Druckversion/PDF

Gerd Bedszent


Staatszerfall und Weltordnungskriege



Auszug aus dem Buch Krieg. Eine Geschichte ohne Ende, erschienen im April 2025 bei trafo




Die kapitalistische Zivilisation hat eben schon immer alle ‚Wilden‘

an Grausamkeit übertroffen und warum sollte sie jetzt

in ihrem globalen Zerfall zurückhaltender sein?


Robert Kurz, Weltordnungskrieg (2003)



Nach dem Ende des Kalten Krieges hofften die Menschen in Ost und West auf ein dauerhaftes Ende militärischer Konfrontationen und träumten vom Beginn einer Welt des Friedens. Die ökonomischen Hintergründe des Phänomens Krieg wurden allerdings kaum thematisiert. Der Traum endete schnell. Das Gleichgewicht des Schreckens war vorbei – die Schrecken blieben. Eine Reihe von Kriegen begann. Ihr Ziel: Die Neuordnung der Welt, inklusive der Fledderei von Resten gescheiterter Modernisierungsversuche.


Einige Beispiele: Der irakische Diktator Saddam Hussein, bis dahin enger Verbündeter des Westens gegen das im Iran herrschende islamistische Regime, ließ sein Militär in den benachbarten Zwergstaat Kuweit einmarschieren, um mittels der Reichtümer dieser Ölmonarchie seine Kriegsschulden zu begleichen. Eine US-geführte, waffentechnisch wesentlich überlegene Militärkoalition erzwang im Jahre 1991 den Rückzug des irakischen Militärs aus Kuweit. Der schnelle Sieg gelang dem westlichen Militär auch durch die Rebellion von Teilen der irakischen Bevölkerung, die sich des ungeliebten Regimes entledigen wollten. Eine Folge des Krieges waren massive Umweltschäden in der gesamten Region – einerseits durch brennende Erdöl- und Erdgasvorräte, andererseits durch von US-Truppen verwendete Militärtechnik; deren panzerbrechende Munition wurde unter anderem aus Uranerz hergestellt. Durch Luftschläge und Raketenbeschuss hatte man überdies einen Großteil der zivilen Infrastruktur des Irak zerstört. Das Land – zuvor einer der wirtschaftlich am meisten entwickelten arabischen Staaten – wurde als Folge des Krieges zu einer bürgerkriegszerrissenen Trümmerwüste.


Eine weitere Folge dieses Konfliktes war das Erstarken des islamistischen Fundamentalismus. Nach der Besetzung des Emirats Kuweit hatten mehrere an Erdöl reiche Monarchien in dieser Region die USA um militärischen Schutz vor einem befürchteten Angriff ersucht – und diesen erhalten. Die dann andauernde Präsenz westlicher Truppen in arabischen Ländern wurde von deren religiösen Rechten allerdings als Gotteslästerung angesehen.


Afghanistan, ein seit Jahren infolge der Kriege zwischen kriminellen Banden, Warlords und Gotteskriegern zerrissener und als ‚gescheitert‘ geltender Staat, wurde das nächste Angriffsziel westlicher Militärs. Im Zuge dieses Krieges gelang es zwar vorübergehend, eine funktionierende Staatlichkeit zu installieren, diese brach nach dem Abzug der westlichen Truppen jedoch schnell wieder zusammen und wich einer offenen Herrschaft von Gruppen islamistischer Fundamentalisten.


Die Haltung westlicher Politiker und Militärs zum militanten Islamismus wechselte und wechselt je nach Interessenlage. Häufig wurden diese eben noch als Gotteskrieger bekämpften Islamisten als Söldner gegen unbequeme Regimes vernutzt.


Aus dem überaus blutigen Weltordnungskrieg der USA und ihrer Verbündeten gegen die immer noch vorhandenen Reste des Modernisierungsregimes im Irak im Jahr 2003 resultierte jedenfalls eine ganze Kette von Bürgerkriegen; inklusive dem Erstarken der religiösen Rechten. Auch der 2011 mit Unterstützung westlicher Truppen erzwungene Sturz des Modernisierungsregimes in Libyen endete mit einer ganzen Kette von Bürgerkriegen. Das bis dahin weitgehend laizistische und vergleichsweise wohlhabende Libyen verwandelte sich in eine Spielwiese von Stammesmilizen, Gotteskriegern und krimineller Banden.


Diese Erfahrungen hinderten die USA und andere westliche Staaten freilich nicht daran, im seit 2011 in Syrien tobenden Bürgerkrieg zwischen dem von Russland unterstützten Modernisierungsregime und einem zunehmend islamistisch dominierten Oppositionsbündnis letzteres zu unterstützen.


Die Weltordnungskriege des Westens blieben freilich nicht auf Nordafrika und den Nahen Osten beschränkt. Schon in den 1990er Jahren hatte der Westen nach Kräften das Auseinanderbrechen der jugoslawischen Föderation in politisch und wirtschaftlich abhängige Teilstaaten befördert. 1999 bombardierten Kampfflugzeuge der NATO unter Beteiligung der Bundeswehr unter anderem die jugoslawische Hauptstadt Belgrad. Der dann von Serbien abgespaltene Zwergstaat Kosovo fungiert seitdem als unsinkbarerer Flugzeugträger auf dem Weg in den Vorderen Orient.


Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien schien ein böser, aber regional begrenzter und passagerer Ausrutscher zu sein: Immerhin hat die Nicht-Kriegs-Epoche in Europa auch danach wieder zwei Jahrzehnte, insgesamt mehr als ein dreiviertel Jahrhundert gedauert – ein Zeitraum, dessen sich nur wenige Generationen erfreuen durften. Nunmehr sind wir offenbar aufs Neue in einer „Zeitenwende“ hin zur „Kriegstüchtigkeit“ angekommen.


Der Zerfall und die Auflösung der Sowjetunion führen zu Konflikten von internationaler Reichweite und nunmehr in globaler Dimension. Sowohl die ukrainische als auch die russische Oligarchie, die vor gut dreißig Jahren das sozialistische „Volkseigentum“ geschluckt und es in
mehr oder auch weniger funktionierende kapitalistische Strukturen integriert hat, konkurriert jetzt um die Vorherrschaft in dieser Region; Nationalismen unterschiedlicher Genese überformen die Kontroverse. Unseligerweise hat sich der Westen – die NATO, die USA – eingemischt, vertritt die eigenen geostrategischen Interessen in Gestalt einer Kreditierung des Krieges und auch durch Lieferung von Militärgütern. Die Rüstungsindustrie boomt; ob die dauerhafte Lieferung von Waffen zum Auffinden einer friedlichen Lösung beiträgt, darf bezweifelt werden. Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern (Stand: November 2024), dass der Ukraine-Krieg das Potential hat, in den die Erde zerstörenden Dritten Weltkrieg überzugehen. Dass der ukrainische Nationalismus hochgradig unappetitlich ist und sich teilweise positiv auf die während des II. Weltkrieges im deutschen Solde mordenden ukrainischen SS-Truppen bezieht, wird öffentlich höchst selten thematisiert. Große Teile der ukrainischen Agrarflächen, Rohstoffvorkommen und Industrieobjekte befinden sich als Folge in diesem Zusammenhang laufender finanzieller Transaktionen mittlerweile im Besitz westlicher Großunternehmen.


Die sogenannte ‚dritte industrielle Revolution‘ in Gestalt des Siegeszuges von Mikroelektronik und Netztechnologien folgte auf den ausufernden Rüstungswettlauf der Nachkriegszeit. Nach dem Auslaufen der daraus resultierenden Konjunkturwelle hatten wir von 2007 bis
2009 plötzlich die nächste massive Wirtschaftskrise. Diese konnte im weltweiten Maßstab nur mittels einer gigantischen, nie wieder abtragbaren Staatsverschuldung bewältigt werden. Dass darauf in vergleichsweise kurzer Zeit die nächste Krise folgen würde, war abzusehen. Und auch, dass diese dann nicht mehr mittels einer simplen, wenn auch extrem hohen Kreditaufnahme bewältigt werden kann. Mit Versuchen einer Krisenbewältigung haben wir es nunmehr zu tun.


Zunehmend verzweifelte Wirtschaftsunternehmen, Staatsapparate und multistaatliche Organisationen experimentieren, suchen Methoden, mit denen man meint, eine erneute Konjunktur herbeizuzaubern. Dass solche Versuche wieder zu Wellen insbesondere kreditfinanzierter Hochrüstung führen – inklusive militärischer Zusammenstöße! –, das ist ebenso voraussehbar wie verbrecherisch.


War und ist die immer absurder werdende Militarisierung der Gesellschaft und Technisierung des Krieges Rudiment eines barbarischen Frühkapitalismus, dessen Auswüchse irgendwann einmal von Demokratie und Zivilgesellschaft zugedeckt werden? Dafür gibt es keinerlei Anzeichen – eher im Gegenteil: Mit der Dynamik der Technikentwicklung und der immer komplexeren militärischen Infrastruktur kehrt der Kapitalismus deutlich zu seinen Wurzeln zurück. Die Weltordnungskriege des 20. und unseres 21. Jahrhunderts sind Raubzüge, ähnlich denen, wie sie sich seit Beginn der kapitalistischen Dynamik im 16. Jahrhundert als vielfache koloniale Landnahme in immer größeren Teilen der Welt austobten. Sie unterscheiden sich von ihren Vorläufern durch die entwickelte Militärtechnik, ungeheuer angewachsene Brutalität
und ihre Reichweite: die Globalisierung des Krieges. [D]ie ‚militärische Revolution‘ ist bis heute ein heimlicher Beweggrund der Modernisierung geblieben. Gerade die Atombombe war eine genuin westlich-demokratische Erfindung.“[1]


Der unter Schüssen und Waffengeklirr geborene Kapitalismus bleibt sich in seiner Endphase jedenfalls selbst treu. Wobei er kraft der von ihm weltweit angehäuften Arsenale von Atombomben und anderen Mordinstrumenten die weitere Existenz der Menschheit gefährdet. Es stehen uns wohl noch böse Zeiten bevor.




Endnoten


[1] Kurz, Robert (1997): Kanonen und Kapitalismus. Die militärische Revolution als Ursprung der Moderne, exit-online.org