Klaus Kempter


Neues zu Marx


 

Rezension von:
Mischa Piraud & Wolfgang Rother (Hg.): Neues zu Marx / Des nouvelles de Marx (= Studia Philosophica. Schweizerische Zeitschrift für Philosophie, 79/2020), S. 3-153



Zuerst erschienen 2021 in: Archiv für Begriffsgeschichte, Heft 63/2, S. 145-152



 

Der anzuzeigende Band versammelt deutsch- und französischsprachige Beiträge zweier Vortragsreihen, die zum 200. Geburtstag von Karl Marx 2018 in Genf und Zürich zu den philosophischen Implikationen seines Werkes veranstaltet wurden. In ihrem Vorwort beziehen sich die Herausgeber auf die Traditionslinie des westlichen philosophischen, d. h. vor allem hegelianischen Marxismus, der ausgehend von Georg Lukács und Karl Korsch seit den 1920er Jahren die dominanten politischen Marx-Interpretationen im Hintergrund begleitete. Dazu zählen sie neben der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule unter anderem Denker wie Antonio Gramsci und Ernst Bloch sowie die französische Autorengruppe um Louis Althusser, die 1965 das für den französischen Sprachraum bahnbrechende Lire le Capital veröffentlichte. Die Aufsätze thematisieren unterschiedliche Aspekte von Marx’ Verhältnis zur Philosophie, unter anderem auch, indem sie wichtige Begriffe seines Werkes neu oder nochmals beleuchten.


Elena Louisa Langes Beitrag hat explizit die komplexe, auch für etliche der übrigen Beiträge grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Marx zu Hegel zum Thema, und statt das bekannte Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen und die oberflächliche Berufung auf »Dialektik« und »Widersprüche« zu wiederholen, versucht sie einen Lösungsansatz von dem sogenannten »Darstellungsproblem« bzw. dem »Problem des Anfangs« her. Ein Vergleich von Hegels Einleitungskapitel zur Wissenschaft der Logik und Marx’ großen Fragmenten zur Kritik der Politischen Ökonomie – den Grundrissen und dem Kapital selbst – ergibt zwei wichtige Analogien: die Zentralkategorien »Wesen« und »Erscheinung«, mit denen beide operieren, und die voraussetzungsvolle Voraussetzungslosigkeit des Anfangs, dem Ausgang also von eben den begrifflichen Befunden, die in der dann folgenden Darstellung erst entfaltet werden. Lange knüpft damit letztlich an die gegenüber dem Arbeiter-bewegungs- und Klassenkampfmarxismus heterodoxen und bis heute randständig gebliebenen Überlegungen der Wertformanalyse und der Neuen Marx-Lektüre von Hans-Georg Backhaus (1997) und Helmut Reichelt (1973) an und geht auch nicht weit über sie hinaus. Aber selbst die bloße Bekräftigung, dass Marx’ wichtigster wissenschaftlicher Beitrag, mit dem er einen vollständig »neuen theoretischen Horizont« eröffnet habe, die »Theorie des Fetischismus der Wertformen« sei, ist angesichts vieler auch zum 200. Geburtstag wiederholter Uralt-Klischees von großer Relevanz. Schließlich lässt sich der gewaltige theoretische Rückschritt nicht bestreiten, der von Marx’ Erhellung der gesellschaftlich notwendigen Mystifikation des Wertes, des Geldes, des Kapitals etc. zu den Plattitüden führt, die heute in der Wissenschaft und bei den übrig gebliebenen Marxisten vorherrschen.


Kurt Bayertz’ Aufsatz handelt vom »Materialismus« bei Marx und fragt danach, was denn die »Materie« sei, die der Materialist Marx betrachtet, ohne das Wort überhaupt je zu verwenden. In der langen Geschichte des philosophischen Materialismus von der Antike bis zu den französischen Enzyklopädisten bezieht sich der Begriff in der Regel auf die Natur und hat damit über weite Strecken ungesellschaftliche, zudem statische und ahistorische Implikationen, was Marx noch einem seiner wichtigsten Bezugsautoren, Ludwig Feuerbach, zum Vorwurf machte. Marx ist folglich darauf angewiesen, sich von dem Idealisten Hegel die Anthropologie des tätigen, seine Welt im geschichtlichen Prozess gestaltenden Menschen auszuborgen und auf dieser Grundlage einen dynamischen, historischen, auf Arbeit und Produktion, also aktiver Tätigkeit beruhenden Materialismus zu entwickeln. Dabei werden aber bei Bayertz nicht die »Arbeit« und schon gar nicht die übrigen Kandidaten »Ware«, »Wert« oder »Kapital« zur Zentralkategorie der Marxschen »Sozialontologie«, sondern die »Produktionsverhältnisse«. Marx’ Materialismus ist also nicht-naturalistisch und nicht-physikalistisch. Seine Materie ist nicht greifbarer Stoff, sondern besteht aus den Beziehungen, die die Menschen miteinander in der Produktion ihres gesellschaftlichen Lebens eingehen. Daher ist der Marx’sche Materialismus auch nicht-ökonomistisch. Ist er aber dann, so ließe sich kritisch anfragen, vielleicht soziologistisch? Jedenfalls regt Kurt Bayertz sowohl zum Widerspruch als auch zum Weiterdenken an.


Auch Camilla Brenni befasst sich mit der wissenschaftstheoretischen Verortung Marx’. Ist schon dessen Materialismus, trotz seiner Selbstbezeichnung, nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, so ist sein Verhältnis zum Empirismus und zur empirischen Forschung erst recht ein offenes Problem. In der wissenschaftlichen Literatur findet sich der Empirist (z.B. bei Richard Hudelson [1982]) wie auch der Anti-Empirist Marx (etwa bei Althusser [1972], S. 42-55). Brenni zeigt, dass Marx ein doppeltes und ambivalentes Verhältnis zur empirischen Wissenschaft hatte. In seinen jungen Jahren nutzte er den britischen philosophisch Empirismus wie auch die empirischen Studien etwa der englischen und schottischen politischen Ökonomen als Antidot gegen die steilen begrifflichen Abstraktionen der jung-hegelianischen Schule, von der er sich rasch emanzipierte. In seinem reifen Werk hingegen ist – nun in kritischer Wendung gegen eine in empiristische Oberflächendeskriptionen zurückgefallene Politische Ökonomie – eine Wiederaufnahme des philosophisch-kategorialen Denkens in der Nachfolge Hegels unverkennbar: Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals erklärte Marx selbst, er habe in der Wert-theorie mit Hegels »eigentümliche[r] Ausdrucksweise« »kokettiert[]«, und legte mit dieser Bemerkung eine Spur, die er zugleich – kokett – halb verwischte. Camilla Brenni interessiert sich freilich weniger für den philosophischen Hegelianismus Marx’, sondern für dessen besonders im Kapital eindrucksvolles empirisches Arbeiten auf hegelianisch-kategorialer Grundlage und bescheinigt ihm schließlich, mit dieser Doppelbewegung ein Wissenschaftsmodell entwickelt zu haben, das zugleich in einem klassischen Sinn erkenntnisproduktiv wie auch radikal kritisch sei.


Bei Urs Marti-Brander und bei Antoine Chollet kommt dann der politische Philosoph und Staatstheoretiker Marx und damit vor allem das Frühwerk in den Blick, denn Marx’ explizite Befassung mit dem Staat fällt in die kurze Zeitspanne zwischen seinen frühen religionskritischen Versuchen und dem späteren politisch-ökonomischen Werk. Dass er in dieser Zeit, den mittleren 1840er Jahren, ein Liberaler und Demokrat war und als Journalist in diesem Sinne gewirkt hat, ist bekannt. Marti-Brandner unternimmt es aber, aus Marx’ frühen politischen Stellungnahmen, vor allem aber aus seiner Auseinandersetzung mit den Junghegelianern und Hegel selbst, einen irgendwie lebenslangen Demokraten zu fabrizieren. Dabei hat der Autor in vielem recht: Marx war entgegen dem Ruf, den ihm der spätere etatistische Marxismus sozialdemokratischer wie kommunistischer Prägung eingebracht hat, weder ein Anhänger des starken Staates noch einer anti-individualistischen, etwa religiös oder parareligiös grundierten Vergemeinschaftung wie etwa die frühen Kommunisten Cabet oder Weitling (oder die späteren französischen Theoretiker, die der Autor mit polemischen Seitenhieben bedenkt: Alain Badiou und Jacques Rancière). Die individuelle Freiheit, freilich nicht die »bornierte« der marktwirtschaftlichen Konkurrenz, blieb Marx immer eine hohes Ideal, und das vielzitierte Zukunftsbild des Kommunistischen Manifests von einer Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sein würde, war keineswegs einfach rhetorischer Überschwang. Doch hat Marx nicht nur aufgrund seiner jahrzehnte-langen Beschäftigung mit der Politischen Ökonomie, der »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft«, die ursprünglich ins Auge gefasste Theorie des Staates vernachlässigt, sodass man aus seinen frühen Äußerungen – auch nicht in Kombination etwa mit seiner kurzen Schrift über die Pariser Commune – derart weitreichende Schlüsse kaum ziehen kann, wie Marti-Brander es tut. Auch die Behauptung, Marx’ Idee von der Kontrolle der Menschen über ihre gesellschaftlichen Verhältnisse sei als Plädoyer für eine gewissermaßen »wahre« demokratische (Staats-)Verfassung zu verstehen, geht fehl.


Auch Antoine Chollets Meditationen zu Marx’ Kreuznacher Manuskript von 1843, also den Notizen und Kommentaren zu Hegels Rechts-philosophie, die erst lange nach Marx’ Tod publiziert wurden, zeichnen – über den Umweg einer Relektüre von Miguel Abensours La démocratie contre l’État (Abensour 2012) – das Bild vom radikalen Demokraten Marx. Zudem wird er in eine ideengeschichtliche Reihe mit Machiavelli gestellt, insofern als Marx ebenfalls ein Denker der autonomen politischen Sphäre gewesen sei. Diese Lesart ist möglich, denn Marx war Modernisierer und radikaler Modernekritiker, damit auch Demokrat und dezidierter Kritiker der (demokratischen) Staatlichkeit, zugleich. Es fehlt aber eine Ausarbeitung des politischen – oder vielleicht antipolitischen – Denkens, eine Kritik des Staates durch den späten Marx auf der Höhe seiner Kritik der Politischen Ökonomie. Sowenig freilich Marx mit dem Kapital zum politischen Ökonomen geworden ist, so wenig wäre er vermutlich zum demokratischen Staatstheoretiker geworden, hätte er die Zeit gefunden, seine Erkenntnisse über den Staat systematisch darzulegen. Der politische Marx, etwa der Ratgeber der deutschen Sozialdemokratischen Partei, kann einerseits vielleicht als Liberaler und Demokrat beschrieben werden; es sollte darüber aber andererseits nicht der libertäre Kommunist Marx vergessen werden. Wäre sein »Verein freier Menschen« eine »wahre Demokratie«, also letztlich eine Form politischer Herrschaft gewesen? In solchen Zuschreibungen zeigt sich wohl mehr die Phantasielosigkeit und Spießigkeit des Demokratie-Aprioris heutiger politiktheoretischer Debatten.


Christoph Henning eröffnet seinen Beitrag über Marx und die Frankfurter Schule mit der etwas irritierenden »These«, Marx sei »nicht nur ein Vorläufer, sondern selbst schon ein reflektierter und radikaler Autor einer ›Kritischen Theorie‹« gewesen – irritierend, weil das Begriffspaar »kritische Theorie« beim frühen Horkheimer nichts anderes bedeutete als Marx’sche Theorie. Hennings weitergehende Behauptung, die Frankfurter Kritische Theorie erscheine »in einigen Punkten als Verwässerung und Ent-Systematisierung« der ursprünglichen Version, taugt schon eher als Ausgangspunkt einer fruchtbaren Erörterung, zumal sie nicht von einem orthodoxen Parteimarxisten stammt, bei dem sie wenig überraschend wäre. Doch erbringt die vergleichende Darstellung auf »drei Ebenen der Kritik« nichts wirklich Neues. Henning weist darauf hin, dass die von Hegel geerbte »systematische Geschlossenheit« von Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie von den späteren Autoren der Kritischen Theorie nie wieder erreicht wurde, und den Grund hierfür sieht er darin, dass Letztere sich von der basalen Ebene der Marx’schen Kritik, der modernen kapitalistischen Wertvergesellschaftung, verabschiedet und sich stattdessen bloß auf der Ebene der »Immunisierungskritik«, also der ideologisch-fetischistischen Abschließung, des »notwendigen Scheins«, der »Verdinglichung« des schlechten Bestehenden bewegten. Statt des automatischen Subjekts des Kapitals bildeten bei Horkheimer, Adorno, Marcuse et al. gewissermaßen schlecht abstrakte Gegenstände den Angriffspunkt der Kritik: Moderne, Naturbeherrschung, instrumentelle Rationalität, Verwaltung, Technokratie. Dabei steckt der Autor alles, was heute als Kritische Theorie Frankfurter Prägung firmiert – vom frühen Horkheimer über Habermas bis zu Honneth – unter einen, vom Marx’schen ganz verschiedenen Hut, und darin liegt die Schwäche seiner Überlegungen. Die Alten hatten sehr wohl klare Vorstellungen von den Basisprozessen der Wertverwertung und ihrer determinierenden negativen Wirkung für das Gesellschaftsganze. Ihre Befassung mit allgemeinen Kulturphänomenen unterschied sich kategorial etwa vom Habermas’schen Dualismus von System und Lebenswelt und von der affirmativen Einführung des Liberalismus in die seitdem nur noch mäßig und punktuell, recht besehen also gar nicht mehr kritische Kritische Theorie.


Fabien Tarrit stellt den US-amerikanischen, in Kontinentaleuropa nicht gerade unbekannten, aber doch wenig populär gewordenen, auch kaum übersetzten Analytischen Marxismus vor, den zuerst Gerald A. Cohen mit seinem 1978 erschienenen Buch Karl Marx’s Theory of History und danach als prominenteste Autoren John Roemer, Jon Elster und Eric Olin Wright entwickelt haben. Das ist ein ganz anderer Marxismus als der im Vorwort skizzierte hegelianisch-dialektische der Traditionslinie Lukács – Korsch – Frankfurter Schule oder der praxisphilosophisch-politische von Gramsci. Überschneidungsfelder ließen sich womöglich mit Althussers explizit anti-hegelianischer strukturaler Interpretation finden, doch deren Antihumanismus ist gar nicht nach dem Geschmack der Analytischen Marxisten. Es handelt sich also durchaus um eine in gewisser Weise originelle Lektüre von Marx, freilich eine, die dem radikalen Gesellschaftskritiker, und derlei Neigungen sind dem gemeinen Marx-Leser oft eigen, nicht das gibt, was sein Herz erwärmt und seinen kritischen Verstand befeuert. Schon der Politische Theoretiker Cohen, der sich stark auf das berühmte Vorwort Zur Kritik der Politischen Ökonomie bezog, bezeugte damit seine Neigung zu den schematisch-mechanistischen Elementen des Historischen Materialismus, und die von ihm initiierte Non-Bullshit-Marxism Group fand Gefallen an der antidialektisch-positivistischen, also, wie es die Kritische Theorie genannt hätte, verdinglichten Form eines auf Marx bezogenen Denkens.

Der Wirtschaftswissenschaftler John Roemer unterzog Marx’ ökonomisches Denken einer Revision, indem er es in der Sprache der neoklassischen Mikroökonomie – mit einem Begriffsapparat, in dessen Zentrum das »allgemeine Gleichgewicht« steht – neu formulierte (Roemer 1981). Auch Roemer versuchte, aus der »Kritik der politischen Ökonomie« den von Hegel geborgten Denkstil, die vermaledeite Dialektik, zu tilgen und damit einen Marx in (für Ökonomen) leichter Sprache zu basteln, wobei die wesentlichen Inhalte zu den Akten gelegt werden mussten: die Arbeitswertlehre – also der wohl zentralste aller Marx’schen Begriffe, der Wert – und folgerichtig zum Beispiel auch die Krisentheorie vom »tendenziellen Fall der Profitrate«. Das Konzept der »Ausbeutung« behielt Roemer bei, entkleidete es aber seiner Beziehung zum »Wert«. Auf diesem neoklassischen, mit der subjektiven Wertlehre – der vom Meister verhöhnten »Vulgärökonomie« – versöhnten Marx baute Jon Elster auf und konstruierte konsequenterweise einen Rational-Choice-Marxismus auf der Grundlage des methodischen Individualismus und der bei Ökonomen beliebten Spieltheorie (Elster 1985).

Als letzten aus der Gruppe der Analytischen Marxisten nennt Tarrit den Soziologen Eric Olin Wright, der einen Zentralbegriff, der in der akademischen Öffentlichkeit (sehr zu Unrecht) noch stärker mit Marx verknüpft wird als der Wert-Begriff, nämlich den der Klasse, einer Reformulierung unterzog (Wright 1985). Das Ergebnis von derlei »neuen Klassentheorien« in der gängigen, meist irgendwie links angehauchten Soziologie ist freilich stets, so auch hier, eine ganz unfruchtbare Definitions- und Parameterhuberei, die zum Verständnis der – eben doch – dialektischen Totalität der modernen Gesellschaft wenig beiträgt. Wright landet am Ende, wie Tarrit einräumt, konsequenter-weise bei einer Art Neo-Weberianismus; aber auch ein klassentheoretischer Neo-Marxismus wäre kein Gewinn.

Neo-Weberianismus scheint in jeder Hinsicht das Schicksal des Analytischen Marxismus gewesen zu sein. Gegen den Hegel-Marxismus und gegen die wissenschaftliche Revolution, die mit dem Namen Marx verbunden ist, kehrten die Analytischen Marxisten zur Weber’schen Wissenschaftslehre, d. h. zur neukantianischen Zwei-Sphären-Lehre zurück, vollzogen eine ethische Wende und setzten schließlich auf Normativität und Politik statt auf Kritik der politischen Ökonomie. Fabien Tarrit schließt mit der Bemerkung, dass nicht die Analytische Philosophie per se, sondern lediglich einzelne ihrer Methoden inkompatibel mit Marx seien, das Programm des Analytischen Marxismus sich also durchaus noch als fruchtbar erweisen könne. Auf der Grundlage des informativen Aufsatzes bezweifelt dies der Rezensent. Ein undialektischer Marx ist keiner. Und ein ethischer Marx ist ebenfalls keiner.


Der Beitrag von Arthur Huiban fällt ein wenig aus dem Rahmen des Bandes, lässt er doch den philosophischen Marx beiseite, indem er sich auf altvertrautes politisches Gelände begibt. Huiban referiert eine im deutschen Sprachraum wenig bekannte Kontroverse zwischen dem Ökonomen Thomas Piketty, dessen 2014 erschienener internationaler Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhundert« sowohl mit seinem Titel als auch mit seiner Diagnose einer sich seit Jahrzehnten unentwegt verschärfenden sozialen Ungleichheit in den großen Industrieländern Erinnerungen an Marx wachrief, und seinem Kollegen Frédéric Lordon, der Piketty wegen seines unmarxistischen Kapital-Begriffs gewissermaßen von links attackierte. Huiban, der Lordon in dieser Definitionsfrage Recht gibt – Kapital ist bei Marx nicht einfach in Geld- und Sachwerten aufgehäuftes Vermögen, sondern ein soziales Verhältnis –, hebt zugleich das Verdienst Pikettys hervor, empirisch gezeigt zu haben, dass Marx’ frühe Diagnose aus dem Kommunistischen Manifest, wonach im Kapitalismus soziale Polarisierung stets zunehme und er auf eine einfache binäre Gesellschaftsstruktur – die zwei antagonistischen Klassen der wenigen superreichen Kapitalisten und der vielen pauperisierten Proletarier – hinauslaufe, am Ende doch zutreffe. Obendrein weise Piketty den richtigen Weg heraus aus der Malaise, indem er eine steuerstaatlich-politische Regulierung analog zur goldenen kapitalistischen Nachkriegszeit, nur eben historisch adäquat auf globaler statt nationaler Ebene, vorschlage. Der Aufsatz atmet, wie die Kontroverse, die er darstellt, den leicht muffigen Geist klassenmarxistischer Orthodoxie und keynesianischer Nostalgie.


Interessanter ist der zweite aktuell politische Beitrag des Bandes, denn die Autorin ist auf weit weniger ausgetretenen Pfaden unterwegs. Tove Soiland ist bekannt für ihren kreativen Brückenschlag zwischen Marx(ismus) und Feminismus, und ihr Text über Marx fürs 21. Jahrhundert stellt wesentliche Thesen, vor allem zum neuen weiblichen Care-Proletariat, bündig vor. Auch hier geht es nicht ohne »Klassen«, aber der Wert ihrer Betrachtungen liegt in der Tiefenschärfe, die sie auf zweierlei soziale Ungleichheit richtet: die Einkommensungleichheit der »wertschöpfungsschwachen«, also (zumindest relativ) kapitalunproduktiven Dienstleistungs-, besonders der Care-Arbeiter(innen) im Vergleich zu den traditionellen industriellen Lohnarbeitern; und die fundamentale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, von denen das eine traditionell der unbezahlten, nicht kapitalisierten Reproduktionssphäre zugeordnet ist. Dass Marx, der eben doch wesentlich Arbeits- und Werttheoretiker war, die Haushalts-, Pflege- und Reproduktionstätigkeiten außer Acht gelassen hat, bedeutet für Soiland keineswegs, dass Marx’sche Analyse-Ansätze hier fruchtlos bleiben müssen. Von Rosa Luxemburg und ihrer imperialismustheoretischen Einsicht, dass die kapitalistische Vergesellschaftung auf der Nutzung vor- und nichtkapitalistischer Produktionsweisen beruht, über die Hausfrauenlohn-debatte der 1970er Jahre bis zur heutigen Feministischen Ökonomie und zur virulenten »Landnahme«-Diskussion verläuft eine Spur der auf Marx kritisch sich beziehenden Analyse des Reproduktionssektors. Auch wenn man Soiland bei ihren Darlegungen zur derzeitigen Krisenlage, gekennzeichnet durch »neue Klassenspaltungen« und angeblich sinkende Produktivität, nicht folgen mag – beide Diagnosen sind recht konventionell, die zweite schlicht falsch –, ist doch die Fusion von Marx’schem Denken und Feminismus grundsätzlich durchaus vielversprechend.


Insgesamt betrachtet zeigt der Band, wie breit das Spektrum an Fragen ist, die man immer noch oder erst jetzt und gerade heute produktiv an Marx’ Werk richten kann, und er bietet überaus anregende Lektüren. Vieles Weitere kommt nicht zur Sprache, aber womöglich gehen Inspirationen für vertiefte Marx-Forschungen von den hier versammelten Beiträgen aus; hoffentlich auch für solche, die über den akademischen Tellerrand hinausblicken: Bedauerlicherweise werden die wohl wichtigsten theoretischen Weiterentwicklungen Marx’schen Denkens der vergangenen vier Jahrzehnte, die Wertkritik von Robert Kurz (Kurz 1999, 2000, vgl. dazu Kempter 2016) und die feministisch erweiterte Wertabspaltungskritik von Roswitha Scholz (Scholz 2000), von den Autoren des Bandes, wie von der akademischen Marx-Forschung insgesamt, nicht wahrgenommen, und dies vermutlich nicht allein aus Gründen ihrer Radikalität, sondern vor allem wegen ihrer Verortung außerhalb des Wissenschaftsbetriebs. Kein Ende jedenfalls mit Marx: Da ist noch manches zu entdecken.


 

Literatur


Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. Marx und der machiavellische Moment, Berlin 2012.


Althusser, Louis: Einführung: Vom ›Kapital‹ zur Philosophie von Marx, in: Althusser, Louis/Balibar, Etienne: Das Kapital lesen, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 11-93.


Backhaus, Hans-Georg: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg i.Br. 1997.


Elster, Jon: Making Sense of Marx, Cambridge 1985.


Hudelson, Richard: Marx’s Empiricism, in: Philosophy of the Social Sciences 12 (1982), S. 242-253.


Kempter, Klaus: Robert Kurz, die »Wertkritik« und die radikale Gesellschaftstheorie oder: Ist Karl Marx doch noch relevant für die Geschichte? In: WerkstattGeschichte 72 (2016), S. 65-76 (ungekürzte Fassung verfügar auf wertKRITIK.org)


Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. 1999.


Kurz, Robert: Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000.


Reichelt, Helmut: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Frankfurt a.M. 1973.


Roemer, John: Analytical Foundations of Marxian Economic Theory, Cambridge 1981.


Scholz, Roswitha: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000.


Wright, Eric Olin: Classes, London 1985.