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Anselm Jappe


Der Geist unter dem Einfluss der Ware



Erschienen im Januar 2025 in der Zeitschrift La Décroissance (no. 216)
Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Urban

 

 


Der französische Staatspräsident Macron, der stets um die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie besorgt ist, hat zweifellos einer ganz bestimmten Produktion Auftrieb gegeben: der Produktion des Wortes „narzisstisch“. Vom Buch La Pensée perverse au pouvoir von Marc Joly (2024), der sich auf das vom Psychoanalytiker Paul-Claude Racamier entwickelte Konzept der „narzisstischen Perversion“ beruft, bis hin zum unermüdlichen Essayisten Alain Minc, einem reumütigen Macronisten, für den die Handlungen des Präsidenten jetzt nur noch „Ausdruck eines bis auf ein pathologisches Niveau gesteigerten Narzissmus sind, mit einer totalen Realitätsverweigerung als Folge“ (zitiert in Le Monde, 11. Dezember 2024), wurde das Wort „narzisstisch“ in der Politik noch nie so häufig verwendet wie in den letzten Jahren.


Im Alltag, in Bezug auf den Arbeitsbereich, die sozialen Beziehungen oder das Liebesleben, wird seit mehreren Jahrzehnten vom „narzisstischen Perversen“ gesprochen und seiner Fähigkeit, seine Umgebung zu manipulieren. Die Liste der Veröffentlichungen zu diesem Thema wächst stetig. Der Begriff „narzisstisch“, der 1914 von Sigmund Freud eingeführt wurde[1] und lange Zeit auf die psychoanalytische Sphäre und ihren Jargon beschränkt blieb, ist inzwischen allgemein gebräuchlich: Heute bedeutet er in etwa „egoistisch“, „egozentrisch“, „gierig“, „manipulativ“, „empathielos“, „ohne Rücksicht auf andere“, aber auch „übermäßig mit dem Selbstbild und dem Streben nach Anerkennung beschäftigt“ oder einfach „in den eigenen Körper verliebt und darauf bedacht, zu verführen“.


Der Narzissmus hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt: Von Freud als eine damals eher marginale Pathologie behandelt – verglichen mit der Bedeutung von Neurosen, die auf die Unterdrückung von Wünschen zurückzuführen sind – hat sich der Narzissmus nach und nach eine wichtige Rolle „erobert“, sowohl im psychoanalytischen Diskurs als auch im allgemeinen Bewusstsein.


Es scheint ziemlich offensichtlich, dass diese Entwicklung mit der Vertiefung der kapitalistischen Beziehungen in allen Lebensbereichen zusammenhängt, insbesondere mit der neoliberalen Phase des Kapitalismus ab den 1980er Jahren: Jeder Begriff von kollektiver Solidarität wird ausdrücklich abgelehnt, der Sozialstaat und andere Selbsthilfestrukturen werden abgebaut, und die Logik des Unternehmens und des Wettbewerbs wird auf das gesamte Leben ausgeweitet. Jeder wird aufgefordert, sich seinen Platz im Leben individuell zu erobern, mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf die Folgen für andere oder die Gesellschaft. Der „possessive Individualismus“, ein Grundpfeiler der liberalen politischen Theorie, lässt sich in dem berühmten Satz von Margaret Thatcher zusammenfassen: „There is no such thing as society.“ Er triumphiert überall: nicht nur in den Führungsetagen, wo er schon immer geherrscht hat, sondern nunmehr auf allen Ebenen der Gesellschaft. Die narzisstische Perversion wäre dann nur die offen pathologische Seite dieser Wettbewerbsmentalität, die der moderne Kapitalismus ständig fördert und sogar unabdingbar macht, um darin zu überleben.


Sie zeigt den Moment an, in dem Verhaltensweisen, die für das Weiterlaufen des Systems notwendig sind, Gefahr laufen, nicht mehr zu funktionieren und den Betrieb der Megamaschine zu stören, weil sie zu einer Realitätsverweigerung führen und das Minimum an Vertrauen zwischen Individuen zerstören, ohne das selbst die kapitalistische Lebensweise nicht fortbestehen könnte.


 

Kindliche Allmacht


Der Zusammenhang zwischen dem Anstieg der „Narzissmusrate“ und der Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert besteht jedoch auch auf einer anderen Ebene. Freud unterschied zwischen einem „primären Narzissmus“ und einem „sekundären Narzissmus“.


Der primäre Narzissmus stellt eine grundlegende Phase in der psychischen Entwicklung eines jeden Menschen dar. Das Kleinstkind kann sich noch nicht mit der Außenwelt auseinandersetzen und kompensiert seine reale Hilflosigkeit durch eine imaginäre Allmacht: Es fühlt sich mit der Welt und der Mutterfigur vereint. Externe Objekte werden nur als Erweiterungen des eigenen Selbst wahrgenommen, und die Frustrationen werden mittels halluzinatorischer Befriedigungen verleugnet. Es folgt die „ödipale“ Phase, in der das Kind eine Außenwelt erlebt, die sich seiner unmittelbaren Befriedigung widersetzt (die ursprüngliche Freud‘sche Formulierung, dass der Vater das Kind von der Mutter trennt, wurde später als ein besonderer, an den damaligen Kontext gebundener Fall einer viel umfassenderen psychischen Logik erkannt). Dieser Allmachtsverzicht stellt für das Kind eine harte Niederlage dar, eröffnet ihm aber auch den Weg zur Anerkennung der äußeren Realität – das ist das „Realitätsprinzip“ –, zur Akzeptanz von Mangel und Frustration und damit zur Entfaltung des Begehrens.


Allerdings kann dieser Verzicht auf die kindliche Allmacht auch als unerträglich empfunden werden – und in diesem Fall könnte sich das Subjekt auf eine mehr oder weniger vorgetäuschte Anerkennung der Realität beschränken, um, ohne sich dessen bewusst zu sein, weiterhin die Realität gemäß seiner früheren Nicht-Trennung von der Welt zu interpretieren. Es erlebt dann Personen und Gegenstände als bloße Projektionen seiner inneren Welt. In schweren Fällen kann ihm diese Haltung ernsthafte Schwierigkeiten bereiten – aber sehr oft bleibt sie unerkannt und kann ihm im sozialen Leben, vor allem im heutigen, sogar Vorteile bringen.


Tatsächlich befindet sich der „sekundäre Narzissmus“ – der aus der Verleugnung der ödipalen Situation resultiert – „in Phase“ mit dem neoliberalen Kapitalismus, so wie die von der ödipalen Neurose geprägte Persönlichkeit zu Freuds Zeiten die psychische Entsprechung der „klassischen“ Phase des Kapitalismus darstellte. Der Verzicht auf unbegrenzte Befriedigung im Austausch für die Identifikation mit einer Schutz- und Autoritätsfigur ermöglicht eine realistische Selbsterkenntnis und möglicherweise eine begründete Opposition gegen die Welt, wie sie ist.


Er kann aber auch zu einer blinden Unterwerfung unter Autoritäten und zu Hass auf die eigenen Wünsche führen – und diese psychische Struktur kann dann ein Leben lang anhalten. Der klassische Kapitalismus, der mit der „protestantischen Ethik“ entstand, entwickelte sich im 19. Jahrhundert und fand in der sogenannten „fordistischen“ Phase seine Vollendung. Er verlangte von den Menschen, hart zu arbeiten, zu sparen, so wenig wie möglich zu genießen und sich ihr ganzes Leben lang Autoritätspersonen zu unterwerfen: dem Vater, dem Schullehrer, dem Offizier, dem Priester, dem Chef, dem Beamten, dem Präsidenten oder König. Diese ständige Bevormundung schuf oftmals unterwürfige oder sogar begeisterte Sklaven (z.B. im Nationalismus), konnte aber auch Opposition und Revolte anregen.



Allgemeine Regression


Etwa ab den 1960er Jahren hat der Kapitalismus einen tiefgreifenden, sich ständig beschleunigenden Wandel eingeleitet. Strukturen, die auf der Unterwerfung unter Autoritäten, pyramidalen Hierarchien, der Wiederholung des Gleichen und der Unterdrückung von Wünschen basierten, verschwanden zwar nicht völlig – und kehrten in letzter Zeit sogar massiv zurück –, verloren aber im „neuen Geist des Kapitalismus“[2] sehr an Bedeutung.


An ihrer Stelle werden Flexibilität, Vernetzung, ungezügelter Konsum – auch auf Kredit –, Horizontalität, differenzierte Lebensstile, Kreativität, Autonomie und Individualismus gefeiert. Auch wenn die Realität oft weit von diesen Versprechungen entfernt ist, stimmt es, dass der typische Mensch in der heutigen Gesellschaft nicht „starr“ ist, seine Triebe nicht einem Über-Ich unterwirft, das aus verinnerlichten Verboten besteht, sich „nichts verbietet“ und ständig dazu angehalten wird, „an die Realität seiner Wünsche zu glauben“. Häufig werden Identitäten nicht mehr über die Arbeit definiert, die sich leicht ändern kann, sondern über den Konsum, sei er materiell oder symbolisch. In der von Zygmunt Bauman analysierten „flüssigen Gesellschaft“ schwebt der „schwerelose Mensch“[3], der eine „Arbeit ohne Eigenschaften“[4] verrichtet, je nach den Impulsen, die ihm die Konsummaschine gibt. Ein gleichbleibender Charakter, unerschütterliche Überzeugungen, Treue zu einer Herkunft, einer Familie, einer Arbeit, einem Ort, einer Lebensart waren die Merkmale, die in der früheren Phase des Kapitalismus eine „solide“, „seriöse“ und „zuverlässige“ Person definierten. Heute stellen sie eher ein Hindernis für die „Selbstverwirklichung“ des Einzelnen dar, indem sie ihn daran hindern, auf jede „Gelegenheit“ aufzuspringen, die das Leben ihm zu bieten scheint.


Der Narzisst passt perfekt in diese Situation: Ohne tiefere Persönlichkeit, ohne Bindungen, nur auf der Suche nach sofortigem Genuss und engagiert im ständigen Auf- und Umbau seiner „Persönlichkeit“ nach den Erfordernissen des Augenblicks, liebt er nichts wirklich, weil Personen und Gegenstände in seinen Augen austauschbar sind.


Es ist das Verdienst des US-amerikanischen Soziologen Christopher Lasch, dem Konzept des Narzissmus eine soziale und nicht nur eine individuelle Dimension verliehen zu haben, und zwar in seinen Büchern Das Zeitalter des Narzissmus (1986, zuerst 1979) und The Minimal Self (1984). Er stellt eine allgemeine psychische Regression fest, bei der der „erwachsene“, aus dem ödipalen Konflikt hervorgegangene Charakter mit seinen Stärken und Schwächen Verhaltensweisen weicht, die von dem archaischen Wunsch geprägt sind, die ursprüngliche Trennung auf magische Weise zu verleugnen. Diese Form des Narzissmus findet er in so unterschiedlichen Phänomenen wie der Verwaltung des gesamten Lebens durch bürokratische Organisationen und große Unternehmen, dem Pseudomystizismus des New Age, der minimalistischen Kunst, dem massiven Einsatz von Psychotherapien, der Allgegenwart von Technologien im Alltag und dem Rückzug in die Privatsphäre.



Eine zentrale Figur unserer Zeit


Doch auch wenn Lasch versucht, den Zusammenhang zwischen der Verbreitung des Narzissmus und dem Kapitalismus zu begreifen, gelingt ihm dies nicht vollständig. Um ihn zu erfassen, muss man auf die Logik des Marktwerts, der abstrakten Arbeit und des Geldes verweisen, die im Zentrum des Kapitalismus steht, damals wie heute. Diese Logik löscht alle Unterschiede aus, indem sie jede Ware unabhängig von ihren konkreten Qualitäten auf den Anteil an Arbeit reduziert, der für ihre Herstellung notwendig war und der sich in einer Geldsumme darstellt. Der Markt kennt keinen Unterschied zwischen einer Bombe und einem Spielzeug und auch nicht zwischen den Arbeiten, die sie herstellen. Diese Gleichgültigkeit gegenüber allen Inhalten unterscheidet den Kapitalismus von früheren Formen der Ausbeutung und Unterdrückung. Der Kapitalismus hat lange darum gekämpft, sich von den vorkapitalistischen Überresten zu befreien und seine „reine“ Form zu erreichen, in der die Subjekte frei schweben, mit Waren – materiellen wie immateriellen – als einzigem Horizont und Leitfaden. Dann triumphiert der Narzissmus mit seinem Schwanken zwischen der Angst vor der Ohnmacht und dem Rausch der Allmacht. Die narzisstische Logik reduziert wie die Warenlogik alles auf dasselbe und leugnet die Autonomie von Objekten und Personen. So wie Waren nur austauschbare „Träger“ einer bestimmten Menge an Arbeit und Geld sind, besteht für das narzisstische Subjekt die Welt außerhalb seiner selbst nur aus Projektionen und Erweiterungen seiner inneren Welt – und diese innere Welt ist arm, weil sie nicht durch den Kontakt mit äußeren, als solche anerkannten Objekten und Personen bereichert wird.


Dennoch entgeht der Narzisst nicht der Sinnentleerung und den Frustrationen, die ihm der unmögliche Traum von Allmacht beschert: Deshalb beherrscht das Ressentiment, das unvermeidliche Ergebnis des Narzissmus, heute das politische Panorama in Form von Rassismus und Populismus, Nationalismus und religiösem Fundamentalismus und anderen Arten, seinen Hass auf vermeintliche Verantwortliche zu entladen. Der Narzisst ist also weit mehr als ein Dummkopf, der sich selbst im Spiegel anlächelt: Er ist eine zentrale Figur unserer Zeit. Und es wäre zu einfach, sie nur den Reichen und Mächtigen, den Macrons und Musks zuzuschreiben: Der Wunsch, sich von allen Grenzen zu befreien, die uns unsere biologische Basis auferlegt, die Vorstellung, alle „Möglichkeiten“ des Lebens ausschöpfen zu müssen, der Einsatz von Technologien, um jedes noch so kleine Problem zu lösen – all das sind Formen des Narzissmus. Die Narzissten sind überall.




Endnoten


[1] In seinem gleichnamigen Essay Zur Einführung des Narzissmus.


[2] Titel eines Buches von Luc Boltanski und Ève Chiapello, das 1999 erschienen ist.

[3] L’homme sans gravité ist der Titel eines Buches der Psychiater und Psychoanalytiker Charles Melman und Jean-Pierre Lebrun.

[4] Le Travail sans qualités lautet der französische Titel von Richard Sennetts Buch The Corrosion of Character aus dem Jahr 1998.