mit einem noch größeren Geschenk antworten müsste, und so weiter. Diese Rivalitätsgaben konnten bis zur demonstrativen Zerstörung des eigenen Besitzes als Geste der Herausforderung gehen. Der Potlatch ist nur die sensationellste, auch agonistischste Form eines breiten Spektrums von Tauschhandlungen ohne Gewinnstreben, die es auf der ganzen Welt gibt, wie die Kula der Melanesier auf den Trobriand-Inseln, die Bronisław Malinowski 1922 beschrieb: eine Kette von Tauschakten, bei denen es auch darum geht, durch Großzügigkeit und Verachtung von Reichtum soziales Prestige zu erlangen. Wie bereits Mauss feststellte, gibt es selbst in unseren modernen Gesellschaften Praktiken des Schenkens. Diese könnten ohne Gaben unter Freunden, in der Familie, als ehrenamtliche Tätigkeiten usw. auf Dauer nicht einmal überleben. Es ist bemerkenswert, dass die kleine Gruppe der Lettristischen Internationale, die von Guy Debord geleitet wurde, im Jahr 1954 Potlatch als Titel ihres Bulletins wählte und damit ihre Suche nach einer radikalen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft andeutete.
[13] Bataille, der tabubrechende Schriftsteller; Baudrillard, der dissidente Akademiker; Sahlins, der (scheinbar) brave Gelehrte.
[14] Hier ist „Bataille sehr weit von der Psychoanalyse entfernt, denn für Freud wird ein Trieb nie sofort entladen, sondern immer verarbeitet, umgeleitet, verschoben, vermittelt, und genau das ist der Gegenstand der Psychoanalyse. Der ‚Todestrieb‘ zeigt sich in sekundären Formationen wie dem Wiederholungszwang und hat nichts mit einer sofortigen Entladung zu tun. Der Trieb, nach Freud ein Grenzbegriff zwischen dem Psychischen und dem Somatischen, ist immer durch das Symbolische oder die Sprache überdeterminiert, er ist also sozialer Natur und nicht instinktiv“ (Anmerkungen von Sandrine Aumercier).
[15] Anm. d. Übers.: „Simulacrum“ ist ein Zentralbegriff in Baudrillards Simulationstheorie, mit der er zu einem der führenden Theoretiker der Postmoderne avancieren sollte. Die Simulationstheorie geht davon aus, dass außerhalb der medialen Zeichensysteme nichts Reales mehr existiere.
[16] Eine detaillierte Analyse dieses Buches, beinahe Satz für Satz, könnte sich als ziemlich fruchtbar erweisen. Man kann sozusagen die Spreu vom Weizen trennen.
[17] Anm. d. Übers.: ’Pataphysik, vom französischen ’Pataphysique (ein Wortspiel mit den homophonen Formulierungen patte à physique, pas ta physique und pâte à physique). Bezeichnet „ein absurdistisches Philosophie- und Wissenschaftskonzept des französischen Schriftstellers Alfred Jarry (1873–1907), das sich oftmals als nonsensische Parodie der Theoriebildungen und Methoden moderner Wissenschaft gibt“ (Wikipedia).
[18] In Le Miroir drückt er sich folgendermaßen aus: „Was zum ‚Lebensunterhalt‘, zum ‚wirtschaftlichen Austausch‘ gehört, soweit man diese Begriffe überhaupt verwenden kann, ist der Rest des symbolischen Austauschs, ein Überbleibsel. Die symbolische Zirkulation ist primär, alles, was funktional gebraucht wird, wird aus dieser Sphäre herausgenommen (eventuell ist die Herausnahme null, und alles wird symbolisch verbraucht), es bleibt nichts übrig, denn das Überleben ist kein Prinzip, wir haben es zu einem Prinzip gemacht. Für die Primitiven sind Essen, Trinken und Leben in erster Linie Handlungen, die ausgetauscht werden; wenn sie nicht ausgetauscht werden können, finden sie nicht statt.“ (Baudrillard 1985, S. 85f.). In diesen Ausführungen kritisiert Baudrillard vor allem die Thesen von Maurice Godelier, in jenen Jahren der führende Kopf der marxistischen Anthropologie in Frankreich. Godelier antwortete Baudrillard nie öffentlich – dieser wurde, wie auch Bataille, von den autorisierten Vertretern der „Wissenschaft“ brüskiert ignoriert. Auch die Marxisten haben ihm im Allgemeinen nicht geantwortet. Zu den Ausnahmen gehört das kürzlich erschienene Buch des peruanischen Marxisten Guillermo Rochabrun, El Capital de Marx. Afirmación y replanteamiento (Lima, Editorial Ande, 2021): Der Baudrillard des Miroir ist der erste Autor, mit dem Rochabrun Marx konfrontiert, nachdem er Das Kapital ausführlich referiert hat.
[19] Anm. d. Übers.: Desarrollismo (engl. developmentalism) ist eine Wirtschaftstheorie, die besagt, dass der beste Weg für die Entwicklung weniger entwickelter Volkswirtschaften in der Förderung eines starken und vielfältigen Binnenmarktes und in der Erhebung hoher Zölle auf Importgüter besteht. Sie basiert auf der Annahme, dass es für alle Länder nicht nur ähnliche Entwicklungsstufen gibt, sondern dass es auch eine lineare Entwicklung von einer Stufe zur nächsten gibt, die von traditionell oder „primitiv“ bis modern oder industrialisiert reicht.
[20] Siehe hierzu: „Das Quantitative bezeichnet immer nur die Vergleichbarkeit aller Arbeiten in abstrakten Werten; das Qualitative hingegen geht unter dem Deckmantel der Unvergleichbarkeit viel weiter: Es zeigt die Vergleichbarkeit aller menschlichen Praktiken in Bezug auf Produktion und Arbeit an. Oder anders ausgedrückt: Die abstrakte und formale Universalität der Arbeitskraft/Ware wird durch die ‚konkrete‘ Universalität der qualitativen Arbeit unterstützt.“ (Baudrillard 1985, S. 24)
[21] In einem Sketch des sehr sarkastischen italienischen Films I nuove mostri (1977) von Mario Monicelli, Dino Risi und Ettore Scola nimmt ein Kardinal zufällig an den Versammlungen teil, die ein linker Priester in einer Kirche in einem armen Vorort von Rom abhält, um seine Gemeindemitglieder dazu zu bringen, ihre sozialen Rechte einzufordern, was diese jedoch nur auf chaotische Weise tun. Stattdessen sind sie begeistert, als der Kardinal ihnen mit großer Eloquenz christliche Resignation predigt und sie mit einem Orgelkonzert beglückt, einem Instrument, das in ihrer Kirche schon lange nicht mehr gespielt wurde.
[22] In seinem Essay „Needs“ zitiert Ivan Illich das Buch Die Macht der Bedürfnisse: Überfluss und Knappheit der deutschen Historikerin Marianne Gronemeyer und kommentiert: „Deutlicher als jeder andere hat sie gezeigt, dass Bedürfnisse im heutigen Sinne eine neue Art sind, das Postulat der universellen Knappheit zu formulieren. Darüber hinaus zeigt sie, dass Bedürfnisse, die unter dem Deckmantel der Wissenschaft definiert werden, es ermöglichen, die menschliche Natur nach den Bequemlichkeiten und Interessen der Fachleute, die sie verwalten und bedienen, umzudefinieren“. (Illich 1990, S. 15) Das Buch beginnt übrigens mit einem Zitat aus Baudrillards System der Dinge. Illichs Essay findet sich in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Bedürfnisse“ in dem Sammelband Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik, hg. von Wolfgang Sachs, 1993, S. 47-70.
[23] Siehe meine Zusammenfassung dieses Buches in Jappe 2005, S. 206-209.
[24] Es kann natürlich auch Erklärungen geben, die funktionalistisch, aber nicht ökonomisch sind. Ist es möglich, eine Abhängigkeit des individuellen Bewusstseins von anderen Faktoren als der Wirtschaft zu behaupten? Émile Durkheim behauptet in seiner Rezension des Buches des italienischen Marxisten Antonio Labriola Essais sur la conception matérialiste de l'histoire, das 1897 auf Französisch erschien, dass eine „objektive“ Auffassung der Gesellschaft, wie die Durkheims, bei der nicht das Bewusstsein der Akteure ihre Handlungen erklärt, nicht unbedingt ein Primat der Wirtschaft impliziert. Die Wirtschaft sei nur ein Faktor unter vielen: Insbesondere die Religion, die lange vor der Wirtschaft „üppig und invasiv“ gewesen sei, könne nicht auf die Wirtschaft zurückgeführt werden, schreibt Durkheim. Man kann sich also fragen: Dient das Opfer letztlich dazu, Verbindungen zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft herzustellen, wie Durkheim sagt, was wiederum eine funktionalistische Erklärung wäre, oder dient es in Wahrheit dazu, eine Beziehung zum Heiligen herzustellen?
[25] Sahlins zitiert in diesem Zusammenhang Jürgen Habermas, aber auch den israelischen Soziologen Shlomo Avineri, der schrieb: „Der Vorrang, den [Marx] der wirtschaftlichen Tätigkeit einräumt, ergibt sich nicht aus dem Vorrang materieller wirtschaftlicher Werte, sondern aus seiner Auffassung vom Menschen als Homo faber.“ (ebd., S. 198ff.)
[26] Allerdings ist Sahlins nicht klarer als Baudrillard, wenn er vom Tauschwert spricht, den er mit dem Differenzwert verbindet (ebd., S. 267).
[27] Wenn man von Grundbedürfnissen spricht, denkt man spontan an Essen als das biologischste und am wenigsten kulturell bedingte Bedürfnis: Es ist das absolut notwendige Bedürfnis. Andererseits sieht man aber auch, dass Essgewohnheiten und Tabus gerade einen der Hauptbereiche der Auseinandersetzung zwischen „materialistischen“ und „kulturellen“ Theoremen darstellen (siehe oben den Verweis auf Marvin Harris). „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, heißt es in der Bibel (Mt 4,4), und dies ist auch der Titel eines Romans des sowjetischen Schriftstellers Wladimir Dudinzew, der 1956 erschien und die stalinistische Bürokratie anprangerte.
[28] Er erwähnt die weltweite Verbreitung der Jeans, einer Arbeitskleidung, unter Jugendlichen, obwohl „Arbeit eines der letzten Dinge ist, die ein junger Mensch im Kopf hat“ (ebd., S. 232).
[29] In seinem Buch Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten (Originaltitel: Against the grain, 2017; auf Deutsch erschienen 2019 bei Suhrkamp), beschreibt James C. Scott die enge Verbindung zwischen der Wahl von Getreide als Grundnahrungsmittel im Nahen Osten und der Entstehung der ersten Staaten. (Anm. d. Red.: Zu diesem Buch siehe auch die Besprechung von Gerold Wallner auf dieser Website.)
[30] Homs rekurriert an dieser Stelle auf Des ruines du développement (engl. Original: Ruins of development) von Wolfgang Sachs und Gustavo Esteva aus dem Jahre 1996 (S. 27).
[31] Ich verweise hier auf mein Buch Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus (Jappe 2023, S. 37f.).
[32] Regie: Lee Tamahori, 1994. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Alain Duff. Deutscher Filmtitel: Die letzte Kriegerin.
[33] Kolumbien findet sich dort auf dem dritten Platz.
[34] Auf Platz 1 des Großzügigkeits-Rankings stand 2019 Burma, auf Platz 3 Haiti und auf dem letzten Platz... Griechenland!
[35] An erster Stelle steht Usbekistan, gefolgt von Kambodscha, Norwegen und den Vereinigten Arabischen Emiraten – oh diese Statistiken!
[36] Meiner Meinung nach sollte man im Opfer nicht einfach eine Entwicklung der Gabe sehen, wie es Jean-Pierre Baudet in seinem Vortrag „La naissance du capital et de la valeur à partir du culte religieux“ (2013) tut, in dem er sein Buch Opfern ohne Ende (2013) zusammenfasst. Darin sagt er: „Das Opfern war noch eine Art des Gebens, führte aber allmählich aus dem Bereich des Gebens heraus“. Hier wäre an Adornos Beobachtung im Kapitel über Odysseus in der Dialektik der Aufklärung zu erinnern: Der Tausch ist die Säkularisierung des Opfers, aber das Opfer beruht auf Betrug: Man bezahlt die Götter mit den Innereien der geopferten Tiere, um eine viel größere Gegengabe zu erhalten. Diese Art der Gabe an die Götter unterscheidet sich stark vom Potlatch, denn der Geber hofft nicht, den Wettkampf zu gewinnen und den Gegner zu demütigen, sondern im Gegenteil, den anderen dazu zu bringen, seinen ganzen Reichtum herzugeben. Diese Art des Gebens ist selbst im heutigen Alltag weit verbreitet, in allen mehr oder weniger symbolischen Gaben an Mächtige, Weihnachtsgeschenken zwischen Unternehmen, aber sogar in den Zeichnungen, die Kinder ihren Großeltern schenken usw. Man gibt wenig in der Hoffnung, den anderen dazu zu bewegen, viel zu geben.
[37] Nietzsche warf Luther halb scherzhaft vor, er habe dem Christentum zu einer Zeit neue Kraft verliehen, als dieses vor allem dank der Eskapaden der damaligen Päpste jeglichen Kredit verloren hatte und sich eine allgemeine Abkehr vom Glauben abzeichnete.
[38] Kurz scheint jedoch nur an anthropomorphe Religionen zu denken und nicht an Fetischismen, die auf Geistern, Ahnen usw. beruhen.