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Anselm Jappe


Gene, Werte, Bauernaufstände


Zuerst erschienen 2001 in: Krisis 24, S. 92-113



Vorbemerkung des Autors


„Gene, Werte, Bauernaufstände“ ist 2001 in der Nummer 24 der Zeitschrift Krisis – Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft erschienen. Den Hintergrund dieses Artikels bildete die damals aufflammende Diskussion um genmanipulierte Nahrungsmittel, um die Klonierung von Tieren (das Schaf Dolly machte seit Jahren von sich reden), aber auch der sogenannte Rinderwahn. 

Er wird hier, nach mehr als zwanzig Jahren, unverändert wiederveröffentlicht. Die Hinzufügung neuer Tatsachen wäre schnell uferlos geworden. Die technischen Grundlagen – ich hatte mich zu ihrer Beschreibung stark auf Jeremy Rifkins Das biotechnische Zeitalter (Originalausgabe 1998) gestützt – sind in vieler Hinsicht dieselben geblieben. Nur hat sich vieles von dem, was 2001 noch Science-Fiction war, eine vage Drohung, ein Experiment im Anfangsstadium, mittlerweile verwirklicht. Eine der schrecklichsten Projekte, die der Artikel erwähnt, nämlich Föten ohne Köpfe als Organbanken zu züchten, ist nunmehr technisch realisierbar: Im April 2021 haben zwei Forscherteams bekanntgegeben, Affenembryonen kultiviert zu haben, denen sie menschliche Zellen hinzugefügt hatten (sogenannte Chimären).

Was die grundsätzliche Einschätzung dieser apokalyptischen Technologie angeht, und vor allem ihre Verbindung zur Wertlogik, hat der Artikel – leider – nichts von seiner Bedeutung verloren. Diese Betrachtungen sind also zu erweitern, zu aktualisieren und zu radikalisieren, vor allem in Bezug auf die immer hemmungslosere Verbreitung von Gentechnologien in der Landwirtschaft. Es wird sich noch zeigen müssen, ob die Covid-Pandemie in der Öffentlichkeit zu einer größeren Akzeptanz für Gentechnologie geführt hat (via die neuen Impfstoffe) oder umgekehrt zu mehr Misstrauen – zumindest bei der Minderheit, die noch nicht vergessen hat, dass offensichtlich ein Zusammenhang zwischen industrialisierter Landwirtschaft und neuen Pandemien besteht. Die zunehmende Verbreitung „transhumanistischer“ Ideen fügt diesem Thema gleichfalls eine neue Dimension hinzu.

Eins ist sicher: Ein so enormes Missverhältnis zwischen der epochalen Bedeutung eines Problems und seiner Rolle in der öffentlichen Diskussion verheißt nichts Gutes.




Vielleicht wird man sich eines Tages wundern, daß die radikale Gesellschaftskritik im Jahr 2000 sich so viel mehr um Haider oder den Balkankrieg als um Novartis oder Nestlé gekümmert hat[1], oder allgemein gesagt, um die „Biotechnologien“ im weiteren Sinne. Dabei sind sich doch scheinbar alle einig: die Biotechnologien werden das Gesicht der nächsten Zeit bestimmen. Ihre Anhänger wie ihre Gegner geben zu, daß die Definition davon, was überhaupt das menschliche Leben ist, sich durch die seit ungefähr zehn Jahren ungeheuer angewachsenen Möglichkeiten, in die Grundlagen des Lebens einzugreifen: Manipulation der DNA und künstliche Befruchtung, Organtransplantationen und Klonieren, Gentherapien, Retortenbabys und dergleichen[2], verändert.

Nicht einmal die Literatur zu dem Thema ist sehr ausgedehnt[3], und sie verliert sich fast immer in wissenschaftlichen Detailfragen und „Experten“tum oder sieht das Übel nur in der falschen Anwendung („ja zum therapeutischen Einsatz, nein zur Menschenklonierung“). Die Kritik beschränkt sich im allgemeinen auf die Anrufung vager ethischer Prinzipien, die bloß das Schlimmste verhüten sollen, und trägt insofern von vornherein den Charakter eines Rückzugsgefechts. Immerhin hat diese Literatur viele der bereits festgestellten oder wahrscheinlichen negativen Auswirkungen der Biotechnologien aufgezählt: unvorhergesehener Transfer von Genen an andere Lebewesen, so daß z. B. Bakterienstämme resistent gegen Antibiotika werden oder Unkraut gegen Herbizide; Entstehung neuer viraler Krankheiten (etwa bei Fremdtransplantationen, z. B. zwischen Schwein und Mensch), gegen die es keine Abhilfe gibt; Schaffung besonders gefährlicher und leicht zugänglicher biologischer Waffen, die so interessante Aspekte haben könnten wie die, nur Mitglieder bestimmter Menschengruppen (z. B. mit bestimmter Hautfarbe) zu treffen; Verletzung der Privatsphäre durch die Verbreitung genetischer Tests seitens Versicherungsgesellschaften, Arbeitgebern und Gerichten, was zu Diskriminierungen und zur Herausbildung einer Schicht von „genetisch bedingten Arbeitslosen“ und sogar „genetischen Kasten“ führen könnte; Biopiraterie zu Lasten der Dritten Welt, in der sich ein Großteil der Bioressourcen befindet; Vergabe von Patenten auf Lebewesen und sogar auf Teile des Menschen; Verarmung des genetischen Patrimoniums; noch größere Störung des ökologischen Gleichgewichts; völlige Abhängigkeit der Bauern in der Dritten Welt von den Bio-Multinationalen und beschleunigte Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen; Verbreitung eines grotesken genetischen Reduktionismus in der wissenschaftlichen Welt, der jeden gesellschaftlichen Aspekt negiert und einen eugenischen Sozialdarwinismus fördert; und, allgemein gesagt, die Unmöglichkeit, die langfristigen Folgen so weitreichender Eingriffe abzuschätzen.

 

Das alles kann hier als bekannt vorausgesetzt werden. Aber das Bekannte ist noch nicht erkannt. Fast alle Kritiker stellen nur das Wie der Biotechnologien in Frage, beschweren sich darüber, daß bloß die Reichen in den Genuß ihrer angeblichen Vorteile kommen werden und verlangen, daß auch die Länder, aus denen das meiste Rohmaterial der Bioindustrie stammt, an der Beute beteiligt werden sollen. Sie stellen ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnungen auf, wollen also wissen, ob die demokratische Warengesellschaft und ihre Bürger am Ende mehr draufzahlen oder mehr gewinnen, und entdecken meist, daß auch auf der rein ökonomischen Ebene nur ein paar Großkonzerne Nutzen aus den Biotechnologien ziehen, während alle anderen nichts davon haben. Auch weiterreichende Aspekte sind schon oft erörtert worden, wie die Frage, was es für das Selbstbewußtsein des Individuums und überhaupt für die Idee vom Menschsein bedeutet, im Labor statt im Mutterleib erzeugt worden zu sein. Genau wie die gängige Kapitalismuskritik beschränkt sich auch diese Kritik der Biotechnologien stets auf Einzelaspekte. Stirnrunzelnde Ethik-Experten zerbrechen sich den Kopf darüber, ob ein eingefrorenes Embryo nun „menschliche Würde“ besitzt oder doch nicht, und die vom Fernsehen aufgeklärte Öffentlichkeit empört sich über die Risiken für den anständigen Verbraucher und den Mangel an demokratischer Transparenz. Diese ehrerbietigen Petitionen werden es vermutlich auch erreichen, daß einigen der schlimmsten Auswüchse Grenzen gezogen werden und nicht jedermann leichthin nie gesehene Viren in die Welt setzen kann, bloß um bei der nächsten Aktionärsversammlung gut dazustehen. Es ist schließlich eines der Merkmale der demokratischen Warengesellschaft, die sowieso notwendigen Reformen und Regulierungen als großzügige Zugeständnisse an systemkonforme gesellschaftliche Oppositionsbewegungen zu verkaufen.

 

Aber so, wie keine Abschaffung der Spekulation auf den Finanzmärkten möglich ist, um dann zur „echten“ Arbeit, zum „richtigen“ Geld und zur „normalen“ Wirtschaft zurückzukehren, ebenso wenig kann man die Biotechnologien von der Entwicklung trennen, die sie hervorgebracht hat, und als monströsen Auswuchs abschaffen, um dann mit derselben Wissenschaft, derselben Technik, derselben Landwirtschaft, derselben Medizin wie vorher weiterzumachen. So wie die kapitalistische Arbeitsgesellschaft heute gar nicht anders möglich ist denn als losgelassener globaler Finanzmarkt, so stellen auch die Biotechnologien die logische Weiterentwicklung (oder das Endstadium) der modernen Wissenschaft, Technik, Landwirtschaft und Medizin dar. Wer zu der ganzen „Substanz“ ja gesagt hat, z. B. zur modernen Landwirtschaft und zu der Wissenschaft, deren Anwendung sie ist, kann dann tatsächlich nur noch über die „Etiketten“ der genmanipulierten Lebensmittel diskutieren. Die Biotechnologien wird man ebenso wenig einfach „regulieren“ können wie die Finanzmärkte (und es gibt Leute wie die der „Attac“-Vereinigung, die gleichzeitig beiden Chimären hinterher rennen). So wie der internationale Spekulationsüberbau aus der Basislogik der Vergesellschaftung durch den Wert resultiert, so entspricht die Biotechnologie den Grundtendenzen der mit der Wertgesellschaft entstandenen Wissenschaft. Aus den vielen möglichen Aspekten dieser Frage sollen hier drei herausgegriffen werden: der qualitative Nihilismus, die Enteignung der Ressourcen und die Verfaßtheit der demokratisch-individualistischen Marktsubjekte. Oder, wie die Encyclopédie des Nuisances schreibt: die wirkliche Frage ist nicht die nach der „menschlichen Würde“ eines eingefrorenen Embryos, sondern die, wie die Gesellschaft überhaupt dazu kommen konnte, so etwas zu produzieren (vgl. Rem. 96).

 

Wertvergesellschaftung und moderne Wissenschaft, die seit ihrem Durchbruch im 16./17. Jahrhundert parallel laufen, treffen in der Gentechnologie endgültig zusammen. So wie auf der gegenwärtigen Stufe der Entwicklung des fiktiven Kapitals die Wertlogik schließlich zu sich selbst kommt und ihr vermutlich letztes Stadium erreicht, so stimmt in der Gentechnologie die Wissenschaft endlich mit ihrem Begriff überein. Die Leugnung jeder der je einzelnen Sache innewohnenden Qualität zeichnete von Anfang an die Wissenschaft wie die Verwertung aus, also die Reduktion der qualitativen Vielfalt auf bloße Quantitäten einer gleichförmigen Substanz, im einen Fall der Arbeitswert, im anderen Fall die mathematisierte Raum-Zeit. Wie es schon bei Galilei heißt: das Buch der Natur ist in Kreisen, Dreiecken und Quadraten geschrieben. So wie heute beinahe alles sich als Wertquantität darstellt (und die Wertvergesellschaftung doch scheitert an all dem, was sich nicht in den Wert pressen läßt, an der „dunklen Rückseite“), so behandelt die Genetik, diese Quintessenz der Naturwissenschaft, alle Lebewesen als reines DNA-Material, das man beliebig auseinandernehmen und neu zusammensetzen kann. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Arten von Lebewesen, diese bis vor wenigen Jahren auch gedanklich unüberwindbare Barriere (die Arten sind untereinander nicht kreuzbar), hat der Vorstellung von einem manipulierbaren Kontinuum Platz gemacht, wo die Gene einer Art auf eine andere Art und sogar zwischen verschiedenen Reichen (Pflanzen, Tieren, Bakterien, Viren) übertragen werden können. Die Gentechniker behaupten, daß „jedes lebende Wesen auf die DANN als zugrundliegendes biologisches Material reduzierbar ist, welches sich mit Hilfe einer Reihe ausgefeilter Labormethoden manipulieren, extrahieren, rekombinieren und zu einer unendlichen Zahl verschiedener Kombinationen zusammenstellen läßt“ (Rifkin S. 70).

 

Wie die Remarques unterstreichen, kann von „guten“ und „schlechten“ Anwendungen der Gentechnologie schon deshalb nicht die Rede sein, weil „es ein und dieselbe Desintegrierungsmacht ist, derselbe Nihilismus, der alle Formen des Lebens angreift, ob es sich nun um Pflanzen, Tiere oder Menschen handelt, und sie wie ein und dasselbe undifferenzierte genetische Material behandelt“, das entsprechend Informatikmodellen aufgefaßt wird (Rem. S. 85). Die ständige Reductio ad unum, welche die Warengesellschaft von allen anderen Gesellschaften unterscheidet, feiert außer in der Gentechnologie ihren Triumph auch in der Informatik, ohne welche die Biotechnologien nie zustande gekommen wären und die sogar einem neuen Evolutionsmodell Pate steht (Rifkin, Kapitel 6 und 7). In der Mutterwissenschaft der Informatik, der Kybernetik, wird alles auf „Information“ reduziert. Deren Regeln sollen sich auf alles Seiende gleichermaßen beziehen, auf das Verhalten von Mäusen wie auf die Osmose von Zellen, auf die Organisation eines Betriebs wie auf einen Interstellarnebel: alles könne als eine Art von Computer aufgefaßt werden. Die Lebewesen sind keine feststehenden Einheiten mehr im Sinne von Arten, Gattungen usw., sondern nur „ein Informationsmuster“ und können deshalb beliebig umprogrammiert werden (Rifkin S. 312). Dieser genetische Reduktionismus wird zwar, in seiner ideologischen Form, von manchen „kritischen“ Wissenschaftlern angegriffen. Doch auch diese erkennen weder dessen Verbindung mit der modernen Wertlogik, noch die mit den Grundlagen der modernen Wissenschaft selbst und deren Unfähigkeit, den Unterschied zwischen dem Lebenden und einem mechanischen Aggregat von Einzelteilen zu begreifen. Ebenso aber, wie die Wertvergesellschaftung an sich selbst scheitert, weil das vom Wert nicht Erfaßbare auf sie zurückschlägt und sie ins Wanken bringt, so scheitert der Versuch, das Reale in eine formale Zwangsjacke zu pressen, auch im Falle der modernen Wissenschaft: wie die Remarques anmerken, ist das, was in Form von Katastrophen wiederkehrt, die von der Forschung systematisch ignorierte Naturtotalität. Die Gentechnologie will mit ihren Artefakten alles ersetzen, was ihr in der Natur „überflüssig“ vorkommt – wie die 90 % des DNS, welche die Molekularbiologen als „Abfall-DNS“ definieren, weil es keine für sie erkennbare Funktion hat (Rem. S. 30-31).

Die Biotechnologien sind ein enormer „Fortschritt“ in der seit dem Beginn der Neuzeit andauernden Enteignung und Privatisierung aller für das Leben der Menschen notwendigen Ressourcen und der Abschaffung aller ansatzweise kollektiv oder individuell selbstbestimmten Lebenszusammenhänge.[4] Der Privateigentumsbegriff erreicht ein delirantes Stadium in der Verbreitung von Patenten auf Lebewesen einschließlich Teilen und Funktionen des Menschen. Es ist vorgekommen, daß Patienten vor Gericht Unrecht erhielten, als sie gegen die wissenschaftliche und kommerzielle Ausbeutung ihrer ihnen im Krankenhaus ohne ihr Wissen entnommenen Zellen klagten (vgl. Rifkin S. 105). Am Ende soll der Mensch selbst in seinen elementarsten Funktionen und Verrichtungen von der Wissenschaft und der sie vermittelnden Industrie abhängen. Nicht einmal seine Fortpflanzung kann er dann mehr selbst garantieren, deren Früchte doch stets der einzige Besitz der „Proletarier“ waren. Es geht nicht darum, ob Praktiken wie Retortenbabys, künstliche Befruchtung, Uterusvermietung, Eingriffe ins Erbgut der Eltern oder genetische „Korrekturen“ am Fötus sich wirklich verbreiten oder vielmehr das Privileg einer winzigen zahlkräftigen Minderheit bleiben werden: wenn einmal die Möglichkeit dazu existiert, dann entsteht ein neuer Maßstab, eine neue Vorstellung davon, was das menschliche Leben ist – ob es von Mensch zu Mensch weitergegeben oder von der Wissenschaft zugeteilt wird. Und wenn die Medizin in der Lage ist, genetisch bedingte Krankheiten vor der Empfängnis oder der Geburt zu korrigieren oder sogar Schwangerschaften in einer kontrollierbaren Umgebung – einer mit Pumpen ausgestatteten Nährlösung – statt in dem „dunklen und gefährlichen Ort, welcher der Uterus ist“ (so ein von Rifkin [S. 64] zitierter US-amerikanischer Professor für medizinische Ethik) auszutragen, ist es leicht vorstellbar, daß der Verzicht darauf als moralisch verwerflich oder sogar strafbar gelten wird, wie die Weigerung, seine Kinder zu impfen. Ein Leben ohne die kapitalistischen Prothesen wäre dann selbst auf der biologischen Ebene nicht mehr denkbar.

 

Damit wird auch jede Idee einer sozialen Veränderung hinfällig. Es heißt, nach einer Überschwemmung von Pawlows Labor hätten die überlebenden Hunde alles ihnen antrainierte Verhalten verloren. Das könnte auch den warenförmigen Subjekten passieren. Aber wenn die Veränderungen in den Genen verankert wären, gäbe es kein Zurück mehr. Sicher, die Züchtung von Übermenschen wird trotz allem medialen Getöse unrealisierbar bleiben oder sich auf das Blond- und Blauäugigsein beschränken. Aber nicht unrealisierbar ist eine ins Unendliche gesteigerte Abhängigkeit der Gesellschaft von pseudo-natürlichen und selbstläufigen Mechanismen sowie eine warenförmig zugerichtete Natur, in der die Lachse keine Eier mehr legen und die Eichen wie Schilfgras im Wind schwanken (siehe unten), weil das dem Markt zupaß kommt. So würde jeder Vergleichsmaßstab verschwinden, an dem die Warengesellschaft und ihre Verheerungen überhaupt noch als solche erkannt werden können. Eine wichtige amerikanische Studie (Our Stolen Future) über die Effekte, welche die Chemieprodukte auf das Hormonsystem haben, unterstreicht, daß es keinen einzigen unkontaminierten Menschen mehr auf der Erde gibt, der uns begreifen lassen könnte, was das normale Funktionieren des Hormonsystems vor der Verbreitung der es beschädigenden Chemieprodukte war (Rem. 34).

 

Die Verbindung der Biotechnologien mit dem freien Markt und dem Ultraliberalismus ist offensichtlich. Es handelt sich, der erklärten Absicht ihrer Betreiber nach, um den Versuch, einen neuen Akkumulationsschub anzukurbeln. Sie hoffen, die unendliche Genmasse in eine ebenso unendliche Wertmasse zu verwandeln, und verheißen dementsprechende Gewinne. Natürlich werden in Wirklichkeit auch in diesem Sektor kaum Realinvestitionen getätigt und noch weniger Arbeitsplätze geschaffen, weil die Prozeduren, einmal erfunden, kaum noch wertschöpfend sind. Dafür verzeichnete die Bioindustrie eine zeitlang gewaltige spekulative Kursgewinne und es kam zu einer starken Kapitalkonzentration: zehn Firmen dominieren fast den ganzen Markt (Rifkin S. 115). Auch und gerade auf diesem Gebiet stellt sich der totale Markt als noch schlimmer als der totale Staat heraus – und vor allem als effizienter: die Genetik hätte nie einen solchen Aufschwung genommen ohne die private Forschung, die wesentlich für sie verantwortlich ist. So wie die Atomenergie zum Staat gehörte, so gehören die Biotechnologien zum freien Markt: im Gegensatz zu jener sind die Verfahren hier, wenn sie einmal erfunden sind, leicht wiederholbar – deshalb die fanatische Jagd nach dem Patent. Das Gefahrenpotential der Biotechnologien ist allerdings in mancher Hinsicht noch größer als das der Atomenergie, die von einer kleinen Zahl von Staaten kontrolliert wird, welche nach den ersten Atombomben bisher zumindest keine weiteren mehr abgeworfen haben. Die Biotechniker hingegen können nur als eine Bande krimineller Irrer außerhalb jeder Kontrolle bezeichnet werden, und ein Laboratorium läßt sich ohne große Investitionen und mit erspioniertem Know-how überall einrichten, unsichtbar und nur später an seinen Folgen zu erkennen.

Der Markt und die von ihm bezahlten Wissenschaftler realisieren das, was der totale Staat nur angekündigt hatte. Eugenik gehörte stets zu dessen Programm, von Platons Republik und Campanellas Sonnenstaat bis hin zu Huxleys Schöner Neuer Welt. Doch die Realität kam mit der Ideologie nicht mit, und wenn überhaupt, wurde eine negative Eugenik praktiziert (Sterilisierung oder Tötung von Unerwünschten bei den Nazis, aber auch, in schöner Kontinuität, in den Jahren der fordistischen Demokratie in den USA, in Schweden und anderswo), aber keine positive – außer in Form lächerlicher Versuche wie den nationalsozialistischen „Zuchthöfen“, deren Ergebnisse man noch manchmal auf deutschen Straßen bewundern darf. Die Verbesserung des Menschenmaterials, die der Leviathan seinen widerstrebenden Untertanen aufzwingen wollte, ohne sich recht zu getrauen, wird nun im Namen der Freiheit von den Bewohnern der demokratischsten aller Welten lauthals gefordert. So jubelt die Wirtschaftszeitschrift The Economist, die Eugenik sichere „dem Verbraucher größere Freiheit zu, der einzelne wird imstande sein, mit sich und seinen Erben nach Belieben zu verfahren“ (Rifkin 218), und einer der Hauptapologeten der Gentechnologien schreibt: „In der Tat ist es in einer Gesellschaft, der individuelle Freiheit über alles geht, schwer, überhaupt eine legitime Basis für Anwendungsbeschränkungen der Reprogenetik zu finden.“ (Rifkin 253).[5] Andere Vertreter des Fortpflanzungsliberalismus verkünden, daß der Staat sich darin so wenig einmischen dürfe wie in die sexuelle Fortpflanzung, denn es gäbe ein Recht, sein eigenes Genom nicht mit anderen vermischt zu sehen und deshalb zum Klonen zu greifen (La Repubblica, 19. 4. 2000).

 

Von den Segnungen einer solchen Freiheit müssen die aufgeklärten Bürger von heute nicht mühsam überzeugt werden. Deren Hingabe an die „schöne Maschine“ geht jetzt bis zum Wunsch, die Selbstdomestizierung auch biologisch zu verankern und sich bis in die Gene an den Arbeits- und Vergnügungsmarkt und die warenförmige Vorstellung von Schönheit und Wohlbefinden anzupassen. Bei einer Befragung gaben 11 % der US-amerikanischen Paare, die eine Fruchtwasseruntersuchung durchführten, an, sie würden einen zur Fettleibigkeit genetisch prädisponierten Fötus abtreiben lassen, wenn man diese Disposition feststellen könnte (Rifkin S. 214). In den USA wurde vor einigen Jahren die Verabreichung von Wachstumshormonen an eher kleine, aber durchaus normale Kinder mit dem Argument gerechtfertigt, die unterdurchschnittliche Statur sei als Krankheit zu definieren, weil die Gesellschaft sie nicht akzeptiere (Rifkin S. 216). Montaigne wunderte sich noch über eine Zeitgenossin, die sich angeblich die oberste Hautschicht hatte abziehen lassen, um eine rosigere Haut zu besitzen. Heute, nachdem die Narkosen den damit verbundenen Schmerz beseitigt haben, findet niemand mehr etwas Bemerkenswertes an ähnlichen Praktiken. Ein Teil des Publikums giert so sehr nach Gentherapie und künstlicher Befruchtung, nach Organtausch und konfektionierten Wunschkindern[6], daß die Gesetzgeber, so willfährig sie ohnehin schon gegenüber der Bioindustrie sind, es nur mühsam im Zaum halten können. Die Bioindustrie beruft sich zu Recht auf ein Publikum, das nach ihren Erzeugnissen schreit, und ihre Lobbys üben Druck auf Parlamente mit Behindertendemonstrationen im Rollstuhl aus.

 

Bei den italienischen Regionalwahlen im Frühjahr 2000 stellte sich in Rom ein bekannter Gynäkologe und Experte in künstlicher Befruchtung mit einer Ad-hoc-Liste auf, die er bezeichnenderweise „Liberale Aktion“ nannte und deren Programm in der „Deregulierung“ des Fortpflanzungsbusiness und in Laborbabys für alle bestand; er erzielte durchaus einen Achtungserfolg, vor allem bei Wählerbefragungen. Hier gibt es keine Täter und Opfer. Ganz ähnlich stehen die Urenkel der Matrosen, die auf dem von Eisenstein verewigten „Panzerkreuzer Potemkin“ ihr Leben riskierten, um gegen das von Maden durchsetzte Fleisch zu protestieren, heute Schlange bei McDonald's, um für dasselbe Fleisch zu bezahlen. Nicht Rassenfanatiker betreiben die neue Eugenik, sondern brave Eltern, die um die Gesundheit ihrer Kinder besorgt sind. Nicht, daß man sich darüber wundern sollte, angesichts dessen, was die wertförmig vergesellschafteten Individuen schon alles begierig aufgenommen haben. Die Remarques unterstreichen, daß es wenig konsequent ist, die Klonierung zu kritisieren, wenn man vorher all den anderen Entwicklungen zugestimmt hat, aufgrund derer man jetzt nicht einmal mehr ein Argument gegen die Gentechnologie finden kann. Diejenigen, die „irgendwo zwischen dem Handy, den Beruhigungsmitteln und dem Computer das Gefühl ihrer Würde verloren haben, können sicher nicht durch eine Tomate mit Fischgenen verstört werden“ (Rem. 16). Denn wer nicht gegen das heutige Leben protestiert und ihm nicht eine andere Vorstellung vom Leben gegenüberzustellen vermag, hat der Gentechnologie nichts wirklich entgegenzusetzen; deren Ergebnisse können im Grunde auch nicht viel schlimmer sein als das, was wir schon vor Augen haben (Rem. S. 87).

 

Das ist eines der Hauptparadoxe der Warengesellschaft: all das, was vom vergesellschafteten Menschen gemacht ist und zum Teil vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht existierte (Wirtschaftskrisen, Massenverelendung, von der Technik erzeugte Desaster, Autoverkehr, Umweltverschmutzung usw.), wird als unvermeidbar und unabänderbar akzeptiert, während das, was man vielleicht tatsächlich „natürlich“ nennen könnte oder was ein anderes Zeitalter „Wille Gottes“ genannt hätte, um jeden Preis geändert und dazu die Welt bis in die Atome und die Gene hinein umgewälzt werden soll. Hinzu kommt noch, daß viele der sogenannten „natürlichen“ Probleme (die Zunahme der Sterilität, das Überhandnehmen vieler Krankheiten usw.) ein Ergebnis eben der Industriezivilisation sind, von der eine zusätzliche Portion verlangt wird, um diese Probleme zu beseitigen. Nicht die Umgebung, der Mensch hat sich zu ändern. Wenn ein Paar nicht unfruchtbar bleiben will, täte es vielleicht gut daran, eine Umgebung aufzusuchen, in der man weniger Benzol einatmet. Aber offensichtlich ist es für das Marktsubjekt leichter, ein Chromosom zu spalten als seine Arbeit oder seine Wohnung zu wechseln oder gelegentlich zu Fuß zu gehen. Insofern ähnelt es sehr dem Mann, der mit einem Kind spazierengeht und, als dieses in den Bach fällt, überlegt, wie er es herausziehen kann, ohne selber naß zu werden, und ihm schließlich zuruft: „Versuche, nicht unterzugehen! Ich eile, die Quelle zu verstopfen!“. In der Tat, trotz den Allmachtsphantasien einiger Biotechnologen und ihrem Gerede von einer „zweiten Schöpfung“ und trotz der Begeisterung des Publikums, das ihnen mehr Wunder zutraut als das mittelalterliche Publikum einem Heiligen, sind die praktischen Ziele so schäbig wie nur möglich. Die wirklichen Nutzanwendungen der „zweiten Schöpfung“ sind meistens der Art, eine Kartoffel zu züchten, die beim Braten weniger Fett aufsaugt und es deshalb den US-Amerikanern erspart, ihre „Eß“gewohnheiten zu ändern (Verde Ambiente Società 2/2000). Ebenso mickrig ist der Zeithorizont dieser „vom Menschen in die Hand genommenen Evolution“. Er geht nicht über den nächsten Geschäftsbericht hinaus, nicht einmal auf der ökonomischen Ebene: es ist der Bioindustrie gleichgültig, daß sie den Ast absägt, auf dem sie sitzt, indem die von ihr hervorgerufene Verringerung des genetischen Patrimoniums mittelfristig die Möglichkeit begrenzt, in der Natur neue genetische Ressourcen zwecks kommerzieller Ausbeutung zu finden (vor allem in der Pharmaindustrie). Auch hier ersetzen die Nanosekunden des Markts die ehernen Tafeln des „sterblichen Gottes“ Staat.

 

Die Marktsubjekte sind unter Umständen ungehalten, wenn sie das Gefühl haben, daß die Multinationalen sich auf ihre Kosten einen zusätzlichen Gewinn verschaffen wollen, und die kritischsten unter ihnen sehen den Sinn von geklonten Affen und viereckigen Kartoffeln nicht ganz ein. Aber sie alle wollen partout nicht auf die angeblichen „Vorteile“ der Biotechnologien im medizinischen Bereich verzichten, auf Gentherapien, Befruchtungstechniken und Organtausch. Wenn sie schon sonst auf nichts ein Recht zu haben meinen, nicht einmal auf ein bißchen Luft oder Wasser, so wollen sie doch auf keinen Fall auf ihr „Recht auf ein Kind“ verzichten. Es ist noch relativ einfach, gegen Genmanipulation zu protestieren, aber es gehört Mut dazu – ungefähr so, wie um im 17. Jahrhundert die Existenz von Hexen in Frage zu stellen – gegen Organtransplantationen und künstliche Besamung zu sein (und so jemand wie Rifkin vermeidet es sorgfältig). Die Einheit der Biotechnologien wird fast immer übersehen: dieselben, die sich gegen die Gentechnologie wenden, sind oft für künstliche Befruchtung im Namen derselben Freiheit des demokratischen Verbrauchers. Die Linke sieht in ihrem Delirium hierin sogar einen gesellschaftlichen Fortschritt, und die katholische und konservative Rechte protestiert nur gegen Details, wie die Disponibilität dieser Techniken für unverheiratete Paare, Singles und Homosexuelle. Selbst der Papst, der doch ohne Rücksicht auf Verluste gegen Empfängnisverhütung und Abtreibung ist, verfällt auf subtile Unterscheidungen, sobald es um genetische Therapien und Organverpflanzung geht (Il Manifesto, 30.8.2000). Hier wäre es wirklich angebracht, vom „Einheitsdenken“ zu sprechen: die in den Medien, den linken wie den rechten, zu Wort Kommenden unterscheiden sich nur hinsichtlich des Grades, in dem sie die Biotechnologien akzeptieren. Aber es gibt keinen „richtigen“ und „falschen“ Gebrauch der Biotechnologien, ebensowenig wie im Falle der Atomspaltung, und erst recht ist es keine Lösung, sie vertrauensvoll dem Staat zu überlassen und das Unheil nur in der privaten Forschung und der Patentierung zu sehen.

 

Bezeichnend ist, daß gerade der bürgerliche Humanismus, der immer die „Würde des Menschen“ oder seine „Integrität“ und „Unantastbarkeit“ im Mund führt, es jetzt für unmoralisch erklärt, wenn ein Individuum sich nicht als Ersatzteillager für andere auffassen will und seine Organe lieber mit in sein Grab nimmt. Es genügt aber auch in diesem Fall nicht, auf die nachteiligen Folgen hinzuweisen, wie die (ganz wörtliche) Ausschlachtung derjenigen, etwa in Brasilien oder Indien, denen ihr Körper als einziges Wertobjekt verbleibt. Es ist die Sache als solche, die unvereinbar mit jeder Auffassung vom Individuum als qualitativer Einheit ist. Die Vorstellung, der tote Mensch sei ein bloßes Material, das zum Weiterfunktionieren der anderen Bestandteile der „schönen Maschine“ zu dienen habe, ist natürlich eng verwandt mit der Betrachtung des lebenden Menschen als bloßem Rädchen dieser Maschine. Nicht umsonst vermachte gerade Bentham seinen Körper der Wissenschaft. Die Wertvergesellschaftung hat ihren Obskurantismus so weit getrieben, daß die alten Verbote und Gebote der Religionen dagegen als die reinste Vernunft erscheinen. Das einstige kirchliche Verbot der Autopsie erscheint als humaner als das heutige wissenschaftliche Gebot, die hundert Milliarden Gene des menschlichen Körpers einzeln aufzuknacken und dann zu patentieren. Gegenüber der Verbreitung genetischer Tests vor der Heirat im Interesse einer Erzeugung gesunder Kinder könnte man dem Tolstoi der Kreutzersonate recht geben, der die Ergebung ins Schicksal predigt, wenn Kinder krank werden.[7]

 

Sogar die Unsterblichkeit versprechen einige der Bioprediger, sei es indirekt durch Klonation, sei es direkt durch Verewigung der „Information“, aus der ihnen zufolge der Mensch besteht. Man kann sich leicht ausmalen, wie eine solche Vorstellung den Warensubjekten schmeichelt, denen ihre Computer jeden Tag ihre Nichtigkeit dartun und die sich, wenn sie mit der dritten Computer- oder Handy„generation“ innerhalb weniger Jahre nicht mehr mitkommen, selber überholt vorkommen und vom Arbeitsmarkt und von ihren Kindern auch so behandelt werden. Im alten Ägypten war die Unsterblichkeit der Seele ursprünglich auf den Pharao beschränkt und wurde später (das waren noch demokratische Schlachten!) auf immer weitere Kreise ausgedehnt. Das Christentum versprach dann allen, groß und klein, die Unsterblichkeit im Himmel. Jetzt verheißt die Wissenschaft sie – gegen Bezahlung – schon in dieser Welt. Schöne Vorstellung, daß ausgerechnet die Individuen des gegenwärtigen Stadiums der Menschheitsentwicklung bis in alle Ewigkeit weiterexistieren sollen, und wahrscheinlich die Molekularbiologen und die Aufsichtsräte der Monsanto als erste! Als man im 19. Jahrhundert den Schriftsteller Ernest Renan fragte, ob er an die Unsterblichkeit glaube, erwiderte er: „Ich sehe keinen Grund, warum mein Lebensmittelhändler unsterblich sein sollte“. Steuerzahler, Wähler und Fernsehzuschauer des 21. Jahrhunderts sind es tatsächlich wert, daß die ganze zukünftige Evolution nach ihrem Bild umgemodelt wird und die zukünftigen Menschen in saeculo saeculorum ihnen ähnlich sehen! Dann wären tausend Jahre wirklich wie ein Tag, aber wegen der Langeweile.

 

Natürlich wird die Gentechnologie hier, wie in vielen anderen Fällen, einen Großteil ihrer Versprechungen überhaupt nicht halten und ihren Gläubigen noch schöne Überraschungen bescheren. Wenn sich z. B. manche Kritiker über die Möglichkeit beunruhigen, daß die Reichen ihren Kindern ein genetisch verbessertes Erbgut hinterlassen können, dann setzen sie nicht nur die Art von Kritik fort, die nicht das Wesen der kapitalistischen Neuerungen beklagt, sondern nur ihre ungerechte Verteilung (und die Bioapologeten erwidern ihnen nicht zu Unrecht kühl, daß die Kinder der Reichen schon immer viele Privilegien hatten), sondern glauben auch an die Propaganda, der zufolge Intelligenz oder Kreativität oder „weibliches Einfühlungsvermögen“ genetisch bedingt und manipulierbar sind. Jedenfalls werden zum ersten Mal in der Geschichte die Reichen ihre eigenen Kinder der schönen Maschine als Versuchskaninchen zur Verfügung stellen; seit dem Baal-Kult der Phönizier haben sie keinen so großen Tribut mehr zahlen müssen.

 

Das Lieblingsthema der Medien, die Klonierung von Menschen, ist allerdings eher eine Vogelscheuche, deren erbitterte Diskussion von dem ablenkt, was schon längst in großem Maßstab stattfindet: die Anwendung der Genmanipulation auf die Landwirtschaft (Rem. S. 15). In der Tat, nirgendwo verbreiten die Biotechnologien sich so schnell und ist die von ihnen ausgehende Gefahr so groß (Rifkin S. 140). Trotzdem wird hier erst recht das Problem auf eins des Umwelt- und Verbraucherschutzes reduziert. Nicht, daß diese Perspektive nicht höchst bedeutend wäre: so haben viele genmanipulierte Pflanzen vor allem die sympathische Eigenschaft, „widerstandsfähiger“ gegen genau die Unkraut- und Schädlingsbekämpfungsmittel zu sein, die von derselben Firma verkauft werden, die die entsprechende Pflanze in Umlauf bringt – und „widerstandsfähiger“ heißt, daß sie größere Mengen davon aufnehmen können, zum Vorteil der Verbraucher am Ende der Nahrungskette. Wir Menschen werden jedoch nicht, wie gewisse Unkrautsorten, im Lauf weniger Jahre gegen fünffache Mengen Pestizide resistent werden (Le Monde diplomatique, August 1999). Aber die Gentechnologie will überhaupt diejenige Tätigkeit abschaffen, die Tausende von Jahren lang die Grundlage aller menschlichen Kultur und des ganzen menschlichen Lebens war, so wie wir es kennen und auf welches sich letztlich alle unsere Hoffnungen und Projekte beziehen. Die Biotechnologien ermöglichen es, Gene in Nährlösungen wachsen zu lassen, und machen so eine Landwirtschaft „ohne Samen, ohne Pflanzen, ohne Nährboden, ohne Anbau, ohne Ernte und ohne Bauer“ (Rifkin S. 48) möglich. Sie erlauben es, um einige Beispiele anzuführen, Truthähne ohne „Brütinstinkt“ zu züchten, was die Zahl der gelegten Eier erhöht (Rifkin S. 49), und Lachse ohne „Eierlegeinstinkt“, die deshalb im offenen Meer bleiben (Rifkin S. 53), oder dem Holz seine Starre zu nehmen (Rifkin S. 130). Selbstverständlich übermitteln diese experimentell hergestellten Lebewesen ihre neuen Merkmale dann ihren „natürlichen“ Artgenossen, bis es so etwas überhaupt nicht mehr gibt. Dafür existieren dann stapelbare viereckige Tomaten die mit Fischgenen versehen sind, um kälteresistenter zu sein, vor Fleischesfülle gehunfähige Schweine und Mais, der unbegrenzte Mengen von Pestiziden verträgt.


Aber, so fragen die Rémarques zu Recht, wie war es denn um diese Landwirtschaft vor der Erfindung der GMO (genmodifizierten Organismen) bestellt? „Wenn man gewissen Opponenten Glauben schenkt, könnte man sich vorstellen, daß auf dem französischen Land alles in Ordnung war, bevor man daran dachte, dort genmanipulierten Mais zu pflanzen. Aber im Namen wessen kann man sich dem Projekt widersetzen, industriell die Natur der Natur zu verändern, wenn man vorher nichts gegen die Agroindustrie zu sagen wußte, die, indem sie Pflanzen und Tiere wie Maschinen behandelte, an sich schon ein ganzes Programm war?“ (Rem. S. 49). Die industrialisierte Landwirtschaft mit all ihren Scheußlichkeiten, die sich im Lauf weniger Jahrzehnte durchgesetzt hat, ist nicht die Fortsetzung der vorhergegangenen „Humanisierung der Natur“, sondern deren totale Verneinung. Die Lebensbedingungen des modernen Viehs ähneln sehr denen der modernen Menschen, die „gleichfalls auf Zementplatten aufgehäuft, mittels Computern verwaltet und genauso funktionell ernährt und medizinisch versorgt werden“ (Rem. S. 54). Am Anfang des Kapitalismus stand die Umstrukturierung der Landwirtschaft, und heute erreicht die Enteignung der Ressourcen ein vorher unmöglich geglaubtes Stadium, wenn beinahe alle Aspekte der Reproduktion und der Erhaltung des Lebens zum Monopol einiger Industriegruppen werden, die endgültig die Menschheit vom Zugang zu den Naturgrundlagen abschneiden, um ihr dann Ersatzstoffe zu verkaufen (Rem. S. 70). So werden wir auch für das reine Überleben von der Mega-Maschine abhängen, wie im Fall der genmanipulierten, autosterilen Samen, die die Bauern jedes Jahr neu kaufen müssen, nachdem sowieso schon in weniger als einem Jahrhundert die Praxis der Selbstversorgung mit Samen praktisch verschwunden ist (Rifkin S. 186). Mit Bezug auf eines dieser Produkte schreibt Riesel: „Die ,Terminator‘ genannte Technik der Pflanzensterilisierung stellt den größten Triumph des Projekts der politischen Ökonomie dar: ein steriles Lebewesen zu fabrizieren […] Was von der Idee eines menschlichen Sinns unserer Existenz übrigbleibt, das will die bloße Möglichkeit eines ,Terminators‘, seiner Konkurrenzmanipulationen oder den Versprechungen seiner Anwendung auf den Menschen endgültig kolonisieren und uns dazu dressieren, in ihrer Gesellschaft zu überleben“ (Riesel S. 11-12).[8]


Das ist das Endergebnis von fünfhundert Jahren industrieller Warengesellschaft: das tägliche Essen ist wieder eine gesellschaftliche Grundfrage geworden. Wie einst, gibt es Bauchfüllung für die einen – gestern Hirsebrei, heute Supermarktfraß – und Essen für die Reichen. Und dieses Reichenessen von heute ist nicht das Essen der Reichen von einst (so ein Wild gibt es gar nicht mehr), sondern das eines besseren Bauern von vor hundert Jahren. Die Warengesellschaft ist nicht einmal in der Lage, die geringste ihrer Versprechungen, wenigstens alle zu ernähren, zu halten, ohne auf Motoröl im Tierfutter, Pflanzenfett im Kakao, Dioxin in den Hühnern und kannibalisch gemachte Kühe zurückzugreifen und ohne eine EU, die, sobald Schadstoffe im Essen entdeckt werden, die zulässigen Grenzwerte anhebt (so etwa bei der Verdopplung der Höchstgrenze des krebserregenden PCB im Fleisch als Reaktion auf den Skandal der belgischen Dioxin-Hühner; La Repubblica 19.8.1999).[9] Natürlich tut die EU das nicht, ohne einen Großteil der traditionellen Produktionsmethoden, z. B. bei der Käseherstellung, oder das Pizzabacken auf dem Holzkohlefeuer aus „hygienischen“ Gründen zu verbieten.[10] Aber die ständige Abschaffung aller Qualitätsmaßstäbe bei Nahrungsmitteln durch die EU (unter anderem völlige Deregulierung bei Brot, Nudeln, Honig und Schokolade sowie Abschaffung der Herkunftsangaben) im Namen der „freien Konkurrenz“ hat nicht nur eine wirtschaftliche Bedeutung: wer angeherrscht wird, alles ihm Vorgeworfene in sich hineinzuschaufeln, ohne auch nur fragen zu dürfen, um was es sich eigentlich handelt, dem wird auf einer der elementarsten Ebenen der Existenz seine Sklaverei und seine Nichtigkeit gegenüber der „schönen Maschine“ bedeutet.[11]

 

Wer im England der achtziger Jahre eine öffentliche Schule besuchte, in deren Mensen das allerbilligste Fleisch benutzt wurde, hatte gute Chancen, vom Rinderwahn (also der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit) angesteckt zu werden und heute in der Blüte seiner Jugend dahingerafft zu werden (Corriere della Sera, 17. 7. 2000). Auf jeden Fall hat er das Vergnügen, zu erfahren, in seiner Kindheit mit einer Art von Knochenmehl gefüttert worden zu sein. Wer würde da nicht an Marx' Beschreibung der Schweinereien denken, mit denen das englische Proletariat zu seinen schlimmsten Zeiten vollgestopft wurde?[12] Jetzt gehen vorsichtige Schätzungen davon aus, daß in den nächsten Jahren allein in England fast 150.000 Menschen an CJK sterben werden. Die industrialisierte Landwirtschaft hat es also dahin gebracht, das erste Versprechen aller Zivilisation wieder zurückzunehmen, nämlich die Sicherung des nackten Überlebens wenigstens in Friedenszeiten. Millionen von Individuen werden sich pausenlos beobachten müssen, um die möglichen Anzeichen einer fatalen Krankheit bei sich zu entdecken, gegen die es dann doch keine Abhilfe gibt, ganz wie bei einer mittelalterlichen Pestepidemie. Für jeden anderen als den warenförmigen Verstand war nichts vorhersehbarer als dieses Desaster. Es handelte sich bei dem aus Rinderkadavern zubereitetem Rinderfutter keineswegs nur um eine ganz gewöhnliche kriminelle Lebensmittelpantscherei und Streckung mit Fremdstoffen, die überall praktiziert wurde und wird, wo es um Gewinn geht. Aus einem Pflanzen- einen Fleischfresser und sogar einen Kannibalen zu machen ist vielmehr eine Folge der „verkehrten Welt“ des Wertes, in der, weil das Abstrakte konkret und das Konkrete abstrakt ist, sich alles in sein Gegenteil verkehrt. Keine wissenschaftliche Detailstudie ist notwendig, um vorauszusehen, daß ein solcher, und so leichthin begangener, Eingriff nicht folgenlos bleiben kann; die Erinnerung an den ersten Satz der europäischen Philosophie, den Spruch des Anaximander, hätte schon genügt.[13]

 

Die Schlacht ist im Gang. Gegenüber der Großoffensive der Bioindustrien hat sich eine weltweite Protestbewegung gebildet, viel schneller als gegen die Atomenergie und während es noch so gut wie gar keine gegen den Autoterror gibt.[14] Neoliberalismus und Biotechnologien sind die beiden Hauptangriffspunkte der in Seattle ins Rampenlicht getretenen neuen Bewegung, die nicht nur die größte kapitalismuskritische Bewegung seit vielen Jahren darstellt, sondern die auch den Zusammenhang dieser Phänomene begriffen hat. Ihre Hauptschwäche ist es sicher, noch in Illusionen über das „aktive Bürgertum“, die „demokratische Debatte“, die „Reform der Weltbank“, die Anrufung des Gesetzgebers und die Chancen nationalstaatlicher Regulation verstrickt zu sein. Die demokratischen Illusionen werden vermutlich schnell zuschanden gehen angesichts der Willfährigkeit, mit der die Staaten und internationalen Organisationen vor dem Druck kapitulieren, den die Bioindustrie ausübt. So will die Europäische Kommission, auch gegen den Widerstand vieler Einzelstaaten, möglichst schnell das ihr zufolge völlig „illegale“, seit 1998 bestehende Moratorium für die Zulassung neuer GMO aufheben (Le Monde, 18.7.2000). Nachdem im Frühjahr 2000 in Frankreich Tausende von Hektaren mit illegal importiertem, GMO-verseuchtem Mais bepflanzt worden waren, erklärte die französische Regierung zuerst, die entsprechenden Anpflanzungen zerstören lassen zu wollen, um schließlich die gegenteilige Entscheidung zu fällen (Le Monde, 18.7.2000). Dieselbe Taktik des Versuchsballons und der vollzogenen Tatsachen stand hinter der „irrtümlichen“ Vergabe eines gesetzlich nicht möglichen Patents für die Manipulierung menschlicher Keimbahnen durch das europäische Patentamt in München.

 

Aber auch die noch übriggebliebenen Bauern fangen an zu reagieren. Die 1987 gegründete „Confédération paysanne“, heute die zweitgrößte Bauerngewerkschaft Frankreichs, hat in Europa nicht ihresgleichen. Sie verteidigt das Kleinbauerntum gegen den „Produktivismus“ und kämpft gegen die von der Regierung und der EU unter Mithilfe der offiziellen, korporativistischen Bauerngewerkschaft seit fünfzig Jahren betriebene Reduzierung der Landwirtschaft auf eine kleine Anzahl ausgedehnter, industriemäßig betriebener und spezialisierter Höfe. Hier verlangen nicht nur die üblichen „Verbraucher“, sondern die Bauern selbst eine qualitätsorientierte Agrarproduktion, die umweltverträglich, gesund und solidarisch mit dem Süden der Welt ist. Ansatzweise stellte die Confédération auch die ganze gesellschaftliche Logik in Frage, die zur Zerstörung der traditionellen Landwirtschaft geführt hatte. Ein radikaler Flügel (darunter José Bové und René Riesel) begann ab 1998, mit genmanipulierten Pflanzen bebaute Felder oder Forschungseinrichtungen zur Gentechnologie zu zerstören und die darauffolgenden Prozesse zur Verbreitung ihrer Kritik zu benutzen, während die meisten Führer der Confédération mittlerweile in den Ministerien ein- und ausgingen. Der Durchbruch in die große Öffentlichkeit erfolgte im August 1999 mit der Demontage eines McDonald's im südfranzösischen Millau und der darauffolgenden Inhaftierung von José Bové, der zum Märtyrer wurde und das dann außerordentlich medienwirksam verkaufte. Er wurde so zum zeitweilig populärsten Menschen Frankreichs, was durchaus zeigt, daß die Themen der Confédération ein breites gesellschaftliches Bedürfnis ansprechen.


Die damit einhergehende Verwässerung der Inhalte und die Suche nach dem größtmöglichen Konsensus allerdings, die sich vor allem in der zunehmenden Konzentration auf das Thema des „Drecksfraßes“ – gegen den natürlich jeder ist – äußerte, fand nicht die Zustimmung all seiner alten Kampfgefährten, von denen einige weiterhin gegen den industriellen Kapitalismus und nicht nur gegen die „Globalisierung“ und den Ultraliberalismus kämpfen wollen. Der zum Schafzüchter gewordene ehemalige Situationist René Riesel, einer der Hauptbetreiber der Zerstörungen von Feldern und Silos mit genmanipuliertem Mais, sieht in seinem bereits zitierten Pamphlet in den „Bürgern-Umweltschützern-Verbrauchern“ mit ihren Schlagworten der Transparenz, der Kontrolle, der Sicherheit und der Bürgerbeteiligung, auf die sich nunmehr auch Bové beschränke, besonders raffinierte Verteidiger des herrschenden Systems. Sie wollen nicht die Ökonomie aufheben, sondern nur eine „Ökonomie mit menschlichem Gesicht“ haben (Riesel S. 20), weshalb sie „den Staat an seine Pflichten erinnern“ möchten und allen keynesianischen und etatistischen Nostalgien gegenüber offen sind. Aber, so wirft Riesel ein, es gibt keine „saubere“ Landwirtschaft und Ernährung in einer unveränderten Gesellschaft. Die Probleme der Landwirtschaft sind nur durch ein Ende des „Verkünstlichungsprozesses“ lösbar – dazu jedoch wäre etwas ganz anderes als eine „Bürgerkontrolle“ nötig (Riesel S. 18). Zuerst täte eine Kritik an der gesellschaftlichen Funktion der Forschung not, auch der öffentlichen Forschung, und eine Rückkehr zur Sabotage in der luddistischen Tradition, also zur wirklichen, nicht nur virtuellen und medienbezogenen Aktion (Riesel S. 52).[15]

Trotzdem wäre es wohl falsch, die Plötzlichkeit, mit der die Aktionen und Vorschläge der Confédération paysanne zu einem der dominierenden Themen des öffentlichen Lebens in Frankreich geworden sind – weshalb sogar Staatspräsident Chirac und Ministerpräsident Jospin den erklärten Anarchisten und Gesetzesbrecher Bové hofierten – sowie die dementsprechende Bewegung (fünfzigtausend Leute beim Prozeß in Millau im Juli 2000) für rein medienerzeugt ohne reale Grundlage zu erklären. Die Offenheit, mit der seit Jahren in den meisten europäischen Medien von den nachteiligen Folgen der Biotechnologien und vieler anderer Segnungen des Fortschritts gesprochen wird, ist tatsächlich verdächtig. Aber man muß darin auch einen Versuch der Medien sehen, Glaubwürdigkeit zu bewahren, um so dazu beitragen zu können, ein weitverbreitetes Mißtrauen unter Kontrolle zu halten, das ganz von selbst entstanden ist. Wenn immer häufiger die Apologeten der Genmanipulation erbittert ausrufen, die Kritik an dieser ziele „eigentlich“ auf die Forschung selbst und die Wissenschaft überhaupt, ist das leider zur Zeit ziemlich übertrieben. Aber man kann sich persönlich ziemlich leicht davon überzeugen, daß ein tiefsitzendes Unbehagen gegenüber der ständigen Umstrukturierung des Alltagslebens durch die einander jagenden Technologien beginnt, sich quer durch alle politischen Überzeugungen und gesellschaftlichen Lager zu verbreiten. So unformuliert und inkonsequent dieses Unbehagen auch meist ist, handelt es sich dabei doch um einen der für die Weiterentwicklung der industriellen Warengesellschaft ungünstigsten Faktoren. Entscheidend ist vor allem ein Übergang von der nachträglichen Kenntnisnahme einzelner Risiken (jetzt wissen alle, daß Asbest gefährlich ist) zu einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber dem Schoß, aus dem all diese Monster kriechen. Zu Recht. Eine Wissenschaft wie die Gentechnologie kann man a priori ablehnen, ohne jedesmal mühsam nachweisen zu müssen, warum ihr jeweils jüngster Einfall katastrophale Folgen haben wird und ohne jahrelang als Versuchskaninchen dienen zu müssen. Es genügt, die völlige Unverantwortlichkeit zu betrachten, mit der die Genetiker vorgehen, ihre komplette Abhängigkeit von den Profiterwartungen ihrer Auftraggeber und die Ausgrenzung derjenigen Kollegen, die die leisesten Zweifel geäußert haben, damit es gerechtfertigt ist, nichts davon wissen zu wollen. Denn die traditionelle Trennung zwischen dem Laboratorium, wo man gefahrlos experimentieren kann, und der Welt ist verschwunden: seit der Kernspaltung wird jede neue Erfindung sofort in Lebensgröße ausprobiert mit irreversiblen Folgen (Rem. S. 31). Die oft auch von Kritikern verlangten „Experimente“ mit GMO sind unmöglich, denn man müßte riesige Flächen viele Jahre lang mit ihnen bepflanzen, um die Wirkungen zu kennen, und dann handelte es sich natürlich um kein Experiment mehr. Von positiven Auswirkungen der heutigen Technik zu schwadronieren, hat erst recht keinen Sinn: keines der Probleme, die heute die Welt und ihre Bewohner plagen, ist technologisch lösbar. Es handelt sich um gesellschaftliche Probleme. Die einzigen Fragen, die sich mit den modernen Technologien lösen lassen, sind so interessante wie die, wie man ununterbrochen telephonisch Befehle empfangen und Daten ungefähr so schnell übermitteln kann wie einst die Post einen Brief und wie sich endgültig das gehaßte Buch überflüssig machen läßt.


Der Widerstand gegen den technologischen Terror einerseits[16] und gegen die Arbeitsgesellschaft in ihrer extremsten Form, der neoliberalen, andererseits, ist, wie gesagt, noch in vielen Illusionen befangen. Daß sich manche Elemente der Wertkritik bei seinen Trägern verbreiten werden, ist mehr als wahrscheinlich. Aber wie steht die Wertkritik ihrerseits dazu, nachdem sie sich von einem gewissen Produktivkraftfetischismus befreit hat? Lange Zeit berief sie sich, wenn sie von der Möglichkeit sprach, die Arbeitsgesellschaft zu überwinden, auf die Potentiale, welche die mikroelektronische Revolution, und das heißt die Informatik und die Kybernetik, geschaffen hat. Aber deswegen blieb sie manchmal auch in deren Horizont und in deren Aporien befangen. Könnte das Jenseits der Warengesellschaft nicht vielleicht eher einige Züge einer weltweiten Agrargesellschaft tragen als die einer Computergesellschaft? Will die Wertkritik, ganz wie die Welthandelsorganisation, ihren Segen dazu geben, wenn Hunderte Millionen von Bauern, die es im Süden der Welt noch gibt, von ihrem Land vertrieben und ins Computerzeitalter gejagt werden? Die Kritik der konkreten Arbeit ist richtig, wo diese als Trägerin der abstrakten Arbeit erscheint. Aber wer wäre gegen selbstbestimmte Tätigkeit? Ist Marx' und Engels’ Vision einer Gesellschaft, wo man morgens jagt, nachmittags fischt, abends Viehzucht treibt und nach dem Essen kritisiert (MEW 3/33) nicht vielleicht einem Zustand vorzuziehen, wo man vor einem Schaltbrett sitzt, um die Maschinen alles für sich machen zu lassen? Marx hatte folgende Definition einer selbstbestimmten Tätigkeit gegeben: „Wirklich freies Arbeiten, z. B. Komponieren, ist grade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung“ (MEW 42/512). Wer einmal auf dem Land gearbeitet hat, weiß, wie sehr das auf Landarbeit paßt; sie ist anstrengend, man ist in gewisser Weise froh, wenn sie zu Ende ist, und trotzdem ist man nicht nur auf das Resultat stolz, sondern hätte es auch nicht auf Knopfdruck aus dem Boden wachsen sehen wollen. Dann wäre man sich wie betrogen vorgekommen. Ähnliches gilt für das Handwerk.

 

Die Konzentration, die großen Dimensionen, die Spezialisierung und die Mechanisierung der Landwirtschaft sind an sich unvereinbar mit einer gebrauchsorientierten Produktion und einer angenehmen Tätigkeit. Die Gentechnologie beschleunigt nur die durch die gesamte moderne Landwirtschaft bereits verursachte Verarmung des genetischen Patrimoniums.[17] Die Industrialisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft sind nicht vom Neoliberalismus und der Globalisierung erfunden worden. Ausgedehnte Monokulturen oder Haltungen großer Tiermengen auf kleinstem Raum führen notwendig zu Krankheiten und zum massiven Einsatz von Gegenmitteln, bis hin zur Gentechnologie. Heute gibt ein Schweinezüchter pro Tier im Durchschnitt mehr als 300 Mark für Antibiotika aus (Le Monde diplomatique, August 1999). Landwirtschaft ist sinnvoll nur im kleinen Maßstab und mit relativ großem Tätigkeitsaufwand. Die Vorstellung, die Maschinen an unserer Stelle arbeiten zu lassen, ist hier absurd, denn das wäre genau die oben beschriebene Nährlösung, welche die Bioindustrie bereitstellt. Eine Gesellschaft jenseits der Warengesellschaft würde natürlich die allgemeine Arbeit schon deshalb stark reduzieren, weil ein Großteil der heutigen Produktion völlig überflüssig ist. Manches läßt sich sicher auch sinnvoll rationalisieren oder sogar automatisieren. Aber nicht der Landbau. Und das ist auch nicht schade. Kaum eine andere Tätigkeit führt so sehr zum Respekt gegenüber der Natur, läßt sich so sehr solidarisch und kollektiv ausüben, ist jedem zugänglich und schafft deshalb keine Hierarchie der Kompetenzen.

 

Für die Zukunft ist ein Zustand vorstellbar, in dem jeder, dem danach zumute ist, einen Teil seiner Zeit mit Landarbeit zubringen kann, ohne privaten Besitz am Boden oder den anderen Produktionsmitteln (Fourier hatte sehr schöne Ideen dazu). Und bereits jetzt wäre ein massenhaftes Kleinbauerntum mit regionaler Selbstversorgung eine sofort praktikable Lösung für die verheerten Länder des Südens (jedenfalls eher als die Idee, die Armen von São Paulo oder Nairobi sollten sich doch im Dienstleistungssektor ein Auskommen suchen!) und böte, sogar innerhalb einer weiterbestehenden globalen Marktwirtschaft, eine Möglichkeit, die wichtigste Ressource selber zu kontrollieren. Ansätze dazu gibt es bereits. Der größte, die Landlosenorganisation Movimento sem Terra in Brasilien zielt zwar nur auf eine institutionell durchzusetzende Landverteilung an Familien, die dann für den Markt produzieren und sich in die Arbeitsgesellschaft integrieren sollen, und hat kein wirkliches gegengesellschaftliches Projekt. Aber allein die massenhafte Rückkehr aufs Land, nachdem die brasilianischen Großstädte jahrzehntelang wie ein Malström ganze Generationen verschlungen haben, bedeutet eine Abkehr von der kapitalistischen „Entwicklung“.

 

Es handelt sich dabei nicht nur um ein Phänomen der Dritten Welt. Auch in Frankreich beginnen seit zehn Jahren jedes Jahr mehr als zehntausend, meist aus der Stadt kommende Menschen eine landwirtschaftliche Tätigkeit bescheidener Dimension, die den Richtlinien der EU-Agrarpolitik nicht genügt und deswegen kein Recht auf normale Subventionen hat. Der Staat versucht diese Tendenz zu regulieren unter dem Vorwand, den Neubauern zu helfen und den Arbeitslosen eine Erwerbsmöglichkeit zu verschaffen. Unter der Vielzahl der Organisationen, die sich auf diesem Felde tummeln, gibt es auch solche wie die Bewegung „Droit paysan“, die von der Hilfe des Staates möglichst unabhängig bleiben wollen, nicht auf Marktintegration setzen und gelegentlich brachliegende Ländereien besetzen. So wenig diese weltweiten Ansätze auf einen Nenner zu bringen sind und so sehr die daran Beteiligten oft nur eine individuelle Nischenexistenz auf dem Markt suchen, so verstehe ich es doch als den wichtigsten heute existierenden Ansatz zu einer Wiederaneignung der Ressourcen im Sinne einer „Antipolitik und Antiökonomie“, vor allem da, wo das Land ohne monetäre Gegenleistung angeeignet wird. Ob die Wertkritik nicht vielleicht besser daran täte, dazu beizutragen, das theoretische Niveau dieser tendenziell systemüberwindenden Bewegungen zu heben, statt sich mit obskuren linken Restsekten herumzuschlagen?

 

Was Positionen wie die hier zitierten von der romantisch-reaktionären Fortschrittskritik unterscheidet, ist allein schon, daß letztere einfach zur Vergangenheit zurück will und gerade deren schlechteste Aspekte verherrlicht (Unbeweglichkeit, Geschlechterrollen, Respekt der Hierarchien, Religiosität usw.). Es geht hingegen darum, die dort bestehenden Möglichkeiten zu verteidigen. So schreibt Riesel: „Es gibt keine Bauern mehr, weil es keine Bauerngesellschaft mehr gibt und keine mehr geben wird. Was man wiederfinden muß, ist nicht die Kontrolle aller durch alle, die jahrhundertelang die abenteuerlustigsten ihrer Kinder hat fliehen lassen, sondern die Gesamtheit all der Entwicklungs- und Überwindungsmöglichkeiten, die sie enthielt und deren historische Chancen die industrielle Warengesellschaft zerstört hat“ (Riesel S. 33). Was sagen diejenigen, für die das Landleben notwendig eine reaktionäre Utopie ist, zu den libertären Bauernkollektiven in Spanien 1936-1937, „wo alles hätte neu anfangen können“ (Rem. S. 71)? Im Süden der Welt wird zur Zeit innerhalb weniger Jahre der Schrecken der hundertfünfzigjährigen Vertreibung der Bauern in Europa wiederholt und werden alle Lebenszusammenhänge, die nicht von der Warengesellschaft geschaffen und noch nicht völlig von ihr durchdrungen sind, abgeschafft. „Die Liquidierung des weltweiten Bauerntums bedeutet auch die des letzten großen Vorrats an anti-industriellen menschlichen Möglichkeiten (Riesel S. 64). Wer weiß, ob die Menschheit nicht bald einen wertkritischen Bauernaufstand erleben wird.

 

Die ungeheuerliche Hybris, die in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts steckt, aber vor allem in dem Versuch, in ein paar Jahren eine ungleich tiefgreifendere Naturbeherrschung einzurichten als in den Jahrtausenden zuvor und eine völlig an die Warengesellschaft angepaßte Natur zu konstruieren, ist das größtmögliche Gegenteil jedes Projekts der menschlichen Emanzipation. Was immer dieser Maschine ins Rad greift, ist willkommen. Oder kann man nichts mehr machen, weil das Wissen um die Biotechnologien nunmehr besteht und in den Köpfen verankert ist? Solch ein Fatalismus ist historisch wenig gerechtfertigt. Marx zitiert im Kapital folgende Stelle einer Geschichte der Erfindungen: „Anton Müller habe vor ungefähr 50 Jahren [um 1580] eine sehr künstliche Maschine in Danzig gesehen, die 4-6 Gewebe auf einmal verfertigte; weil der Stadtrat aber besorgt habe, diese Erfindung möchte eine Masse Arbeiter zu Bettlern machen, so habe er die Erfindung unterdrückt und den Erfinder heimlich ersticken oder ersäufen lassen“ (MEW 23/451).



Endnoten


[1] Wahrscheinlich wissen manche nicht einmal, was die Schweizer Novartis ist: einer der Kolosse der Chemie und Biotechnologie (ebenso wie Monsanto oder Dupont), hervorgegangen aus der Verschmelzung der Agrochemiefirma Ciba-Geigy mit dem Pharmazeutikkonzern Sandoz, der bereits in den achtziger Jahren durch seine liebevolle Behandlung des Rheins aufgefallen war. Die Nestlé hatte ihrerseits schon vor vielen Jahren die Babys in der „Dritten Welt“ beglückt, indem sie ihnen die Segnungen des Milchpulvers brachte; sie gehört heute zu den größten Anbietern genmanipulierter Nahrungsmittel.

[2] Natürlich beruhen nicht alle Biotechnologien auf der Gentechnologie. Letztere stellt den radikalsten Eingriff in die Funktionsweisen des Lebens dar und ist am umstrittensten, während die „traditionelleren“ Biotechnologien wie Organtausch und künstliche Besamung sich praktisch ohne jeden Widerstand durchgesetzt haben.

[3] Ich stütze mich im folgenden einerseits auf The Biotech Century (1998) von Jeremy Rifkin (deutsch: Das biotechnische Zeitalter, München 2000), der viel empirisches Material zusammenträgt, aber die gesellschaftliche Bedeutung seines Untersuchungsgegenstandes kaum zu verstehen vermag und überdies von den möglichen „positiven“ Anwendungen der Biotechnologien fasziniert ist, die doch in Wirklichkeit genauso grauenerregend erscheinen wie die „negativen“. Andererseits benutze ich die ganz anders gearteten Remarques sur l'agriculture génétiquement modifiée et la dégradation des espèces [Bemerkungen zur genetisch modifizierten Landwirtschaft und dem Verfall der Arten] (1999) der Encyclopédie des Nuisances, einer Pariser, ursprünglich von den Situationisten angeregten Gruppe, die seit längerem eine scharfe „Fortschritts“kritik betreibt, sowie die gleichfalls vom Verlag der Encyclopédie verlegten Déclarations sur l'agriculture transgénique et ceux qui prétendent s'y opposer [Erklärungen zur genmanipulierten Landwirtschaft und denen, die behaupten, sich ihr zu widersetzen] (2000) von René Riesel. Beide Texte sind stark in die hier vorgelegte Argumentation eingeflossen. Aber vielleicht wäre das beste Buch gegen die Gentechnologie eine unkommentierte Sammlung von Behauptungen ihrer Betreiber und Verfechter. Es würde einem die kalten Schauer über den Rücken jagen: die englischen Biologieprofessoren, die menschliche Föten ohne Kopf züchten wollen als Organbank für Transplantationen (Rifkin S. 64-65) stellen durchaus keinen Extremfall dar. Es in Zukunft zu lesen würde denselben Effekt bereiten wie heute die Lektüre von Dokumenten über die Nazi-Medizin, und die Vorstellung, mit solchen „Wissenschaftlern“ auch nur zu diskutieren, würde mit der verglichen werden, mit den Nazis über Euthanasie und Menschenversuche mit KZ-Insassen verhandeln zu wollen. Weder die Gentechnologie noch die Nazimedizin sind Abirrungen vom Pfad der „eigentlichen“ Medizin, sondern eher das Zu-sich-selbst-Kommen einer Medizin, die ihren Gegenstand völlig verdinglicht hat. Die Nazimedizin sah in den KZ-Insassen nur ein nützliches Material, genau wie die medizinische Forschung heute in den „überzähligen“ und eingefrorenen Embryonen (Rem. S. 95), nach denen sie zwecks menschen-freundlichen Experimenten giert (und die sie, jedenfalls in Belgien, auch schon bekommen hat). Der Vergleich zwischen Gentechnologie und Nazismus ist durchaus nicht nur metaphorisch und polemisch gemeint: kürzlich sind Berichte bestätigt worden, denen zufolge in den sechziger Jahren einer der bekanntesten US-Genetiker, James Neel, ganze Indianerstämme im Amazonasgebiet bewußt mit einer tödlichen Krankheit geimpft hat, nur um die „natürliche Selektion“ zu studieren, und um zu sehen, ob sich ein „kleiner resistenter Rest“ herausbildet. Das berichtet der investigative Journalist Patrick Tierney in seinem Buch The Darkness in El Dorado, das im letzten Herbst erschien (vgl. The Guardian 23.9.2000). Vieles von dem, was ursprünglich als Schreckensvision konzipiert worden war, z. B. die zukünftige Entwicklung zweier auch biologisch inkompatibler Menschenrassen, natürlich einer Herren- und einer Sklavenrasse, z. B. bei H. G. Wells (Die Zeitmaschine) oder bei A. Huxley (Schöne neue Welt), wird heute von Propheten des Biotechnikzeitalters als positive oder zumindest unvermeidliche Folge der von ihnen bejubelten Techniken dargestellt, wie bei einem gewissen Lee Silver (zitiert bei Rifkin S. 252 f.), der durchaus als Autorität in seinem Fach gilt.

[4] Selbst der vom gesellschaftlichen Zusammenhang weitgehend abstrahierende Rifkin zieht eine Parallele zwischen den Biotechnologien und den Enclosures in England, diesem Urbild der Enteignung des Kollektiveigentums.

[5] Als Lucile Desmoulins 1793 in Paris auf das Schafott stieg und seufzte: „Freiheit, wieviele Verbrechen werden in deinem Namen begangen“ konnte sie nicht ahnen, welchen Sinn diese Worte zwei Jahrhunderte später annehmen würden.

[6] Warum sich darüber wundern, daß man sich in Besamungskliniken die Spermien nach Phänotyp, Größe, Statur, Augenfarbe, Intelligenz, Ethnie und Nationalität aussuchen kann (Rifkin S. 62), hat doch der Westen dank dem Angebot an Kaffeesorten in den Supermärkten über das Reich des Bösen gesiegt?

[7] Seit zahlreiche Menschen durch Bluttransfusionen angesteckt worden sind (vor allem mit HIV und Hepatitis), könnte man direkt froh sein, den Zeugen Jehovas anzugehören, die Transfusionen ablehnen. Auch deren Verweigerung von Impfungen könnte sich eines Tages als „Selektionsvorteil“ herausstellen, wenn die maßlose Verbreitung von Impfungen gegen die harmlosesten Krankheiten (wie Mumps) mit dem menschlichen Immunsystem gründlich aufgeräumt haben wird. Vegetarier waren vor Rinderwahn geschützt. Man könnte sich mit ein bißchen Phantasie eine Situation vorstellen, in der Spinner und Sektierer aller Art als einzige eine Serie von Fortschrittskatastrophen überleben. Auch das gehört zur Dialektik der Aufklärung: eine wörtliche Bibelauslegung kann heute nützlicher sein als ein Arztbesuch. Eher abstruse Weltanschauungen anthroposophischer, spiritualistischer usw. Art blamieren sich heute oft weniger an der Wirklichkeit als die waren- und technikfetischistische Vernunft. Diese oft auch empirisch feststellbare Tatsache nährt dann das typische Umschlagen der Aufklärungsvernunft in ihr scheinbares Gegenteil. In der New Age-Bewegung schließlich ist der Übergang vom Cyberspace zur Gebetsmühle und umgekehrt permanent.

[8] Die Warengesellschaft wird in Frankreich von den radikalen Strömungen oft unter dem etwas vagen Namen „die Ökonomie“ bekämpft, aber dabei immerhin der Arbeiterbewegungsmarxismus ganz ähnlich wie bei der Wertkritik eingeschätzt, nämlich als Vertreter der Reduktion der Gesellschaft aufs Ökonomische: „Und deshalb ist der erste hergelaufene Idiot heute 'Marxist', das heißt Ökonomist, Anhänger der Herrschaft der Ökonomie, bevor er, je nach Wahl, liberal ist oder, wie man jetzt sagt, Bürger“, während es „Marx' wesentlicher Beitrag war, zu zeigen, daß es spezifisch die von der Industrie erlaubte Warenherrschaft ist, die seit damals dafür gesorgt hat, daß die Hypothese einer reinen Herrschaft der Ökonomie die einzige im Lauf des Industriezeitalters eröffnete Möglichkeit wurde“ (Riesel 19). Allen früheren revolutionären Bewegungen, fügt Riesel hinzu, fehlte die Autonomie im Sinne eines Bruchs mit den Fortschrittsideologien.

[9] Natürlich kann man sich dem zum Teil entziehen, indem man „Bio“ kauft. Aber um das systematisch zu tun, braucht man schon ein Einkommen, das man im allgemeinen nur durch eine aktive Beteiligung an den Scheußlichkeiten dieser Gesellschaft erzielt. Außerdem ist die biologische Nahrung auch nicht mehr das, was sie einmal war, und hat den Appetit derer erregt, die sie immer notwendiger machen: so ist jetzt auch Novartis ins Bio-Business eingestiegen.

[10] De Gaulle seufzte bezeichnenderweise: „Wie soll man schon ein Land regieren, in dem es dreihundert Käsesorten gibt?“ Aber auch für solche Probleme hat die EU bessere Lösungen parat als der alte General. Heute bekommt man immer wieder in französischen Käsegeschäften Flugblätter in die Hand gedrückt: „Retten wir unsere Käse!“

[11] Wenn er dabei draufgeht, hat er eben Pech gehabt, die Maschine hat nun einmal ihre Kehrseiten. So sind schon Menschen nach der Verspeisung der bereits mehrfach erwähnten Tomate mit Fischgenen gestorben, weil sie gegen Fisch allergisch waren, aber nicht genug gesunden Menschenverstand besaßen, diesen im Tomatensalat zu vermuten. Die Gentechnologen werden mit der oft beklagten platten Ruhe des satten Bürgers aufräumen, der seinen Nervenkitzel dann einfacher haben kann als dadurch, daß er mit nackten Händen Felswände hochklimmt.

[12] Wallersteins Statistik über das Essen der englischen Mittelschicht (zitiert in Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, Eichborn, Frankfurt 1999, S. 18) ist also noch zu optimistisch, wenn sie feststellt, daß man am Ende des 19. Jahrhunderts wenigstens wieder auf dem spätmittelalterlichen Niveau angelangt war: sie berücksichtigt nur die Quantität der Nahrung.

[13] Obwohl das mit dem Thema dieses Artikels nichts direkt zu tun hat, sollte trotzdem angemerkt werden, daß die offensichtliche Ablehnung jeder Vorstellung von Akkumulation und linearem Fortschritt im Spruch des Anaximander Interpreten wie A. Sohn-Rethel Unrecht zu geben scheint, die in den ionischen Naturphilosophen umstandslos die ersten Vertreter der Warenlogik zu sehen meinen. Wie überhaupt das antike Denken, drückten diese gleichzeitig deren Auftreten und den Widerstand dagegen aus.

[14] Das Mißtrauen des Publikums gegen GMO ist nunmehr so groß, daß die Gentechnologie droht, auf der ökonomischen Ebene zu scheitern: die US-amerikanische Weigerung, GMO enthaltende Produkte zu etikettieren, hat das unvorhersehbare Ergebnis gezeitigt, daß in den letzten Jahren die Importe von amerikanischem Mais und Soja (wo GMO am meisten benutzt werden) nach Europa um 90 % zurückgegangen sind (Il Manifesto, 23. 5. 2000), weil die Importeure das Risiko vermeiden wollen, von ihren Käufern bestraft zu werden. Die Deutsche Bank hat letztes Jahr ihren Kunden geraten, nicht mehr in Biotechnologien zu investieren. Aber es wäre ein fragwürdiger Erfolg, wenn diese aufgrund rein ökonomischer Motive aufgehalten würden.

[15] Eine besonders gelungene Form der Sabotage wurde in Italien kurz vor Weihnachten 1998 durchgeführt: Einer Nachrichtenagentur wurden einige der in Italien zu Weihnachten von allen Familien gekauften Panettoni-Kuchen einer der Nestlé gehörenden Marke zugestellt, in die Blausäure gespritzt war. Die Absender gaben bekannt, andere vergiftete Panettoni in die Supermärkte gebracht zu haben, um gegen die besonders von der Nestlé betriebene Genmanipulation zu protestieren. Es brach eine Panik aus, und es wurden praktisch kaum noch Panettoni irgendeiner Marke verkauft. Die Firma schloß ihre Fabrik zeitweilig wegen Auftragsmangel. Zwar wurde kein einziges Giftbrot im Supermarkt gefunden, aber in sämtlichen italienischen Familien wurde die Affäre, und damit die Genmanipulation, zum Gesprächsgegenstand beim Weihnachtsessen. Die Autoren wurden nie gefaßt, aber auch wenn man sie entdeckt hätte, hätten sie kaum etwas zu befürchten gehabt: sie hatten ja nie ein vergiftetes Brot in Umlauf gebracht, sondern nur eine Drohung ausgesprochen. Ein Beispiel dafür, wie effektvolle Sabotage- und „Propaganda“-Aktionen mit kleinstem Aufwand und geringem persönlichem Risiko durchgeführt werden können, wenn man die Umstände strategisch gut zu nützen versteht.

[16] Auch an anderen Fronten artikuliert sich dieser Widerstand z. B. rückt die Schädlichkeit der elektromagnetischen Wellen jetzt ins Blickfeld, und damit die von Handys, Fernsehantennen, Hochspannungsleitungen usw.

[17] „In Indien pflanzten vor nur fünfzig Jahren die Bauern mehr als 30 000 traditionelle Reissorten an. Heute machen 10 moderne Sorten mehr als 75 % des dort angebauten Reises aus“ (Rifkin 181). Die Differenziertheit, die die Bauernkultur in zehntausend Jahren geschaffen hat, wird nun für ein Apfel und ein Ei verhökert, ebenso wie alle anderen Unterschiede. Während die gesamte natürliche wie menschliche Evolution in Richtung immer größerer Differenziertheit gingen, hat die Warengesellschaft innerhalb weniger Jahrzehnte diese Tendenz umgekehrt.