Hanns-Friedrich von Bosse


Mit Ethik gegen die Krise


 

Zuerst erschienen 2010 in exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 7, S. 189-200

 

 

 

Vorbemerkung: Dass die Verarbeitung der Krise im herrschenden Bewusstsein die Gestalt eines Moraldiskurses angenommen hat, kann nicht überraschen. Gesellschaftliche Objektivität auf subjektive Willensakte zu reduzieren, war schon immer ein wesentliches Charakteristikum bürgerlicher Ideologie. Es ist die Grundlage der zur Zeit besonders heftig ins Kraut schießenden Versuche, dem Kapitalismus Moral und Anstand beizubringen. Für die wissenschaftliche Begründung dieser Versuche ist die sog. Wirtschaftsethik zuständig, die sich gegenwärtig gerade deshalb so großer Beliebtheit bei allen staatstragenden Kräften erfreut, weil hinsichtlich ihrer erklärten Absicht – nämlich den Kapitalismus irgendwie zu „bändigen“, zu „zivilisieren“, zu „humanisieren“ oder gar krisenfest zu machen – keinerlei praktische Konsequenzen von ihr zu befürchten sind. Harmlos ist diese gegenwärtig so virulente Form der Ideologiebildung deswegen nicht;  in der Moralisierung ökonomischer Krisenphänomene verbirgt sich ein durch und durch antiemanzipatorischer Kern. Es ist deshalb geboten, einige zentrale Punkte des wirtschaftethischen Denkens und des gegenwärtigen Moraldiskurses im Kontext der Krise etwas genauer anzuschauen.

 

 

 

 

„Wer ethisch handelt, darf nicht der Dumme sein.“

(BDA-Präsidium: „Wirtschaft mit Werten“)

 


I

 

Die Ethik boomt schon seit geraumer Zeit. Man hat den Eindruck, dass diese Branche umso mehr im Aufwind ist, je mehr die realen Spielräume für moralische Entscheidungen der Einzelnen schrumpfen. Je unerbittlicher die Sachzwänge der globalen Vernichtungskonkurrenz exekutiert werden müssen, desto größer das ethische Brimborium, das – quasi als Begleitmusik dazu – inszeniert wird und sich in Lehrstühlen und Instituten für Wirtschaftsethik, in zahlreichen Ethik-Kommissionen und sogar einem Nationalen Ethikrat organisatorisch verfestigt hat. Bereits vor 20 Jahren sah sich der Philosoph Christoph Türcke veranlasst, unter dem Titel „Die neue Geschäftigkeit“ kritische Anmerkungen zum schon damals wuchernden Ethik-Betrieb zu publizieren. Seither wuchert es munter weiter, und es beschleicht einen langsam der Verdacht, dass das Böse in der Welt von zäher Widerstandskraft sein muss, wenn trotz so großer ethischer Anstrengungen die Übel einfach nicht weniger werden wollen.


Gegenwärtig reüssiert, dank der Krise, eine lange Zeit ein wenig im Schatten stehende, ob ihrer Erfolglosigkeit aber trotzdem den Mut nicht verlierende Unterabteilung der Branche, die sogenannte Wirtschaftsethik. Um die soll es im Folgenden also zunächst einmal gehen.

Wenn man sich die Krisendebatte der letzten 12 Monate anschaut, dann schwirrt einem schnell der Kopf vor lauter Ethik. Hier erst einmal – ganz willkürlich herausgegriffen – einige der Highlights:


„Die Krise“, so eröffnete attac Deutschland vergangenen Oktober die Debatte, „ist die direkte Folge der Gier und der Skrupellosigkeit der Banker und Fondsmanager – und vor allem der Tatenlosigkeit der Politik.“


„Der Krise“, so konterten die Unionsparteien in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl, „setzen CDU und CSU die Wertvorstellungen entgegen, für die wir immer eingetreten sind und eintreten werden“ – ohne allerdings zu verraten, welche Wertvorstellungen das im Einzelnen sind und warum diese nicht schon bisher die Krise verhindert haben.


In Berlin erklären bei einem Podiumsgespräch vergangenen Juli Unternehmer und Manager, dass „eine neue Wertorientierung der Wirtschaft“ nötig sei, die sich „nicht nur am shareholder value, sondern auch am Gemeinwohl orientieren muss“, und frohlockend konstatiert der gleiche Bericht: „Die Kirchen haben mit ihrer Wirtschaftsethik bei Ökonomen, Praktikern und wirtschaftsnahen Politikern Gehör gefunden!“


Nämlich z.B. der kath. Wirtschaftsethiker Casel (Bistum Trier), der eine ethisch etwas aus dem Ruder gelaufene Berufsgruppe daran erinnert: „Wer handelt, trägt auch die Verantwortung für die Folgen seines Tuns: Finanzmanager müssen wieder (!) ethisch handeln.“ Denn „wenn die Wirtschaft für den Menschen da ist und nicht umgekehrt, dann hat auch die Finanzwirtschaft eine dienende Funktion.“


Angesichts der Krise wird auch der Bundespräsident zum Tugendprediger und mahnt Bescheidenheit an: „Wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt.“


Und auch die Bundeskanzlerin ist nicht faul und doziert (Vortrag in der Kath. Akademie Bayern, Juli 09): „Ohne Grundsätze, Werte, Leitbilder, ohne dass wir Halt und Orientierung haben, können wir den Herausforderungen dieser Tage nicht begegnen.“ – wobei auch hier wieder schnurzpiepegal zu sein scheint, welche Grundsätze, Werte und Leitbilder das im einzelnen sein sollen: Hauptsache, man hat überhaupt welche. Immerhin: „Maßlosigkeit, Gier und die Durchsetzung von Eigeninteressen“ scheinen es nicht zu sein, denn an diesen Grundsätzen und Leitbildern übte Merkel „scharfe Kritik“. (Es ist ja durchaus pikant, dass dieselben Tugenden, für die noch vor zwei Jahren die Leute das Bundesverdienstkreuz bekamen, heute sozusagen als Kardinal-Laster angeprangert werden.)


Damit soll es erst einmal genug sein. Ethik allerorten! Bei soviel Einsatz für das Gute scheint die Hoffnung von Albrecht Müller (spiritus rector des Internetportals „Nachdenkseiten“), durch die Krise sei „das Zeitfenster für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ weit aufgestoßen worden, doch sehr berechtigt, oder nicht?


(Man muss hier anmerken, dass fast die einzigen, die sich aus dem ganzen wirtschaftsethischen Brimborium heraushalten, die hard core Neoliberalen sind, was sie einem schon fast wieder sympathisch machen könnte. Sie haben sich sozusagen die Karl Kraussche Einsicht, dass sich angehende Wirtschaftsethiker schon für eins von beiden entscheiden müssten, zu eigen gemacht – wenn auch mit umgekehrter Wertung. Darin hat sich die jahrhundertealte Erfahrung sedimentiert, dass moralische Skrupel u.U. dem Geschäft schaden können – wobei der sich hier gerne anschließende Vorwurf des Amoralismus damit gekontert wird, dass das Geschäft und der Markt, auf dem es möglichst ungestört getätigt werden soll, eh schon das summum bonum, den Wert aller Werte darstellten.)

 

 

II

 

Was muss man sich nun überhaupt unter Wirtschaftsethik vorstellen, was ist der Daseinszweck dieser etwas hybrid anmutenden Disziplin? Es muss hier erwähnt werden, dass die erste größere evangelische Wirtschaftsethik, 1927 von einem gewissen Georg Wünsch publiziert, durchaus noch den Anspruch hatte, den Kapitalismus als Ganzes einer ethischen Bewertung zu unterziehen – übrigens mit einem negativen Ergebnis: „Wenn sich so (…) der Kapitalismus vor dem Forum christlicher Zielsetzung zu verantworten hat, erweist er sich als sehr brüchig und keineswegs als so selbstverständlich und den >natürlichen< ewigen Gesetzen der Wirtschaft entsprechend, als man es gemeinhin, auch in christlichen Kreisen, angenommen hat. (…) Es gibt Ordnungen, Stile, Systeme der Wirtschaft, die der christlichen Ethik mehr entsprechen, andere, die ihr weniger entsprechen; der Kapitalismus als System ist ihr sowohl nach seinen geistigen Wurzeln, wie in seiner geschichtlichen Auswirkung fremd. Die Kirche hat freilich noch nicht den Mut gehabt, das klipp und klar zu sagen; denn sie verdirbt es dann entweder mit den Klugen, die sich in dieser kapitalistischen Freiheit, weil sie wirklich Freiheit haben, wohlfühlen und es deshalb nicht geändert sehen möchten, oder mit den Dummen, die obwohl selbst ausgebeutet, aus Furcht vor dem Verlust ihres kleinen Besitztums im Kielwasser des großen Besitztums schwimmen.“


Man muss hier zwar den sehr verkürzten Kapitalismusbegriff, der bei Wünsch zugrunde liegt und von jeder kategorialen Kritik natürlich himmelweit entfernt ist,  in Rechnung stellen – aber immerhin! – Die neuere Wirtschaftsethik ist da etwas bescheidener geworden. Sie will (und so oder so ähnlich ist es in den einschlägigen – übrigens durchweg langatmigen und öden – Schwarten von Rich, Homann usw. zu lesen) – sie will „ethische Maßstäbe für wirtschaftliches Handeln“ formulieren. In diesem Satz steckt eigentlich schon die ganze Problematik der Wirtschaftsethik drin. In dem Begriff des „wirtschaftlichen Handelns“ (und damit ist natürlich nicht gemeint, dass ich mir etwa in meinem Garten Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anbaue, obwohl das durchaus unter den aristotelischen Begriff der oikonomia fiele) sind schon die ganzen quasi „transzendentalen“ Bedingungen solchen Handelns völlig unhinterfragt vorausgesetzt. Und zu diesen quasi transzendentalen (also jedem einzelnen „wirtschaftlichen“ Denken und Handeln als Bedingung seiner Möglichkeit objektiv vorausgesetzten) Bedingungen gehören nicht nur sämtliche basalen Formbestimmungen des Kapitalismus, wie „Ware“, „Geld“, „Kapital“, „Arbeit“, „Unternehmen“, „Recht“, „Staat“ usw., sondern schon die Tatsache, dass es überhaupt eine abgesonderte gesellschaftliche Sphäre des „Wirtschaftlichen“ mit eigenen Zwecken und Strukturgesetzen gibt. Da also die Wirtschaftsethik den gesamten kategorialen Rahmen kapitalistischen Wirtschaftens immer schon voraussetzt, als wäre er eine Naturgegebenheit, muss man ihr ein sogar im kantischen Sinn durch und durch vorkritisches Verhältnis zur „Wirtschaft“ attestieren (womit sie sich natürlich in der Gesellschaft der gesamten akademischen Fachökonomie wieder findet).


Der Kapitalismus steht also für die gesamte neuere Wirtschaftsethik grundsätzlich nicht zur Disposition. In den einschlägigen Standardwerken wird übrigens auch nicht der geringste Versuch unternommen, die gegebene wirtschaftliche Realität einigermaßen begrifflich zu durchdringen. Wer also hofft, in einer neueren Wirtschaftsethik wenigstens ein bisschen was über den Kapitalismus zu erfahren, wird enttäuscht.


Über diesen konstitutionellen Konformismus der Wirtschaftsethik kann auch ein scheinbar kapitalismuskritischerer Ton nicht hinwegtäuschen, der neuerdings (im Gefolge der Krise, aber auch schon als Reaktion auf den Neoliberalismus) angeschlagen wird. Wenn etwa, als Antwort auf eine Denkschrift der EKD, in der das Unternehmertum gepriesen wird, die wirtschaftsethisch inspirierten Kritiker eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Frieden mit dem Kapital? – Wider die Anpassung der ev. Kirche an die Macht der Wirtschaft“ auf den Markt bringen, so darf man nicht erwarten, dass jetzt dem Kapitalismus der Kampf angesagt wird. Sieht man nämlich näher hin, so stellt man fest, dass mit dem Kapitalismus hier immer nur dessen neoliberale Gestalt gemeint ist, und dass als Alternative dazu natürlich nichts anderes als die gute alte „soziale Marktwirtschaft“ ausgerufen wird. (Es muss hier nicht des breiteren ausgeführt werden, dass „soziale Marktwirtschaft“ und „Neoliberalismus“ dem durch und durch positivistischen Denken der Wirtschaftsethik als zeitlose „Modelle“ gelten, die in jeder beliebigen historischen Situation zur Wahl stehen.) Übrigens, dies am Rand, sehen die Wirtschaftsethiker Bertelmann und Posern eine Gefahr der aktuellen Krise und der in ihrem Gefolge stattfindenden Staatseingriffe darin, „dass das System der sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich in Frage gestellt wird“, und fordern deshalb eine zeitliche Befristung der staatlichen „Rettungspakete“ und ähnlicher Staatseingriffe.


Die Kapitaleigenschaft der Produktionsmittel, die Lohnarbeit, die Warenform der Arbeitsprodukte, Markt, Konkurrenz, Rendite – all diese schönen Errungenschaften wollen die Wirtschaftsethiker also nicht abschaffen. Was wollen sie dann? Worin unterscheidet sich ethisches Handeln vom gewöhnlichen „wirtschaftlichen Handeln“?


„Die wirtschaftlichen Vollzüge“, dekretiert der Wirtschaftsethik-Papst Artur Rich, „müssen gleichzeitig sachgemäß und menschengemäß sein.“ Diese klassische Formulierung geistert seither durch zahlreiche einschlägige Publikationen, ohne dass irgendeinem der Pferdefuß aufgefallen wäre, der in dem Begriff des „Sachgemäßen“ steckt. Hätte man darüber ein wenig nachgedacht, dann hätte man ja darauf stoßen können, dass sich die kapitalistische Ökonomie als ein versachlichter, eigengesetzlicher Zwangszusammenhang darstellt und dass daraus ein Problem für die Wirtschaftsethik entstehen könnte, die ja ihre eigene raison d’ètre nur darin haben kann, dass die „wirtschaftlichen Vollzüge“ grundsätzlich für ethische Entscheidungen offen sind. Stattdessen werden die „Zwangsgesetze der Konkurrenz“ einerseits stillschweigend vorausgesetzt, also anerkannt, andererseits geleugnet oder zumindest relativiert (dazu ausführlicher weiter unten). Die Verbindung des „Sachgemäßen“ mit dem „Menschengemäßen“ sieht dann ungefähr so aus: Natürlich müssen die Unternehmen einen angemessenen Ertrag erwirtschaften, kein vernünftiger Mensch wird ihnen das bestreiten, aber es soll doch bitte so geschehen, dass dabei niemand zu Schaden kommt.


Der Wirtschaftsethik geht es also um nichts anderes, als das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Sie will „das Gleichgewicht zwischen Freiheit (gemeint ist natürliche die unternehmerische) und sozialer Bindung (an anderer Stelle steht hier auch gern das Wort „Verantwortung“) immer wieder neu austarieren“ (Casel), sie will „Gemeinwohl und Eigeninteresse verbinden“ (Bertelmann/Posern), sie will „wirtschaftliches Wachstum (das natürlich sein muss) und menschliches Handeln mit dem Maßstab der Gerechtigkeit zusammenbringen“ (Oermann), usw. usw. Es geht, mit einem Wort, darum, dass das Geld „anständig“ verdient wird. („Anständig Geld verdienen?“ lautet deshalb logischerweise auch der Titel der neuesten protestantischen Wirtschaftethik, wobei das verschämte Fragezeichen im Titel dann im Text keine große Rolle mehr spielt. Dass dieses Buch übrigens mit einem Geleitwort von Noam Chomsky prunkt, spricht weniger für das Buch als für die arge Limitiertheit des kritischen Potentials von Chomsky.)


Dass eines der Hauptprobleme, welches wirtschaftsethisch gesonnene Menschen umtreibt, das sogenannte „ethical investment“ ist, also die Frage, wie ich mein Geld vermehren kann, ohne irgendwelchen unethischen Machenschaften Vorschub zu leisten, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

 

 

III

 

Wenn die Wirtschaftsethiker „ethische Prinzipien für wirtschaftliches Handeln“ zu postulieren versuchen, dann setzen sie natürlich voraus, dass sich die wirtschaftlichen Phänomene tatsächlich in subjektives Handeln auflösen lassen – jedenfalls bis zu einem erheblichen Grad. Soweit überhaupt eine gewisse Eigenlogik der „Sache“ anerkannt wird, wie es etwa im Richschen Postulat des „Sachgemäßen“ zum Ausdruck kommt, so fallen die Phänomene, soweit sie hiervon determiniert sind, natürlich außerhalb jeder ethischen Betrachtung. Darunter fallen immerhin so schöne Dinge wie der Zwang zum „Wachstum“, der „Rentabilitätszwang“ (die Notwendigkeit, eine „angemessene“ Rendite zu erzielen), die Stilllegung „unrentabler“ Ressourcen usw. Die müssen einfach sein („Wat mut, dat mut“, wie der Altbundeskanzler Schmidt so prägnant formuliert hat); sie stellen also sozusagen die Naturnotwendigkeiten jeglichen „Wirtschaftens“ dar. Was aber nicht sein darf – sonst hätte die Wirtschaftsethik gar nichts mehr zu tun – ist, dass das, was den Wirtschaftethikern am gegenwärtigen Kapitalismus nicht gefällt (Arbeitslosigkeit, Massenverarmung, übertriebenes Gewinnstreben etc.), in irgendeinem notwendigen Zusammenhang mit dem ganzen Bereich des „Sachgemäßen“ stehen.  M.a.W.: die Abwehr des sog. „Sachzwang“-Arguments ist konstitutiv für die ganzen wirtschaftsethischen Anstrengungen. Die sog. Sachzwänge, meint etwa der St. Gallener Wirtschaftsethiker Peter Ulrich in seiner „Integrativen Wirtschaftsethik“, seien in Wahrheit „von den selbst gesetzten Zwecken der Wirtschaftssubjekte“ bestimmt; sie seien „Konstrukte zur Ökonomisierung der Gesellschaft und keine objektiven Gegebenheiten der Marktwirtschaft“. Sie sind also, schlichter gesagt, Schutzbehauptungen interessierter Kreise, die die von ihnen begangenen Schweinereien gemäß dem Peanuts-Spruch „Blame it on society!“ gegen die Kritik immunisieren wollen. Wer das Sachzwang-Argument anführt, und sei es in kritischer Absicht, der huldigt, so Ulrich, dem „ökonomischen Determinismus“. Dieser wird von den Wirtschaftsethikern nicht nur mehr als alles andere perhorresziert, sondern auch auf krud positivistische Weise missverstanden. Das lässt sich zeigen an dem überaus beliebten Vorwurf der „monokausalen Erklärung“, der in diesem Kontext ständig gegen die vorgebracht wird, die die Übel der Welt irgendwie mit dem Kapitalismus in Verbindung bringen. Dagegen muss einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass der Kapitalismus überhaupt keine Ursache ist – jedenfalls nicht in dem Sinn, wie etwa die klassische Kausalitätsauffassung von der unendlichen Kette von Ursachen und Wirkungen spricht. Ursache eines Einzelphänomens kann immer nur ein Einzelphänomen sein; der Kapitalismus ist aber kein Einzelphänomen, sondern ein Totalitätsbegriff. Der Kapitalismus ist nicht die Ursache der einzelnen Übel, sondern das Weltübel selbst; er verhält sich zu den einzelnen Sauereien nicht wie die Ursache zur Wirkung, sondern wie das Ganze zu seinen einzelnen Momenten.


An dieser Stelle sei mir eine kleine aktuelle Abschweifung gestattet. In der ZEIT Nr. 35 vom 20. August 09 hat deren Feuilleton-Chef Jens Jessen die Frage beantwortet: „Gibt es den Kapitalismus überhaupt?“ (Untertitel: „Warum das System, in dem wir leben, gar keines ist“)

Jessen ist nun nicht gerade ein Wirtschaftsethiker, aber seine Argumentation passt sich derart fugenlos in das Bedürfnis dieser Branche nach Abweisung des Sachzwang-Arguments ein, dass ich hier ein paar Sätze anführen will. – Jessen also wendet sich dagegen, den Kapitalismus als „System“ (also als eine Art objektiv determinierten Zwangszusammenhang) aufzufassen. Diesen Fehler würden Kritiker wie Apologeten in gleicher Weise machen: während ihm die einen alle Übel zurechnen, verbuchen die anderen alle Segnungen auf seinem Konto. Das aber ist fatal, denn, schreibt Jessen, „es ist nun einmal so, dass ein System, dem man alle Segnungen zuspricht, sofort an Ansehen verliert, wenn diese Segnungen ausbleiben. (…) Darin liegt die Fatalität, den Kapitalismus als System vorzustellen. (….) Den Leuten geht es schlecht, und sie wissen schon, wen sie dafür haftbar machen wollen. Nach dem Kapitalismus als Vorwurf und dem Kapitalismus als Seligpreisung haben wir nun den Kapitalismus als Ausrede. Jeder Unternehmer, der sich bei Entlassungen und Standortschließungen auf die Gesetze des Kapitalismus hinausredet, trägt zum Ansehensruin des Systems bei.“ (Offenbar soll er also zugeben, dass er es nur aus Jux und Tollerei gemacht hat; HvB) „Es sei denn“, fährt Jessen fort, „es würde in Zukunft darauf verzichtet, für jede Entscheidung einen Systemzwang zu behaupten. Denn wunderbarerweise enthält die Wissenschaft gar keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Kapitalismus wirklich um ein System handelt. (!) Das System ist, wissenschaftlich gesehen, nur ein Denkmodell, das dazu dient, bestimmte Abhängigkeiten und Wechselwirkungen vor Augen zu führen. Und nicht einmal von dem Kapitalismus als Begriff kann man sagen, ob ihm ein Wesen in der Wirklichkeit entspricht.“ Nichts genaues weiß man also nicht, und Max Weber, so erläutert Jessen dann, hat gut daran getan, den Kapitalismus im Gegensatz zu Marx nur als einen Idealtypus zu definieren, dem man in seiner gedachten Gestalt in der Realität niemals rein begegnet, sondern nur näherungsweise. „Mit anderen Worten:“, fährt Jessen fort, „Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Phänomene, die man unter dem Begriff Kapitalismus bündelt (er hält den Kapitalismus-Begriff also offenbar für einen klassifikatorischen Oberbegriff; HvB), könnte man auch unter einem anderen Begriff oder gar nicht bündeln.“ Und nun kommt die goldene Brücke zur Wirtschaftsethik: „Freilich träte ohne den Kapitalismus als Ausrede die individuelle Verantwortlichkeit der Manager oder Politiker mit einem Male krass hervor. Es gäbe den abstrakten Popanz nicht mehr, der die Menschen wie Marionetten führt, die für ihre Teilnahme am Spiel den freien Willen an der Garderobe abgeben müssen. Die Strippen wären gekappt, der aufrechte Gang könnte beginnen.“


So einfach ist das. Merkwürdig an den Jessenschen Auslassungen ist vor allem, dass ihn der Ansehensverlust des kapitalistischen Systems so sehr bekümmert, wo es dieses doch gar nicht gibt. Ob das wohl damit zusammenhängt, dass vom Kapitalismus zu reden, ohne in den Kommunismusverdacht zu geraten, hierzulande erst möglich war, als man es in triumphalischem Siegerbewußtsein tun konnte, und dass es folglich jetzt, unter etwas veränderten Bedingungen, ganz opportun sein könnte, den Begriff schleunigst wieder aus dem Verkehr zu ziehen?

Wie dem auch sei, den Wirtschaftethikern müssen die Jessenschen Ausführungen wie Musik in den Ohren klingen. Mit dieser Abschmetterung des ökonomischen Determinismus wird der ethischen Herangehensweise machtvoll Bahn gebrochen, und die allgemeine Suche nach Sündenböcken kann nun mit besserem Gewissen betrieben werden.


Doch zurück zu den Problemen der Wirtschaftsethiker mit den „Sachzwängen“, dem „ökonomischen Determinismus“ und dem „systemischen Charakter“  des Kapitalismus. Es handelt sich hier um die Schwierigkeit, die das positivistische Denken überhaupt mit der gesellschaftlichen Objektivität hat. Wie sich durch das Denken und Handeln der einzelnen Subjekte hindurch Gesellschaft als ein objektiver Zwangszusammenhang, als ein „subjektloser Prozess“ konstituiert und reproduziert, der den einzelnen Individuen vorgeordnet ist, bleibt dem Positivismus ein unlösbares Rätsel. Subjektives und Objektives stehen diesem Denken starr gegenüber; ihr Gegensatz muss immer nach der einen oder anderen Seite hin aufgelöst werden, was sich an dem unvermittelten Nebeneinander von Subjekt- bzw. Handlungstheorien auf der einen und Struktur- bzw. Systemtheorien auf der anderen Seite in der bürgerlichen Soziologie zeigt.  In der Argumentation der Wirtschaftsethiker lassen sich beide Tendenzen nachweisen: auf der einen Seite die Ontologisierung dessen, was dem „wirtschaftlichen Handeln“ als kategorialer Rahmen vorgeordnet ist, also aller elementaren Formbestimmungen kapitalistischer Ökonomie (was „zweite Natur“ ist, wird behandelt, als wäre es erste Natur); auf der anderen Seite eine falsche „reductio ad hominem“ des Handelns in diesem Formzusammenhang, dessen Eigenlogik sie immer wieder zu leugnen oder zu relativieren gezwungen ist, weil anders die ethische oder moralische Argumentation ins Leere laufen würde. Weil es sinnlos wäre, einem „subjektlosen Prozess“ Moral zu predigen, darf es diesen nicht geben.


Die Wirtschaftsethiker werfen natürlich jedem, der mit dem „subjektlosen Prozess“ argumentiert, vor, er würde damit überhaupt jedes eingreifende Handeln, jede Veränderung torpedieren, indem er die „Wirtschaftssubjekte“ als unfreie Marionetten (vgl. Jessen!) behandelt und sie somit aus jeder Verantwortung entlässt. Darauf wäre zu antworten, dass dieser Schein nur dadurch entsteht, weil sie ja selber mit ihrer „reductio ad hominem“  ausgerechnet vor den basalen Formen der kapitalistischen Ökonomie Halt machen, d.h. sich partout nicht auf die kategoriale Analyse und Kritik der Ökonomie einlassen wollen. (Was ja vielleicht auch damit zusammenhängt, dass es dafür keine Planstellen, Lehrstühle, staatlichen Kommissionen etc. gibt.) Die Vermittlung von Subjektivem und Objektivem, und damit die Auflösung des Dilemmas von Struktur und Handeln kann natürlich nur gelingen, wenn man mit der Marxschen Fetischkritik die basalen Formen der bürgerlichen Ökonomie zugleich als objektive Bewußtseinsformen dechiffriert, d.h. als objektive Momente an der bürgerlichen Subjektivität, die dem individuellen Handeln als dessen blind-bewußtlose Matrix immer schon vorgegeben sind. (Weshalb ich ja auch, in Analogie zur Kantschen Erkenntniskritik, von den „transzendentalen Bedingungen wirtschaftlichen Handelns“ gesprochen habe.) Indem sich die Wirtschaftsethik, um ihren Betrieb überhaupt aufrecht erhalten zu können, dieser Einsicht radikal verschließen muss, verfehlt sie ganz entschieden das eigentlich „Skandalöse“ am Kapitalismus: dass nämlich den Menschen die Resultate ihres eigenen Handelns als fremde, sie beherrschende (und in letzter Konsequenz sie vernichtende) Macht gegenübertreten. Den Kapitalismus solchermaßen als „objektiven Verblendungszusammenhang“ (Adorno) zu begreifen, impliziert natürlich, dass die eingreifende Veränderung in der Tat nicht billiger zu haben ist als um den Preis des radikalen Bruchs mit dem bürgerlichen Kategoriensystem und damit der fetischistischen Konstitution der bürgerlichen Subjekte. (Aber für die Verbreitung dieser Einsicht gibt es natürlich erst recht keine Planstellen, Lehrstühle und bürgerlichen Ehrungen mehr.)

 

 

IV

 

Kehren wir zu den handfesteren Aspekten des in der Krise besonders üppig florierenden Moral- und Ethikdiskurses zurück. Wie stellen es sich die Ethikfreunde denn vor, dass die ethische Neuausrichtung der Wirtschaft, ihre Verpflichtung auf das Gemeinwohl und die soziale Gerechtigkeit durchgesetzt werden könnte? Oder wie kann es (um noch einmal den schon erwähnten, kürzlich emeritierten St. Gallener Wirtschaftsethiker P. Ulrich zu zitieren) der Wirtschaftsethik gelingen, „dem Nützlichkeitsdenken der Ökonomen etwas entgegenzusetzen“? Nun, Ulrich selbst war (zumindest noch in seiner 1997 erschienenen „Integrativen Wirtschaftsethik“) der Ansicht, dass „Bürgersinn“ allemal besser sei als Gesetze. Inzwischen geht aber die Haupttendenz eindeutig dahin, den Staat als den Garanten von Moral, Gerechtigkeit und Gemeinwohl in die Pflicht zu nehmen. Hier herrscht weitgehender Konsens von attac über den Ex-Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bis hin zur Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände (BDA). Um mit letzterer zu beginnen: das diesem Referat vorangestellte Motto „Wer ethisch handelt, darf nicht der Dumme sein!“ aus der BDA-Drucksache „Wirtschaften mit Werten“ heißt ja nichts anderes, als dass die Orientierung an einer wie auch immer gearteten „Ethik“ keinen Konkurrenznachteil bedeuten darf. Das impliziert natürlich, dass der Staat der Ethik per Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen, die für alle Wettbewerber gleich sind, auf die Sprünge hilft. (Übrigens ist auch P. Ulrich der Ansicht, dass der Staat – wie er es nennt – „Sachzwangbegrenzungspolitik“ zu treiben hat, um einen Rahmen zu schaffen, in dem ethische Forderungen an die Wirtschaftssubjekte „zumutbar“ werden.)


Ähnlich sieht das auch E.-W. Böckenförde, der in seiner Philippika gegen den gemeinwohlvergessenen neuesten Kapitalismus („Woran der Kapitalismus krankt“, SZ vom 24.4.09) einen solidarischen Umbau des ökonomischen Systems fordert und feststellt, dass sich das „nicht von selbst“ macht: „Es erfordert eine handlungs- und entscheidungsfähige Staatsgewalt, die über eine bloße Gewährleistungsfunktion für die Entfaltung des Wirtschaftssystems (….)hinausgeht, die vielmehr durch Begrenzung, Zielausrichtung und auch Zurückweisung wirtschaftlichen Machtstrebens wirksam (….) Gemeinwohlverantwortung wahrnimmt. Rein koordinativ, auf dem Wege allseitiger Konsensbildung, lässt sich ein solcher Umbau nicht bewirken.“ Allerdings ist er skeptisch, ob angesichts der Globalisierung die Kraft des Nationalstaats dazu noch ausreicht; da ihm andererseits klar ist, dass sich Staatlichkeit im Weltmaßstab nicht organisieren lässt, setzt er seine Hoffnungen vorerst auf Europa. (Auf Böckenförde wird gleich noch zurückzukommen sein.)


Am weitesten geht (wen wundert’s) attac. Christian Felber, Sprecher von attac Österreich, fordert (in einem Aufsatz in dem Buch „Frieden mit dem Kapital?“), die Unternehmen „gesetzlich auf Gemeinwohlorientierung zu programmieren“ und zu diesem edlen Zweck am besten gleich das Profitstreben gesetzlich zu verbieten: „Finanzgewinn darf nicht Gegenstand des ökonomischen Wettbewerbs und somit nicht mehr das Hauptziel von Unternehmen sein.“


Dann nämlich wird der paradiesische Zustand eintreten, dass das Kapital sich „tendenziell von einem Zweck in ein Mittel“ verwandelt. (Hier reproduziert sich natürlich eine verbreitete bürgerliche Vorstellung vom Geld, die dieses für ein „neutrales“ Medium, an sich weder gut noch schlecht, ansieht: es kommt allein darauf an, was man mit ihm anstellt.) Dazu muss den Unternehmen per Gesetz „kostendeckendes Wirtschaften“ vorgeschrieben werden („Gewinne dürfen nicht an Eigentümer ausgeschüttet (…) werden“), und das Gemeinwohl muss „in Gestalt von Schlüsselkriterien demokratisch einheitlich definiert“ werden. „Unternehmen werden dann rechtlich umso stärker belohnt, je erfolgreicher sie die Gemeinwohlziele umsetzen: Je solidarischer, kooperativer, demokratischer, sozial verantwortlicher und ökologisch nachhaltiger ein Unternehmen sich verhält, desto bevorzugter wird es mit allen Instrumenten der Wirtschaftspolitik behandelt: Steuern, Zölle, öffentliche Aufträge, Kredite, Forschungsprojekte usw. .“ Der Wettbewerb würde dann also nicht mehr um den schnöden Reibach gehen, sondern sich „um den größtmöglichen Dienst am Gemeinwohl entfalten, und die sozial Verantwortlichsten würden als Sieger hervorgehen.“ Die kapitalistische Konkurrenz also per Gesetz auf eine Art sportlichen Gemeinnützigkeits-Wettbewerb umgepolt – diese freundliche Vision scheint mir in der Tat die Quintessenz aller wirtschaftsethischen Anstrengungen , dem Kapitalismus ein „menschliches Antlitz“ zu verpassen, zu sein.  

 

 

V

 

Es ist, das muss man leider sagen, eher unwahrscheinlich, dass sich der Staat die Vorschläge dieses sonnigen Gemüts zu eigen machen wird. Nicht dass er seine Verantwortung für das Gemeinwohl zurückweisen würde – aber er hat eigene Vorstellungen davon, was unter „Gerechtigkeit“, „Solidarität“ und „Gemeinwohl“ zu verstehen ist. Um uns diese etwas zu verdeutlichen, müssen wir zunächst auf Wolfgang Böckenförde zurückkommen. Der hat im Juni 2003 (als er noch nicht so maßlos enttäuscht vom Kapitalismus war) in der „Frankfurter Rundschau“ einen Artikel zum Thema „Was ist sozial gerecht?“ veröffentlicht, der als publizistische Unterstützung für das sozialpolitische Reformprogramm der Regierung Schröder (Agenda 2010, Hartz IV usw.) zu verstehen ist. (Böckenförde ist nicht nur Anhänger der katholischen Soziallehre, sondern auch SPD-Mitglied.) In diesem Artikel wendet sich Böckenförde gegen die, die im Namen der „Verteilungsgerechtigkeit“ gegen die geplanten Reformen polemisierten, und legt dar, dass es neben der Verteilungsgerechtigkeit auch noch die „allgemeine bzw. Gemeinwohlgerechtigkeit, die auf die Gemeinschaft als Ganzes (…) bezogen ist“, zu berücksichtigen gilt. Und zu diesem Begriff der Gemeinwohlgerechtigkeit führt er dann aus: „Unser gesamtgesellschaftliches Wohlergehen ist, das wissen wir alle, in hohem Maße von Wirtschaftskraft, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Leistungswillen abhängig. Sie sind wesentliche Faktoren des Gemeinwohls in unserer Gesellschaft (…).Anders formuliert: Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Bedingungen und Antrieben dafür (…) sind ein Gemeinwohlerfordernis, ein Teil der dem sozialen Ganzen geschuldeten Gemeinwohlgerechtigkeit. Um aber solches Wirtschaftswachstum in Gang zu setzen, zu fördern oder zumindest günstige Bedingungen dafür zu schaffen, sind wir an die Funktionsbedingungen der bestehenden Wirtschaftsordnung, die wir als solche nicht ändern können, gebunden.“ Und er legt dar, dass es ein Verstoß gegen die soziale Gerechtigkeit sei, die anstehenden Reformen zu unterlassen, bloß weil sie Eingriffe in Besitzstände bedeuteten: „Für die sozialen Sicherungssysteme ist es heute evident, dass deren Problemen mit dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr beizukommen ist.“


Böckenförde hat natürlich völlig recht – kapitalistische Verhältnisse vorausgesetzt. Man sollte ihn für seine Ausführungen von 2003 nicht tadeln, sondern ihn dafür loben, dass er so deutlich ausgesprochen hat, welch unschöne Färbung solche edlen Begriffe wie Gemeinwohl, Gerechtigkeit und Solidarität annehmen, wenn man sie vom allgemeinen Ideenhimmel herunterholt und auf die realen Verhältnisse bezieht. Was Böckenförde ausspricht, ist nichts anderes als die brutale Tatsache, dass das Leben aller vom leidlichen Funktionieren der kapitalistischen Selbstzweckmaschine abhängt, und dass unter dieser Bedingung nur der sich solidarisch, sozial und gemeinwohldienlich verhält, der einsieht, dass seine egoistischen Privatansprüche an ein halbwegs erfülltes und menschenwürdiges Leben vor dem Interesse des „Ganzen“ zurückzustehen haben. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ – das ist das letzte Wort der Wirtschaftsethik unter den gegebenen Verhältnissen, und nicht zufällig stand dieser Satz im 25-Punkte-Programm der NSDAP.


 In Speyer gibt es  einen Brunnen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, an dem heute noch die Inschrift prangt: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen.“ Besser kann man das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderen, vom „Ganzen“ und den einzelnen Individuen unter den gegebenen Verhältnissen nicht ausdrücken. Es ist zu vermuten, dass der gegenwärtige Moral- und Ethikdiskurs, wenn erst einmal die Euphorie über die angeblich mögliche „Humanisierung“ des Kapitalismus abgeflaut ist und die brutalen „Notwendigkeiten“ die Oberhand gewinnen, in staatliche Regie genommen und dann einmünden wird in die Propagierung von Opfer und Verzicht. Die Wut über Gier und ungerechtfertigte Bereicherung ist ja schon immer sehr leicht umgeschlagen in den Hass auf die „Sozialschmarotzer“, die „uns“ auf der Tasche liegen, ohne etwas zu „leisten“, und die Moral, mit der man die Hartz-IV-Empfänger  schon jetzt traktiert, wird zum allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip werden:  “Keine Leistung ohne Gegenleistung“. Die Protagonisten des gegenwärtigen Ethik-Geschwafels werden dann sagen, dass sie das so nicht gewollt haben, aber man wird sie trotzdem wegen Vorschubleistung belangen müssen.



 

Zitierte Quellen

 

BDA (Präsidium): Wirtschaft mit Werten – für alle ein Gewinn. Berlin 2oo6

 

Bertelmann / Th. Posern: Leben in Fülle für alle. Zur Krise an den Finanzmärkten. Mainz 2008 (Reihe „Impulse“ des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau)

 

Ernst-Wolfgang Böckenförde: Was ist sozial gerecht? Frankfurter Rundschau v. 2.6.2003

 

Ernst-Wolfgang Böckenförde: Woran der Kapitalismus krankt. Süddeutsche Zeitung v. 24.4.2009

 

Hans Casel: Geld ohne Moral stinkt. Trier 2008 (unveröff. Manuskript)

 

CDU / CSU: Wahlprogramm für den Bundestagswahlkampf 2009-09-16

 

Duchrow / F. Segbers (Hg.): Frieden mit dem Kapital? Wider die Anpassung der ev. Kirche an die Macht der Wirtschaft. Oberursel 2008

 

Jens Jessen: Gibt es den Kapitalismus überhaupt? – Warum das System, in dem wir leben, gar keines ist. Zeit Nr. 35, 20. 8. 2009

 

Nils Ole Oermann: Anständig Geld verdienen? Protestantische Wirtschaftsethik unter den Bedingungen globaler Märkte. Gütersloh 2007

 

Arthur Rich: Wirtschaftsethik. 2 Bde. Gütersloh 1984/1990

 

Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern / Stuttgart / Wien 2001 (3. Aufl.)

 

Georg Wünsch: Evangelische Wirtschaftsethik. Tübingen 1927