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Petra Haarmann, Jörg Ulrich & Gerold Wallner


Entstehen als Subjekt?



Zuerst veröffentlicht als Teil der Buchpublikation Gültige Aussagen. Was ist die bürgerliche Gesellschaft und warum hat sie keinen Bestand?, erschienen 2013 im Mandelbaum Verlag





Subjektivität als Gewaltverhältnis


An dieser Stelle wollen wir uns der Frage unterziehen, wie ein Individuum zum Subjekt wird beziehungsweise dazu gemacht wird. Diese Frage ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Modernen Ensembles[1], da sie direkt an die gesellschaftlichen Bewegungen, Aussagen und Handlungen rührt und die Basis für das Selbstverständnis der Mitglieder der Gesellschaft abgibt. Die Frage ist vor allem insofern virulent, als sie mit dem positiven Selbstverständnis der Gesellschaft und ihrer Mitglieder oder besser Bestandteile kollidiert, da, wie wir ja – auch an anderen Orten dieses Buchs – immer wieder betont haben, Subjektivität keine Errungenschaft der Leute, sondern ein an ihnen ausgeübtes Gewaltverhältnis ist; Gewaltverhältnis sowohl dort, wo sich Subjekte konstituieren, als auch dort, wo sie durch diese Subjektivität anderer in einen Zustand von Rechtlosigkeit versetzt werden. Aus diesem Zustand können sie sich wieder nur befreien durch Emanzipation, also durch die Konstitution als Subjekt selbst, womit das Gewaltverhältnis nicht aufgehoben, sondern nur affirmativ und zustimmend besetzt wird. Die Gewalt wird nun durch Selbstbeherrschung und Beherrschung seines Metiers auf sich selbst bezogen und positiv gedeutet, also vernünftig. Das geht dann so weit, dass selbst jene, die den Umsturz bestehender Vehältnisse und die radikale gesellschaftliche Neuordnug auf ihre Fahnen geheftet haben, dies auch nur als Emanzipation revolutionärer Subjekte sich vorstellen können.


Emanzipation ist aber Subjektkonstitution in die Öffentlichkeit hinein und in der Öffentlichkeit; dabei umfasst dieser Prozess in aller Regel ganze Bevölkerungsgruppen, Schichten und Klassen, auch wenn diese ihre Nachteile primordialer, also ursprünglicher, zugewiesener Rechtlosigkeit nie ganz verlieren, was dann in beschönigenden Darstellungen Grund für weitere Emanzipationsschritte, also weitere Gewalt an sich selbst, bessere Beherrschung seiner selbst und seines Metiers wird: Die Frauen sollen ihre so genannte Doppelbelastung, die nicht europäischen Völker ihre so genannte verspätete Entwicklung zum Anlass nehmen, sich noch mehr um gesellschaftliche Vollwertigkeit, um Emanzipation zu bemühen. Wie aber sieht es mit Individuen aus, die noch nicht in gesellschaftlichen Verbänden und in der Öffentlichkeit als Subjekte zu Gange sind? Wie werden diese etwa als Parteimitglied, als Klassengenosse, als Frau im bürgerlichen Modernen Ensemble zur Welt gebracht? Welchen Vorlauf müssen sie durchmachen, um in dieser Welt als Subjekt mit jener Selbstverständlichkeit anzukommen, die dann die subjektiven Handlungen, Aussagen und Unternehmungen erlauben? Wir sehen schon, dass wir es hier mit der Heranbildung junger Menschen zu tun haben, die nicht in der Öffentlichkeit sich abspielt, auch wenn der Raum, in dem sich diese Zurichtung vollzieht, ein öffentlich zugänglicher sein mag wie etwa eine Schule. Dennoch handelt es sich nicht um Öffentlichkeit im Sinne diskursiver, konkurrenter Verfahren, also Meinungen und Unternehmungen. Vielmehr handelt es sich um gesellschaftliche Institute, also um Einrichtungen, die der Internalisierung von Vernunft und Natur, also Gesetzmäßigkeit von Natur aus, dienen, mithin auch nicht um subjektive Akte oder Unternehmungen, da diese Zurichtungen keine konkurrenten, diskursiven, beliebigen Veranstaltungen sind, sondern objektive Prämissen mit Wahrheitsanspruch und Befehlsform.


Es handelt sich hier um zwei Institute, die wir näher betrachten wollen in ihrer Funktion als Orte der Zurichtung der Menschen. Das eine Institut ist die Familie, das andere die Schule. Der Unterschied zwischen beiden liegt dann aber nicht, wie oberflächlich erscheinen könnte, am gesellschaftlichen Ort – also privat und öffentlich –, sondern schlicht in der Größe, also der Kapazität der zu erfassenden und zuzurichtenden Menschen. Der gesellschaftliche Ort ist in beiden Fällen aber in der Abspaltung zu suchen. Das scheint auf den ersten Blick nicht zutreffend zu sein, wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie wir Abspaltung definieren. Zunächst sind wir von einem Ausdruck des spezifischen bürgerlichen Verhältnisses der beiden biologischen Geschlechter ausgegangen. Die Frauen sind in ihren gesellschaftlichen Tätigkeiten und Äußerungen von der männlichen, in welcher Form auch immer Wert produzierenden Arbeit abgespalten und auf den nicht öffentlichen Raum verwiesen. In der Regel wird diese Abspaltung dann dem ersten Augenschein folgend entlang des Arbeitsbegriffs diskutiert. Als zwei Beispiele mögen hier Roswitha Scholz[2] und Harry Cleaver[3] angeführt werden, wobei die eine der Arbeit nicht affirmativ gegenübersteht und an den weiblichen Subsistenztätigkeiten nichts sieht, das über die Schranken des Systems hinausweisen könnte; im Gegenteil, die besonderen weiblichen, vorgeblichen Tugenden und Fertigkeiten wie Liebesfähigkeit oder Empathie sind kein besonderes Vermögen der Frauen, das für die Umgestaltung der Verhältnisse eingebracht werden kann, sondern es handelt sich um Erfordernisse des Modernen Ensembles, die in der Abspaltung und von den Frauen als gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten abgerufen werden. Cleaver dagegen steht diesen Tätigkeiten differenzierter gegenüber, indem er sie dem Marx’schen Arbeitsbegriff der Lohnarbeit zuordnet, aber betont, dass sie nicht bezahlt werden. Daraus ergibt sich bei ihm eine Position, von der aus das Kapital (in der marxistischen Terminologie) attackiert werden kann. Der Bewegung „Lohn für Hausarbeit“ steht er nicht nur positiv gegenüber, sondern hält sie auch für einen klassenkämpferischen Ansatz, subsumiert sie einem politisch definierten Klassenbegriff.


Demgegenüber halten wir an der Aussage von Scholz fest, dass aus einem Erfordernis der bürgerlichen Gesellschaft nichts Positives zu erwarten ist, es sei denn für das Funktionieren eben dieser Gesellschaft selbst, aber nichts im Sinne von Überschreitung und Systemtransformation. Darüber hinaus betonen wir aber, dass die Abspaltung nicht nur einfach als die dunkle, verschwiegene, verdrängte Seite der Wert produzierenden Arbeit zu sehen ist, die in die unbezahlten Bereiche der gesellschaftlichen Tätigkeit verwiesen und dort aus Liebe, Engagement oder Affirmation geleistet wird, wobei Liebe selbst gesellschaftliche Notwendigkeit ist und keine immer schon vorhandene Eigenschaft zwischen Menschen, die voneinander angezogen werden, sondern konstitutiver Bestandteil der Gesellschaft des Modernen Ensembles. Die Abspaltung zeigt sich nicht nur an Wert und Arbeit, indem sie diese ermöglicht, sondern sie tritt mit Wert und Arbeit gleichzeitig auf in dialektischer und physischer Verschränkung und zeigt sich dabei auch an der abstrakten Subjektivität, am Subjekt als Form des gesellschaftlichen Handelns selbst. Auch hier finden wir sie wieder als die dunkle, verdrängte, verschwiegene Seite, nicht als schieres Gegenteil der Subjektivität, sondern wieder mit ihr unlösbar verschränkt, als Bezugspunkt gesellschaftlichen Handelns, das nicht Unternehmung ist, ebenso wie als Ausgangspunkt und Endpunkt der Unternehmung selbst. Keine Unternehmung, kein subjektives Handeln ohne Abspaltung, wobei die Abspaltung nicht einer Rationalität unterliegt, deren vernünftige, quasi ökonomische Gründe darin lägen, dass Tätigkeiten, die sich nicht rentierten, in diesen Bereich verwiesen und externalisiert würden, wie wir aus der Volkswirtschaftslehre und der Erstellung staatlicher Budgets kennen, oder dass unbelohnte Voraussetzungen (der Lohn liegt in der guten Tat selbst) für die Subjektkonstitution geschaffen werden müssten, also Hierarchie und Ableitungsverhältnis vorlägen. Nein, wer immer sich als Subjekt konstituiert, konstituiert gleichzeitig die Abspaltung.


Das ergibt sich aus der schlichten Tatsache, dass das Subjekt abstrakt ist, dass Leute, die sich als Subjekt konstituieren, ihrer Eigenarten entraten müssen, nehmen sie doch nur die allgemein verbindliche Form gesellschaftlichen Handelns an und hat doch ihre Unternehmung nichts mit Selbstverwirklichung zu tun. Mehr hat es damit zu tun, dass die Subjekte sich selbst (als konkreten Personen) Gewalt antun, wenn dies auch als gesellschaftliche Tugend des erwachsenen weißen Manns gepriesen, beschrieben und gefordert wird. Paradigmatisch und mustergültig gilt hier der Diskurs Freuds um Sublimierung, also die Umwandlung von Triebkräften in geistige Leistungen, und seine Formulierung des Ziels der Psychoanalyse, nämlich dass PatientInnen durch Einsicht in Zusammenhänge Wahrheit über die Persönlichkeitsstörung erfahren und so damit umgehen lernen. Es gilt also als therapeutischer Erfolg, die spezifischen Eigenschaften der Persönlichkeit nicht mehr als bestimmend zu erleben, sondern sie selbst zu bestimmen, wobei diese Bestimmung als erwachsener Umgang mit der Neurose angestrebt wird. Auch hier finden wir in einer hellsichtigen Selbstbeschreibung der bürgerlichen Gesellschaft die Forderung nach Subjektkonstitution, wobei Subjekt nicht einmal als der natürliche Zustand beschrieben wird, sondern als Leistung der Normalisierung und wohl auch Normierung in der Gesellschaft des Modernen Ensembles. Das Konkrete verschwindet also nicht durch die Abstraktheit, ihm wird nur in der Subjektivität Gewalt angetan, um es zu gesellschaftlichem Handeln anzuhalten, und ihm wird in der Abspaltung der Raum zur Entfaltung gegeben. Das können wir durchaus provokant als Perversion bezeichnen; Perversion nicht im Sinne des Abweichenden, Devianten, sondern als Umkehrung des Öffentlich-Diskursiven. Hier steht nichts mehr zur Debatte, die Eigenart findet hier ihre verschwiegene Bestätigung. Dass sie aber verschwiegen wird, verdankt sie der Subjektkonstitution.


Das Verschweigen der Eigenarten, das Unterdrücken und Zurichten der Eigenarten an Person und Körper zum Subjekt ist dann, was wir als Erziehung erleben. Es handelt sich dabei um eine gesellschaftliche Tätigkeit, die nicht die Form gesellschaftlichen Handelns im Sinne der Subjektivität annimmt, denn Subjektivität muss durch diese Tätigkeit erst hergestellt und eingeübt werden. Das heißt: Hier steht nichts zur Disposition, hier werden keine Diskurse geführt, keine Konkurrenzen abgehalten. Nun könnte eingewandt werden, dass es doch innerhalb der pädogogischen Wissenschaften die verschiedensten Auseinandersetzungen über die richtige Erziehungsmethode gibt. Von Krabbelstuben, Kindergärten über Volksschulen und Gymnasien bis in die Universitätsinstitute konkurrieren Ausübende und Lehrende mit ihren Ausbildungsangeboten und ihren Einrichtungen. Keine Schule, die nicht ihr pädagogisches Profil auf ihrer homepage darstellte, keine Fachpublikation, die nicht die Konzepte des Vorgängers widerlegte, keine Fachpädagogik, die sich nicht in politischer oder wissenschaftlicher Konkurrenz von anderer abzuheben versuchte. Dies alles sind berechtigte Einwände, die aber unberücksichtigt lassen, dass sie nicht an das Wesentliche rühren – nämlich an die Notwendigkeit gesellschaftlicher Zurichtung der Zöglinge dieser Anstalten: Kinder, Jugendliche, Schülerinnen und Schüler sollen zu mündigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern, zu autonomen Subjekten gemacht werden. Das ist nicht verhandelbar. Verhandelbar sind die individuellen Ansichten darüber, wie dies am ehesten zum Nutzen der Gesellschaft, zum Nutzen der Kinder, zum Nutzen der Erziehungsinstitute, zum Nutzen aller Beteiligten durchzuführen sei. Die Notwendigkeit der Erziehung selbst und noch vielmehr der Ziele dieser Erziehung (der erwachsene, autonome, eigenverantwortliche bürgerliche Mensch, der mit seiner Eigenverantwortlichkeit die Entscheidung über das Fortkommen der Gesellschaft in ihrer kosmischen Gesamtheit auf sich nimmt – wie ein mythischer Held), sie sind nicht in Frage gestellt. Sie unterliegen nicht der Meinung, sondern dem Befehl. Sie sind kein Teil einer Unternehmung, sie sind in der Abspaltung zu verorten.


Abspaltung erscheint oft dem ersten Augenschein nach als der Bereich, in dem die gesellschaftliche Tätigkeit der Frauen verschwiegen und unbezahlbar gemacht wird: im Sinne von nicht entlohnt und daher nicht produktiv ebenso wie im Sinne von nicht zu überschätzen und so der profanen Ökonomie entzogen und durch die Liebe geadelt. Der gesellschaftliche Befund gibt diesem Augenschein Recht, allerdings beschränkt er sich nicht auf das empirische Geschlecht, und zwar dort nicht, wo die gesellschaftliche Tätigkeit der Abspaltung, wie oben beschrieben, über Identifikation von Individuum und Subjekt, von Individuum und Abspaltung – über die Familie also – hinausgeht. Dennoch ist der neue junge Mensch, der in die Gesellschaft des Modernen Ensembles hineingeboren wurde, zunächst nur mit einigen wenigen individuell differenten Personen in Berührung, die zunächst Frauen sind: Mutter, oft auch noch Großmutter. Wir haben auch an anderer Stelle betont, dass Schwangerschaft und Geburt – Muttersein – keine Unternehmung darstellen; hier treffen sich biologische Gegebenheiten und ihre gesellschaftliche Interpretation, um das Muttersein mit unhintergehbarer Festigkeit auszustatten und von den Frauen einzufordern, egal was deren emanzipatorische Unternehmungen auch seien. So werden beispielsweise die unterschiedlichsten Politikansätze (je nach Ausgang der Wahlen, je nach gesellschaftlich-ideologischen Mehrheitsverhältnissen) in Stellung gebracht, um „Mutterschaft und Beruf“ oder „Familie und Berufstätigkeit“ zu vereinen und vereint zu ermöglichen. So erfährt in der letzten Zeit des Modernen Ensembles die Familie als Keimzelle ihre endgültige Reduktion auf das Wesentliche: eine alleinerziehende Frau mit einem Kind (oder mehreren, wenn sie sehr optimistisch oder sehr verzweifelt ist). Was darüber hinaus reicht, wird entlang ideologischer Bruchlinien verhandelt (sind wir jetzt mehr christlich oder mehr liberal, mehr konservativ oder mehr permissiv) und als beliebiges Flickwerk (patchwork family) den Gestaltungsmöglichkeiten der Einzelnen überlassen, die oft genug so sich darstellen, dass sie in den einschlägigen Sozialstatistiken und Armutsberichten und anderen empirischen Untersuchungen als so genannte temporäre Armut erscheinen; der einzelnen Frau es also materiell erst wieder besser geht, wenn ihre Sprösslinge so weit erzogen und erwachsen sind, dass sie ein eigenes Einkommen erzielen.



Die narzisstische Mutter


Was das für die Mütter und ihre Kinder für Folgen zeitigt, zählt zu den dunkelsten Kapiteln des Modernen Ensembles. Was auch immer über das Vorhandensein oder Fehlen von Vätern oder anderen männlichen Bezugspersonen in der Entwicklung und Erziehung eines Kindes beklagt und geschrieben wird – hier zeigt sich ja doch nur die traurige Realität einer Erziehung, die zwar gesellschaftliche Tätigkeit ist, aber individuell, verschwiegen, privat vollzogen wird und dies in aller Regel von den Frauen, die Mütter sind. Gesellschaftliche Tätigkeit, privat vollzogen – hier zeigt sich schon deutlich die abgespaltene und verheimlichte Seite der Subjektivität: Auch hier wird privat vollzogen, was als verpflichtete, gesellschaftliche Tätigkeit gilt – das Verfolgen des Glücks des Einzelnen befördert das Glück aller, Verpflichtung zum Glück wird also zum terroristischen kategorischen Imperativ. Und dieser Befehl gilt ebenso mit aller Schärfe für die Frauen, die erziehen, darin ihr Glück zu finden und durch das Gelingen der Erziehung (dieser Glücksfindung) zum Glück der Gesellschaft beizutragen. Was immer auch Männer dabei für eine Rolle spielen, diese ist marginal, kann als aktives Zutun vernachlässigt werden, beschränkt sich auf den guten Willen beziehungsweise auf gesetzlich vorgegebene Verpflichtungen (die wiederum je nach ideologischer Konjunktur wechseln können, sich in der Regel aber auf den monetären Zuschuss beziehen) und dient hauptsächlich als role model für gelungene subjektive Unternehmung, falls diese Vorbildfunktion der – fernen – Väter nicht auch noch von den Frauen übernommen wird: erotisch attraktiv, liebevoll und freundschaftlich zum Nachwuchs, erfolgreich in Beruf und Karriere wie auch in der Verfolgung so genannter privater Interessen und der Gestaltung eines gelungenen Lebens.


Dies alles wird unter unter dem Begriff des Narzissmus beschreibbar und erkennbar – erkennbar in seiner Brutalität der zugefügten Verwundungen und beschreibbar in der Rückschau auf unsere gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie in der Eigensicht der Gesellschaft selbst. Narzissmus, damit bezeichnen wir, indem wir den psychologischen und psychoanalytischen Traditionen folgen und ihre klarsichtigen Ansätze weiterverfolgen, ein zutiefst gesellschaftliches Verhältnis, ein Verhältnis, das das Verhalten der Individuen untereinander und zu sich selbst gesellschaftlich bestimmt. Es ist dies ein Verhalten, das durch ein schweres Liebesversagen ausgelöst wird, wobei Versagen im doppelten Sinn verwendet wird: durch die Unmöglichkeit, selbst eine gelungene Beziehung aufzubauen und aufrecht zu erhalten, und dadurch, dass eine liebevolle Zuwendung an eins selbst versagt wurde und wird, wobei in beiden Fällen das libidinöse[4] Hinundher unterbunden und durch die Selbstbezogenheit ersetzt wird. In wenigen Fällen kann diese Selbstbezogenheit gesellschaftlich auffällig und als asozial pathologisiert werden. Zwar wird Narzissmus auch durchaus als notwendiges Durchgangsstadium in der Entwicklung von Kindern und Heranwachsenden gedeutet, in dem sie sich selbst entdecken, an sich selbst Wertschätzung und Gefallen finden, ein positives Selbstbild entwickeln, sich auf sich beziehen, wo das Liebesversagen der Heranwachsenden nicht manifest asozial, der Liebesentzug durch Erziehende nicht so bedrohend ist. Die Liebe, die dann entzogene Liebe, ist aber das Akzeptieren der persönlichen Eigenarten des Kindes und entzogen werden muss sie, um damit diese Eigenarten zu vernichten, die sonst geglückter Subjektkonstitution im Weg stehen würden. Und unserer Meinung nach ist dieser Liebesentzug in der Erziehung durchaus eine narzisstische Wunde, die in funktioneller Übereinstimmung mit den Bewegungsgesetzen der Gesellschaft zugefügt wurde und wird, auch gegen besseres Wissen und Fühlen, in Verfolgung der widersprüchlichen Ziele, dass es den Kindern besser gehen solle als einem selbst und dass die Kinder sich in der Gesellschaft zurechtfinden und mit ihren Anforderungen glücklich zu Rande kommen sollen. Darin, in diesem funktionellen Narzissmus, der den Liebesentzug zur raison d’être der Entwicklung und die Liebe der Mutter (nicht nur der empirischen weiblichen Person, sondern jeder Person, die in der Abspaltung erzieherisch tätig ist, deren Liebe daher artifiziell und abstrakt, ein bloßes ideologisches Erfordernis ist) zur Grundlage der Erziehung macht, spiegelt sich das allgemeine Gebot, dass das Fortkommen des Einzelnen ohne erforderliche Rücksichtnahme auf andere das Fortkommen der Gesellschaft bedinge, dass pursuit of happiness also nicht ein Privileg besonders Glücklicher, sondern eine monströse Verpflichtung aller sei. So wie dem Kind die Liebe der Mutter abhandenkommen muss, damit es sich zum Erwachsenen mausern kann, so muss das Individuum sich von allen anderen absondern und sein Eigenes verfolgen, um paradoxen Zugang zu den anderen zu erhalten: Einübung in den Narzissmus also durch frühe narzisstische Verwundung zum Wohle aller.


Wie also stellt sich diese narzisstische Beziehung, diese Einübung in blanke Subjektivität dar? Wir finden in der Abspaltung eine Beziehungskonstellation zwischen Mutter und Kind vor, in der die Befriedigung der narzisstischen Bedürfnisse der Mutter unter Ausnutzung der Abhängigkeit des Kindes im Vordergrund steht. Diese Befriedigung wieder kann als Rekompensation für das Verschwinden aus der bürgerlichen Öffentlichkeit und in der bürgerlichen Abspaltung gelesen werden. Diese Befriedigung kann aber ebenso entziffert werden als der praktische Ausdruck der ideologisch eingeforderten Liebe, zu Mann und Nachkommenschaft ganz allgemein, als Mutterliebe im Besonderen. Bei beiden Ansichten finden wir aber als Basis immer die ursprüngliche narzisstische Verwundung, die Verweigerung der gesellschaftlichen Beziehungen der Frauen, die Verweigerung ihres gesellschaftlichen Platzes und Ansehens in der Öffentlichkeit, ihr Abdrängen in die Nichtbeachtung, in das Vorausgesetzte, ideologisch als Natürliches Definierte, ihre Bestimmung im Heim und am Herd nicht durch die Hochachtung dieser – wie wir immer betonen, gesellschaftlich notwendigen, aber gesellschaftlich verschwiegenen – Tätigkeiten, sondern dadurch, dass diese Tätigkeiten in der öffentlichen gesellschaftlichen Tätigkeit des Manns impliziert und definiert sind. Die Beziehungen der Mütter zu den Kindern, wie liebevoll sie in geglückten bürgerlichen Verhältnissen auch erscheinen (oder sein) mögen, zeichnen sich durch diese narzisstische Wundpflege und wohl auch Weitergabe der Verletzung aus, je nachdem die Kinder nun weiblichen oder männlichen Geschlechts seien. Dass dies zunächst auch für Buben gelten muss, erklärt sich daraus, dass beide, Mütter wie Kinder, im ursprünglich rechtlosen Raum der Abspaltung verharren – aus dem sich die jungen Männer kraft sozialen Geschlechts, die jungen Frauen (wenigstens teilweise) kraft Emanzipation lösen können.


Narzisstisch ausbeuterische Beziehungen – und um solche handelt es sich in der Erziehung – zeichnen sich durch ihren symbiotischen Charakter aus: Das Kind ist für die Mutter sozusagen etwas von ihr Geschaffenes, das sie wie einen unabgegrenzten Teil ihrer selbst erlebt, über den sie beliebig verfügen kann (respective soll und muss als ihr gesellschaftlich zugewiesene Aufgabe). Sie kann das Kind nicht als eigenständiges Wesen wahrnehmen und in seiner Subjektivität anerkennen, da sich ja beide in der Abspaltung befinden; stattdessen stülpt sie ihm narzisstische Bedeutungen über, die auf ihre eigene, gesellschaftlich handelnde Person bezogen sind; sie idealisiert das Kind und spricht ihm Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, die allein ihren (also gesellschaftlichen) Vorstellungen darüber, wie das Kind sein sollte, entspringen. Dass diese Eigenschaften dann in aller Regel die gesellschaftlich erwünschten sind, ist der Normalfall, auch wenn es sozusagen zu Betriebsunfällen kommen kann, die dann in der Kriminalitätsstatistik oder der Pathologie auftauchen. Das Kind jedenfalls hat in solcher Beziehung die Aufgabe, ihr von der Mutter als mangelhaft empfundenes Ich (die ihr einst selbst zugefügte narzisstische Wunde) zu vervollständigen und das Loch im Ich der Mutter wie eine Plombe zu füllen. Zuwendung erfährt es nur, insoweit es den Erwartungen (nämlich den gesellschaftlichen) der Mutter entspricht. Autonomiebestrebungen des Kindes werden unterbunden, bestraft und mit der Erzeugung von Schuldgefühlen belastet und nur soweit zugelassen, wie sie im Dienste der mütterlichen Bedürfnisbefriedigung narzisstisch ausbeutbar sind, also durch Einpassung des Kindes in die Bürgerlichkeit der Mutter Anerkennung durch die Gesellschaft als gute Mutter und so auch Selbstachtung verschaffen. Jedes Abweichen von den Erwartungen der Mutter (identisch mit den gesellschaftlichen Erwartungen) wird von ihr als verletzender oder aggressiver Akt, als Ausdruck des Verrats empfunden (an ihr wie an der Gesellschaft, wie ja überhaupt eine bewusst-unbewusste Identifikation der Mutter von sich selbst mit den gesellschaftlichen Vorgaben die Crux aller Erziehungstätigkeit ist).


Innere wie äußere Trennungen aber müssen um jeden Preis vermieden werden. Daher entbrennt ein Machtkampf nicht nur hinsichtlich des Verhaltens des Kindes, sondern auch hinsichtlich der Kontrolle seiner Gefühle und Gedanken. Die Mutter ist davon überzeugt, das Kind besser zu kennen, als es sich selber kennt – das ist das ihr zugewiesene gesellschaftliche Handeln. Besser als das Kind meint sie zu wissen, was es wirklich denkt, fühlt, will und braucht und was es demzufolge zu denken, zu fühlen, zu wollen, zu tun und zu bekommen hat. Es reicht ihr aber nicht aus, wenn es sich ihren (also wiederum den gesellschaftlichen) Erwartungen lediglich beugt: Es soll selber wollen, was es soll, sich also ganz und gar mit dem Bild, das sie (als Exekutor) von ihm entworfen hat, identifizieren, und sei es ihm auch noch so wesensfremd. Negative Gefühle wie Verletztheit, Ärger, Wut und Hass sind dem Kind nicht oder nur insoweit, als sie auch für die Mutter einen Zweck erfüllen, gestattet, da sie eine Art von Abgrenzung (von der Gesellschaft) darstellen, die Konflikt und damit zumindest vorübergehend innere Trennung mit sich bringt. Hinsichtlich eigener Gefühle und Bedürfnisse unterliegt das Kind einem regelrechten Denk- und Wahrnehmungsverbot und da es sie weder wahrnehmen noch zum Ausdruck bringen darf, erlebt es diese Gefühle als nicht zu sich gehörig und insofern als unwirklich. Irgendwann wird es sie schließlich gar nicht mehr identifizieren können; stattdessen wird es fühlen, was es meint, fühlen zu müssen, und diese fremdbestimmten Regungen wird es mit authentischen Gefühlen verwechseln oder als schon Erwachsenes als Sublimationen an sich selbst als verantwortungsbewusstem gesellschaftlichem Wesen feiern. Erst dann wird es schließlich selbst handeln dürfen und sollen, den anderen Subjekten in der Öffentlichkeit gegenüber als konkurrenter Unternehmer seiner selbst, in der Abspaltung als Herstellerin und Reproduzentin der nämlichen und gleichen Entpersönlichung.



Erziehung und Zurichtung – die alma mater


In dem vorangegangenen kurzen Abriss haben wir uns auf den Lebensabschnitt beschränkt, der durch empirische Mütter geprägt und gestaltet ist – und wohl auch durch Väter, soweit sie sich auf Erziehungsarbeit einlassen oder einlassen müssen. Wir sprechen dabei aber nicht von sozialreformerischen Ansätzen, die voll guten Willens die Männer nötigen oder ihnen anbieten, ihre weiblichen Seiten zu entdecken und Zeit mit den Kindern zu verbringen. Auch wenn beispielsweise skandinavische Länder hier mit einer gewissen Vorbildrolle hausieren geschickt werden, so sagt erleichterter und gut finanzierter oder gar verpflichtender (sollte er denn umgesetzt werden) Vaterschaftsurlaub nichts darüber aus, ob die Frauen der Abspaltung je entkommen können. Die Anzeichen deuten eher auf sozialreformerische Therapien hin als auf Diskurse, die das gesellschaftliche Verhalten, die gesellschaftlichen Bewegungen selbst in Frage zu stellen und umzustoßen im Stande sind. Vaterschaftsurlaub kann hier ja nur bedeuten, was wir an anderer Stelle schon beschrieben haben: Auch Männer treten in die Abspaltung ein, als Ort der Rekreation, der Erholung, der Belohnung für ihre anstrengende öffentliche gesellschaftliche Tätigkeit der Arbeit. Sie verlassen ihn aber auch wieder, gestärkt durch ihre ungesellschaftliche Tätigkeit des Genusses in der Abspaltung (wie schal oder erfüllend, pervers oder abgeschmackt er sein mag). Den Frauen ist dieses Entkommen nicht gegeben; auch wenn sie subjektive Unternehmungen in der Öffentlichkeit durchführen, arbeiten, Betriebe leiten, öffentliche Positionen einnehmen und ausfüllen, bleibt ihnen doch die Tätigkeit, für die Rekreation, die Wiederherstellung, die Reproduktion zu sorgen – es sei denn, sie verweigern vollkommen das Leben in Familie und Partnerschaft, was dann aber wiederum mit gesellschaftlicher Ironie, wenn nicht gar Verachtung geahndet wird (was übrigens auch für Männer gilt, die darin scheitern, eine Beziehung einzugehen und so ihren Erholungsraum zu schaffen: alter Junggeselle und alte Jungfer sind – Singledasein hin oder her – noch immer gesellschaftlich auffällig und dem Mitleid oder der Schmähung ausgesetzt).


Dies aber nur am Rande. Wir sprechen von Vätern, die umständehalber gezwungen sind, in die Abspaltung einzutauchen und dort Haushaltstätigkeit und Kinderaufzucht übernehmen zu müssen, weil beispielsweise die Partnerin abhanden gehommen ist oder aus ökonomischen Gründen ein Rollentausch vorgenommen wurde oder keine andere Rolle vorhanden ist. Diese Fälle sind zwar verschwindend selten, aber doch auffällig genug, um Erwähnung und Beachtung zu finden. In diesem Zusammenhang wird von Hausfrauisierung auch von Männern gesprochen; dass diese dann aber nichts Besseres im Sinn haben, als dieser gesellschaftlichen Entwertung ihrer Tätigkeit so rasch wie möglich entgehen zu wollen, zeigt, wie es um Vaterschaftsurlaub und Ähnliches bestellt ist. Hier handelt es sich in aller Regel um das, als das es bezeichnet wird, um Urlaub – vielleicht mit einer etwas abenteuerlichen Komponente, mit vielen events und auch Überlebenstraining, aber dieser Ausritt ist zeitlich begrenzt. Der Begriff der Hausfrauisierung aber (wie er durch die Werke von Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof geprägt wurde), deutet nicht nur auf die bürgerliche Reduktion der Frauen in der Abspaltung im eigenen Heim hin, er umfasst auch die gesellschaftliche Entwertung von Tätigkeiten, die zwar im öffentlichen Raum stattfinden und allgemein zugänglich sind, wiewohl sie keine Öffentlichkeit konstituieren.


Mit gesellschaftlicher Entwertung ist ihre Entwertung gemeint, was Ansehen und Prestige, Karriere und Hierarchie, Berufsethos und Arbeitslohn betrifft. Die Hausfrau wird eben nicht als Beruf in der Öffentlichkeit gesehen, der dann auch entsprechend bezahlt wird. Im Gegenteil, mit der Hausfrau betritt ein neuer Stand oder richtiger, eine neue Klasse von Menschen die Bühne des sozialen Lebens. Hausfrauen sind ja nicht einmal mehr in ihrem, ihnen zugewiesenen Bereich bestimmend oder herrschend. Abhängig vom Einkommen der Männer oder den Transferzahlungen des Sozialstaats sind sie Gefangene der Mutterschaft. Die einschlägigen Statistiken, Sozialreports und Armutsberichte sprechen nicht nur, worauf wir schon einmal hingewiesen haben, unverhohlen von der Armutsfalle Kinderaufzucht, sondern auch von sozialer Deprivation, der die Mütter, und nicht nur die alleinerziehenden, ausgesetzt sind, wenn sich ihre soziale Umgebung auf ihresgleichen reduziert. Zwar werden in manchen Staaten Erziehungszeiten auf die Pensionsberechtigungen angerechnet, aber auch dies ist nur ein Hinweis darauf, dass diese Tätigkeiten nicht als Arbeit im bürgerlichen Sinne gelten, sondern als Ersatzzeit benannt werden. Diese Entwertung, die sich gesellschaftlich durch die Abhängigkeit von Einkommen anderer und von Transferzahlungen ausdrückt, wird auch mitgenommen, wenn Erziehungs-, Pflege- oder Reproduktions- und Rekreationstätigkeiten in ein geregeltes Lohnarbeitsverhältnis überführt werden, und zwar auf doppelte Art und Weise. Zunächst wird diese Tätigkeit, auch wenn sie aus dem häuslichen Bereich stammt, von Männern ausgeübt. Wenn die Tätigkeit Beruf in der Öffentlichkeit ist und als Lohnarbeit ausgeübt wird, darf sie auch das entsprechende Prestige für sich in Anspruch nehmen: als Arzt, Lehrer, Erzieher, aber auch als Koch, während die Köchin und die Gouvernante am Dienstbotenimage kleben bleiben und die Mutter ihre Ausbildung in Krankenpflege und Heilkunst in der Abgeschlossenheit der Familie als „Hausärztin“[5] einsetzt. Erst wenn Frauen auch in diese Tätigkeitsbereiche außerhalb des eigenen Herds dringen, stoßen sie einerseits auf männlichen Widerstand und müssen die üblichen Emanzipationen durchlaufen, bis hin zum Nachweis, dass sie genauso gut sind wie die Männer (was bedeutet: besser, damit es überhaupt auffällt), dann aber beginnt andererseits das mitgebrachte Gepäck des Häuslich-Abgespaltenen, sich bemerkbar zu machen, und der ganze Berufsstand – vielleicht von den hierarchischen Spitzen abgesehen – gerät unter Generalverdacht des ohnehin aus Liebe Vollbrachten und erleidet Lohnverlust.


Soziale Berufe sind nun plötzlich solche, die eins ohnehin gern macht, die noch dazu mit dem Privileg ausgestattet sind, dass da eins mit Menschen zusammenkommen darf, wo aber zu diesem Behufe gleichzeitig Zuneigung zu den Menschen vorausgesetzt wird. Und weil diese Voraussetzung ja auch ein Anliegen sein muss, wird dies als persönliches Engagement Teil des Anforderungsprofils des Berufs, aber auch eine Vorleistung, nämlich eine Veranlagung, gern mit Menschen umzugehen, die angeblich gerade in diesem Beruf privilegierterweise erfüllt wird. Wir erkennen unschwer das Schema der narzisstischen (und narzisstisch verletzten) Mutter wieder. Liebe, also soziales Engagement, aber ein solches, das wenig bis schlecht oder gar nicht entlohnt wird, wird vorausgesetzt, aber gleichzeitig zur ohnehin vorhandenen Eigenschaft gemacht. Ideologische Forderung in zwiefacher Hinsicht: Die gelobte und sozial notwendig erheischte Eigenschaft soll mitgebracht werden, aber nicht etwa durch gediegene Ausbildung und Lehre. Die gelobte und sozial notwendig erheischte Eigenschaft soll an sich selbst entdeckt werden, nicht als zufällige Veranlagung, die aus Liebhaberei oder Engagement gepflegt wird, sondern quasi als sozial-genetische Disposition, die auf natürliche Art und Weise die Person, die sich so selbst verwirklichen soll, dazu drängt, in einem sozialen Beruf verausgabt zu werden. Die Liebe zu den Schwachen, Bedürftigen, Kindern, die da eins an sich entdeckt hat, will sich selbst und der gesellschaftlichen Forderung Genüge tun. So wird die Gesellschaft erhalten, so wird in der Gesellschaft der Raum erhalten, in dem die Gesellschaft immer wieder und von Grund auf reproduziert wird, und so bleibt das Personal erhalten, das diese Tätigkeit der Reproduktion an den ihm Ausgelieferten oder Überantworteten vollzieht: voll Liebe, Zuneigung und gutem Willen, den das Personal aus sich selbst schöpfen muss und der sein erster und letzter Lohn ist.


Ein in seiner Deutlichkeit blendendes und abschreckendes Beispiel soll hier ausführlich zitiert werden: In der Fachzeitschrift „Erziehung und Unterricht“ erschien aus der Feder einer Lehrerin der Artikel „Möglichkeiten und Grenzen von Demokratie im Alltag von Schülerinnen und Schülern mit geistiger Behinderung“. Zunächst wird ein allgemeiner Abriss der gesetzlichen Bestimmungen des Schulwesens in Österreich in Bezug auf die Schülermitgestaltung (SMG in der offiziellen Abkürzung) vorgestellt. Dabei wird gesagt:


Seit 1998/1999 unterstützen die Stadt Wien, der Stadtschulrat für Wien und der Landesverband Wien der Elternvereine an öffentlichen Pflichtschulen die Tätigkeit der SchülerInnenvertretung mit speziellen Informations- und Trainingsmodulen.

Seit dem Jahr 2001/2002 finden parallel zu den Schulungen für SchulsprecherInnen und deren StellvertreterInnen auch LehrerInnenmodule für jene LehrerInnen statt, die an den einzelnen APS[6]-Standorten mit der SMG betraut sind und die SchülervertreterInnen in ihrer Arbeit unterstützen („VertrauenslehrerInnen“).

Leider wurden bei diesem wichtigen Schritt zu mehr Demokratie an Schulen die Sonderschulen für schwerst- und mehrfachbehinderte Kinder gesetzlich nicht berücksichtigt.


In der Folge wird diesem Mangel durch eine engagierte Lehrerin, die dann diesen Erfahrungsbericht verfasst hat, tatkräftig abgeholfen:


Nach mehreren erfolglosen Versuchen, die SMG an ihrer Schule, SSO[7], SPZ[8] 14 in der Kienmayergasse, einzuführen, bat mich Frau Direktorin Heidi Maria Bauer im Jahr 2002, die Funktion der „Vertrauenslehrerin“ zu übernehmen. Es zeigte sich, dass das vorhandene Konzept für HS/KMS/ASO[9] nicht unvermittelt auf den S-Schulbereich übertragen werden konnte und weder adäquate Unterlagen noch Erfahrungsberichte zur Verfügung standen. (…) Es galt, alle Einwände ernst zu nehmen und Vorurteile auszuräumen. Lehr- und Betreuungspersonen mussten ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass es nicht darum geht, für SchülerInnen, sondern mit ihnen zu denken. Mit der Unterstützung der Direktion und anfangs noch wenigen überzeugten Kolleginnen und Kollegen versuchte ich, die Idee der SMG in den Schulalltag der SSO zu integrieren.


So wurde dann auch zur Wahl der entsprechenden demokratischen Vertretungsorgane geschritten:


Nachdem in allen Klassen auf unterschiedlichste Weise – den Kompetenzen der SchülerInnen entsprechend – KlassensprecherInnen gewählt worden waren, wurde der Termin für ein erstes „SchülerInnenparlament“ festgesetzt. Dabei ging es darum, den anwesenden KlassensprecherInnen klar zu machen, dass Schüler und Schülerinnen Bedürfnisse haben, sie ihre Bedürfnisse äußern dürfen, ihre Bedürfnisse im SchülerInnenparlament angehört und ernst genommen werden, gemeinsam mit dem Betreuungspersonal Möglichkeiten gesucht werden, diesen Bedürfnissen gerecht zu werden.


Dabei wurde die Wahl wie folgt in Angriff genommen:


Wie bereits erwähnt, werden bei der Wahl der KlassensprecherInnen und deren Vertretung unterschiedliche Methoden angewandt, abhängig von den Kompetenzen der SchülerInnen der jeweiligen Klasse. Die Möglichkeiten reichen vom Benennen der KandidatInnen über Punktevergabe, Wahlkarten abgeben, Zeigen auf Fotos, etc. bis hin zur Übergabe des Amtes durch die Lehrkraft in Fällen, in denen keine SchülerInnen das Bedürfnis zeigen, zu wählen. Zur letzten Methode ist anzumerken, dass sie nicht zum Verständnis von Demokratie als Lebensform zu passen scheint. In weiterer Folge zeigt sich jedoch immer wieder, dass trotz des Desinteresses der SchülerIn ein Entwicklungsprozess bei der Teilnahme am SchülerInnenparlament zu beobachten ist, bei dem die Anwesenden sich ihrer „besonderen Funktion“ durchaus bewusst werden und sich dies in ihrem Verhalten widerspiegelt.


Natürlich geht die Sache gut aus:


Die Übernahme einer Funktion in der Schulgemeinschaft spielt für die Schülerinnen und Schüler eine wesentliche Rolle, durch die ihr Selbstwertgefühl und ihr Verantwortungsbewusstsein gesteigert werden, die Motivation zur Selbsttätigkeit wächst und Kommunikation eine besondere Bedeutung erlangt. (…) In der Auseinandersetzung mit Demokratie und ihrer Umsetzung im Schulalltag schwerstbehinderter Menschen stoßen wir erfahrungsgemäß immer wieder auch an Grenzen: in Form einer eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeit von SchülerInnen, in organisatorischer Hinsicht (erhöhter Arbeitsaufwand infolge eingeschränkter Bewegungskompetenz, intensiver Betreuungsnotwendigkeit, hohen Materialbedarfs und der notwendigen Zusammenarbeit aller im Schulalltag Beteiligten) oder auf Grund der ständigen Gratwanderung zwischen Hilfestellung und Manipulation, die eine besonders große Bereitschaft zur Reflexion voraussetzt.

Grenzen sind nicht zuletzt auch infolge unterschiedlicher kognitiver Kompetenzen unserer SchülerInnen vorgegeben. Das Verständnis für und die gedankliche Auseinandersetzung mit dem demokratischen Prozess sowie das Rollenbewusstsein für die übernommene Funktion sind nicht voraussetzbar und teilweise nur sehr eingeschränkt entwicklungsfähig.

Zusammenfassend ist dennoch zu sagen, dass die positiven Erfahrungen der SMG am SPZ 14 bei weitem überwiegen. Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit und die Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit mit ihren Bedürfnissen und Kompetenzen verbesserten sich nachweislich. Die Schülerinnen und Schüler erleben sich als wichtigen Teil einer Gemeinschaft, in der die demokratische Lebensform realisiert wird.


Wir haben hier bewusst einen extremen Fall von pädagogischem Engagement und gesellschaftlichem Guten Willen zur Illustration herangezogen. Illustriert werden soll hier zweierlei: einerseits, wie leer die Form des Subjekts und doch wie gefordert und erheischt sie ist. Was hier als Zwang zur Demokratie auftaucht, der noch dazu gut gemeint ist – die Lehrerin ist ja überzeugt, ihren Zöglingen etwas Gutes zu tun und insgesamt die Welt zu einem besseren Ort zu machen –, erkennen wir unschwer wieder im Zwang zur Arbeit, der am Beginn des Modernen Ensembles sofort und umfassend verkündet und umgesetzt wurde. Waren es damals noch Arbeitshäuser, die das neugeschaffene Proletariat aufnahmen und ihm die Möglichkeit anboten, zum Gelingen der Gesellschaft wirken zu müssen, so sind es in der sozialstaatlich-karitativen Endphase kleine Basteleien, die aus den Versorgungs- und Aufbewahrungsinstitutionen namentlich zu den Hohen Festtagen ihren Weg auf die Flohmärkte finden, wo sich das geneigte Publikum veranlasst sieht, diese zu erstehen (und umgehend zu entsorgen), und sich dessen versichert, dass auf diese Art auch den Ausgestoßenen, Randständigen, Pflegebedürftigen, Armen, kurz: denen mit besonderen Bedürfnissen, wie der Etikettenschwindel der political correctness sie benennt, ihre Menschenwürde via Arbeit zuerkannt wird. Andererseits zeigt sich an diesem Beispiel auch die Verzweiflung der Liebe der engagierten Sozialberufstätigen; einer Liebe, die sich aus der Suche nach Anerkennung speist für das Engagement, das da eins aufbringt, um die Gesellschaft in ihrer Form zu erhalten; einer Liebe, die sich aber auch selbst bestätigen muss in ihrem Aufopfern für den Erhalt der Formen, die die Gesellschaft aufrechterhalten, auch wenn sie nichts als leere Hülsen sind, die erst von staatsbürgerlicher Treuebereitschaft mit Leben gefüllt werden (wobei fraglich bleibt, ob das wieder dem Leben gut tut, aber das steht schon auf einem anderen Blatt).



Liebe als Erlösung und Rettung


An dieser Stelle müssen wir noch einmal von der Liebe sprechen, die in der Abspaltung, konkret in der Familie, noch konkreter, zwischen Männern und Frauen zu Tage tritt. Dabei geht es jetzt nicht um die mütterliche Liebe, die wir schon als ideologische Forderung beschrieben haben, ungeachtet der Tatsache, dass persönliche Bindungen zwischen einem Kind und seiner Mutter, seinen Eltern, seiner Verwandtschaft entstehen mögen. In der Regel sind das auch Beziehungen, die von den Müttern und wohl auch Vätern ausgehen, die aber nicht unbedingt auf einen kleinen Menschen als Person gerichtet sind, sondern schon auf ein Mitglied der Gesellschaft mit all den damit verbundenen gesellschaftlichen Forderungen der Sicherung des Nachwuchses und der Reproduktion (als Beispiel sei die Bedeutung des ersten männlichen Sprosses angeführt). Neben diesen – gesellschaftlichen – Beziehungen entstehen aber auch Gefühle, die sich mit dem Heranwachsen des Kindes zu geglückten persönlichen Beziehungen freundschaftlicher oder liebevoller Art entwickeln können. Am Anfang dieser Beziehung zwischen Eltern und Kindern stehen aber wohl eher reflexartige Ausdrücke der Zuneigung, die auch nur einseitig vorgebracht werden. Um diese Art von Liebe geht es aber in diesem Abschnitt gar nicht, sondern um die Liebe, die als Zuneigung zwischen Männern und Frauen am Anfang einer Familiengründung steht (wie lange dann auch die Familie halten mag).


Wir sprechen in diesem Zusammenhang jetzt aber nicht von den empirischen und historischen Entwicklungen und Zufälligkeiten, denen diese Liebe ausgesetzt war, auch nicht von ihrem Verfall zu temporärer Beziehung in einem Meer von Beziehungslosigkeiten, sondern von ihrem Idealfall; davon, wie sie mit Anbeginn der Verhältnisse des Modernen Ensembles gemeint war und wie sie heute noch immer besungen wird, kurz: wie ihre Gestalt als ideologische Forderung aussieht. Wenn wir ideologische Forderung sagen, dann meinen wir damit den gesellschaftlichen Charakter, den diese Zuneigung, die zweifelsohne zwischen Männern und Frauen immer wieder auftritt und sich – wenigstens anfänglich – höchst erfreulich bemerkbar macht, annimmt. Wir sagen sogar: annehmen muss, denn die reine, quasi animalische, triebhafte Form, die Existenz von Zuneigung losgelöst von jeder menschlichen, also gesellschaftlichen Überformung kann gar nicht vorkommen. An dieser Stelle geht es also darum, welche gesellschaftliche Form die Zuneigung zwischen Männern und Frauen annehmen muss und warum sie diese und keine andere Form annehmen darf.


Die gesellschaftliche Form der Liebe im Modernen Ensemble ist dadurch geprägt, dass Zuneigung und Fortpflanzung in eins fallen. Das war nicht immer so, aber wenn wir nun zur Abgrenzung Verhältnisse aus der vorangegangenen Epoche heranziehen, wollen wir deutlich machen, dass die bürgerlichen ebenso historisch und vergänglich sind wie die vorangegangen (und verwichenen) religiösen und keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit einer conditio humana haben, worauf aber die bürgerliche Gesellschaft des Modernen Ensembles aufbaute, quasi als selbst ernannte Vollstreckerin dieser Bedingung von Menschsein. Von der religiösen Epoche sprechen wir, weil sie dadurch bestimmt ist, dass die Erklärung der Welt, die die damaligen Leute für sich gefunden und sich gegeben haben, durch die Religion, also die Offenbarung Gottes, durch das Wirken der Götter bestimmt war; durch das Heil und das Schicksal, das an diese religiöse Erklärung gebunden war. Die Religionen wiederum sind nur eine Spiegelung der Schöpfung, die die Leute, die sesshaft wurden, vollzogen haben. Denn um nichts weniger als eine veritable Schöpfung der Welt handelt es sich bei der so genannten Neolithischen Revolution. Wir wollen uns auf die wesentlichsten Erzeugnisse dieser Schöpfung, dieser Erschaffung einer neuen Welt beschränken: Sie brachte neue Menschen hervor – sesshaft, frei und verwandt. Das bedeutete, es waren Menschen, die in ihren erschaffenen Gärten, Feldern, Siedlungen, Städten anspruchsberechtigt an den Erzeugnissen dieser Gärten, Felder, Siedlungen, Städte waren. Diese Alimentationsberechtigung ergab sich aus der Zugehörigkeit zu denen, die diese Welten umzäunten und verwalteten. Sie waren frei, weil sie alimentationsberechtigt waren, also über die agrarischen Erzeugnisse verfügten, und sie waren verwandt, weil aus den nun entstehenden Verwandtschaftssystemen die Zugehörigkeit zur Alimentationsberechtigung hergeleitet wurde. Wenn wir also von den Menschen der religiösen Epoche und ihrer verschiedenen Abschnitte (beispielsweise Feudalismus oder Antike) sprechen, dann sprechen wir von Freien und Verwandten (falsch zusammengefasst unter dem Begriff des Adels, der wiederum nur einen Teil von Freiheit und Verwandtschaft abdeckt, nämlich den agrarischen, nicht aber den städtischen).


Für diese Leute galt die Reproduktion ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Reproduktion von Familien, Häusern, Geschlechtern als vordringliche Aufgabe, weil sie mit Einkommen aus dem Grund und Boden (mit der Alimentationsberechtigung) unauflöslich verknüpft war. Reproduktion, also die Erzeugung von Nachkommenschaft zur Aufrechterhaltung der Alimentationsberechtigung, war an die dynastische Ehe, also die Ehe der Erbfolge und der Erhaltung des Standes gebunden, neben der eine Vielzahl anderer Heirats- und Verwandtschaftssysteme bestand, Kebsehen, morganatische Ehen, nicht legitimierte Verhältnisse und ähnliches mehr. In der Regel waren es Frauen, die den dynastischen Bestand des Hauses sicherten. Daher standen sie auch unter verstärkter Kontrolle und Sicherung ihrer standesgemäßen conduite, was in späteren Zeiten als Bewahrung der Jungfräulichkeit interpretiert und im bürgerlichen Zeitalter anfangs in das System der ursprünglichen Rechtlosigkeit fein eingepasst werden konnte; es genügte, die Kontrolle von einer gesellschaftlichen zu einer neuen familiären zu machen – wobei es nun nicht mehr um die Bewahrung für eine standesgemäße Heirat ging, sondern um die Verfügungsgewalt der neuen bürgerlichen Familienväter über die weibliche Sexualität zu ihren eigenen Gunsten, nicht um die Dynastie, sondern um Familie, nicht um Hofhaltung, sondern um den Haushalt. Dass Jungfräulichkeit in früheren Zeiten nur den besonderen Stand der unverheirateten Frau bezeichnete (unbesehen aller Kontrollen, denen sie unterworfen war) und Jungfer auch die korrekte Anrede war, erhellt sehr deutlich am Beispiel der maiden queen Elizabeth Tudor, wo sich maiden auf eine dynastische Jungfräulichkeit bezog und nicht auf eine körperliche, die wohl auch nicht zur Debatte stand. Sehr oft hatten übrigens Frauen in ihrer zweiten Ehe, nachdem die dynastischen Pflichten erfüllt waren, eine Heirat mit einem Liebhaber aus Zuneigung.


Zunächst sieht der Unterschied zwischen den modernen bürgerlichen Verhältnissen und den vormodernen religiösen nicht allzu groß aus, wenn auch als erstes Merkmal ins Auge fällt, dass die Häuser und Geschlechter von der Familie abgelöst werden. Das bedeutet aber nicht nur eine dramatische Verkleinerung des Umfangs der gesellschaftlichen Zellen, ihrer Kerne, ihrer Elementarformen, gemessen an der Anzahl der beteiligten Personen. Diese wird ja dadurch wieder aufgehoben, dass die Anzahl der Familien als Keimzellen der Gesellschaft die der früheren Häuser, Höfe, Geschlechter bei weitem übertrifft. Damit ist dann auch schon die subjektive Forderung verbunden, dass ein jedes durch sein Handeln für sein eigenes Glück auch das glückliche Fortkommen der ganzen Gesellschaft zu besorgen habe – nicht der König, die Landesherrin sorgen durch gute Herrschaft dafür, nein alle wirken zusammen im Streben nach Glückseligkeit als gesellschaftliche Pflicht und Aufgabe. Dies aber bedeutet auch, dass die Ehebeziehung nun schon an das Streben nach Glückseligkeit gebunden ist, und zwar über das auch in der dynastischen Ehe erhoffte glückhafte Einverständnis der Vermählten im Zusammenleben hinaus. Wenn aber das Streben nach Glückseligkeit[10] zum Menschenrecht wurde und in der Folge zur Verpflichtung, so spricht nichts mehr dagegen, dass diese Glückseligkeit auch schon im Akt der Familiengründung gesucht wird. Das Motiv für die Verheiratung ist nun nicht mehr (oder nicht mehr ausschließlich) der Fortbestand der Verwandtschaft, sondern einfach Liebe. Die Geldheirat wird zwar nicht geächtet, sie wird jedoch scheel angesehen, sie wird zur Travestie der Liebesheirat. Die Liebesheirat aber steht als Fanal gegen die dynastische Ehe; nicht mehr Rücksichten auf den Erhalt der Geschlechter und der Territorien, die sie beherrschen, stehen nun im Mittelpunkt, nein, es ist die reine, autonome Zuneigung, die nun vernünftigerweise die Leute zusammenbringt, eine Zuneigung, die zwischen Gleichen wirken kann, der die beiden Gleichen ungehinderte Entfaltung für sich selbst zukommen lassen, ohne dass gesellschaftliche Rücksichten sie einschränkte, eine überhöhte Wiederspiegelung dessen, das in der Regel und dauernd von Vertragssubjekten in der bürgerlichen Gesellschaft des Modernen Ensembles abgeschlossen wird. Liebe verkommt also hier zum ideologischen Kitt, der den Zusammenhalt der Gesellschaft garantieren soll, und zwar in einer Hierarchie, die an der Basis die individuellen, vereinzelten Subjekte zum Ausgangspunkt hat, die mit der Familie (also mit Subjekt und seiner Reproduktion durch die Frauen in der Abspaltung) sich als Keimzelle des Staates etablieren (so wie das Subjekt die Keimzelle der Gesellschaft ist).


Liebe entsteht als bürgerliche Eigenschaft, die die romantische Liebe durchsetzt und alle vorigen Beziehungsformen für nichtig erklärt. Es mag hier die Oper „Die Zauberflöte“ angeführt werden, die diesen Paradigmenwechsel schon am Beginn der bürgerlichen Epoche fertig durchgeführt auf die Bühne bringt. Dabei interessiert uns vor allem das Libretto Emanuel Schikaneders (1751-1812). Dem Prinz Tamino wird von der Königin der Nacht durch drei Damen ihres Hofes (Nacht steht für das Gegenteil von Aufklärung, für Finsternis, düstere gesellschaftliche Verhältnisse) ihre Tochter Pamina zur Ehe versprochen. Er verliebt sich in sie auf Grund eines Konterfeis, das er von ihnen erhält. Unschwer lassen sich hier die Motive der dynastischen Heirat erkennen. Die Heirat wird arrangiert, ohne dass die zukünftigen Eheleute einander schon kennen. Dies wird aber durchkreuzt dadurch, dass Sarastro, ein weiter nicht definierter Priester und Vorsteher einer Gemeinde von (aufgeklärten) weisen Männern, die leicht als die bürgerlichen Freimaurer (ein Hort der Verbreitung und Popularisierung der Ideen der Aufklärung) zu dechiffrieren sind, Pamina entführt, also dem dynastischen Einfluss entzogen hat. Als Tamino im Reich (in der Oper als Weisheitstempel bezeichnet) des Sarastro erscheint, um – versehen mit einem komischen Begleiter und mit magischen Musikinstrumenten – die Entführte zu befreien, erfährt die Geschichte ihre Volte. Pamina und Tamino werden ein Paar, nachdem sie einander nun persönlich gegenüberstehen und, von Sarastro über das Wesen der Liebe aufgeklärt, eine Reihe von Prüfungen

durchgehen.[11] Unter dem Einfluss Sarastros wird das Wesen der Liebe neu definiert. Die Prinzessin und der komische Begleiter des Helden, ein Vogelfänger, verkünden nun in einem Duett (also quer durch alle Stände hindurch): „Wir wollen uns der Liebe freun, wir leben durch die Lieb‘ allein. (…) Ihr hoher Zweck zeigt deutlich an, nichts Edler’s sei als Weib und Mann. Mann und Weib und Weib und Mann reichen an die Gottheit an.“


Das ganze Programm (das Duett wird gesungen, bevor Prinz und Prinzessin einander persönlich begegnen, aber es formuliert, wie die Begegnung vonstatten zu gehen hat) ist hier dargestellt. Dynastische oder verwandtschaftliche Loyalität muss der Ausschließlichkeit der Treue weichen. Diese Ausschließlichkeit, die eine Widerspiegelung der Vertragspartnerschaft ist, hat einerseits ideologische Grundlagen, andererseits aber auch tiefer gehende, die dort wurzeln, wo die Gesellschaft des Modernen Ensembles ihre Rechtfertigung, ihre Legitimation herholt. Dies ist die von den Leuten ihrer Epoche zu Grunde gelegte Erklärung, die mit Epoche und ihrer Gesellschaft als integraler Bestandteil gleichzeitig ins Dasein tritt. Zentral ist dabei die Bedeutung der schöpferischen Kompetenzen, die an die Liebe gebunden sind. Liebe war vormals eine Kompetenz des Göttlichen. Gott (oder die Götter) schaffen die Menschen, lieben ihr Volk und schaffen für sie ihre Welt (das Paradies, Midgard, Rom, das Gelobte Land, etc.). Oder die Götter sind mit den Menschen verwandt (wie etwa Venus mit Aeneas oder Romulus und Remus mit Mars). Jedenfalls entspringt göttliche Liebe der Schöpfung oder der Verwandtschaft (was wohl auf dasselbe herauskommen mag) und ist von Loyalität geprägt. Die Beziehung der Menschen zu den Gottheiten wiederum zeichnet sich durch die korrekte Form der Verehrung aus. Erst als die religiöse Erklärung der Welt in die Krise kam und begann, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, die Fähigkeiten und die Liebe Gottes in Frage gestellt wurde („Wie kann Gott die Menschen lieben und das Böse zulassen? Entweder liebt er uns nicht oder er ist nicht allmächtig.“), begannen die Menschen, Gott zu lieben.


Gott zu lieben, war jetzt nicht mehr Angelegenheit einiger religiöser Eiferer, die sich dazu immer der Gefahr ausgesetzt sahen, als Ketzer verdächtigt zu werden; es war nun Sache, und zwar Privatsache, aller Menschen. Dabei unterschied sich die Liebe, die nun die Leute Gott entgegenbrachten, nicht mehr von der Liebe, die sie an ihren Mitmenschen ausübten. Die überhöhte Liebe, die sich in den Verzückungen der Mystikerinnen und Mystiker zeigte oder an den rituellen Hochzeiten (etwa der venezianischen Dogen mit dem Meer, eine unzweifelhaft religiöse, wenn auch nicht christliche Vollziehung der mystischen Verbindung der Leute mit ihren Gottheiten), weicht nun einer Liebe, die nicht von universaler Geborgenheit, sondern von schlichter individueller Zuneigung redet[12] und mit dem Verlust des Monopols der Kirchen, die Verbindung zum Göttlichen herzustellen, einhergeht. Der Pietismus[13] ist das am besten bekannte Beispiel für diese Verkehrung der Verhältnisse, aber dass Liebe nun säkularisiert und neu bewertet auch in den gesellschaftlichen, nicht religiösen Verhältnissen der bürgerlichen Epoche eine hervorragende, eine grundlegende Rolle spielen wird, war neu und markierte den Übergang schöpferischer göttlicher Kompetenzen auf die Leute.


Während der ideologische und politische Gehalt von Liebe durch die Wechselfälle der Geschichte hindurch sich verändern und verschiedenen Formen des Zusammenlebens Raum geben kann, bleibt unbestritten, dass die freie Partnerwahl durch Liebe stattfinden muss. Wenn die verschiedenen ideologischen Auseinandersetzungen beispielsweise eine Heirat zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern befürworten oder verweigern lassen, so dreht sich doch das zentrale Argument immer nur um die Aufrechterhaltung und gesellschaftliche Anerkennung einer zentralen und basalen Versorgungseinheit (verbunden mit allen gesetzlichen Rechten und Pflichten, so geht es um Regelungen von Besuchs- und Auskunftsrecht in Fällen von Schweigepflichten, Bestimmungen im Wohn- und Erbrecht, Unterhaltsforderungen im Falle des Zerbrechens von Partnerschaften, etc.), also der üblichen Kodifizierung von Tätigkeiten in der Abspaltung und der Abgeltung von Ansprüchen daraus. Gleiches gilt ebenso auch für das Phänomen von alleinerziehenden Müttern, die ganz selbstverständlich mit ihren Kindern als Familie gelten, auch wenn der Mann fehlt und wieviel auch die sozialtherapeutischen Reparatur- und Erhaltungsinstanzen dazu an ideologisch wechselnden Ratschlägen oder Anweisungen erteilen möchten.[14] Die Alleinerziehenden müssen eben beides aufbringen (vielleicht sogar als vorbildhafte Powerfrau): Subjektivität in der Öffentlichkeit mit Broterwerb und Lohnarbeit und Abspaltung in der Privatheit mit liebevoller Erziehung und zusätzlicher Singlebetreuung.


Was nun von all dem entscheidend ist, ist die rettende Kraft der Liebe, die ehedem nur Gott zustand, nun aber zum Allgemeingut aller Subjekte geworden ist. Wie immer auch die Beziehung verläuft, ob geglückt oder nicht, ob lang andauernd oder nicht, immer ist mit der Liebe der Höhepunkt des Lebens verbunden. Sie zu erleben, wird angestrebt, sie ist das besungene Ziel der bürgerlichen Existenz – besungen in kitschigen und populären Schlagern, gelobt aber auch in Entwicklungsromanen der ehrwürdigeren Literaturproduktion – und wird zur Verpflichtung der Mitglieder der Gesellschaft. Wer nicht in Partnerschaft oder Ehe lebt, wer ungebunden durch das Leben geht, gilt nun eher als Karikatur bürgerlicher Existenz. Selbst das Singledasein[15] wird – als ökonomischer Faktor und Konsument durchaus geschätzt und beworben – mit einem großen Angebot der Freizeitindustrie begleitet, wobei die Möglichkeiten zu schnellen und kurzen Partnerschaften nicht nur zum allgemeinen und unverbindlichen Wohlbehagen beitragen, sondern auch das Abgleiten in die nun schon gesellschaftlich verdächtige Lebensweise als Junggeselle oder – noch schlimmer – als alte Jungfer hintanhalten und zumindest einen Rest an Rekreation und Reproduktion in der Abspaltung aufrecht erhalten sollen.


Was zählt, ist dabei die gesellschaftliche Form der Liebe von Subjektivität und Abspaltung als widergespiegelte Öffentlichkeit und Privatheit, wobei auch diese letzten beiden gesellschaftliche Formen sind – Privatheit ist nichts, worauf die Gesellschaft keinen Zugriff hätte. In der Abspaltung jedenfalls findet die gesellschaftliche Liebe – nicht die Zuneigung zwischen zwei Menschen – ihren Platz; hier muss sie ihre ideologische Überhöhung mit Leben füllen, hier muss sie Tag für Tag das Individuum retten und für die Zumutungen der Außenwelt der Öffentlichkeit stark und tauglich und angepasst machen. So wie Gott sein Volk oder die Menschen liebt und immer wieder aus der Not errettet und erlöst, so liebt die bürgerliche Hausfrau ihren Mann[16], erlöst ihn von den Nöten, die er in der Auseinandersetzung mit der Welt der Öffentlichkeit erfährt und bereitet ihm ein Himmelreich auf Erden. Unnötig zu sagen, dass dieser Himmel auf Erden ebenso illusorisch ist wie die Hilfe Gottes in der kriegerischen Auseinandersetzung mit Feinden oder bei der Errettung aus Sklaverei. Aber auf diesen Himmel auf Erden ist die ganze Veranstaltung der romantischen bürgerlichen Liebe ausgerichtet: durch die von nichts und niemandem behinderte und eingeschränkte Zuneigung zweier Menschen zueinander, die sich nun daran machen, ihre gesellschaftlichen Pflichten mitsammen zu erfüllen, getrieben von Einsicht in Natur und Vernunft. Sie liebt ihn, indem sie ihm daheim ein Refugium bietet, in dem er sich ausleben kann, in dem die Forderungen der Öffentlichkeit nicht gelten, in dem er seiner Subjektivität entraten und dafür seine Eigenarten ungestraft ins Spiel bringen kann. Er liebt sie dafür schlicht und einfach, indem er ihr seine Liebe und eine bürgerliche Existenz schenkt und sie materiell wie gesellschaftlich absichert. Dies gipfelt in den Beteuerungen beider, sie hätten dies alles nur für das andere getan. Das alles kann gut gehen, muss aber nicht. Scheitern ist in der bürgerlichen Existenz immer anwesend so wie der Bankrott oder die Kündigung im Geschäft, wie der Notstand im Staat, wie die Bedrohung der Vernunft. Dieses Scheitern der Liebe kann sich in häuslichen Katastrophen, die ruchbar und vor Gericht verhandelt werden, ebenso äußern wie in einem Abflauen der Zuneigung, das aber oft wiederum als Katastrophe des eigenen Versagens oder des böswilligen Treuebruchs erlebt wird, was nicht selten ganze Berufsstände ernährt, die diese Katastrophen durch Beratung, Therapie und rechtlichen Beistand zu ertragen helfen; es kann aber auch in einer gesellschaftlichen Nachlässigkeit gegenüber der praktischen Anforderung des ideologischen Scheins, einer opportunistischen Schmiegsamkeit an eine verstärkte Flexibilität des Subjekts und seiner Unternehmungen bestehen, wie die schönen Wörter Patchworkfamilie oder Lebensabschnittspartner zeigen.



Überleben in der Perversion – Illusion einer Identität


Wir haben hier gesehen, wie das Entstehen als Subjekt, das Werden des Subjekts an gewaltsame Zurichtung gebunden ist, die durch das Erziehungsziel der Selbstbeherrschung, aber auch der Selbstverwirklichung definiert wird. Dieses Selbst aber verlangt nach einer Definition, die es identifiziert. Dies ist nicht so einfach, wie es zunächst erscheint, weil ja dieses Selbst durch subjektive Vorleistung, also Selbstdefinition durch die gewählte Unternehmung gestaltet wird. Die Unternehmung kann nun, muss aber nicht den individuellen Eigenarten des Subjekts in seiner Persönlichkeit entsprechen. Wir reden ja, dies sei hier eingefügt, hauptsächlich über personale Subjekte, über Staatsbürger also. Zwar gilt das hier Gesagte grosso modo für alle Subjekte, also auch für jene, die durch gemeinsame Interessen aus dem Zusammenwirken – formell wie auch informell – personaler Subjekte entstehen. Ein Unterschied besteht aber insofern, als das vereinzelte, individuelle, atomisierte, personale Subjekt in Einheit mit der Abspaltung (die in diesem Fall auch individuell, vereinzelt, atomisiert und personal ist) als familiale Versorgungs- und Reproduktionseinheit die Basis aller weiteren subjektiven Ausformungen bis hin zu Staat (Subjekt) und Nation (als Abspaltung) abgibt. Sprechen wir von einem Staat oder von einer Nation, so haben wir in beiden Fällen ein Kollektiv vor Augen, das real aus Männern, Frauen und Kindern besteht. Dennoch rufen Staat und Nation jeweils verschiedene Bilder hervor. Beim Staat denken wir an ein handelndes Subjekt, Herr seiner Unternehmungen, Konkurrent anderer Subjekte, wir denken nicht den Staat als die Vielheit, die aus uns allen besteht. Ebenso denken wir die Nation nicht als Vielheit, sondern als eine Gestalt; zwar sind wir Teil dieser Gestalt, dieser Gesamtheit, aber eher so, dass die Nation uns enthält, nicht wir sie bilden. Und wir denken sie als etwas Natürliches, Naturgegebenes, als etwas Wildes, solange sie nicht, vom Staat gezähmt, zu ihrer Größe geführt wird. Kein Wunder also, dass uns Nationen in weiblicher Symbolgestalt gegenübertreten, mit weiblichen Namen: Britannia, Italia, Germania, Marianne, oft gerüstet, aber im Fall der Marianne auch barbusig als Verweis auf das Vorzivilisatorische, gleichzeitig langlebig Historische, quasi Ewige. Hier ist also dann der Staat durch das Wilde, Unzivilisierte gezwungen, tätig zu werden, um seine Nation zur Sicherheit der Existenz zu führen. Ähnliche Zuschreibungen finden wir bei der Klasse und ihrer historischen Mission, bei Vereinigungen und ihrer Kultur, bei allen allegorischen Figuren, die das Gleiche erzählen: Subjektives, männliches Handeln erfüllt sie erst mit Leben, lässt sie erst richtig zu ihrer Bestimmung finden, wobei sich diese Bestimmung redundant in schierer Existenz erschöpft und gerechtfertigt und erhöht ist durch subjektives Handeln.


Aber bleiben wir weiter bei den Personen, die sich als Subjekte konstituieren und die Gesellschaft mit Vereinen, Klassen, Interessensvertretungen und Staaten bilden. Die einzelnen Leute, die als Subjekt gesellschaftlich handeln, unterscheiden sich in ihren Unternehmungen, die sie konkurrent gegen die anderen Subjekte und gegen deren Unternehmungen setzen. Mit Unternehmung ist hier aber kein ökonomisches Geschäft gemeint, auch wenn die Worte ähnlich klingen. Mit Unternehmung ist die Gestaltung des öffentlichen Auftritts gemeint, also die Selbstdefinition, die Selbstdarstellung in ökonomischer, kultureller und interessierter Hinsicht. Wie kommt das Subjekt zu seinen Einkünften, welchen Platz, welchen Rang nimmt es in der Hierarchie der Gesellschaft ein und wie verhält es sich zu diesem Rang, welche Repräsentationen seiner selbst vollzieht es, mit welchen Fonds speist es diese Repräsentation? Diese und andere Fragen stellen sich rund um die Unternehmung. Dabei ist aber zu beachten, dass die Unternehmung als Vorleistung des Subjekts zu seiner Konstitution notwendig ist, da diese sonst nicht gesellschaftlich anerkannt werden kann. Die Unternehmung wiederum ist aber nichts, das nun endgültig ist, sie kann modifiziert, verändert, aufgegeben und durch eine andere ersetzt werden; endgültig ist sie nur in der Hinsicht, dass es eine geben muss. Ein Subjekt ohne Unternehmung gibt es nicht, da ja Unternehmung an die gesellschaftliche Handlung und deren Darstellung gebunden ist, die gesellschaftliche Handlung wiederum an die Subjektform. Mit der Unternehmung betritt das Subjekt die gesellschaftliche Bühne und spielt dort seine Rolle – konkurrent und autonom. Die Wahl der eigenen Unternehmung bezieht sich also in erster Linie auf die Öffentlichkeit und nicht auf die eigenen Vorlieben.


Was die eigenen Vorlieben, die eigenen empirischen persönlichen Eigenschaften betriftt, so stehen sie in keinem definierten Verhältnis zur Unternehmung, da sie ihr gegenüber langlebiger, stärker an die Person gebunden, weniger durch gesellschaftliches Handeln beeinflussbar erscheinen. Ja, oft erscheinen sie sogar als der Unternehmung widerspenstig und müssen daher verdrängt und abgeleitet werden. Wer hier an den Begriff der Sublimierung bei Freud denkt[17], befindet sich auf der richtigen Fährte, die schnurstracks zu all den Institutionen akademisch ausgebildeter oder selbst ernannter Lebenshilfen führt, die diese Konflikte zu bewältigen helfen oder dies wenigstens vorgeben. Die Berücksichtigung persönlicher Vorlieben oder Eigenschaften findet nur insoweit statt, als sie ideologisch der Unternehmung dienstbar gemacht wird; sei es dadurch, dass die Nützlichkeit dieser Eigenschaft gesellschaftlich ausgebeutet wird, sei es dadurch, dass sie in einen Therapiebereich verwiesen oder zu einer Privatangelegenheit erklärt wird. Als Illustration möge dazu die unterstellte Bereitschaft etwa der Sozial- und Erziehungsberufe dienen, gerne mit Menschen zu tun zu haben, die unsägliche Behauptung, da solle doch ein jedes versuchen, seinen Beruf zur Berufung zu machen (oder auch umgekehrt), oder auch die Wucherungen von Freizeitindustrie und angegliederten Dienstleistungsbetrieben, bis hin zu Spiel- und Sportvereinen, die immer noch die Illusion am Leben erhalten, da könne eins gefeiert und reich als Schach- oder Tennisprofi werden. Wo dies schließlich nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, wird auf die privat auszufüllende Freizeit verwiesen, in die allerdings noch immer Reste gesellschaftlicher bewusst vollzogener, also subjektiver Ordnung ragen, beispielsweise der Verein für ausgefallene Brettspiele, der noch immer internationale Meisterschaften veranstaltet, ohne je in die Nähe von globaler Anerkennung, Bekanntheit, geschweige denn wirtschaftlich Gewinn bringender Tätigkeit zu kommen.


Wir können hier eine Kaskadierung nach unten sehen, die immer mehr bis zu den basalen Einheiten der Gesellschaft die Anerkennung persönlicher Eigenschaften und Vorlieben verschiebt. Wenn etwa professionellen Mitgliedern philharmonischer Orchester das Privileg zugestanden (oder zugeschrieben) wird, mit ihrer persönlichen Begabung und Vorliebe (aber vielleicht ist hier schon gar keine persönliche, sondern eine von den Eltern geforderte und anerzogene Vorliebe im Spiel) für ihr Leben sorgen zu können, von dem zu leben, das ihnen Freude macht, dann werden dabei kapitalistische Arbeitsbedingungen, Zurichtungen und Ausbildungen vergessen gemacht. Das Gleiche gilt beispielsweise für Universitätsprofessorinnen, deren Kampf um Anerkennung als akademisch Lehrende ausgeblendet wird, um die propagierte Vorbildwirkung für andere in den Vordergrund zu schieben, was von der Masse des universitären Personals ablenkt, das in prekären Verhältnissen zwar lehren und forschen, aber seines Lebens (im wahren Wortsinn) nicht sicher sein kann. Dem gegenüber stehen gesellschaftliche Klischees wie der arme Poet, der für die Ausschließlichkeit seines künstlerischen Daseins und der Kompromisslosigkeit seiner Produktion Armut und Elend in Kauf nimmt. Dabei wird wieder der Aufmerksamkeit entzogen, dass auch hier nur die Unternehmung im Vordergrund steht, persönliche Eigenschaften und Wünsche ihr untergeordnet sind. Die Unternehmung steht auf dem gesellschaftlichen Prüfstand, auch dem des Scheiterns oder der fehlenden Begabung, die vor der gewünschten Unternehmung ausgeblendet wird, und mit der Unternehmung das Subjekt. Gesellschaftliche Anerkennung, hierarchischer Aufstieg durch die Klassen, ökonomischer Erfolg, Allokation von Reichtum und Kapital, das alles ist an die Unternehmung und an das Subjekt gebunden, aber in keiner Weise an persönliche Präferenzen oder Attribute.


Im Zuge dieser Kaskadierung, dieser Hierarchisierung dessen, das nicht für die Unternehmung, die Konstituierung als Subjekt dienstbar gemacht werden kann, bleibt ein mehr oder weniger großer, gesellschaftlich unbrauchbarer Rest, der an die Abspaltung verwiesen wird zur dort stattfindenen Bearbeitung. Hier zeigt sich nun in aller Deutlichkeit, dass das Subjekt, die subjektive Unternehmung, die Form der gesellschaftlichen Tätigkeit (mit eigenen Vorhaben, eigenem Streben nach Glückseligkeit das Fortkommen der gesamten Gesellschaft zu befördern), wenn auch zunächst auf unterster gesellschaftlicher Ebene individuell, nichts mit den spezifischen Eigenarten des Individuums zu tun hat. Auch hierzu möge als Illustration ein Zeitungsausschnitt dienen. In der Tageszeitung „Der Standard“ vom Wochenende des 9. und 10. Oktobers 2010 erschien ein Kommentar unter dem Titel „Zurückbleiben, bitte“, der sich mit den Durchsagen der freundlichen Computerstimmen und ähnlichem Informationsschrott in den öffentlichen Verkehrsbetrieben befasste. Da hieß es:


Wie sonst wäre es zu erklären, dass die ÖBB ihr menschliches Transportgut seit einiger Zeit mit dem Spruch „Ausstieg in Fahrtrichtung links“ zu Tode informieren.


Am 11. Oktober wurde dazu die Zuschrift einer Leserin veröffentlicht, die hier zitiert werden soll:


Als Sehbehinderten- und Blindenpädagogin ist es mir ein Anliegen, dazu Folgendes anzumerken: Diese akustische Information ist besonders für stark sehbehinderte oder blinde Menschen, die sehr mobil sind und auch alleine reisen möchten, ein wichtiger Hinweis, wie und wo sie selbständig aussteigen können. Dadurch ist es nichtsehenden Menschen möglich, auch ohne sehende Assistenz oder Hilfestellung von uns Sehenden (es gibt ja Stationen, wo wenige Personen aus- oder umsteigen) Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie beispielsweise mit der Bahn autonom zu machen.


Was hier auffällt, ist wieder die Verbindung der gesellschaftlichen Tätigkeit (verstanden als individuelle Tätigkeit, durch deren Vollzug das Wohl aller sich hinterrücks herstellt) mit der Subjektivität und die gut gemeinte (erschreckend gut gemeinte) Zurichtung der Leute auf eben diese Subjektivität, die von empirischen, individuellen Eigenschaften abstrahiert wie auch das Handeln durch Autonomie (also eigenständige Konkurrenz) heiligt. Der Sukkus der besorgten Zuschrift der besorgten Pädagogin ist, dass ein autonomes Subjekt nicht gezwungen werden darf, mit anderen Menschen reden zu müssen. Die Selbsthilfegruppenpädagogik, die aus dem Leserbrief spricht, ist nun der Aufruf an die Gesellschaft und ihre Institutionen, dem gerecht zu werden.


Ganz offensichtlich kommt an der Behandlung nicht behandelbarer Eigenschaften die Gesellschaft zu sich, indem sie diese, wo sie sie nicht ignorieren kann, an den Bereich der Abspaltung verweist, sei es durch pädagogische Aufdringlichkeit und narzisstische Fürsorge, sei es durch Pflege in der privaten oder familiären Beziehung. Um es paradox zu formulieren: Wer sich zum Subjekt macht, muss seiner Eigenarten entraten. Die Eigenarten stehen der Subjektivität im Wege, sie müssen abgedrängt werden. Sie sind nichts, das Identität herstellen kann, sie stellen nur Perversion her. Pervers sind die Eigenarten insofern, als sie gegenüber der Unternehmung nicht das Gewählte ausmachen, sondern das Mitgegebene, Vorausgesetzte quasi, aber auch gleichzeitig Unnötige, Funktionslose, das Persönliche, aber nicht das Subjektive. Die persönlichen Eigenarten sind nicht gesellschaftlich. Insofern stellen sie das Verkehrte, Pervertierte zu den gesellschaftlichen Verhältnissen dar, als Identität ja nur in der Öffentlichkeit entstehen und vertreten werden kann. Identität ist der verallgemeinerte ideologische Ausdruck der jeweils individuellen subjektiven Unternehmung, Identität verkörpert sich entlang von Interessen. Eigenarten dagegen sind für Identität, also für hergestelltes Auftreten in der Öffentlichkeit irrelevant, sie haben auch mit Interessen nichts zu tun. Eigenarten bestimmen aber die Reproduktion und die Rekreation, sofern sie die Grundlage für die Liebes- und Pflegetätigkeiten abgeben. Kochen und Essen, sexuelle Praktiken, Musik und Geräuschpegel, Einrichtung und Benutzung der Wohnung und der in ihr sich Aufhaltenden, Spiele und Steckenpferde, hier wird auf Geschmack und Vorliebe eingegangen, ohne dass diese dabei öffentlich werden. Dieses nicht Öffentliche ist die gesellschaftliche Garantie dafür, dass die Reproduktion und Rekreation gelingen kann, weil keins darauf Einfluss nehmen wird. Daraus resultiert auch die Scheu (der zivilen Nachbarschaft wie auch der staatlichen Ordnungskräfte), bei häuslichen Katastrophen einzugreifen, die aus der rücksichtslosen Durchsetzung der Befriedigung von Geschmack und Vorliebe resultieren.


Wir verwenden für diesen Komplex personaler Eigenschaften den Begriff Perversion nicht in dem Sinn, den er in ideologischen Diskussionen über gesellschaftlichen comme il faut oder verhaltensmäßige und soziale Auffälligkeiten hat, schon gar nicht zur Bebilderung krimineller Verirrung. Mit pervers bezeichnen wir alle persönlichen Merkmale, die nicht für die Öffentlichkeit relevant sind und deren Anerkennung nur im Privaten eine Rolle spielen. Dort können sie aber das genaue Gegenteil des öffentlichen Erscheinens mit der subjektiven Unternehmung sein, damit im Widerspruch stehen, gemessen an den öffentlichen Äußerungen sogar unvereinbar. Da können strenge, unnachgiebige, pedantische, kurz: als Vorgesetzte oder MitarbeiterInnen äußerst unangenehme Menschen sich als großzügig, liebevoll und tolerant herausstellen und wir reden hier noch gar nicht von der Heuchelei kirchlicher oder politischer Würdenträger, öffentlich das eine zu predigen und privat das andere zu tun, was im Falle, dass die Diskrepanz ruchbar wird, so gerne und genüsslich mit (wieder geheuchelter) Empörung beredet wird. Dass diese Merkmale und Eigenschaften so das Verkehrte, Perverse sein können, ist gesellschaftlich und mit stillschweigender Übereinkunft garantiert, soweit nicht gesetzliche Regelungen tangiert werden. Das Verschwiegene gehört zur Reproduktion und zur Rekreation, gehört zur Erfüllung aller Wünsche – der einfachsten wie ein Abendessen wie auch der ausgefalleneren, elaborierteren, eskapistischen –, gehört zur sich selbst gewährten Belohnung für die Mühen des (öffentlich zugebrachten) Alltags, und wenn diese Verschwiegenheit gebrochen wird, ist dies entweder Beweis von Zuneigung und Intimität, der anderen Ausgewählten gewährt wird, oder wird mit pikiertem Erstaunen zur Kenntnis genommen. Zwar sind auch die Grenzen der Intimität den Wechselfällen der Entwicklungen und Moden in der bürgerlichen Gesellschaft und Geselligkeit unterworfen, aber – auch wenn sie freiwillig aufgegeben werden wie in der Talkshow oder beim Gespräch über das Mobiltelefon in wohlgefüllten öffentlichen Räumen – prinzipiell gilt eine Achtung der Intimität als Regel. Dass diese Intimität, die verbunden ist mit der Erfüllung aller Wünsche, mit dem guten Leben jenseits der Zumutungen von Öffentlichkeit, Arbeit und Repräsentanz, in Anspruch genommen wird, schafft eine Illusion von Leben, das endlich zu sich kommt, für das alles in Kauf genommen wird, das einem an Widerwärtigem da draußen begegnet. Das alles hat nun keinen Zugang und bleibt vor der Tür, das Subjekt in der Rekreation der Abspaltung wiegt sich in der Sicherheit, Herr über den Zugang zu sich selbst zu sein, hier entscheiden zu können, wie es lebt und wer daran Teil haben darf, und vergisst darüber, dass auch dieser Bereich gesellschaftlich präformiert ist, dass in diesem Bereich durchaus andere sich aufhalten, die plötzlich auf die Ideen der Emanzipation kommen und das Enstehen von Subjektivität neu einfordern, nachdem sie in der familialen Situation groß geworden sind und auf eben diese durchaus für alle Beteiligten schmerzhafte Entstehung als Subjekt vorbereitet wurden. So beginnt der Kreislauf, der Subjekte entstehen lassen muss, immer wieder und die Erfüllung bleibt Illusion.




Endnoten


[1] Anmerkung der Redaktion: Mit dem Begriff des „Modernen Ensembles“ bezeichnen die AutorInnen die Totalität der kapitalistisch-modernen Fetischvergesellschaftung. Er bezieht sich zum einen auf deren historische Spezifik, zum anderen darauf, dass es sich dabei um eine umfassende Gesellschafts- und Lebensform handelt, die sich in gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen ebenso manifestiert wie in spezifischen Denkformen. Der Begriff „Ensemble“ wurde gewählt, um darzustellen, dass es sich dabei um ein historisch wie funktional gleichzeitiges Auftreten verschiedener Aspekte, Ausformungen und Bestandteile der bürgerlichen Formation handelt (kapitalistische Produktionsweise, spezifisches bürgerliches Geschlechterverhältnis, Subjektivität, primordiale Rechtlosigkeit und Emanzipation), die untereinander nicht hierarchisch ableitbar sind, sondern von Anbeginn an in einem dialektischen, prozessierenden Verhältnis zueinander stehen.


[2] Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000


[3] Harry Cleaver: „Das Kapital“ politisch lesen. Eine alternative Interpretation des Marxschen Hauptwerks, Wien 2012

[4] Um den Ausdruck der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung durch die Psychoanalyse und die Wissenschaft der Entwicklungspsychologie zu verwenden und nicht das inhaltlich wohl eher angebrachte „lustvolle“, womit wir auch auf das Funktionale verweisen wollen, auf ein Funktionales, das immer schon am gesellschaftlichen Ziel orientiert ist.


[5] Die Frau als Hausärztin von der Ärztin Dr. med. Anna Fischer-Dückelmann erlebte vom Anfang bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts mehrere Auflagen, je nach Zeitgeist gewichtet – 1937 mit einem Anhang zur Rassenhygiene, 1911 als ärztliches Nachschlagebuch der Gesundheitspflege und Heilkunde in der Familie, 1967 wieder als ärztlicher Ratgeber für die Familie.


[6] Allgemeinbildende Pflichtschulen

[7] Sonderschule für schwerstbehinderte SchülerInnen

[8] Sonderpädagogisches Zentrum

[9] Hauptschule/Kooperative Mittelschule/Allgemeine Sonderschule für lernbehinderte SchülerInnen

[10] Wir verwenden hier die Übersetzung von „pursuit of happiness“ aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die der Pennsylvanische Staatsbote veröffentlichte und überlassen es dem geschätzten Publikum, über die verschiedenen Bedeutungen und semantischen Felder von happiness und Glückseligkeit nachzudenken, vom englischen pragmatischen zum deutschen emotionalen Ausdruck.


[11] Diese Prüfungen entsprechen der bürgerlichen Verlobungszeit, einer Verlobung, die die Liebenden selbst einander versprechen und die nicht mehr Sache der dynastischen Familien ist. War vorher die Verlobung das Versprechen, das die Eltern einander gegeben haben, ohne die Kinder zu befragen, so ist das Verhältnis nun umgekehrt. Die jungen Leute lernen einander kennen und verloben sich, erst nachdem sie einander gesehen haben. Die Mitsprache der Eltern wird im Laufe der Geschichte des Modernen Ensembles bis zum Verschwinden reduziert.


[12] Zitat aus der Matthäuspassion von Joh. Seb. Bach, Text von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander (1700-1764), Nr. 13, Arie: „Ich will dir mein Herze schenken, senke dich, mein Heil, hinein. Ich will mich in dir versenken, ist dir gleich die Welt zu klein, ei, so sollst du mir allein mehr als Welt und Himmel sein.“


[13] Wir beziehen uns hier auf europäische Vorkommnisse, weil in Europa (oder Teilen davon) die Entstehung des Modernen Ensembles sich ankündigte und vorbereitete, bevor dieses von England, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika aus sich daran machte, die ganze Welt zu organisieren.


[14] Ebenso sind wir mental auch gar nicht mehr in der Lage, arrangierte Heiraten zu akzeptieren, geschweige denn zu verstehen. Wir können sie nur als Zwangsehen ansehen und als flagranten Verstoß gegen die Menschenrechte. Jede andere Sicht ist uns durch die Fixierung auf die Liebe als Gestaltungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft verwehrt.


[15] Darunter verstehen wir das Alleinleben, ohne dabei die Beziehungslosigkeit auszuschließen; eher handelt es sich darum, die Vorteile der geregelten Beziehung zu lukrieren, ohne Verantwortung (oder Belästigung) durch Zusammenleben in Kauf nehmen zu müssen.


[16] Und die Freizeitindustrie ihre Konsumentinnen und Konsumenten; auch wenn die Privatheit in einem Club Mediterrané beispielsweise nur vorgegaukelt wird, was aber keine Rolle spielt insofern, als Privatheit, wie eben erwähnt, ja auch gesellschaftliche Form ist.


[17] Wieder einmal finden wir hier das Phänomen vor, dass die einzelwissenschaftliche Beschreibung eines distinkten Begriffs oder Themenfeldes, die auf die Geltung in einer autonomen diskreten Sphäre bedachte Äußerung sehr wohl von den gesamten gesellschaftlichen Verhältnissen spricht, ohne dies beabsichtigt zu haben, dies zuzugeben oder sich dessen bewusst zu sein.