Petra Haarmann

 

Das Bürgerrecht auf Folter

Zur Geschichte des Verhältnisses von Marter, Wahrheit und Vernunft


 

Zuerst veröffentlicht 2005 in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 2, S. 53-82



 

Zur gegenwärtigen Diskussion der Folter

 

In den Zentren westlich kapitalistischer Vergesellschaftung, nachgerade in Westeuropa, galt die Tortur von Personen im staatlichen Gewahrsam bis vor nicht allzu langer Zeit als längst überwundenes Übel vordemokratischer Zustände, dem durch die Errungenschaften des Rechtsstaats endgültig und nachhaltig Einhalt geboten worden war. Die Nichtanwendung von Folter war geradezu ein Gradmesser dafür, ob und inwieweit ein Staat der Zweiten oder Dritten Welt auf seinem „Entwicklungsweg“ bereits vorangeschritten war und damit als Qualifikant für den erlauchten Kreis derer zu betrachten war, die als wahre demokratische Nationen das „Reich des Guten“ von Recht, Freiheit und Vernunft bereits geschaffen zu haben behaupteten. Die Grenzen dieses neuen Paradieses wurden zwar zum „Schutz der Freiheit“ scharf bewacht, jedem „im Außen“ gelegenen Staatswesen aber prinzipiell in Aussicht gestellt, zum ideellen Paradies Zutritt zu erhalten, wenn, ja wenn, es sich zu einem bestimmten Normenkatalog bekenne, der gemeinhin als „westliche Wertgemeinschaft“ bekannt ist. Der Weg zur modernen Verheißung ist also mit unverzichtbaren Normen gepflastert, deren Beachtung über das Wohl und Wehe des Aspiranten entscheidet; ein Resultat, das sich aus demokratischen Grundsätzen nicht unmittelbar erschließt, denn aus der postulierten grundsätzlichen Verhandelbarkeit von allem und jedem ließe sich ebenso folgern, daß der „demokratischen Prozeß“ prinzipiell ergebnisoffen abläuft.

Riefen die Nachrichten und Bilder aus Guantanamo Bay und später aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib denn auch öffentlich zunächst fast einhellig Abscheu und Ablehnung vermischt mit einem gewissen Erschrecken hervor, zumal es sich bei den „verantwortlichen Tätern“ um Soldaten des Gralshüters westlicher Werte, den USA, handelte, so wurden nach dem Verstreichen einer Scham- und Schreckperiode doch auch schnell Stimmen laut, die das Folterverbot als unantastbare Norm gerade unter Berufung auf den Rechtsstaat abgeschafft sehen wollten: „Als eines der Mittel gegen Terroristen halte ich Folter oder die Androhung von Folter für legitim, jawohl.“ (Prof. Dr. Michael Wolffsohn, Historiker an der Bundeswehrhochschule, in einer Fernsehsendung; zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.06.2004, Nr. 139, Seite 35) 


Was zuvor noch als Ausschlußgrund für den Eintritt in die „freie Welt“ gegolten hatte, soll nun umgekehrt das in die Rechtsstaatlichkeit eingebundene und aus ihr entspringende legitime Mittel zur Abwehr eines wilden und bösen Außen sein. Noch brüchiger wurde der vorgebliche Konsens gelegentlich der Diskussion um die dienstlichen Anweisungen des stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt, Wolfgang Daschner, der im Entführungsfall Jakob von Metzler dem mutmaßlichen Täter durch die Ermittlungsbeamten erhebliche körperliche Schmerzen androhen ließ, sollte er den Aufenthaltsort des verschleppten Kindes nicht verraten. Von der juristischen Fachpresse bis hin in die ob der Sensationsmeldung begierigen Boulevardblätter, wurde das Folterverbot relativiert. Der Grundtenor der überwiegend ethisch begründeten Argumentationen lief darauf hinaus, daß man ja „nicht immer mit der Rechtsstaatlichkeit unter dem Arm herumlaufen könne“ und Daschner nicht oder nur milde zu bestrafen sei. So schließlich auch das Urteil, das den Tatvorwurf der Folter verneinte und auf den Tatbestand der Nötigung auswich. 


Ganz unbemerkt von der größeren Öffentlichkeit war das Problem der unantastbaren Verbotsnormen jedoch schon länger Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion gewesen. Und niemand anderem, als dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann war es vorbehalten gewesen, sie in Gang zu setzen. Seinen Vortrag (1992) mit dem Titel „Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?“ beginnt er nach Juristenmanier mit einem fiktiven Musterfall:


„Zur Einstimmung in das Thema ... mag nach gutem Juristenbrauch die Vorgabe eines Falles dienen. Stellen Sie sich vor, sie seien ein höherer Polizeioffizier In Ihrem Lande – und das könnte in nicht zu ferner Zukunft auch Deutschland sein – gäbe es viele linke und rechte Terroristen, jeden Tag Morde, Brandanschläge, Tötung und zahlreiche Schäden für Unbeteiligte. Sie hätten den Führer einer solchen Gruppe gefangen. Sie könnten, wenn Sie ihn foltern, vermutlich das Leben vieler Menschen retten, zehn, hundert, tausend ... Würden Sie es tun? In Deutschland scheint die Sache einfach zu sein. Man sieht im Grundgesetz nach, in Art. 1 (Menschenwürde) ist keine Ausnahme vorgesehen.“ (Luhmann 1993, 1)


Im Gang seiner Erörterungen geht es Luhmann sodann um das Verhältnis des Funktionssystems (Luhmannsche Kategorie) „Recht“ zum psychischen System (Bewußtsein) und die Neuauflage des von ihm postulierten Topos, daß nicht handelnde Menschen, sondern autopoietische Kommunikationen das in operativer Hinsicht geschlossene soziale System steuern. Das Bewußtsein denkt lediglich, während die sozialen Funktionssysteme (Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Massenmedien etc.) sich kommunikativ anregen und die Selbststeuerung bewirken. Dabei mag das beobachtende Bewußtsein Widersprüche wahrnehmen, was die autopoietische Reproduktion jedoch nicht zum Stillstand bringt, sondern aus der Bahn wirft, so daß das System[!] sich selbst in Frage zu stellen hat. Widersprüche sind von daher nichts anderes als ein Moment der „Selbstreferenz“ sozialer Systeme. Dadurch, daß der Widerspruch vielerlei Anschlußmöglichkeiten bietet, kann sich das System in verschiedene Richtungen fortentwickeln und sich so der Umwelt immer neu anpassen (Luhmann 1984, 488-551).


Mit dem zuvor dargestellten Musterfall hebt Luhmann auf das wechselseitige Einwirken der seiner Auffassung nach funktional von einander getrennten Systeme Recht und Moral ab und demonstriert eine der durch die Selbsterzeugung bewirkten möglichen Anpassungen des sozialen Systems am Schluß seiner Ausführungen:


„Man könnte deshalb ... an [folgende] juristische Lösung denken – ungeachtet aller legalistischer Bedenken auf Grund Art. 1 GG. Etwa: Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der Szene in Genf und Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung ... Insgesamt keine besonders befriedigende Lösung. Aber es befriedigt ja auch nicht, wenn man gar nichts tut und Unschuldige dem Fanatismus der Terroristen opfert.“ (a.a.O. 1993, 27) 

 

Ganz abgesehen von der Lösung des Falls, die für Luhmann nicht im Vordergrund steht und nur eine unter vielen potentiellen Varianten darstellt, hält er damit fest, daß alles (moderne) Recht positivrechtlichen Charakter hat, nur eine Momentaufnahme der systemischen Eigenlogik darstellt und in seinem Regelungsbestand durch die anderen Funktionssysteme im Konfliktfall neu justiert werden kann.[1]

Das Luhmannsche Unterfangen durch Vorgabe eines zynisch inszenierten Falles die Unmöglichkeit der Verrechtlichung aller Lebensvorgänge darzulegen, um damit seinen Kommunikationsbegriff der interagierenden Funktionssysteme zu untermauern, rief sogleich die kantianisch geprägte Rechtswissenschaft auf den Plan, die als subjektideologische Gegenposition den Fall sehr „ernst nahm“ und ihn „innerrechtlich“ zu lösen versuchte. Damit ist nicht die Abprüfung nach positivem Recht (Polizeigesetze, Grundgesetz, Menschenrechtskonventionen) gemeint, die zügig zum Ergebnis des absoluten Folterverbots führen würde, sondern jene juristische Fachdiskussion, die diese Konsequenz aus juristischen Gründen gerade vermeiden will ohne ihr eigenes a priori der (praktischen) Vernunft in Frage stellen zu müssen.


In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der von Luhmann vorgelegte Musterfall, der die Rechtswissenschaft bis in die Hausarbeiten- und Klausurstellungen bereits zu Anfang der 1990-er Jahre so sehr in Unruhe versetzte, nicht etwa die Umstände eines strafrechtlichen Erkenntnisverfahren zur Erzwingung eines Geständnisses zwecks nachheriger, sogenannter angemessener, Bestrafung problematisiert, sondern in der allgemeinen Gefahrenabwehr, also im Polizei- und Ordnungsrecht, situiert ist. Es geht um die Frage der Aufrechterhaltung und damit Verteidigung der öffentlichen Ordnung(d.h. nicht normierten Rechtsordnung), gegen einen als dämonisch und widernatürlich gezeichneten Feind, dessen Beweggründe nichts zur Sache tun und dem bei evidenter Gefahrenlage im Wege der praktischen Vernunft (jus necessitatis) schlicht Einhalt zu gebieten sei. Unter fortwährendem Kopfschütteln darüber, daß die positive Gesetzeslage zurzeit hier mißverständlich ist bzw. kontrafaktische Ergebnisse produziert, berufen sich die Befürworter einer Anwendung der Folter, auf eine sogenannte Wertungslücke, die es dem Polizeirecht als Träger des unmittelbaren Zwanges gewissermaßen unmöglich mache, seine Kernaufgabe der Gefahrenabwehr wahrzunehmen. Die Maximen des Polizeirechts, und hierüber besteht in der Rechtswissenschaft Einhelligkeit, sind zum einen, daß es effektiv zu sein habe, will heißen den Störer endgültig an der Störung hindert,zum anderen, daß das Polizeirecht als Präventionsrecht gegen drohende Rechtsverstöße den Störer in die „Grenzen des Rechts“ zurückdrängen können muß (vgl. für viele andere Hans Lisken/Erhard Denniger mit weiteren Verweisen).


Solange der Störer schlicht zu beseitigen ist, besteht hier kein Problem, denn in das Recht auf Leben darf nach einhelliger Dogmatik, beispielsweise durch finalen Todesschuß, eingegriffen werden, weil der Störer hier etwas lediglich passiv hinzunehmen habe. Die Wertungslücke ergibt sich vielmehr daraus, daß durch die Anwendung der Folter zwecks Aussagenerpressung dem Störer etwas Positives abverlangt wird, was den innersten Kern seiner sogenannten Würde angreift, nämlich die Brechung seines Willens. Und dies ist kein Minus gegenüber der Hinnahme des eigenen Todes, sondern ein schärferer Zwang, nämlich die Aberkennung und Vernichtung seines Status als vernünftiger Mensch, der in Freiheit seinen Willen bekunden und ausüben darf. Es kommt zu einem Wertungswiderspruch zwischen „absolut“ zu respektierender Würde des Störers und „absolut“ zu schützender Würde der „Gestörten“, die eben bei Ausführung der Tat nicht nur am Leben gehindert würden, sondern vor allem an der Ausübung des ihnen zustehenden Willens in Freiheit, den die akademische Bewegung zur Legalisierung der Folter dahingehend „entscheidet“ – der Anklang an den Dezisionismus kommt nicht von ungefähr –, daß die Rechtsordnung den Vorrang habe und der Störer in die Schranken des Rechts vermittels Folter zurück zu zwingen sei. Damit ist die Pflicht zur Folter durch Polizeiorgane bereits gewonnen und es bleibt nur noch ein kleiner Schritt zu tun, um über die sogenannte Schutznormtheorie nun ganz befreit und methodisch blütenrein zum Anspruch eines jeden Bürgers auf die ordnungsrechtliche Vornahme solcher Folterungen, sei es durch die Polizei, sei es durch die bewaffneten Streitkräfte, zu gelangen (Brugger 2001, 4-9).


Der ganze Argumentationsgang wird dabei mit viel beifallsheischendem rührseligem Pomp um Schuldige und Unschuldige unterlegt, wobei, wer die aufgenötigten Tränen der Betroffenheit sich aus den Augen zu wischen vermag, leicht feststellt, daß hier Schuldige und Unschuldige nach streng juristischem Verständnis bestimmt sind, also danach, ob sie dem positiv, und damit von Juristen nicht näher zu erläuterndem, Sollen Genüge tun oder nicht. Im Ergebnis wird die Welt in Gut und Böse, in vernünftige Gerechte und dämonische Ungerechte, aufgeteilt. Letzere sind nicht nur wie eh und je zum Abschuß freigegeben, sondern können nötigenfalls darüber hinaus vom „vernünftigen Subjekt“ (Rechtssubjekt) zum Erkenntnisobjekt degradiert werden, zum Material für die Folterbank im Sinne eines Francis Bacon, auf daß man ihnen dort „ihre Geheimnisse entreiße“. Derweil sitzen die unschuldigen, weil vernünftigen, will heißen den rechten Gebrauch der ihnen von der Rechtsordnung gewährten Freiheit machenden „Gestörten“ pflichtgemäß zur Überwachung vor dem Fernsehgerät und zelebrieren ihre Betroffenheit über so viel „Böses“. Schützt dieser Fetisch der Distanzlosigkeit – hier stehe ich, ich kann nicht anders (Martin Luther) – sie doch vor der Erkenntnis, daß die Rollen bei dieser Aufführung lediglich nach formalen Gesichtspunkten verteilt sind und nur ihr eigenes zufälliges Ich als letztes Bollwerk gegenüber der ihm fremden und unverständlichen Welt dem Geschehen einen ebenfalls zufälligen Sinn verleiht. Wohl bleibt allerdings ein Gefühl einer diffusen Beklommenheit, denn die Voraussetzung dieser ihrer existentiellen Teilnahme und Teilhabe, ihr eigenes Leben, kann leider nicht garantiert werden.


Solche Betroffenheit ist genau das Gegenteil eines Mitleidens mit anderen oder gar einem Leiden an der Welt. Gefragt wird nicht, was die Voraussetzungen des eigenen Standpunkts ausmacht. Vielmehr wird dieser verabsolutiert und sodann eine dem Inhalt nach beliebige Entscheidung getroffen, die irgendwo in der Bandbreite zwischen Zufügung höchster körperlicher und seelischer Qual oder gutmenschlichem bloßen Zureden angesiedelt ist. Die Folter reduziert sich auf das Phänomen der Marter, über deren Statthaftigkeit man je nach Geschmack geteilter Meinung sein kann, und die Frage nach ihrem Sinn, ihrer Funktion, der hiermit zu produzierenden Wahrheit sowie der Anordnung von Vernunft und unvernünftigem Bösen kann aufatmend darüber entsorgt werden, daß es so etwas ja schon immer gegeben hat. Märtyrertod und Feuerprobe, Ketzerverbrennung und die peinliche Befragung der Hexen, die Bedrohung des von-Metzler-Entführers in deutschem Polizeigewahrsam und der Horror von Abu Ghraib fallen in eins und versichern dem dabei wohlig erschauernden Erkenntnissubjekt moderner Prägung geradezu, daß es doch immerhin auf der „besseren“ Seite stehe.


Auf die dargestellten juristischen Begründungen und rechtstheoretischen Kunstgriffe zur Folteranwendung wird im Gang der Erörterungen noch zurückzukommen sein, nicht jedoch bevor dem räsonierenden Betroffenheitsvernünftler genau jener Spiegel vorgehalten worden ist, den es durch den modernen Glauben an überhistorisch gültige Erkenntnisformen, die Vernunft, sorgfältig blind gemacht hat – seine eigene Geschichte als Erkenntnissubjekt und die Geschichte der Wahrheit, als historische Konstituierung der Beziehung von einem Subjekt zu einem Objekt, die heute, wie oben dargestellt, in der Möglichkeit der Verwendung anderer Menschen als Erkenntnisobjekt mündet.



Magie und Wahrheitsproduktion


Auf den ersten Blick scheinen Wahrheit, insbesondere die Produktion der Wahrheit, beispielsweise durch Folter wie in unserem Fall, und die moderne „Rechtspflege“ in einem engen Verhältnis zu einander zu stehen. Wer genauer hinschaut, wird aber feststellen, daß Juristen mit der Wahrheit, so man darunter etwas versteht, das in der Realität tatsächlich stattgefunden hat, nahezu nichts zu tun haben. Ihr Feld ist vielmehr die Überwachung der Einhaltung der Formen von Wahrheitsproduktion und die Zusammenfassung der so hergestellten Fakten, des Gemachten, unter einem dafür bereits erfundenen Namen. Geht die Sache nicht auf, behilft man sich mit Analogien unter gleichzeitiger Feststellung von Wertungslücken oder -widersprüchen, nicht ohne an die institutionalisierte Dombaubude der Gesetzgebung zu appellieren, doch ein weiteres normiertes Begriffstürmchen zur möglichst restlosen Einordnung der Wirklichkeit in die „schöne Struktur“ anzubauen. Die ermächtigten Rechtsanwender, also Richter, Staatsanwaltschaft und Anwälte, wirken in ihrem Tun in gewissem Sinne als Magier der Zeit. Zumindest was das zurückliegende Geschehen anbetrifft, verändern sie die Lebenssachverhalte rückwirkend und schaffen eine an den positiven Normen ausgerichtete Wirklichkeit vergangener Ereignisse, die mit dem tatsächlich Vorgefallen wenig bis nichts zu tun hat (Bestandskraft). Diese neue Vergangenheit ist dann gültig, je nach Reichweite der Wirkform nur zwischen einzelnen Personen oder für alle, die einer bestimmten Rechtsordnung unterworfen sind.


Der Realitätsbezug und die Realitätsveränderung durch Magie scheint überhaupt die älteste Art und Weise zu sein, wie menschliche Sozialitäten den Umgang sowohl mit der sie umgebenden Natur als auch untereinander vollziehen. Durch magische Handlungen wie Besänftigung, Beschwörung, Darbringung von Opfern und Rituale der Erkenntnis wie Eingeweideschau, Vogelflugbeobachtung, das Werfen von Losen oder Scherben usw. trat man mit den Naturmächten in Kontakt und veränderte im Vollzug bzw. durch die allgemeine und rituelle Kundbarmachung der gewonnen „Erkenntnis“ die erlebte Wirklichkeit der Kultmitglieder (Eliade 1978a, 32f, 54, 57). Da sich aber Elend, Vergänglichkeit, Katastrophen und Zwistigkeiten trotz aller Bemühungen immer wieder ereigneten, die Bibel spricht hier in Gen. 3 vom „Fluch der Sünde“, mußten diese Rituale ständig von neuem vollzogen werden. Die Verehrung der als unsterblich gedachten und übernatürlicher Dinge fähigen Naturgötter war somit gleichsam die Verklärung dieses Fluchs, der rituelle Verkehr mit ihnen ein auf Ewigkeit angelegtes Unterfangen der endlosen Wiederholung (a.a.O., 48f).


Zu jener Zeit, die in Teilen der Welt bis Anfang des letzten Jahrhunderts andauerte, findet sich Marter entweder als qualvoll gestaltete Tötung, durch deren Hinnahme und standhaftes Ertragen der oder die Geopferte die Eignung als zu den Göttern gesandter Bote bewies oder als Schlachtung vornehmlich von Kriegsgefangenen, um an bestimmte Körperteile zu gelangen, die als Sitz oder Träger besonderer Kräfte (Mana) angesehen wurden und der Gemeinde den Zugang zu den Göttern, Geistern, Ahnen etc. erleichtern sollten. Die Wahrheit, besser, das umfassende Wissen, das ausschließlich die übernatürlichen Entitäten innehatten, wurde als etwas verstanden, das um die Menschen herum und durch sie hindurch existierte, von ihnen aber nur durch den richtigen Vollzug der Wirkformen erschlossen werden konnte (a.a.O., 19ff). Das menschliche Wissen beschränkte sich auf das „wie“ der Erlangung von Kenntnissen, die so produzierten Botschaften waren sakrosankt, einem tiefergehenden und einen Zusammenhang herstellendem menschlichen Verständnis entzogen und konnten nur im Wege der unhintergehbaren Tradition akkumuliert werden.


Auch in sogenannten Hochkulturen blieb dieses Verständnis virulent, wobei in den europäischen Sozialitäten vor und nach der Zeitenwende die Marter eines Kultgenossen ausschließlich im Falle der als notwendig angesehenen Vernichtung eines Frevlers an der göttlichen Ordnung (fas) vorgenommen wurde. Solche Personen waren als Botengänger ins Jenseits der menschlichen Welt oder als Gabe an die Götter auf Grund ihres Abfalls vom Kult ungeeignet. Man betrachtete sie als Wesen, die außerhalb der kosmischen Ordnung standen und spurenlos zu beseitigen waren, so sie sich nicht durch Flucht dem Einflußbereich der Kultgemeinde entzogen (Kunkel 1990, 35f). Dies galt jedoch nicht für Kriegsgefangene, sonstige menschliche Beute oder Brecher der bloß menschlichen Ordnung (jus), die im Ritus der qualvollen öffentlichen Hinrichtung oder des rituellen Wettkampfes („Römische Spiele“) geopfert wurden. Der Sieger der Gladiatorenkämpfe wurde als von den Göttern zum vorläufigen Weiterleben Bestimmter angesehen und der „göttliche“ Princeps[2] oder seine von ihm erwählten Vertreter gaben der Kultgemeinde vor, wie mit dem noch lebenden Verlierer zu verfahren sei. Das Opfer wurde angenommen oder nicht. „Morituri te salutant!“


Ein kurzer Blick soll noch auf das Judentum geworfen werden, da das Christentum, welches die gesellschaftliche Integration in Westeuropa vor der Moderne herstellte, sich neben den polytheistischen Naturreligionen auch aus dieser Quelle speiste. Das Judentum war, zumindest was den vorderen Orient angeht, die erste Religion, die dem zuvor beschriebenen magischen Verhältnis zur Natur den Kampf ansagte. Dort verbietet der proklamierte einzige Gott als condititio sine qua non für den Auszug in das Land der Freiheit und Versöhnung auf schärfste den Tanz um das Goldene Kalb, dem Symbol der fruchtbaren Natur. Nicht unerwähnt sollte dabei bleiben, daß im Showdown der Ereignisse Jahwe, der „neue“ anthropomorphe, eifersüchtige und nicht länger anonyme Vätergott (Eliade 1978a, 170f) der Prophetin Mirijam ins Gesicht speit und sie „weiß vor Aussatz macht“. Weiß war die Farbe der „Großen Göttin“ auch im vorderen Orient und Aussatz nicht eine körperliche Krankheit, wie im heutigen Verständnis, sondern die Bezeichnung für aus der Sozialität Ausgestoßene (Naphy/Spicer 2000, 134ff). Die Natur wird nicht länger im magischen Ritus vergottet, sondern zum zu beherrschenden Objekt.


Wegen des durch Gott höchstselbst ausgesprochenen Verbots des Menschenopfers, kam es zu keinerlei Tötungen oder Marterungen, um so die Gewogenheit des Höchsten zu erlangen oder seinen Willen zu erforschen (Eliade 1978a, 318f). Selbst aus der Gemeinde ausgeschlossenen „Aussätzigen“ ließ man eine gewisse Minimalversorgung zukommen. Der Wille des Herrn, also die Wahrheit, erschloß sich allein über das Wort in seiner verschriftlichten Form oder vermittels von Botschaften, die Gott auserwählten Menschen, den Propheten, zukommen ließ und die dann in der Folge aufgezeichnet wurden. In einer patriarchalen Gesellschaft, die die Beherrschung der als weiblich konnotierten Natur im wahrsten Sinne des Wortes zum „Gegenstand“ hatte, waren das heilige Schrifttum und dessen Auslegung allerdings ausschließlich Männern zugänglich.


Im Christentum des 1. Jahrtausends nach der Zeitenwende begegnet uns Marter fast ausschließlich im qualvollen Tod von Märtyrern, die in ihrem Leiden und dessen standhaftem Ertragen Zeugnis von der göttlichen Wahrheit ablegen. Daneben finden sich auch Praktiken wie die Wasser- oder Feuerprobe, vielerlei andere uns heute grausam anmutende Verfahren zur Herbeiführung sogenannter Gottesurteile und der gerichtliche Zweikampf bis zum Tode. Beides, frühmittelalterliches Märtyrertum und Gottesurteil, stehen in einem Zusammenhang und sind doch nicht das Gleiche; das eine ist Bezeugung einer Überzeugung von Wahrheit, das andere ihre Erzeugung.



Wahrheit und christliche Vernunft


Hatte schon das Judentum ein auf einen Gott projiziertes Bewußtsein der Menschen von sich selbst im Verhältnis zur Natur geltend gemacht, so setzt das Christentum dies unter modifizierten Vorzeichen mit neuer Zuversicht fort. Alle magischen Opferhandlungen werden durch die historische Opfertat Christi, in der sich der eine Gott gnädig erwiesen und mit den Menschen versöhnt hat, ein für allemal überflüssig. Schon die Reflexion auf ein einmal stattgefundenes Ereignis, nicht die immer wieder von neuem vollzogene tatsächliche Schlachtung, entfaltet die Heilswirkung und durchbricht den Wiederholungszwang, der trotz allen Bemühens den Zustand des Unheils nicht abzuschaffen vermochte. Andererseits wird durch diese Heilslehre etwas als vollbrachte Aussöhnung ausgegeben, was in Wirklichkeit noch aussteht, denn der reale Verlauf des Lebens geht im wesentlichen so weiter wie zuvor. Stattdessen beginnt eine neue Art von Geschichte, die Heilsgeschichte, die das magische Element, gegen das sie angetreten war, nicht los wird. Die Verkündung der Erlösung ist eben nicht ihr Vollzug. Es verbleibt nur die ständig zu wiederholende magische Beschwörung, sie werde noch wirklich eintreten.


Immerhin müssen die Naturgötter nicht länger durch immer wiederkehrende Schlachtrituale gewogen gemacht werden. Nach der christlichen Lehre ist nicht die Natur selbst göttlich, sondern Manifestation eines außerhalb ihrer existenten geistigen Prinzips. Anders wäre Gott als Erschaffer der Natur und Erlöser vom nachparadiesischen Naturverhängnis nicht vorstellbar. Als besondere Gabe Gottes und Bedingung der Möglichkeit der Erlösung, wurden die Menschen des Erkenntnisvermögens dieses Geistes teilhaftig. Vernunft im christlichen Sinne ist das menschliche Vermögen, an der Sphäre des Geistes teilzuhaben. Gott ist geistiges Prinzip im Unterschied zur Natur, weil die Menschen so sich selbst in Unterschiedenheit zur Natur fassen können.


Und dennoch ist die Natur (noch) nicht das „ganz Andere“. Nur leibliche Menschen können die Heilstat Christi erkennen, ihre Physis ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis wie Vernunft[3] und ist doch auch Fessel, die ihnen Leiden, Gebrechen und Tod auferlegt, zu Lebzeiten gemildert nur durch das geglaubte, deswegen aber noch nicht genossene Heil[4] (Geerlings 2004, 81). Diesem – in modernen Begriffen gesprochen – Widerspruch zwischen Immanenz und Transzendenz versucht die christliche Dämonenlehre, die, wie später noch auszuführen ist, bis in unsere Tage in säkularisierter Form und das heißt „ohne Wissen“ virulent ist, beizukommen. Die polytheistischen Naturgötter werden zwar vom Thron gestoßen, nicht aber endgültig davon gejagt, sondern lediglich zu Dämonen herabgesetzt. Sie sind der menschlichen Leiblichkeit gute Bekannte, als damit ernst genommene Natur dem menschlichen Geist jedoch Bedrohung und fremd. Da es dem Erlösergott aber um den menschlichen Geist als Bedingung der Möglichkeit der Erlösung geht, nimmt er diese Teufel, nach frühmittelalterlicher Lehre, an die Kandare.


Die Lehre der Kirchenväter von Augustinus bis Thomas von Aquin geht nämlich dahin, daß das Tun der Dämonen göttlichem Erlaubnisvorbehalt unterliegt. Gottes Wille kann zwar auf das Böse nicht zielen, denn für ein solches Erfüllen seines Willens könnten die Menschen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, die Realität des Bösen – Krankheit, Gebrechen, Verfall, Zwist, Tod – mache aber ersichtlich und einsichtig, daß Gott „auch die Bösen gut zu gebrauchen [weiß]“ (Augustinus 1996, XIV, 27).


Das Böse existiert, aber es existiert in Gott enthalten. Die christliche Lehre kann Wahrheit nur beanspruchen, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die menschliche Erkenntnismöglichkeit kommt unbezweifelbar von Gott, er ist ihr Garant. Das Böse existiert und auch hierfür ist Gott Garant, weil es die von Gott garantierte menschliche Erkenntnis ist, die die Identifizierung des Bösen ermöglicht.

Augustinus bedient sich zur Erläuterung dieser, uns vielleicht heute durchaus untriftig erscheinenden Logik, der Geschichte von den gefallenen Engeln. Anders als die Menschen, sind die Engel reine Vernunftsubstanzen, da sie unmittelbar, also ohne physischen Körper als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, nicht der Vermittlung der Wahrheit durch Worte oder durch Sinneseindrücke bedürfen, sondern diese durch das Sein in Gegenwart der unwandelbaren Wahrheit unmittelbar „schauen“ können (a.a.O., XI, 29). Aus für Menschen unerklärlichen Gründen, denn ihr Ziel ist es ja gerade in die Sphären dieser Leichtigkeit des Seins und der Seligkeit der Ruhe aufzusteigen, setzten nun einige Engel ihren Willen gegen den göttlichen, zerstörten die völlige Übereinstimmung zwischen Gott und seinen Geschöpfen und brachten den Widerspruch in die Welt. Dieser „freie“ Wille ist die Quelle und der Uranfang der Sünde, der die mythischen Täter sogleich zum Opfer fallen. Wer zur göttlichen Wahrheit in Widerspruch tritt, tritt auch zu sich selbst in Widerspruch, denn die Bestimmung der Vernunft ist die Erkenntnis der Wahrheit oder, anders ausgedrückt, die Vermeidung von Widersprüchen.


Die gefallenen Engel nun schleichen sich in die Träume und Phantasien der Menschen ein und betören ihre Sinne, um sie auf ihre Seite gegen Gottzu ziehen. Die Menschen können hierzu noch beitragen, indem sie ihrerseits versuchen, sich die dämonischen Kräfte zunutze zu machen, also durch Ausübung von Magie. Bedienen sich die Menschen aber der ihnen zuteil gewordenen göttlichen Wahrheit, ihrer Vernunft, löst sich das Blendwerk in nichts auf und die Welt zeigt sich wieder im Lichte der göttlichen Wahrheit.


Das Einfallstor des „Bösen“ sind mithin die der Leiblichkeit des Menschen entspringenden, mit den Tieren geteilten Sinne, die ihm Wahrnehmung erst ermöglichen. Solche Wahrnehmung ist aber trügerisch, denn sie befähigt zu keiner Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein. Erst die Teilhabe am göttlichen Geist, die die Menschen über die Tiere hinaushebt, schafft wahre Erkenntnis,Erkennen von Ordnung und Bestand der Welt. Die Sphäre dieses Ideellen ist, Augustinus zufolge, die wahre Substanz, ist Gott, der den Menschen, denen ihre Sinnenwelt immer wieder entgleitet,zuverlässigen Halt gibt (Geerlings 2004, 85). Die Dämonenlehre gewinnt ihren Sinn damit im Verhältnis zum menschlichen Vernunftvermögen. Die Akteure des Bösen werden von Gott zugelassen, auf daß sie die Menschen „versuchen“ und ihn dadurch zwingen, den menschlichen Geist als festen Haltepunkt dazu zu verwenden, die Sinnenwelt in Frage zu stellen. Unwissend ob ihrer Funktion und ihres Geleitetseins, sind die bösen Horden die Hilfstruppen Gottes, dazu bestimmt, die menschliche Vernunft hervorzutreiben und die Christenmenschen in der Heilsgeschichte auf dem Weg zur Erlösung voranzubringen. Was den oder die einzelne betrifft, so sind beide Wege möglich, die geistige Durchdringung der Sinne durch das intellektuelle Selbstbewußtsein, oder das Anheimfallen an die Verblendung, die am jüngsten Tage mit ewiger Verdammnis geahndet wird. Doch es gilt auch das Gesetz der großen Zahl, denn nur die Christenheit als Allheit kann die Heilsgeschichte vollbringen. Jeder individuelle Abfall ist Verzögerung und Hindernis auf dem Weg zur Erlösung. Folglich trägt der Teufel zu jener Zeit auch das Antlitz des Tieres, die verkörperte Sinnenwelt, die die göttliche Vernunft ausgeschlagen hat.


Wir finden also eine Welt vor, die nach damaligem Verständnis von Gott als stimmige, hierarchisch geordnete Ganzheit gegliedert ist und in der das Böse nur die darin enthaltene Negativfolie darstellt, die das Fortschreiten der Menschen zur Erlösung geradezu befördert. Jeder steht an seinem Platz, Bettler oder Kaiser, Kleriker oder Papst, und übt sich dadurch in Vernunft, daß er diese gottgewollte Stellung in der Gesamtanordnung nicht infrage stellt (Seibt 1999, 127 ff). Ein Recht im modernen Sinne gibt es nicht, sondern nur ein „richtig“ oder „unrichtig“.Richtig ist, wer das Richtige tut und ganz unabhängig von innerer Motivation, die im Falle der „Unlust“ sofort als „Versuchung“ dechiffriert werden kann, die Werke (nicht Arbeit) tut, die ihm auferlegt und zu denen er göttlich „berufen“ ist. Somit gibt es auch keine Richter, die irgendwelche Lebenssachverhalte anhand abstrakter Normen bewerten, sondern nur Gerichtsherren, die dafür einzustehen haben, daß bei angeblichem Unrecht, also Verletzung der Ordnung, alles richtig unternommen und vollzogen wird, um den einzigen Inhaber der Wahrheit, Gott, zum materiellen Richter anzurufen. Wenn man überhaupt einen modernen Begriff verwenden will, so kann man allenfalls sagen, daß die Gerichte jener Zeit ausschließlich Prozeßrecht angewendet haben (Haarmann 2004, 191 m.W.N.).


Wurden Täter auf frischer, sogenannter „handhafter“ Tat, ertappt, kam ein Gerichtsverfahren überhaupt nicht in Betracht. Man konnte in diesem Fall seinen Sinnen trauen und die Verletzung der Ordnung, auf Motivlagen des Täters kam es ja nicht an, wurde unmittelbar, meistens durch Tötung, auch beim einfachen Diebstahl, von den „Zeugen“ vollzogen (Kroeschell 192, 186). Schwieriger war das, wenn die Tat „heimlich“ geschehen war. Die heute sehr beliebten undpopulären Mittelalterkrimis, die hier dann Bruder Gundebert oder Äbtissin Adelheid in Aktion treten lassen, sindschlicht ahistorische Fiktion. Umberto Ecos „Name der Rose“, als einzig nennenswertes Buch in diesem Zusammenhang, spielt dann auch später im Kontext einer, auch dann sich zunächst nur innerhalb der Kirche vollziehenden, Umbruchsperiode, auf die noch zurückkommen ist. Bei unbezeugten Taten konnte nämlich ganz der Logik folgend, nur der einzige Inhaber von Wahrheit, Gott, um Aufhellung angerufen werden. Es ging nicht um den Einsatz des Intellekts zur Durchdringung trügerischen Scheins, sondern um eine Wahrheit, die den Sinnen der Mensch und dem darauf anzuwendenden Geist entzogen war. Das verbirgt sich hinter dem Gottesurteil, dessen ritueller Vollzug zu dem Zeitpunkt von dem ich jetzt spreche, also zumindest vor dem 13. Jahrhundert keinesfalls so brutal oder grausam war, wie die pervertierten Formen hiervon bei den späteren Hexenprozessen. So wurden bei Wasserproben (Wasserordal) den Probanden, die körperlich ungeeignet waren, Jugendliche als Stellvertreter beigestellt (a.a.O., 195), die die Prozedur dann, vom kurzfristigen Untergehen abgesehen, unbeschadet überlebten. Überhaupt war der häufigste Fall der Wahrheitsprobe, durch deren Bestehen Gott die Wahrheit zu Tage brachte, das rituelle und korrekte Aufsagen bestimmter komplizierter Formeln, wobei zusätzlich bestimmte Gesten und Körperhaltungen vorgeschrieben waren (Foucault 2003, 59). Hierher rührt der Begriff der Prozeßgefahr, die noch heute die juristischen Lehrbücher und die ZPO schmückt. Schon das Wegscheuchen einer Fliege zum unstatthaften Zeitpunkt reichte aus, das Gottesurteils als gegen den Sprecher ausgegangenes festzustellen. Ungeeignete Personen, Alte, Kranke und Frauen konnten sich deshalb sogenannter Anwalter, heute Anwälte, bedienen, die statt ihrer die Formeln korrekt und vollständig hersagten. Das war schon allein deshalb unproblematisch, weil die Kundbarmachung der Wahrheit durch Gott unabhängig von der betroffenen Person allein durch die richtige Prozedur unzweifelhaft erzeugbar war. Zunächst ausschließlich dem Adel war es vorbehalten, qua Stellung, will heißen Ausersehenheit zur Bewahrung der göttlichen Ordnung, die Wahrheitsprobe im Kampf zu bestehen (a.a.O., 55ff). Aber auch hier kam es sehr schnell zur Stellvertretung durch Kämpfer, notwendigerweise für adligen Frauen aber auch für Kinder, Kranke und alte hohe Herren. Die Marter, so man davon überhaupt sprechen kann, war also eine rituelle Probe, inwieweit die Betroffenen ihre Sinne unter Kontrolle halten konnten und die bei Gelingen die von Gott herrührende Wahrheit, daß die betroffene Person die göttliche Ordnung nicht verletzt hatte, kundtat und erwies – auf mehr kam es nicht an.


Die Märtyrer andererseits, deren Marter ja auf dem Tun nicht der Christen, sondern sogenannter Heiden, d.h. solcher Leute basierte, die die göttliche Wahrheit noch nicht erkannt hatten oder, viel schlimmer, sich gegen sie wandten, obwohl sie durch den Märtyrer, der immer Christ war, die Möglichkeit dazu gehabt hätten, ertrugen die Tortur inschier unmenschlicher Anstrengung ihrer geistigen Fähigkeit, der christlichen Vernunft. So sehr waren sie in der Lage, die Sinnenwelt auszuschalten bzw. als Betörung abzutun, daß sie noch in ihren letzten Atemzügen den Fluch der Sünde überwanden und als Beinahe-Engel, nämlich als Heilige oder Selige direkt in die Transzendenz zu Gott übergehen konnten (Vauchez 2004, 342). Ihr passives Dulden implizierte somit den ultimativen tätigen Akt des Einsatzes der gottergebenen Vernunft, womit sie Zeugnis gaben von der göttlichen Wahrheit und der Möglichkeit der Erlösung.


Die Lehre des Augustinus blieb bis ins 13. Jahrhundert im wesentlichen offiziell unbestritten, obwohl die Menschen auf dem Weg der Heilsgeschichte kaum bis gar nicht vorangekommen waren.Die Versöhnung von Körper und Geist blieb nicht nur aus, sondern das erkennbare „Böse“ besetzte immer größere Räume der erlebten Wirklichkeit, von der die christliche Lehre ja behauptete, die Wahrheit zu besitzen und mit dieser völlig überein zu stimmen. Hieraus konnte nur der Schluß gezogen werden, daß der permanenten Versuchung durch die Dämonen nach wie vor zu viele Menschen, oder gar immer mehr von ihnen, anheimfielen und hierunter wohl auch jene zu zählen waren, die qua ihrer Stellung in der Gesamtordnung (ordo) eigentlich dazu ausersehen waren, hier vorbildlich zu agieren. Die Tolerierung der sich der Wahrheit offenbar hartnäckig verweigernden Juden durch geistliche und weltliche Herrschaft führte so bereits im 10. Jahrhundert zu ersten pogromhaften Vernichtungszügen gegen diese. Das Jahr 1000 des Herrn verging, ohne daß die Rückkunft Christi erfolgte und auch die hierauf gegen Ende des 11. Jahrhunderts erstmals durch Papst Urban initiierten Kreuzzüge zur Durchsetzung der einen und einzigen Wahrheit im damaligen Palästina brachten keine wahrnehmbare Verbesserung des in der Christenheit bestehenden Miasmas[5], zumal nachdem Jerusalem wieder in die Hände der Heiden fällt.


Gegen diese Unreinheit der Christenheit wenden sich die Katharer (die Reinen), die den Dualismus, der zuvor im Einflußbereich Ostroms in Gestalt der Sekten der Paulikianer (Lambert 2002, 26ff) und Bogomilen (a.a.O., 29ff) bereits lange virulent war, für die westliche Christenheit aufnehmen. Danachwird die Natur nicht durch den göttlichen Geist konstituiert und erhalten, sondern alles Fleischliche und Natürliche ist vom Teufel gemacht. Der Körper mit seiner Sinnesausstattung ist Werkzeug des Bösen, allein seine Verachtung und völlige Hinwendung zur reinen Seele durch strengste Askese verhilft zur Erlösung (a.a.O., 169f).


Damit ist nicht nur die alleinige Wahrheit über die Natur und den menschlichen Körper samt seiner Sinne als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis der Wahrheit, Vernunft, und schließlicher Erlösung infrage gestellt, sondern auch die Einheit der Christenheit, die nur als Gesamtheit den Weg zum Heil beschreiten kann. War zuvor zu Kreuzzügen als Mittel zur Reinigung der Christenheit von außenstehenden Heiden aufgerufen worden, so werden nun Kreuzzüge gegen die Ketzer erforderlich, in deren Verlaufdie Kirche die Inquisition (Befragung) installiert und als Mittel hierzu Folter zuläßt. Die Ketzerverfolgungen sind, da sie sich nicht gegen außen stehende, der göttlichen Wahrheit unkundige oder diese offen ablehnende Ungläubige richtete, sondern gegen Menschen, die sich ihrerseits auf Christus und Gottvater berufen, ein theologisches Problem. In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, daß die „Religion“ des Katholizismus zu dieser Zeit die Sozialität jenseits aller weltlicher Macht und jenseits aller weltlichen Reiche im übergreifenden Sinne integrierte.[6]



Scholastische Vernunft

 

Wir befinden uns nun in der Zeit der Scholastik, die in Schul- und sonstigen, oft auch akademischen, Lehrbüchern meist als Zeit der theologischen Spitzfindigkeit, die sich längst erledigt habe, firmiert. Dies ist der mangelnden Kontextualisierung geschuldet, denn sie erscheint vor dem Hintergrund des Überhandnehmens von Widersprüchen und dem drohenden Zerfall der einen Christenheit, die allein den Weg der Heilsgeschichte abzuschreiten vermag. Die Heilslehre der Kirche selbst hatte in den vergangenen zwei Jahrhunderten durchgreifende Veränderungen erfahren. Da die Rückkunft des Herrn ausgeblieben war, was, wie zuvor angerissen, den Dualismus auch in der weströmischen Kirche befördert hatte, entfernte sie sich mehr und mehr von der Verheißung der Versöhnung zwischen Leib und Geist und verkündete das Heil in neuer Gestalt als Erleben und strikte Befolgung von universellen göttlichen Normen, denen das einzelne Individuum zu entsprechen hatte (Kroeschell 1973, 11f). Der von Gott ausersehene und auserwählte Verkünder und Mittler solcher wahrer Universalien, die als substantielle Wesenheiten erstanden wurden, war der Papst; der Garant für die Versöhnung von Leiblichkeit und göttlicher Wahrheit, der Kaiser, sank zur päpstlichen Hilfstruppe und zum Befehlsempfänger herab. Nicht nur Investiturstreit und das große Schisma lassen grüßen, sondern auch die individuelle Schuld, zunächst nur gegenüber Gott, als vorgegebenes und nicht zu hinterfragendes Sollen, dem der fleischliche Mensch doch nie ganz entsprechen kann, und dem diese Mangelhaftigkeit nur durch Buße nach erfolgtem Geständnis der Fehlbarkeit gegenüber wahrheitskundigen Klerikern als Gnadenakt Gottes vergeben wird, kommt in die Welt. Die vormals der christlichen Liebe verpflichteten Kirche wandelt sich zur Rechtskirche (a.a.O., 12): „Wer sagt, Jesus Christus sei den Menschen von Gott als Erlöser gesandt, dem sie vertrauen, nicht aber zugleich als Gesetzgeber, dem sie gehorchen sollen, der sei verflucht“, bringt später das Konzil von Trient (1545-1563) die neue Lehre auf den Punkt.


Nun treten nach 700 Jahren der Bedeutungslosigkeit in der weströmischen Einflußsphäre wieder Juristen auf den Plan. Neben den bedeutenden Juristenpäpsten Alexander III., Innozenz III. und Bonifaz VIII. auch der wohl bekannteste Scholastiker, der Rechtsgutachter Thomas von Aquin. Dieser nimmt in seinen theologischen Betrachtungen - und Theologie und kirchliches Recht sind mittlerweile nahezu identisch (a.a.O., 12) - zunächst eine wichtige Modifikation an der christlichen Dämonenlehre vor. Hatte Augustinus die Dämonen noch als ätherische Wesen charakterisiert, die den menschlichen Geist betören und reale Dinge nur vorgaukeln, so gesteht Thomas von Aquin ihnen eine eigene Wirklichkeit außerhalb der Sinne und des Intellekts der Menschen zu, weil Gott als das höchste Gute die Ursache alles Guten sei, es sich beim Bösen jedoch um einen Defekt an den von Gott verursachten Geschöpfen handele, die damit aus Gottes Schöpfung herausfallen (Kenny 2004, 26).


Bis dahin galt bezüglich des Verhältnisses von Denken und Sein die reine Substanzlehre. Die Strukturen der Dinge können durch den menschlichen Verstand erfaßt werden, weil Gott beide so geschaffen hat, daß sie sich aufeinander beziehen. Subjekt und Objekt waren nicht streng geschieden. Vor dem Hintergrund der aufgekommenen Häresien, die sich ja ebenfalls auf die göttliche Wahrheit beriefen, mußte nun feiner unterschieden werden, um die Einheit des Christentums als Träger der Heilsgeschichte zu bewahren und die Ketzer als des Teufels Werk der Vernichtung preisgeben zu können. Die höchste und gottgegebene Vernunftfähigkeit des Menschen, die Erkenntnis der Wahrheit, liefe nämlich ins Leere, wenn der Intellekt bloße Abbilder der Dinge produzierte und umgekehrt die Begriffe so dinglich wie die Strukturen der Dinge wären. Thomas von Aquin findet in seiner Erkenntnislehre den Ausweg über die Abstraktion, der Trennung von Denken und Sein. Die durch die Sinne erfahrbaren Dinge müssen mit Hilfe des Intellekts auseinander genommen, auf ihr Gemeinsames hin untersucht und dann wieder zusammengesetzt werden. Erfassung der Wirklichkeit ist gleichzeitig ihre Aufteilung und ihr Wiederzusammenfügen, eine von den Dingen deutlich unterschiedene produktive, synthetische Leistung des menschlichen Geistes (componit et dividit), die in der Wahrheit, der adaequatio rei et intellectus gipfelt (a.a.O., 103 ff m. w. N.) Die so gewonnene Unterscheidung von Subjekt und Objekt bedeutet für die Dämonenlehre, daß das Böse einerseits die menschlichen Sinne nur betören kann, mithin auf der Subjektseite angesiedelt ist, andererseits Gebilde hervorbringen kann, die bei intaktem Verstand von Menschen als Ding oder Person wahrgenommen werden. Das Böse wird real, die Abstraktionsleistung unter den Begriff zur Voraussetzung seiner Bekämpfung und schließlichen Vernichtung. Infolgedessen verliert die Probe als Wahrheitsbezeugung durch Gott an Bedeutung, die Inquisition, die Befragung, als neues Verfahren tritt auf den Plan (Foucault 2003, 75) und findet in der blutigen Verfolgung der Ketzer ihre erste Anwendung.


Doch handelt es sich immer noch um Kämpfe und Auseinandersetzungen innerhalb der gottgegebenen Ordnung, die als Band des christlichen Geistes die gottgefügte Welthierarchie umfaßt. Denn nach der thomistischen Auffassung ist Gott, der durch die Vernunft entdeckt worden ist, unendlich und einzig (Eliade 1983, 188).


 

Nominalistische Vernunft und Wahrheitsproduktion

 

Bald nach Tode Thomas von Aquins (1274) bricht jedoch auch das sicher geglaubte Fundament der Hierarchie zusammen. Die Gefangenschaft der Päpste in Avignon zur Durchsetzung weltlicher Herrschaftsansprüche dementiert deren universellen Wahrheitsanspruch der Kirche und läßt das Gebäude der im christlichen Abendland für unzerstörbar gehaltenen substantiellen Ordnung von der Spitze her einstürzen. Zunehmend werden Stimmen laut, die die Ereignisse und Verhältnisse dahingehend deuten, daß die substantiellen Wesenheiten, durch die Gott, wie man geglaubt hatte, der Natur und der menschlichen Sozialität Harmonie und Bestand verliehen hatten, nur etwas waren, das sich von den Menschen lediglich erdacht worden war. Nur was man sehen, hören oder anfassen könne sei Realität, das Ideelle und Universelle, welches zuvor die substantielle Wirklichkeit ausgemacht hatte, existiere ausschließlich in den Köpfen der Menschen und sei ansonsten nicht vorhanden, ein Nichts bloßer Ansammlung von Namen.


Der bereits bis dahin in Einzelstimmen[7] laut gewordene Nominalismus entbrannte nun vollends zum Universalienstreit und stellte die diametral entgegen gesetzte Behauptung auf: die substantiellen Universalien sind bloße menschliche Hirngespinste. Die in der Scholastik gegründete Sicht, daß die Menschen selbst ihre Begriffe herstellen und sie zu Urteilen und Schlüssen verknüpfen, erscheint nun, nachdem es keine Gewißheit mehr darüber gibt, daß solches Denken in den Strukturen des Seins ein sicheres Fundament hat, in einem gänzlich anderen Licht. Die zerfallende Ordnung läßt die Menschen mit sich allein. Die sich daraus ergebende Möglichkeit eines kritischen Destruierens metaphysischer Trugbilder wird aber gerade durch das neue (kritische) Bewußtsein selbst verhindert. Durch die bloße – und damit einfache – Negation aller Universalien beraubt sich das Denken jeglicher festen Grundlage und jeden Halts. Die Begriffe werden zu Konventionen. Daß sie möglicherweise von vielen Menschen eingehalten werden, ist kein stichhaltiges Argument dafür, daß es nicht auch ganz anders hätte kommen können. Da man nichts mehr wirklich wissen oder zweifelsfrei erkennen kann, wird die Welt zu einem beängstigenden Ort vielfältiger Naturerscheinungen von denen der mit sich allein gelassene menschliche Verstand nicht einmal zu sagen weiß, ob es sich um Schemen oder „faßbare“ Realitäten handelt. Dem Verlust von Gewißheit folgt ein neues Bedürfnis nach „Sicherheit und Ordnung“ auf dem Fuß und so ist nun die verstockt schweigende Natur selbst auf die Folterbank zu strecken, um durch Untersuchung[8] (Foucault 2003, 76f) die Wahrheit über ihre geheimnisvollen Kräfte bis hin zum Urgrund ihrer Existenz und ihres Zusammenhalts zu ermitteln.


Die in Einzeldinge zerfallene Natur, vom Geist Gottes als Konstituens und Grund ihres Zusammenhalts entblößt, bildet nurmehr eine einzige substanzlose Metamorphose ihrer selbst. Es gibt kein sicheres Mittel mehr, ihre gaukelhaften Aspekte zu identifizieren, vielmehr wird sie zum Gaukelhaften schlechthin. So ein Gott hinter der chaotischen Welt tatsächlich existiert, und hieran haben auch die Nominalisten keinerlei Zweifel, so kann er schlechterdings nicht länger noch als Grund und Inbegriff einer vernünftigen, in ihrem Wesen erkennbaren Ordnung der Dinge gelten. Gott ist nicht in der Natur erkennbar (revelatus), sondern in ihr verborgen. Nur als eine von Vernunft verschiedene und nicht an sie gebundene Macht kann er für die Menschheit gerettet werden – als „deus absconditus“[9], verborgener Gott, dessen Wesen für Menschen unfaßlich ist.


Das Entschwinden Gottes in die abgeschirmten Gefilde der Unerkennbarkeit bedeutet für die Menschen, daß der Weg zur Rettung und Erlösung nun ohne Wegweiser und Kompaß einer von Gott herrührenden Vernunft beschritten werden muß. Werden die trügerischen Umtriebe der losgelassenen Dämonen allein durch einen Gott begrenzt, dessen wesentliches Kennzeichen Unfaßlichkeit ist, so ist die Grenze auch schon wieder verwischt. Wer weiß schon zu sagen, ob der „Nächste“ ein Mensch, ein Dämon oder ein Geschmeiß ist, das den nackten Hintern des Teufels küßt? Das Handeln Gottes und das des Teufels wird ununterscheidbar und da man den Verborgenen nicht mehr begreifen kann, bleibt nur übrig, ihn beschwörend anrufen, will man dem Bösen nicht anheimfallen. Der einstige Königsweg, den Zwang zur Dämonenbeschwörung im Vertrauen auf die christliche Vernunft durch reflektierende Erinnerung an die Heilstat zu brechen, endet an einem unüberbrückbaren Abgrund, dessen Tiefen nicht auslotbar und dessen jenseitiger Rand kaum mehr zu erahnen ist. Im nun allerorten anhebenden Erflehen von Erlösung und Erleuchtung enthüllt sich das Geheimnis des christlichen Glaubens: Bannung der Magie durch Magie. Das Wissen vom Wesen Gottes, die Theologie, „läuft leer“ und führt – genannt sei hier beispielsweise der altbekannte Streit darüber, wieviel Engel auf einer Nadelspitze stehen können – zur Verdeckung ihrer Inhalts- und Belanglosigkeit angestrengte und tautologische Debatten um Realitäten, von denen aber niemand mehr anzugeben „weiß“, ob es sich um virtuelle oder manifeste Welten handelt.[10] Außerhalb der Gelehrsamkeit halten sich die auf dem Heilsweg gestrandeten Christen mit derlei Überlegungen nicht auf. Sie suchen nach Zeichen und Wundern, die irgendeinen Fingerzeig darauf enthalten, daß es trotz allem einen passierbaren Weg geben mag. Der Besitz von Reliquien, manifesten Gegenständen, die mit der Leiblichkeit Christi in Berührung gekommen waren oder aus Teilen von Körpern Heiliger bestanden, die nach ihrem Tode von der Verwesung geheimnisvoll ganz oder weitestgehend verschont geblieben waren, wurden zum Ausweis der Erwähltheit und zur Fahrkarte in die Erlösung (Vauchez 2004, 361ff). Hinzu kommt die begierige Aufnahme einer Vielzahl von Berichten über wundertätige und errettende Erscheinungen vorzugsweise der hl. Mutter Maria und dem damit verbundenen ungeheuren Aufschwung der Wallfahrten als magische Bußübungen. Nach der großen Pest Mitte des 14. Jahrhunderts, die ganz Westeuropa verheert, bedarf es noch nicht einmal mehr der Bestimmheit der Örtlichkeit. Ziellos wandern Büßer- und Geißlertrupps herum und bringen ihre Fleischopfer dar (Naphy/Spicer 2000, 40f).


Der Verlust der Unterscheidungsmöglichkeit von Realität und Schein läßt die Menschen nach jedem Strohhalm greifen, der irgendeinen Halt und Errettung verspricht. Die Zeit der Hexenverfolgung, vornehmlich gegen Frauen gerichtet und in Westeuropa bis ins 18. Jahrhundert andauernd, ist angebrochen.


Nach christlicher Lehre ist die Frau zwar auch Mensch und kann der Erlösung teilhaftig werden, doch als „mißglückter Mann“ (Thomas von Aquin), der es an Verstand und Moral mangelt, bedarf sie zu Lebzeiten eines Mannes, der mit seinen Verstandeskräften den rechten Gebrauch von ihr zu machen weiß.[11] Im Leben ist sie damit zur mittelalterlichen Ordnung (ordo) stets über einen Mann (Vater, Ehemann, männliche Verwandte, Christus als Bräutigam) vermittelt, als des Heils fähige Christin bei der Verleihung der Sakramente dem Mann aber gleichgestellt. Dies gilt auch für das Sakrament der Eheschließung, bei der ihr sogar die Kundbarmachung eines Willens zugestanden wird (Klapisch-Zuber 2004, 321ff; Kroeschell 1972, 125, 265). Die Frau ist nur „gleich“ mit Blick auf die verheißene, noch ausstehende Erlösung. Vorläufig bleibt sie auf ihre „natürlichen“ Aufgaben der Haushaltung, des Gebärens, der Kindererziehung, Geburtshilfe und Medizin verwiesen oder wird auf Aufforderung und mit Erlaubnis- und Zustimmungsvorbehalt des Mannes in der Ständeordnung sichtbar und tätig (z.B. als Handwerkerin, Kauffrau etc.).Wurde sie hiervon aus bestimmten Gründen frei, z.B. als Witwe, Nonne, Mitglied einer Laiengemeinschaft oder erhielt sie vom Ehemann Dispens, so stand ihr auch andere Wege offen. Das Patriarchat bleibt also erhalten, gemildert allerdings durch die Aussicht auf Erlösung und das Ende aller Herrschaft in irgendeiner Zukunft auch für Frauen.Die sich abzeichnende Auflösung eben dieser Weltordnung hat für das Verhältnis der Geschlechter erhebliche und für die Frauen grausame Konsequenzen. Wo die Natur, ihrer in Gott aufgehobenen Substanzialität beraubt, als Sphäre der losgelassenen Dämonen erscheint, tritt in den Vordergrund, was über Jahrhunderte eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat: daß die Frau eine andere Stellung in und zur Natur hat als der Mann. Als Gebärerin ist sie gleichzeitig Verursacherin des Todes, aber die Erlösung in der Wiederauferstehung, als verheißene Versöhnung von Körper und Geist, ist nun alles andere als eine sichere Erkenntnis. Der Körper des Weibes, insbesondere ihr Unterleib, der den Mann anzieht und von dem er bis dahin als Ehemann geradezu verpflichtet war, vernünftigen Gebrauch zu machen, könnte auch ein Pfuhl der Verdammnis sein, der die Seele (des Mannes) herabzieht, um neue von der Erbsünde verseuchte Brut ins Leben zu bringen (Duby 1999, 472ff). Mit dem Zerfall der alten Ordnung wird die Frau ohne eigenes Hinzutun – etwa Auflehnung – als „Kategorie“ zur latenten Bedrohung. Die Buhlerin, die empfangende, gebärende und stillende Frau, die Hebammen und naturkundigen Heilerinnen, alle reiten auf dem Zaun[12] zwischen dämonischer Natur und hiervon geschiedener Menschenwelt. Nicht von ungefähr wird zu dieser Zeit die Legende der heiligen Maria Magdalena „umgeschrieben“. War sie zuvor eine Heilige der weiblichen Tugend der Liebe gewesen und Freundin Christi, so wird sie nun zur großen Büßerin, die alle weiblichen Anteile durch Selbstkasteiung zerstören muß, um fortan als erblindeter Schatten ihrer selbst das Tor zur Hölle zu bewachen (Duby 1999, 56ff, insbesondere 60f). Doch nicht alle Frauen können Heilige sein; vielmehr müssen sie weiterhin die ihnen auferlegte Pflicht und gleichzeitige Bußübung (Schmerzen bei Geburt und Regelblutung) erfüllen und erinnern damit fortwährend an die haltlose Stellung der Menschen in der Natur.[13] Und in der Krise werden sie dafür, daß sie weiblichen Geschlechts sind zur Rechenschaft gezogen: Die Verzweiflung am Heil und an der Vernunft als menschlicher Wesensbestimmung schließt sich mit der aus der Scholastik hervorgegangenen Fähigkeit zur geistigen Synthesis zusammen und produziert einen universellen Feind, die Hexe.


Wie skurril die Schauergeschichten um die Ketzer auch immer gewesen sein mögen, so stand doch zweifelsfrei fest, daß diese Sekten existierten und den Zusammenhalt der Kirche bedrohten. Der Dominikaner Jaquier setzt in seiner 1458 erschienenen Ketzergeisel (Lecanu 2004, 193) dagegen die Existenz einer satanischen Sekte voraus, die umso gefährlicher sei, weil sie nicht aus Irrtum, sondern aus bösem Willen ihrem Kultus nachginge. Ganz im Einklang mit dem aufgekommenen Nominalismus wird ein Gerücht, eine bloße Ausgeburt der Phantasie, mit einem Namen belegt und die allgemeine Bedrohung des in der Krise erschreckend gewordenen Weltzustands unter den Begriff der „Hexe“ gebracht. Das „ganz Andere“, zu dem die Natur nach ihrem Herausfallen dem göttlichen Geist geworden war, diese amorphe Erscheinung, die aus den Nebeln jederzeit zuschlagen konnte ohne selbst gefaßt werden zu können, ist nun in ihren Verkörperungen (vornehmlich Frauen) sichtbar und „dingfest“ (verdinglicht) zu machen. Der Weg zur planmäßigen Vernichtung des Bösen steht offen und korreliertmit der neuen Vorstellung von der Frau als „dem (ganz) anderen Geschlecht“, daß sogleich auch zum tötungswürdigen Objekt kollektiver Angstabfuhr werden sollte.


Das zur Ermittlung der „Wahrheit“ erforderliche und geeignete Mittel, im 13. Jahrhundert von den Päpsten ausgerüstet und beauftragt, die Ketzer auf der Folter zu „befragen“ und bei Halsstarrigkeit einzuäschern, ist bereits institutionalisiert – die heilige Inquisition. Dieses Verfahren unterschied sich von den nun anstehenden Hexenprozessen aber darin, daß es prinzipiell ergebnisoffen war. Auch wenn Hunderte, möglicherweise Tausende durch Verbrennen, Meucheln oder auch an Hunger und Durst in den belagerten Katharer-Burgen ums Leben gekommen sind, so konnte doch schon bloßes Abschwören des Irrtums das Leben durchaus retten. Der irrende Mensch konnte in die Gemeinschaft der Christen zurückkehren. Anders beim Hexenhammer, der von den Dominikanern Heinrich Institoris und Jacob Sprenger geschriebenen Gebrauchsanleitung zur Bekämpfung des Hexenunwesens. Im ersten Teil werden in drei Unterkapiteln mit den Titeln „Der Teufel“, „Der Hexer oder die Hexe“ und„Göttliche Zulassung“ Definitionen gegeben, im zweiten Teil die Arten und Wirkungen der Hexerei aufgezählt, um schließlich im dritten Teil, dem „Kriminal-Kodex“, das Prozeßverfahren und die Arten der Ausrottung gebührend zu beschreiben. Der Richter hat dabei alle Möglichkeiten, den Prozeß gegen jedwede Person seiner Wahl in Gang zu setzen. Alles was kreucht und fleucht, selbst Exkommunizierte, Ketzer, Verbrecher, Leibeigene gegen ihre Herren und auch Hexen gegen Hexen sind als Zeugen zugelassen, allerdings nur auf Seiten der Anklage und niemals zu Gunsten der ausersehenen Opfer. Die Bestellung eines Verteidigers erfolgt nur zu dem Zweck die Angeklagte geständig zu machen, sei es durch nicht einzuhaltende falsche Versprechen, Ermahnungen oder freundlichen Zuspruch. Wird das Geständnis, die zu erzeugende Wahrheit, nicht abgelegt, beginnt die „peinliche Befragung Folter“ in all ihren grausamen und kaum auszumalenden Varianten. Die Zerfleischung der Genitalien ist genuiner Bestandteil. Zeigt die Marter schließlich Wirkung, so ist man am Ziel: quod erat demonstrandum. Die Hexe muß nun nur noch eingeäschert werden, so lautet der Fachausdruck.

Aufgabe des Hexenprozesses ist es, reale Menschen unter eine vorgegebene Definition zu pressen. Die Abwicklung geschieht völlig planmäßig, Geständnis und Einäscherung stehen von Anfang an fest. Andererseits ist das Verfahren äußerst flexibel und läßt er sich auf das einzelne Individuum bestens abstimmen, wie die Vielfältigkeit der Foltermethoden ausweist, die sich nicht nur auf das Zufügen von Schmerzen beschränkt, sondern auch schon über ein Arsenal von psychischen Verhörmethoden wie Beschämung, Bedrohung Angehöriger und dgl. verfügt. Es nimmt nicht Wunder, daß Francis Bacon zur Begründung und Beschreibung der naturwissenschaftlichen

Vorgehensweise auf die Abläufe im Folterkeller zurückgreift[14], handelt es sich doch um den Prototyp eines effizienten, methodisch sauberen und flexibel anwendbaren Verfahrens, das den Anforderungen moderner Wissenschaftstheorie problemlos Genüge tut. Die Beteiligten praktizieren, was der Nominalismus in seiner Leugnung, daß Begriffe eine Entsprechung in der Realität haben, formuliert hat: Erkenntnis ist darauf reduziert, Einzeldinge unter einem „erfundenen“ Namen zusammenzufassen. Die Autoren des Hexenhammers sind mit nominalistischen Schulen selbst gar nicht unmittelbar in Berührung gekommen; dennoch wird im Hexenprozess erstmals veranschaulicht, was es heißen kann, einem Begriff bestimmte Einzelpersonen zu subsumieren. Logisch gesehen ist der Prozeß also nichts anderes als ein Subsumptionsverfahren und die Tortur ein „Prozeßmittel“, das Subsumption unfehlbar gelingen läßt.


Dem Ruf nach Praxis auf Grundlage von Theorie, gerade Erkenntnistheorie, sollte daher mit äußerster Vorsicht begegnet werden. Die Entlarvung der Universalien als bloße Hirngespinste führt über den nominalistischen männlich-westlich-weißen Verstand („MWW“, Robert Kurz) des „Praktikers“, der „ohne festen Punkt“ (Lohoff 2006) keinen Halt gegen das eigene Abgleiten in den Wahn anzugeben weiß, historisch geradewegs in ultimative Verfahren der Ausschließung und Menschenvernichtung. Die „Hexe“ ist ein nominalistisches Konstrukt, zeigt aber auch die Unschärfe in der Abgrenzung zwischen den erklärten theoretischen Gegenspielern Nominalismus und Universalienrealismus. Die erklärten Realisten, wie jene Dominikaner Institoris und Sprenger, „realisieren“ das Phantom, um durch dessen Bekämpfung die substantielle christliche Weltordnung zu retten, die Nominalisten räumen den Zusammenbruch ein und „benennen“ das Phantom, um nicht an den Folgen des Zusammenbruchs zugrunde zu gehen. Der Streit verschwimmt, beschwören doch die Realisten nur magisch die Substanzialität von etwas, das es nicht gibt, während die „ungläubigen“ Nominalisten den Realitäten und sich selbst nicht trauen dürfen und die bestrittenen überkommenen Universalien mit einem phantasmatischen Wahngebilde bekämpfen, das nur durch unablässige und planmäßige Anwendung auf empirische Personen glaubhaft erhalten werden kann. Die Folter erpreßt keine Geheimnisse, keinen Wissensinhalt, den man zur Bekämpfung des „Feindes“ kennen muß; sie bringt nur die Ver-rücktheit zu Tage, die kein Geheimnis ist und die völlige Aussichtslosigkeit dem Krisendesaster auf diese Weise beizukommen.


Das moderne Verfahren allein, sei es der gerichtliche Prozeß, sei es die experimentelle Naturwissenschaft, führt jedoch noch nicht zu den modernen Rechtstheorien über die Folter zurück. Ohne Reformation, ohne den „Theoretiker“ Martin Luther läßt sich das moderne - Kantsche - Verständnis von Recht als Form und dem Träger der Rechtsform, dem modernen Subjekt männlich-westlich-weißer Prägung, historisch nicht erschließen.[15]


Martin Luther, der jüngst wieder medial abgefeierte, große Held des Kampfes gegen den Ablaßhandel, studierte an der Schule der Ockhamisten[16] in Erfurt und trieb die vom Nominalismus geprägte Theologie bis an ihr logisches Ende: die nackte Verzweiflung. War schon zuvor in der Philosophie, namentlich durch Ockham (Ockham 2000, summa logicae, insbesondere I, 14; I, 15 u. I, 33) formuliert worden, daß das Wesen Gottes für die menschliche Vernunft unerreichbar ist und die (Allgemein-)Begriffe nur relativ erkannt werden können, nicht jedoch als wahr an sich, so zieht Luther aus seinen Bibelstudien und sicher auch unter dem Eindruck der chaotischen Verhältnisse seiner Zeit die theologische Konsequenz: Was die Vernunft nicht leisten kann, vermag erst recht nicht die Magie, deren Ausübung dem Willen Gottes entgegensteht (Eliade 1983, 231).In vorgeblicher Unterwerfung unter die göttliche Macht, bringen die Pilger, Beschwörer und Bestecher Frömmigkeitsopfer dar,die in Wahrheit lediglich die Lebensumstände für die eigene Person verbessern sollen. Indem sie Gott durch Opfer zu bestechen versuchen, erheben sie sich über ihn und versuchen sich seine Macht dienstbar zu machen. Der Angriff auf den Ablaßhandel und seine Beteiligten, Ablaßprediger wie Ablaßkäufer, wandelt sich folgerichtig innerhalb kürzester Zeit zum Generalangriff auf die Kirche, die unter dem Mantel der Heilsmittlerin, in Wirklichkeit Riten, Seelsorge, Wissenschaft und Reichtum in den Dienst solcher gottlosen Magie stellt. Die heilige Mutter Kirche ist der Motor des Verderbens „wahrhaftig des Endchrists und Teufels Gemeinschaft“ (Luther in „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“, Wittenberg 1520).


Sein „reformatorischer Durchbruch“[17] führt ihn zu einer Reinterpretation der Bibel. Befindet sich Gott im Unfaßlichen, dann sind auch seine Gesetze, die den Weltlauf regieren oder die den Menschen auferlegt sind, gleichermaßen uneinsehbar und unverständlich – ihre Existenz ist allenfalls zu erahnen. Durch den Brückenschlag der Vernunft unerreichbar sind sie menschlicher Erkenntnis entzogen und können so erst recht nicht durch menschliches Handeln erfüllt werden. Fremd und ungerührt stehen sie den Leiden und Schwächen der Individuen gegenüber. Die reine Form heteronomer (fremdgesetzlicher) Gesetzgebung also, die das theoretische und praktische Scheitern der Unterworfenen schon in sich birgt. Worin besteht aber dann die Verbindung zwischen Gott und seinen Geschöpfen? Luther zufolge hat der Mensch hier in Vorleistung zu gehen und sich aller Hoffnung zu entschlagen durch die Hinnahme und Duldung der Verzweiflung, in der Aufgabe aller Anstrengungen dem Leiden und Unglück zu entkommen und in der Entsagung vom „etwas bewirken wollen“ (Magie, Ritual). Erst in der absoluten Ergebenheit, in der nichts übrig bleibt als der reine Glaube erreicht das Individuum den Zustand der Gnade – das Heil bereits zu Lebzeiten (a.a.O., 228). Vor dem Abgrund, der den Weg zu Gott versperrt, ist jeder Christenmensch demzufolge auf sich selbst gestellt. Niemand sonst, auch kein Priester, keine Absolution, kann an seiner Stelle den rettenden Glaubensakt vollziehen. Bild Dir Deinen Glauben – ganz individuell!


Das ist die Freiheit eines Christenmenschen, ganz inwendig und voller Seligkeit, die jedoch in ihr Gegenteil umschlägt, wenn sie sich mit der Realität verknüpfen muß. Der leibliche Mensch gehört auch nach dem erlösenden Glaubensakt mit seiner Physis weiterhin der außer Rand und Band geratenen, satanisch verseuchten, Natur an. Und so steht das Heil denn, solange die dämonische Bedrohung tobt, auch unter Bewährungsauflage, die jederzeit widerruflich ist. Hier kommen die Werke ins Spiel, die in früherer Zeit, wurden sie denn getan, ganz unabhängig von inneren Motiven das Heil geradezu kalkulierbar machten. Diese Option ist dahin, denn solcherlei Werke zielen auf Korruption und sind damit Magie. Und welcher Mensch mag schon entscheiden, ob sein Wille zum Tun nicht des Teufels ist, der durch Betörung der Sinne den Menschen treibt, sich ein vorgegaukeltes Begehren zu erfüllen. „Ich habe mich schlecht ausgedrückt, als ich sagte, daß der Wille, vor der Erlangung der Gnade nur ein leeres Wort sei. Man hätte deutlicher sagen müssen, daß der freie Wille in der Tat nur eine Fiktion ist oder Name ohne Gehalt, denn es liegt nicht in der Kraft der Menschen, das Gute oder das Böse zu erlangen“ (aus Exurge Domini, zitiert nach Eliade, a.a.O., 233)


Das einzig probate Gegenmittel ist Luther zufolge, den Leib mit Fasten und Wachen in Zucht zu halten und nicht müßig zu gehen, sich zu beschäftigen und freie Werke zu tun. Die Freiheit freilich reduziert sich hier auf eine Freiheit von Zwecken und Inhalten, denn letztere bergen wieder die Gefahr sein Heil unzulässigerweise selbst herbeiführen zu wollen. Die Arbeit, das Tun ohne selbstgesetzten Zweck, ist das einzig mögliche heilige Werk, das den Verzicht auf die eigene Heilsabsicht in sich birgt und damit die Erlangung des Heils überhaupt möglich macht; die Begehrlichkeit nach dem Heil aufzugeben, der einzige Weg es letztlich doch zu genießen. Der Feldzug Luthers gegen die Magie entpuppt sich damit als ihre Apotheose (Vergötterung) in der Form radikaler Kritik. Die im erbrachten ultimativen Opfer - nämlich dem Verzicht durch eigenes Wollen und Tun, allein oder gemeinsam mit Anderen, die Wirklichkeit des Lebens zum Besseren zu verändern - enthaltene Magie wird dadurch rationalisiert, daß sie durch argumentative Täuschung den Opfernden die Überzeugung vermittelt, sie sei gar keine: Die Magie im Tarngewand, die Selbstreflexion als Selbstverblendung.


Diese reflektierte Selbstverblendung führt geradewegs zu einer neuen Sichtweise der Dinge. Die vormals christliche Vernunft, die in Gott partizipierte, sich als Abbild göttlichen Intellekts begriff,und sich diese und die jenseitige Welt erschließen wollte, hat ausgedient, ist magischer Lug und Trug. Was bleibt, ist eine administrative Vernunft der Begriffe als ordnende Namen, die sich um das dämonische Chaos des Irdischen zu kümmern hat, die das Herrschet! der Bibel aufnimmt und das Leben verwaltet. Im Reiche Gottes ist Gnade und jeder Mensch individuell selig, in den Reichen hienieden auf Erden ist die begriffsnominalistische Vernunft und jeder Mensch unter ihrem Schwert. Das ist der Kern der „politischen“ Konkretion nominalistischer Theologie, gemeinhin als Zwei-Reiche-Lehre[18] bekannt. Was die Vernunft in jedem einzelnen Kopf tun soll, was jedes Individuum seine Schuld begleichend tut, wenn es sich in Zucht und Zaum hält, das soll das Reich der Welt mit allen Menschen tun: das Chaos bändigen (Lohse 1995, 64ff). Denn das Chaos sind die losgelassenen Teufel und Aufruhr ihre schärfste Waffe, der niemals recht sein kann, so gerecht die Sache, die damit verfolgt wird, auch immer sein mag. Und so gibt es kein Zögern, sich gegen die aufständischen Bauern auf die Seite der weltlichen Macht zu stellen. Jegliche Apologetik ist hier fehl am Platz. Der Übergriff auf Glaubensangelegenheiten ist die einzige Ausnahme, bei der – begrenzter – Widerstand gegen die Obrigkeit zugelassen wird. Ansonsten gilt die Verheißung der Selbstaufgabe, wie sie in der Bergpredigt als Quintessenz steht: „Ich aber sage Euch, man solle keinem Übel widerstehen ...“ (Matth 5, 38). Dem Chaos läßt sich so nicht beikommen, vortrefflich lassen sich aber die regieren, die diesen Grundsatz befolgen.


Der Glaube als demonstrative Preisgabe der Verfolgung des Heils bleibt aber ein Lippenbekenntnis, wenn er nicht mit dem Verzicht auf das eigene Recht, den Anspruch auf und die Befriedigung der leiblichen und geistigen Bedürfnisse einhergeht. Die Aufopferung aller persönlichen Rechte, das ultimative Opfer in seiner Konkretisierung, ist der Prüfstein für die Ernsthaftigkeit des Glaubens. Der reale Verzicht aufs eigene Recht, im Mittelalter bis ins 12. Jahrhundert unvorstellbar, erzeugtden Schein, als sei der Verzicht aufs eigene Heil ebenso real und gibt dem Gläubigen die Illusion, er habe sich das Heil, um es zu erlangen, nun wirklich aus dem Kopf geschlagen. Der Verzicht wird zum Doppelten: ein fiktiver Verzicht aufs Heil durch Selbstverblendung ganz im Privaten und einen realer auf das Recht durch Selbstauslieferung in die zu verwaltende Welt. Der Inbegriff des Privaten ist der Verzicht auf alles Private und Individuelle und damit der Verzicht auf individuelle Rechte der besonderen Person.


Der männlich-weiße und nur vor dem Hintergrund des westlichen Abendlands in seiner Konstituierung verstehbare Mann ist also zuvörderst ein öffentlicher Mann, der sich der Eindämmung des Chaos unter nominalistischen Begrifflichkeiten zu widmen hat. Der schnöde Rest, will heißen die ganze reale Welt, ohne die der Mann weder ein Betätigungsfeld, noch einen Ort für die Erlangung seines lebendig erfahrenen Heils hätte, bleibt in ihrer Zuschreibung der „natürlichen, chaotisch-amorphen“ Frau, die damit ebenfallsim Nichts des letztlich Unfaßbaren verschwindet. Schlimmer noch, sie wird prototypisch zum Objekt dessen, wozu die Männer sogleich aufgerufen sind: „Darum, wenn du sähest, daß es am Henker, Büttel, Richter, Herrn oder Fürst mangelt, ... sollst Du Dich dazu erbieten ...“ (aus „Die weltliche Obrigkeit“, zitiert nach Lohse, a.a.O., 186). Als Individuum rechtlos, als Amtsperson gnadenlos, in beidem selbstlos, und die Selbstlosigkeit für Glückseligkeit erachtend, so genießt das MWW der neuen Zeit die Rationalisierung der Magie. Was ihm bleibt, ist nur das Gewissen, jener mythische und geheime letzte Ort der Gottesnähe, der doch nichts ist als das von der eigenen und damit öffentlichen Vernunft selbstgemachte Jenseits aller Vernunft.


Die von Luther vehement propagierte und von ihm zu neuer Hochlohe getriebene Hexenverfolgung, die in den nördlichen protestantischen Ländern wütet wie im Süden nie gekannt, liegt nicht nur in der Konsequenz der zwei Reiche von Gott und der Welt, sondern verschafftihr erst das adäquate Fundament, indem sie ein theoretisches Gebäude bereitstellt, das in die Praxis umgesetzt, dem Hexenhammer überlegen ist. Innen und Außen, Ordnung und Chaos sind endgültig getrennt und der Glaube ein sanftes Ruhekissen, um guten „Gewissens“ ganz rational und effizient an die Arbeit zu gehen. Das Menetekel der Moderne steht in Blut und öligem Ruß über den Scheiterhaufen geschrieben.



Wahrheitsproduktion durch fetischisierte Form

 

Von nun an sind Wissen und Herrschaft streng getrennt (Foucault 2003, 51). Herrschaft darf nur noch derjenige ausüben, der nichts weiß, weil er nichts wissen können darf, um das Heil nicht zu gefährden, welches sich nur einstellt, wenn er und alle anderen sich jeden Gedanken an Erlösung und das Wissen darum verbieten. „Die Herrschaft, nicht die Wahrheit macht das Gesetz“, weiß dann auch schon Hobbes und legt das Schwert der Chaosbekämpfung in die Hand des Leviathan. Wie die Wahrheit und ihre Erkenntnis durch Menschen, die Vernunft, an sich selbst beschaffen ist, das ist unter dem Vorzeichen des Nominalismus nicht mehr zu sagen. Doch indem er die Allgemeinbegriffe, die zuvor in der christlichen Vernunft als metaphysische Wesenheiten galten, ins rein subjektive Denken verlagert, spricht er den abstrakten Charakter der alten Universalien lediglich aus. Denn die Substanz der mittelalterlichen Sozialität war eine Ontologie, die sich zunächst durch Widersprüche zwischen Individuum und Sozialität nur geschmückt sah, spätestens ab der Zeit der Scholastik ihre Antithesen aber nicht nur aussprach, sondern in einem blutigen Krisenprozeß zugrunde ging. Die ontologisch gesetzte Substanz hat den Nominalismus erst hervorgebracht. Deshalb ist auch jeder Versuch, die abstrakte Universalität durch irgendeine andere, wie unter Nominalisten üblich, namentlich anders bezeichnete Universalität als Programm zur Reform der modernen Verhältnisse zu ersetzen, die dann aber auch wirklich jeden beglücken soll, nur die berühmte „alte Scheiße in neuen Kleidern“ (Marx). Und hierunter zählen besonders auch jene Utopien, die regressiv Universalität wieder substantiell an Ontologie knüpfen wollen, beispielsweise der vom „eigentlichen“ bzw. wirklichen Menschen bei Oekonux (vgl. Haarmann 2004, 186). In beiden Fällen ist das MWW an seinem „heiligen“ Werk. Nur sich selbst als absoluten Maßstab nehmend, zähmen die einen begrifflich und dann in Konkretisierung dieses Begriffs die Natur, die ihnen notwendig als Objekt entgegentritt, da ihr kein eigenes Wesen, schon gar nicht ein Wesen im Zusammenhang mit Menschen, zuerkannt werden kann. Die anderen, noch perfider, lügen sich ihr Dasein als MWW noch als ontologisch eigentlichen Menschen zurecht, perfektionieren durch Algorithmisierung den Gang der Ereignisse, Fortschritt, und schicken die Frauen erst einmal zum Spülen in den Hinterhof, Schlimmeres vorbehalten.


Gibt es schon kein gemeinsames Wesen mit der Natur, so gibt es im Nominalismus auch kein gemeinsames Wesen der Menschen. Die Frage, was den Menschen zum Individuum macht bleibt unbeantwortbar und wirft das einzelne Bewußtsein auf sich selbst zurück. Statt dessen stellt sich das Problem, wie den Einzelnen, die im aufkommenden Liberalismus nur noch aus sich selbst gedacht werden können, überhaupt etwas gemeinsam sein kann, denn der Logos einer universellen Vernunft ist in der Welt nicht mehr zu finden. Die Vertragslösung führt nicht weiter, denn die Regeln seiner Bestimmungen müßten ihrerseits auf Übereinkunft beruhen, deren Grundlagen wiederum einer Einigung unterlägen usw. usf. Damit ist ein unendlicher Regreß in Gang gesetzt, der durch Unterwerfung unter eine neue Allgemeinheit schlicht abgebrochen wird (Lemke 1997, 159ff), nachdem die alte, ontologische, sich als unwahr erwiesen hat.


Es schlägt die Stunde der Aufklärung, die dem Nichts-mehr-wissen-können das letzte Wissen nimmt, das es noch von sich hat: seine Geschichte, seine Genese, seine Problemstellung, seine Voraussetzungen. Das „Licht der Aufklärung“ verdunkelt nämlich all dies, indem es die als Zersetzungsprodukt der damaligen Krise entstandenen Denkformen positivistisch besetzt und zum a priori aller möglichen menschlichen Erkenntnis und dem Beginn einer neuen Fortschrittsgeschichte, der Beherrschung und Verwandlung der chaotischen Natur säkularisiert. Und wie immer in der bisherigen menschlichen Geschichte, wenn die Magie des Fetischs „säkularisiert“ wird, bedeutet dies noch weniger zu wissen, auf daß das konstitutive und nun völlig unerkennbare verselbständigte Prinzip sich umso ungehinderter Bahn bricht. Die Denkformen als etwas durch ihre Sozialität den Individuen gemeinsames werden endgültig ins Dunkle verabschiedet, der Glaube des freien Christenmenschen als individualisiertes und damit pluralistisch vorgegebenes Himmelreich der persönlichen Welterklärung, Ideologie, verewigt und ihm das Gewissen als stetiger Betroffenheitsräsonierer zu seiner permanenten individuellen Legitimierungsinstanz beigesellt. Doch wo jeder „im Recht“ ist, wird der Andere notwendig zum Feind. Die Friedensstiftung zwischen diesen armseligen Monaden, die auf einen Frieden, der nur durch eine verbindliche Vernunft hergestellt werden könnte, nicht mehr hoffen dürfen und können, übernimmt der Staat, der alle Züge des protestantisch nominalistischen Gottes trägt: sein Wille ist nicht zu durchschauen und seine Gnade an keine Regeln gebunden – allerdings nicht ohne sich hier noch einen „Vertragsgott“ ideologisch zurecht zu lügen, dessen unmögliche Existenz man zuvor über die endlos regressiven Kausalitätsketten längst erwiesen hatte.


Auf diesem bereiteten Boden tritt schließlich Kant, der spiritus rector der deutschen Rechtswissenschaft, als oberster Dunkelmann auf. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen mag sich nun erschließen, warum er großes Aufheben um die Unmöglichkeit jeden Gottesbeweises macht. Geht es doch schließlich darum, eine Vernunft, die sinnlich in dem Sinne ist, daß sie das im Marxschen Sinne „Übersinnliche“ bisheriger menschlicher Sozialität überwindet, ins unerkennbare Jenseits zu verweisen. Ist dieser Brückenkopf gewonnen, stellt er fest, daß die Ansammlung der vielen Individuen, die je nach ihrer Façon selig zu werden ein gottgegebenes „Recht“ haben, dadurch keineswegs ein Ganzes bilden. Doch dreht man die Perspektive um, und betrachtet das Szenario vom Friedensstifter, dem Staat, aus, so ist die Lösung des Dilemmas letztlich einfach. Von dieser Warte betrachtet, ist nämlich nur zu konstatieren, daß es eine verbindliche Wahrheit nicht mehr gibt und nach den positiven Voraussetzungen der Aufklärung auch nicht mehr geben kann. Die Individuen sind „frei“ und schaffen sich Wahrheit, jeder ganz für sich allein, nur an jenem inneren Ort, den Luther den durch das Gewissen abgesicherten Glauben nannte – heute sattsam bekannt als Ideologie. Der Schnittpunkt zwischen Staat und Individuum, der gleichzeitig ihre Differenz ausmacht, ist von oben betrachtet leer. Zur Verhinderung von willkürlich auf einander einschlagenden – je souveränen – Menschen, ein Carl Schmitt hat die Logik später – grausam affirmativ – auf die Spitze getrieben, bleibt nur ihre Festschreibung in der leeren Form. Die freiheitsverträgliche Freiheit Kants entpuppt sich damit als abstrakt-universelle und leere, staatlich garantierte Gefängniszelle, die der eiserne Käfig und das von jedem beliebig dekorierbare, ganz individuelle Paradies des räsonierenden, aber gehorsamen und keinesfalls über sich selbst hinaus denkenden oder hinausgreifenden Menschen ist. Ein Gefängnis, in dem die Insassen sich als Richter, Ankläger, Verteidiger und Vollzugsbeamter gleich selbst überwachen, denn hier wird ein jeder gebraucht: zur Aufrechterhaltung einer sinnentleerten Ordnung ohne eigenen Zweck, die immer wieder mit neuen Inhalten des nämlichen aufgefüllt werden muß, weil ihr Leerlaufen, ihr Zusammenbruch, das Chaos einander zerfleischender MWWs heraufbeschwören würde.


Das und nicht mehr ist das durchaus morsche Holz der Planke auf dem, um Kants Metapher zu verwenden, die Subjekte der aufgeklärten Vernunft auf dem großen stürmischen Meer der Unordnung dahinschlingern. Stoßen sie einander herunter, weil die Form der Planke sie nicht in Gänze faßt, so sind sie ent-schuldigt (vom Sollen entbunden); Rassismus und Misogynie sind zwar nicht rechtens, aber zur Zähmung der ersten Natur leider unvermeidlich – Schwamm drüber. „In meinem Ausgangsfall, übersetzt auf den Plankenfall, befinden sich die zwei Personen schon auf der rettenden Planke des Rechtsstaats und jetzt kommt ein anderer, der Rechtsbrecher, angeschwommen und will sie herunterstoßen.“... [dann muß] eben ein Rechtfertigungsgrund [für die Personen auf der Planke] vorhanden sein“ (Brugger 2001, 10). Denn der „andere“ ist ein „Anderer“, weil er außerhalb der Form ist und das beseitigt alle infrage kommenden positiven Tatbestände der Verletzung von Leib, Leben oder sogenannter Würde und macht ihn zum zu vernichtenden Objekt, dem keine (formale!) Menschlichkeit, von der Planke aus gesehen, mehr zukommt. Wenn Brugger mit der Feststellung schließt, daß „egal wie Sie Kant lesen, ob mit dem Freiheitsprinzip oder dem Notrecht, er würde ... die Folter zulassen“ (a.a.O., ebenda), so kann das nicht mehr wundern. Und auch in diesem Fall, wie schon zu Beginn der Moderne bei den Hexenprozessen, geht es nicht um die Entlockung eines Geheimnisses oder gar einer Wahrheit, die es nicht geben kann, weil man sie nicht wissen darf, damit sich das Heil denn schließlich dennoch irgendwie, ganz hintenherum und unbemerkt einstellt, sondern um die Erzeugung, die Produktion, um das unter den Begriff bringen einer einst durch verdunkelnde Säkularisierung gewonnen positiven Vorannahme: Das Leben des auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts – und nichts anderes – ist die beste aller im nominalistischen Sinne denkbaren Welten. Die Schutznormtheorie samt ihrer ausnahmsweise gewährten subjektiv-öffentlich-rechtlichen Ansprüche des Bürgers auf Ingangsetzung der Staatsorgane, jener so sorgsam gehütete Edelstein des öffentlichen Rechts, entlarvt sich als Recht der staatlich organisierten Monaden darauf, daß sich an ihrer Verfaßtheit nicht ändert. Die von der juristischen Lehre gezogene Konsequenz des Bürgerrechts auf Folter kann methodisch ganz sauber und schlüssig über ihr bisher niedergelegtes Ergebnis hinausgetrieben werden, das längst offenbar ist: Das Bürgerrecht auf Folter der eigenen Person, das Recht nämlich durch jedwedes adäquate Mittel in die Schranken der eigenen Formkonstitution, Rechtssubjekt, zurückgetrieben zu werden. Foltert mich!


 

 

Literatur

 

Augustinus, Aurelius: Der Gottesstaat, Einsiedeln 1996


Brugger, Winfried: „Darf der Staat foltern?“ – Eine Podiumsdiskussion, Humboldt-Universität zu Berlin am 28.06.2001, Druckversion auf

https://www.rewi.hu-berlin.de/de/lf/oe/hfr/deutsch/2002-04.pdf


Duby, Georges: Frauen im 12. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999


Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen Bd. 1 – Von der Steinzeit bis zu den Mysterien von Eleusis, Freiburg, 1978


Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen Bd. 3 – Von Mohammed bis zum Beginn der Neuzeit, Freiburg 1983


Foucault, Michel: Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt am Main 2003


Geerlings, Wilhelm: Augustinus, Freiburg, 2004


Haarmann, Petra: Copyright und Copyleft, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 1, Bad Honnef 2004


Kenny, Anthony: Thomas von Aquin, Freiburg 2004


Kroeschell, Karl: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 1 (bis 1250), Hamburg 1972


Kroeschell, Karl: Deutsche Rechtsgeschichte Bd. 2 (1250-1650), Hamburg 1973


Kunkel, Wolfgang: Römische Rechtsgeschichte, Köln, 1990


Lambert, Malcolm: Ketzerei im Mittelalter – Häresien von Bogumil bis Hus, Augsburg 2002


Lecanu, Abbé: Geschichte des Satans, Erftstadt 2004


Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft – Foucaults Analyser der modernen Governementalität, Hamburg 1997


Lisken, Hans/Denniger Erhard: Handbuch des Polizeirechts, München, 2001


Lohoff, Ernst: Ohne festen Punkt. Befreiung jenseits des Subjekts, in: Krisis 30, Münster 2006


Lohse, Bernhard:  Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995


Luhmann, Niklas:  Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, Heidelberg 1993 (= Heidelberger Universitätsreden 4)


Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984


Naphy William/Spicer Andrew: The Black Death. A History of plagues 1345-1730, Stroud 2000


Ockham, Wilhelm von: Texte zu Theologie und Ethik, Stuttgart 2000


Scheid, John: „Der Priester“, in: „Der Mensch der römischen Antike“, Essen 2004


Vauchez, André: „Der Heilige“, in: „Der Mensch in der römischen Antike“, Essen 2004


 




Endnoten


[1] Das heißt keinesfalls, daß damit das Funktionssystem Recht als solches obsolet wird. Es geht Luhmann lediglich um Anpassungsleistung innerhalb des sich selbst steuernden Systems. Folgerichtig kann er dann auch die Frage nach den unverzichtbaren Normen positiv beantworten. Diese sind Bestandteil des funktional differenzierten Subsystems und werden nur neu justiert.


[2] Im Princeps fielen erstmalig in der römischen Geschichte die Aufgaben des Magistrats und der Priesterschaft in einer Person zusammen. Der Princeps war notwendig Mitglied aller Priesterbruderschaften. Es wird oft übersehen, daß in Rom auch vor dem Prinzipat Priesterschaft und Magistrate hinsichtlich der religiösen Befugnisse und Aufgaben nicht geschieden waren. Priester handelten mit Hilfe des kultischen Wissens über das sie verfügten zusammen mit den Göttern. Auch die Magistrate handelten bei bestimmten Anlässen in Ausübung ihrer priesterlichen Befugnisse mit den Göttern, vergewisserten sich über die sakrale Richtigkeit dieses Handelns und zogen die richtigen Schlüsse für die Ausübung ihrer Amtsgewalt (Scheid 2004, 84).


[3] So insbesondere die Schöpfungstheologie der Pelagianer.

[4] Die Augustinische Interpretation

[5] Der Begriff Miasma kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie, „Verunreinigung“, „Befleckung“ oder „sich angesteckt haben mit ...“. Dabei ist der Bedeutungsumfang dieses Begriffs nicht rein auf den biologisch-medizinischen Effekt der „Krankheitsübertragung“ beschränkt, sondern kann auch im übertragenen Sinne auf die geistig-emotionale Ebene angewandt werden.


[6] Katholisch heißt aus dem Griechischen übersetzt: „Über den ganzen Erdkreis, weltumspannend“.

[7] Bereits im 11. Jahrhundert soll Roscelinus von Compiènge, der Lehrer von Petrus Abaelard, in einem Brief an diesen angeblich formuliert haben: „universale est vox“ (Das Allgemeine ist nur ein Wort). Diese extreme Position wurde jedoch von seinem Schüler Abaelard und späteren Nominalisten nicht geteilt. Vielmehr begründeten sich verschiedene „Schulen“ wie Intentionalismus und Konzeptionalismus. Eine genaue Darlegung der Unterschiede kann an dieser Stelle unterbleiben, weil alle Nominalisten die Existenz von Universalien ablehnen, darunter insbesondere auch die Universalien, die sich nach Auffassung von Thomas von Aquin in der göttlichen Vernunft befinden und vor den Einzeldingen existieren.


[8] Der wesentliche Unterschied zwischen der Wahrheitserzeugung durch Probe und derjenigen durch Untersuchung besteht darin,daß Untersuchung kein Wissensinhalt ist, sondern eine Form der Ermittlung, Prüfung und Weitergabe von Wissen. Die Untersuchung hat einen „Gegenstand“, den sie unter Anlegung der Form „verwaltet“ und „beherrscht“ (Subjekt-Objekt Dichotomie). Selbst die Alchemie war noch eine Wissensproduktion durch Probe, bei welcher der Alchimist unter Beachtung „gesicherten“ Wissens und der damit verbundenen Riten (Wirkformen) der Initiator und Kombattant eines Zweikampfes war, dessen Ausgang einen neuen Wissensinhalt produzierte – oder auch nicht. Das Auftreten des rationalen Verfahrens, am Ende des Mittelalters ist mitnichten ein „Fortschritt“ in der Entwicklung menschlicher Vernunft, sondern das kontingente Ergebnis des krisenhaften Zusammenbruchs der Integration einer Sozialität durch christliche Religion (vgl. hierzu insbesondere Foucault 2003, 72ff, wobei die Autorin die Einschätzung Foucaults, daß es sich lediglich um eine Transformation im quasi überhistorischen Macht-Wissen-Komplex handelt, nicht teilt, sondern die von Foucault in dieser Vorlesung aufgeworfene Frage nach den Veränderungen in der mittelalterlichen Gesellschaft (Foucault 2003, 72f) ernst nimmt und darzulegen versucht, daß es sich um einen Epochenbruch handelt, bei dem als Zerfallsprodukt der damaligen Krise eine abstrakte „Objektivität“ und später ein historisch-spezifisches Erkenntnisobjekt „Gesellschaft“ erstmalig in der menschlichen Vorgeschichte (Marx) überhaupt entsteht). Mit anderen Worten: Die Rationalität ist nichts anderes als ein aus Not und Verzweiflung geborenes Verfahren des Krisenmanagements, das später die Aufklärung zum Festtagsornat der Weiterentwicklung zum „Höheren“ lediglich affirmativ vergoldet.


[9] Luther hat die Formulierung aus der lateinischen Übersetzung von Jesaja 45,15 abgeleitet: Vere, tu es Deus absconditus. „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott.“


[10] Der mittelalterliche Engelstreit teilt damit Züge der modernen naturwissenschaftlichen Diskussion um „Künstliche Intelligenz“ und die Wahrscheinlichkeitswelten der Teilchenphysik, eine Korrelation, die näher zu untersuchen wäre.


[11] Der interessierten LeserIn sei die Sammlung „Zitate über Frauen – von Kirchmännern“ auf www.kirchenopfer.de/frauen ans Herz gelegt.

[12] Aus „hagazussa“ = „die Zaunreiterin“ wird etymologisch „Hexe“ hergeleitet. Es meint also diejenige, die mit den Füßen in zwei Welten steht, zum einen in der bekannten menschlichen Ordnung, zum anderen in der „Anderswelt“.


[13] Auch wenn die Frauen häufig mit „der Natur“ identifiziert (und begrifflich entsorgt) werden, sollte deutlich geworden sein, daß es vielmehr um eine andere Ebene geht. Insoweit als der Mensch, Männlein wie Weiblein, selbst Natur ist, wird dies den Frauen zugewiesen, wobei zu betonen ist, daß „Natur“ und Naturverständnis überhaupt ein durch die Menschen hergestellter Begriff ist.


[14] Die Natur auf die Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt.

[15] Das „nachfolgende Programm“ ist für Jugendliche unter 18 Jahren zwar nicht geeignet, wird ihnen seit Jahrhunderten im Kindergottesdienst, Religionsunterricht und Konfirmandenschulung zu „Bildungszwecken“ in großen Dosen verabreicht.


[16] William of Ockham/William of Occam (um 1285-1350) gilt als einer der Hauptvertreter des Nominalismus.

[17] Sozusagen das „Pfingsterlebnis“ Luthers beim Studium des neutestamentarischen Römerbriefs: Kreuzestod und Auferstehung Christi sind der vollzogene und vollendete Akt der Erlösung. Kein menschliches Werk kann sie steigern oder müsste sie immer wieder neu bewirken. Sie ist das unverdiente Geschenk der Gnade Gottes und kann nur durch den Glauben des Menschen angenommen werden (Eliade 1983, 228).


[18] Die Zwei-Reiche-Lehre als Begriff stammt aus dem 20. Jahrhundert. Hierunter sind verschiedene Lehrsätze und Schriften Luthers zu „politischen“ Themen seiner Zeit zusammengefaßt.