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Kurt B. Uhlschütz


Kommunizierende Röhren



Auszug aus: Kurt B. Uhlschütz, Inkompetenzgesellschaft. Konturen einer Zeitdiagnose, in: Andreas Urban/F. Alexander von Uhnrast (Hg.), Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien 2023, S. 209-213


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Die Irrationalität hat sich anscheinend – Genaueres könnte nur in einer intensiven diachronen Tiefenbohrung zu Tage gefördert werden – in kürzester Zeit fast widerstandslos in sämtlichen gesellschaftlichen Sektoren durchgesetzt: (1.) in der Politik, (2.) bei den in den jeweiligen Sachfragen tonangebenden wissenschaftlichen Expertengruppen, (3.) in den staatlichen und privaten Funk- und Printmedien wie auch (4.) in der breiten Bevölkerung. Daher hat sich während der beiden jüngsten Großkrisen, Corona und Ukraine-Krieg, eine gesamtgesellschaftliche Echokammer herausgebildet, in der sich, ohne durch irgendeine Instanz gebremst zu werden, annähernd sämtliche öffentlich wahrnehmbaren Stimmen gegenseitig bestätigt und in einen konformistischen Rausch hineingeredet haben: Die Medien treiben die Politiker an, diese verstärken mit extremistischen Stellungnahmen ihr eigenes mediales Echo, öffentlich wirkende Wissenschaftler und Intellektuelle verstärken das anschwellende Geräusch mit eklektisch gewonnenen Pseudodaten– Virologen und Modellierer zum exponentiellen Anwachsen von Infektionswellen – oder angeblichen tieferen analytischen Einsichten – Osteuropakundler zum ewigen autokratischen Charakter des „großrussischen Imperialismus“ –, und die Bevölkerung wird unablässig mit der so erzeugten Kakofonie aus absurden Direktiven, Desinformation und plumper, aber aufgrund ständiger Wiederholungen und des Ausschlusses abweichender Positionen hocheffektiver Propaganda in Hysterie und aggressiven Konformismus getrieben.


Die wirkungsreichste der genannten Instanzen ist das Mediensystem, denn zum einen leben die Menschen spätestens seit der Erfindung des Fernsehens und verstärkt seit dem Siegeszug des Internets und der digitalen Endgeräte ihr Leben wesentlich mit den und durch die Medien, und zum anderen haben diese Medien, die nach dem Zweiten Weltkrieg an der Bewusstseinsformung massiv beteiligt waren, seit dem Untergang des Ostblocks einen tiefgreifenden Wandlungsprozess durchlaufen. Waren bis in die späten 1980er Jahre hinein aufgrund der Tatsache, dass es mit der westlichen marktwirtschaftlichen Demokratie und dem östlichen „real existierenden Sozialismus“ zwei – wenn auch vielleicht nur oberflächlich und scheinbar – gegensätzliche ideologische Blöcke, alternative Weltbilder und „Wert“-Orientierungen gab, das Spektrum des Meinungsstreits noch relativ weit und der Pluralismus verschiedener Sichtweisen auf gesellschaftliche Problembereiche durchaus vorhanden, so schrumpfte der Raum des Sagbaren seit dem Sieg des westlichen Lagers in demselben Tempo, mit dem die davon erzeugte Selbstgefälligkeit der Sieger wuchs. Schon während der Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre gab es nur eine salonfähige Betrachtungsweise: „Die Serben“ waren die Aggressoren, alle anderen Völker des auseinanderbrechenden Staates galten dagegen als Opfer. Danach folgten beispielsweise in Deutschland die sich unentwegt wiederholenden Kampagnen für „Reformen“, d.h. für die Implementierung der zuvor in den USA und Großbritannien durchgesetzten neoliberalen Strategien des Abbaus sozialpolitischer Leistungen, der Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, der Liberalisierung der Arbeits- und Finanzmärkte, Steuersenkungen für die Wohlhabenden etc. – das alles unter dem Schlagwort der „Alternativlosigkeit“. Die Finanzkrise von 2008 und die nachfolgende Krise des Euroraums wurden nach demselben Muster bearbeitet. Man musste damals lange suchen, um in deutschen Zeitungen Kommentare zu finden, die nicht die „faulen Griechen“ für ihre unverantwortliche Schuldenmacherei und die Länder des Mittelmeerraums („PIGS“) für ihre mangelnde fiskalische Disziplin und wirtschaftliche Effizienz geißelten.


Diesem politischen Gleichklang entsprechen die soziale und weltanschauliche Rekrutierung der Journalisten und ihre Sozialisation in dem System, zu dem sie gehören wollen. Junge Leute aus der Arbeiter- und Unterschicht oder Außenseiter mit eigenem Kopf und eigenwilligen politischen Ideen haben kaum eine Chance, von den großen Sendern und Zeitungen angestellt zu werden, und diejenigen, die dort kooptiert werden, lernen bald, mittels einer Kombination aus Vergünstigungen und sozialem Druck, die Institutionen, Gepflogenheiten und „Werte“ der ehrbaren Gesellschaft nicht in Frage zu stellen. Die allermeisten Medienschaffenden haben daher auch das Pandemie-, Lockdown- und Impfnarrativ – allen leicht zu recherchierenden Widersprüchen zum Trotz – nie angezweifelt, und wenn Einzelne es doch getan haben, wurden sie mit Entfernung aus dem Kreis der „Vernünftigen“ bestraft. Überdies sind beispielsweise die Zeitungen per Regierungssubventionen, etwa mit Anzeigenhonoraren während der Impfkampagnen sowie per direkter finanzieller Presseförderung, für ihre narrativtreue Berichterstattung belohnt worden.


Ganz ähnliche Mechanismen wirken mittlerweile auch auf dem akademischen Feld, wo sich die nach den Journalisten hörbarsten Lautsprecher der einzig akzeptablen Moral und Vernunft finden. Zwar sind die Universitäten, jedenfalls in ihren geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen, seit jeher Stätten der Ideologieproduktion und Sammelplatz von mit allem einverstandenen Karrieristen, aber in der Regel wurden Abweichler toleriert, die mitunter Fundamentalkritik äußerten. Diese Zeiten sind vorbei. Wer heute die Grenzen des positivistisch-affirmativen Diskurses überschreitet, wie etwa die wenigen Medizinprofessoren, die das Corona-Spektakel kritisch kommentierten, oder eine Politikwissenschaftlerin, die nicht die These vom unprovozierten Angriffskrieg „Putins“ bestätigen wollte, wird verächtlich gemacht. Wer sich im Stillen mit dem Gedanken trägt, seine Zweifel an der Weisheit der politischen Entscheidungsfindung öffentlich zu machen, den erinnern Twitter-Gewitter gegen mutigere Kollegen daran, dass er nicht nur nichts bewirken, sondern erheblichen Schaden auf sich ziehen wird. Freilich ziehen ohnehin die wenigsten derlei sichtbares Abweichlertum in Betracht. Der Konformismus muss in aller Regel nicht erzwungen werden, er ist internalisiert. Damit begibt sich die Wissenschaft wie auch die Sphäre der public intellectuals und der politisch-parlamentarische Betrieb selbst derjenigen Ressource, die bislang die Überlegenheit der westlichen Demokratie gegenüber so genannten Autokratien, Diktaturen, totalitären Regimes oder voraufklärerischen religiösen Dogmatismen begründen sollte: der freien Deliberation, des argumentativen Austauschs über die gewonnenen Einsichten, des „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas). Stattdessen scheint man nun darauf zu setzen, dass der unbedingte Glaube an die eigenen simplen, moralisch korrekten Slogans und die gegenseitige Bestätigung der Mitglieder der in-group, also ein ritualisierter confirmation bias, eine möglichst wasserdichte epistemische Abschließung und auf die Spitze getriebenes group think den Weg zu angemessenem politischen Handeln weisen. Die Inkompetenz wird damit institutionalisiert. Die liberale Welt, besonders die „zivilgesellschaftlich“ hegemoniale Kulturklasse, wird totalitär, und sie spannt den Staatsapparat und seine Repressionsinstrumente für ihre Zwecke ein.


Die neben Journalisten, akademischen Experten und Politikern vierte der kommunizierenden Röhren dieses geschlossenen Diskursraums, die breite Bevölkerung, ist in erster Linie Konsumentin der unablässig strömenden (Des-)Informations- und Narrativflüsse, beteiligt sich aber mittlerweile im persönlichen Nahfeld auch aktiv an der Durchsetzung der staatlich approbierten Wahrheiten. Dass es mit ihrer Urteilskraft nicht mehr weit her ist, war seit Beginn des Pandemie-Spektakels zu erkennen: Nicht nur, dass die Menschen sich in der Beurteilung der abstrakten epidemiologischen Faktenlage ganz auf die eindimensionale Berichterstattung der Hauptmedien und die dort in Stellung gebrachten linientreuen Experten verließen; sie waren weit überwiegend auch nicht mehr fähig, ihre eigene Lebenserfahrung zum Abgleich mit den Behauptungen der überfallartig verlaufenden Kampagnen zu nutzen.


Im Frühjahr 2020, während der ersten Einschließung, folgten die meisten widerspruchslos der Aufforderung, in der Wohnung zu bleiben, und viele fanden es ganz in Ordnung, dass Kinder daran gehindert wurden, in der Frühlingssonne Basketball zu spielen, oder dass die Polizei Personen von Parkbänken vertrieb, die an der frischen Luft ein Buch lesen wollten. Im Sommer gab es Absperrbänder in Freibädern und Abstandsmarkierungen auf den Liegewiesen, als ob bei einer stabilen Hochwetterlage und anhaltend 25−35 Grad Celsius ernsthaft ein Massensterben an Atemwegsviren zu erwarten wäre. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen, die Schlussfolgerung aber drängte sich früh auf: Der Verlust des einstigen gemeinen Hausverstands, die Entfremdung von elementaren Tatsachen des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur ist so weit fortgeschritten, dass man die meisten postmodernen Subjekte nicht nur bei abstrakten, von ihrer Lebenswelt weit entfernten politischen Themen wie der „russischen Aggression“ systematisch in die Irre führen, sondern sie auch mit Leichtigkeit dazu bringen kann, ihre unmittelbaren Alltagserfahrungen zu negieren. Zwar gilt dies besonders für die urbanen „Gebildeten“ und „Informierten“, die sich dem Wirken der Medienmaschinerie stärker aussetzen als etwa die abschätzig betrachtete Landbevölkerung oder die gern verlachten deplorables. Aber Realitätsverlust, Zerrüttung des Urteilsvermögens und Inkompetenz sind heute fast ubiquitär.