Anselm Jappe
Der Zusammenstoß der Barbareien
Milliardäre mit Bärten gegen Milliardäre ohne Bärte
Zuerst erschienen in: Streifzüge 3/2001, S. 7-10
Die Flüsse fließen stets ins Meer zurück,und die kapitalistische Globalisierung schlägt auf ihr Zentrum zurück, auf das Zentrum ihres Zentrums.Wenn alles globalisiert ist,die Märkte nie schlafen und die westlichen Waren bis in den letzten Winkel der Welt vordringen, wie kann man sich dann wundern, daß auch Krieg und Terror niemanden verschonen? Sicher, an den Attentaten in New York und Washington beeindrucken die Zahl der Opfer, der spektakuläre Charakter und der unbedingte Wille der Attentäter zum größtmöglichen Gemetzel. Aber im Grunde ist den Vereinigten Staaten nur das passiert, was die weitaus meisten Länder in den letzten sechzig Jahren kennengelernt haben,von Guatemala bis Kambodscha, von Serbien bis Vietnam, vom Irak bis Biafra, um vom Zweiten Weltkrieg ganz zu schweigen. So furchtbar 6000 Tote auch sind, beschleicht einen doch das ungute Gefühl, daß Amerikaner, erst recht, wenn sie in Manhattan arbeiten, offenbar gleicher als andere sind. Hunterttausend tote Algerier, zweihunderttausend Tschetschenen, eine halbe Million Sudanesen, eine Million Ruandesen, oder wieviel immer es auch waren, denn niemand hat sie gezählt, haben keine Schweigeminuten verdient und keine Unterbrechung der Fernsehprogramme. Niemand sprach vom „schwersten Kriegsakt seit 1945“ und keine europäische Hausfrau sank im Fernsehsessel zusammen, als die Russen Groszny plattmachten. Kein Deutscher und kein Italiener sagte, dieser Tag habe sein Leben verändert, als die Serben in Tuzla mordeten oder die Kroaten in der Krajna. Kein europäischer Präsident hielt Sonderansprachen im Fernsehen, als der Iran-Irak-Krieg auf seinem Höhepunkt stand. Alle Toten verdienen Respekt, und es sind sicher nicht die Bushs und Putins, die glauben machen können, unschuldige Tote rührten sie zu Tränen. Aber die Erschütterung in aller Welt über die Opfer im World Trade Center erinnert ein wenig an die Sympathiewellen für Lady Diana oder andere Personen aus der Regenbogenpresse, während das untergegangene Immigrantenschiff und das bombardierte Flüchtlingslager niemanden interessieren. Den Europäern gehen die Opfer in New York so nahe, weil sie nun nicht mehr glauben können, daß nur weit hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen. Ein Wirbelsturm bewegt sich, und es ist Unsinn zu glauben, ewig in seinem unbewegten Zentrum leben zu können, glücklich lächelnd inmitten eines globalen Müll- und Trümmerhaufens. 6000 Tote bei einem Anschlag hat es noch nie gegeben, aber bei „normalen“ Bombenangriffen auf Großstädte sehr wohl. Was hier die westliche Öffentlichkeit so empört, ist der besonders dreiste Bruch des staatlichen Gewaltmonopols: Terroristen maßen sich an, das zu tun, was jedem westlichen Staat erlaubt ist.
Soll das heißen: recht geschieht es den Amerikanern, warum sollen sie es besser haben, um so mehr, als sie selbst oft Haupt- oder Mitschuldige an den Kriegen anderswo waren? Nein. Aber es ist unbestreitbar, daß die Opfer nicht einem „religiösen Fanatismus“ zum Opfer gefallen sind, den man wie ein Unkraut aus dem Garten der Welt ausrupfen wird. Sie sind vielmehr von der Logik erschlagen worden, deren Hauptvertreter und -nutznießer das Land ist, in dem sie sich gerade befanden. Es gibt nur eine Kraft, die es an Fanatismus und Vernichtungswut mit dem islamischen Fundamentalismus aufnehmen kann, und das ist der Marktfundamentalismus. Die Islamisten, so sehr sie auch selber an ihr idealisiertes Mittelalter glauben mögen, sind ja keinesfalls mit Pferden und Krummsäbeln wie zur Zeit ihrer großen Eroberungen angerückt. Damals konnte man vielleicht vom „Zusammenstoß der Zivilisationen“ sprechen. Heute ist der Islamismus ein Zweig der inhaltslosen Weltvergesellschaftung über den Wert, die es nötig hat, sich lokal mit verschiedenen Pseudo-Inhalten zu bekleiden. Ein Milliardär mit Bart, der angeblich in einer afghanischen Grotte sitzt, bekämpft Milliardäre ohne Bart, die in Wolkenkratzern sitzen, und bringt erst einmal deren Angestellte um - denn, wie das Sprichwort sagt, wenn sich die Könige raufen, müssen die Bauern Haare lassen. Die händeabhackenden Talibans, die keine Frauen im Krankenhaus dulden, können es mit den Talibans der unsichtbaren Hand aufnehmen, die Gebärende ohne Krankenversicherung drei Stunden nach der Entbindung aus dem Krankenhaus jagen. Die einen lassen zum Tode Verurteilte in Stadien von den Angehörigen der Opfer erschießen, die anderen übertragen die Hinrichtungen im Fernsehen, weil das angeblich den Angehörigen der Opfer guttut. Die einen verbieten die Musikinstrumente aus religiösen Gründen, die anderen lehren im Biologieunterricht an den Schulen die biblische Schöpfungsdoktrin. Insofern haben auch die schönen Seelen Unrecht, die zur Beseitigung der „Ursachen des Terrors“ sofort mehr „Gerechtigkeit für den Süden der Welt“ fordern. Wir haben es hier eher mit einem Kampf zwischen zwei mit religiösem Pathos verbrämten Weltherrschaftsansprüchen zu tun. Bezeichnend ist, daß die Kamikaze offenbar nicht Waisen aus Flüchtlingslagern sind, sondern aus wohlsituierten Verhältnissen stammen. Diese islamische Version der „Generation von Langemark“ ähnelt eher den frisch-fromm-fröhlichen jungen Herren aus guter Familie, die sich 1914 begeistert für die Frontlinie meldeten, auch als sie schon ahnten, daß sie dort massenhaft abgeschlachtet würden.
In der letzten Zeit hat sich immer mehr derjenige Teil von Marx’ Theorie bewahrheitet, in welcher er das Ende des Kapitalismus nicht auf das Einwirken eines äußeren Subjekts, nämlich des Proletariats, zurückführt, sondern auf die Entfaltung der Produktivkräfte selbst. Vielleicht haben wir es hier mit so etwas zu tun. Nicht der Islam als Gegensubjekt hat zugeschlagen, sondern eine entfremdete Gestalt der modernsten Produktivkräfte, beinah eine List der Unvernunft. Alles scheint von den Organisatoren des Attentats benutzt worden zu sein: Computer und Internet, Steuerparadiese und Flugsimulatoren, Satellitentelephone und Börsenspekulation. Mit dem kleinen Unterschied, daß sie, im Unterschied zu den Fans der New economy, die Grenzen der Wirksamkeit dieser Mittel kennen und im entscheidenden Augenblick die lasergesteuerte Bombe durch das Taschenmesser und das Satellitentelephon durch handgeschriebene Zettelchen zu ersetzen wissen.
Hochhäuser zu bauen, in denen 50 000 Menschen zusammengepfercht sind, und Attentate auf diese Hochhäuser zu planen, um so viele Opfer wie möglich zu erzeugen, gehört derselben geistigen Ebene an. Die Vorstellung eines Hochhauses, das unter keinen Umständen einstürzen könne (das behauptete nämlich sein Erbauer in einem alten Interview, das amerikanische Fernsehkanäle ausstrahlten, während die Türme einstürzten) gehört genauso zum Wesen des industriellen Kapitalismus wie die unsinkbare Titanic. Der quantitative Wahn des Stahl und Glas gewordenen Kapitals fordert den quantitativen Wahn derjenigen geradezu heraus, die ihren Erfolg an der schieren Zahl der geschlachteten „Feinde“ messen. Die weltweite Verbreitung idiotischer Videogames und von Katastrophen- und Science-Fiction-Filmen, offenbar einzige Möglichkeit, um die Leere der Warengesellschaft auszufüllen, mußte logisch den Versuch erzeugen, die Simulation in Wirklichkeit umzusetzen. Weit mehr als den Kalifen, die das arabische Großreich geschaffen haben, ähnelt der angeblich Schuldige den verrückten Welteroberern aus billigen Comics, die ja vielleicht statt dem Koran seine Lieblingslektüre darstellen. Ohne die Allgegenwart der Medien wäre die Idee dieses Attentats vielleicht gar nicht entstanden, das offenbar sogar in seinen Verlaufsformen fürs Fernsehen konzipiert worden ist. Einer der Stichwortgeber der kapitalistischen Moderne, Jeremy Bentham, verkündete als Ziel „das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“. Das Endergebnis dieser mechanistischen Vorstellung ist dann der kalt kalkulierte Versuch, das größtmögliche Unglück der größtmöglichen Zahl zu erzeugen.
Bin Ladens Kopf wird vielleicht bald Bush auf einem silbernen Teller präsentiert werden, und das wäre vielleicht noch die beste Lösung. Ob damit die Wertvergesellschaftung aufhört, weitere Monstren zu produzieren, ist mehr als zweifelhaft. Dann könnte leider Italiens Staatspräsident, der alte Carlo Azeglio Ciampi, rechthaben, der in einer Fernsehansprache kurz nach den Attentaten die Bürger nicht „beruhigte“, sondern sich traurig fragte: „Wer weiß, was für schreckliche Gemetzel im Dunkeln noch vorbereitet werden“.
Von Woody Allen, der auf einmal Bush lobt, über Bild bis hin zur Jungle World kennen die mit den amerikanischen Nationalfarben aufgemachten Blockwarte auf einmal keine Parteien mehr, sondern nur noch Westler und Aufgeklärte. Sie alle brüllen: entweder ihr seid für Bush oder für den islamischen Terrorismus, tertium non datur. Wer in dieser Stunde Amerika nicht unterstützt, ist ein Obskurantist, ein Antisemit, ein Anti-Aufklärer.
Spätestens in den achtziger Jahren konnte man sich fragen, was all die westeuropäischen Linken, die von morgens bis abends gegen Imperialismus und Eurozentrismus wetterten, tun würden, wenn es eines Tages wirklich hart auf hart gehen und der bis dahin verteufelte Westen in Not sein würde. Erwartungsgemäß rannten fast alle zu Papa zurück. Aber einige Snobs haben mit dem Antideutschentum eine elegantere Form dafür gewählt als das vulgäre Renegatentum oder das grünes Ministeramt der Krethi und Plethi. All die nachträglichen Besserwisser, die ganz sicher sind, daß sie, wenn es sie 1914 gegeben hätte, auf gar keinen Fall wie die Sozialisten der verschiedenen europäischen Länder damals gehandelt hätten, merken nicht einmal, daß die Umstände heute nur leicht verschoben sind. Und schon damals stellte jedes Land den Krieg als ein Ringen zwischen Barbarei und Kultur dar.
Aber in der Tat haben nicht alle, die Amerika die Heeresfolge verweigern, gute Gründe dafür. Warum ist es jedoch von einem emanzipatorischen Standpunkt aus grotesk, in diesem Krieg Partei zu ergreifen? Nicht aufgrund eines abstrakten Pazifismus, der tatsächlich oft George Orwells Vorwurf des „fashificsm“ verdient. Genausowenig infolge einer ebenso abstrakten Ineinssetzung der beiden Seiten. Sondern aufgrund des Versuchs, das Ganze zu begreifen. Dabei darf man sich nicht von denen irremachen lassen, die jedes Fragen nach Zusammenhängen und Ursachen als Relativierung und Rechtfertigung denunzieren. Von Relativierung sollen überhaupt diejenigen schweigen, die nichts zu den Leiden der irakischen Zivilbevölkerung sagen wollten, weil das Saddam zugute kommen könne, und zu denen der Tschetschenen, weil das den Fundamentalisten dienen könne. Diejenigen, die erst am 11. September die Schlechtigkeit der Welt entdeckt haben, haben zu viel zu vielen anderen Dingen geschwiegen, damit ihre Meinung noch ernstgenommen werden könnte.
Die Wertkritik sieht im islamistischen Terror keine noch so verkürzte Kapitalismuskritik, und genausowenig eine verirrte Form der Revolte der Armen der Welt. Die Attentate waren keine Reaktion auf die Konferenz in Durban, noch haben sie direkt mit der Situation im Nahen Osten zu tun. Überhaupt interpretiert sie die Ereignisse nicht im oberflächlichen Sinne des „Imperialismus“, der nun auf seinen Urheber zurückfalle, obwohl dieser Aspekt natürlich nicht ganz abwesend ist. Sie sieht darin vielmehr einen Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie der globalisierten Wertvergesellschaftung. Die Alternative „entweder für Bush oder für Bin Laden“ bedeutet: entweder für das Kapital, oder für das Kapital. Die transnationale islamistische Mafia ist ein Zweig des internationalen Kapitals, der sich zum „eigentlichen“ Kapitalismus verhält wie Banditen zur regulären Armee. Von unterschiedlichen Zivilisationen kann hier überhaupt nicht die Rede sein. Die Islamisten haben überhaupt nichts gegen den Kapitalismus, wie man überall dort sieht, wo sie an der Macht sind. Sie möchten bloß daran teilhaben, und das können sie nur auf krummen Wegen, da die offiziellen längst geschlossen sind. Zu ihren Bevölkerungen sind sie genauso unterdrückerisch wie jedes von der CIA eingesetzte Marionettenregime – deshalb ist es absurd, den Angriff dieser Mafia irgendwie in Verbindung zu bringen mit dem Elend der Welt, der Frustration der islamischen „Massen“ usw. Diese Massen, und natürlich erst recht die Frauen, würden ihre Peiniger liebend gerne loswerden – was nicht heißt, daß sie deswegen unbedingt Michael Jackson und Pornohefte wollen. Laut dem französischen Integralismus-Experten Gilles Kepel haben die Integralisten anfängliche Experimente mit zinslosen Banken und Investitionsfonds, bei denen die Rentabilität der Vereinbarkeit mit religiösen Prinzipien untergeordnet war – also einer bereits demagogisch verkürzten Kapitalismuskritik – schnell aufgegeben. Gerade Bin Laden drücke eine völlig „marktwirtschaftliche“ Orientierung der Integralisten aus und ziehe dementsprechend vor allem den Mittelstand an (Il Manifesto, 2. 10. 2001).
Vielleicht könnte man diesen Konflikt, seiner ideologischen Hüllen entkleidet, auf brutal vulgärmarxistische Weise als einen Konflikt zwischen dem größten Heroinkonsumenten der Welt und dem größten Heroinproduzenten darstellen. Laut Statistiken finden 80% des weltweiten Mohnanbaus in Afghanistan statt und macht der weltweite Drogenhandel rund 60 Milliarden Dollar aus. Insofern ist Afghanistan gar kein armes Land. Nach anderen Informationen ist der Drogenhandel eine der Hauptaktivitäten verschiedener Geheimdienste wie der CIA. Vielleicht erklärt das besser als Koransuren das Verhalten der Taliban und Bin Ladens, aber auch das von pakistanischen und amerikanischen Geheimdiensten. Ein Journalist von La Repubblica, der mehrfach die Chefs der Taliban traf, beschrieb sie als ölige Teppichhändler, die im schwarzen Mercedes anfahren; tatsächlich haben sie, im Fernsehen betrachtet, wenig Ähnlichkeit mit der finster-dämonischen Aura eines Khomeiny.
Die allgemeine Konstellation ist bereits aus Algerien bekannt, aber die weltweite Ignorierung dieses besonders grausigen Krieges rächt sich durch die Verwandlung der Welt in ein großes Algerien. Eine herrschende Klasse, die nichts mehr anzubieten hat, hält sich an der Macht, indem sie Guy Debords Bemerkung realisiert, die Regierungen wollten nunmehr nur noch an ihren Gegnern gemessen werden, nicht mehr an ihren Erfolgen. Und je geringer die Erfolge der algerischen Regierungen waren, umso schlimmer mußte der Gegner werden, bis hin zum allerwillkürlichsten Massaker. Ob sich dabei Regierungssoldaten Bärte umbanden und direkt mordeten oder man nur die Marodeure, die man immer findet, gewähren ließ, ist im Grunde so unerheblich wie die Frage nach dem genauen Grad der interessierten Ineffizienz der westlichen Geheimdienste vor dem Manhattan-Attentat (wahrhaftig ein anderes „Projekt Manhattan“), die nicht einmal auf die Idee kamen, Bin Laden die Bankkonten zu sperren, die sie doch offenbar bereits kannten. Objektiv haben sich in Algerien die Untaten der auf dem Petroleum sitzenden Militärmafia und der Banden, die ihre Mitglieder weniger mit religiöser Propaganda als mit der Lizenz zum Plündern und Vergewaltigen anwarben, gegenseitig hochgeschaukelt. Nichts war dort verrückter, als sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, den mafiösen Staat oder die zum Staat werdende Mafia, oder ihre „Versöhnung“ und die „Machtteilung“ als eine positive Lösung zu verkaufen. Das heißt nicht, die Mafia und der Staat seien „das gleiche“ und man solle sich für ihren Konflikt nicht interessieren. Aber man kann unmöglich vergessen, wie vorgetäuscht fast stets der Kampf des Staates gegen die Mafia ist und wie sehr sie in Wirklichkeit zusammenarbeiten: in Italien wie in Kolumbien, in Rußland wie in Pakistan.
Der scheinbar vernünftigste Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit tritt für „Toleranz“ ein und will dem Islam sein Recht zukommen lassen. Aber dieser „Respekt für andere Kulturen“, so wie sie sind, läuft nur auf eine Machtteilung heraus (so wie es für Algerien das international gelobte Sant-Egidio-Abkommen von 1995 vorsah), also auf das Recht einheimischer Eliten und Volksverdummer, mit ihrem Menschenmaterial zu machen, was sie wollen. Es wird manchmal vorgeschlagen, auf den Export von McDonalds und leichtbekleideten Fernsehsoubretten in islamische Länder zu verzichten, um deren „Sensibilität nicht zu verletzen“. Aber wenn McDonalds und Fernsehberieselung schlecht sind, sind sie überall schlecht. Der nächste Schritt bei dieser Art von Toleranz ist es dann, den Export von Platon oder Marx oder Fanon in diese Länder zu unterbinden, um ihre „Sensibilität“ nicht zu verletzen.
Es ist nicht ganz überflüssig zu erwähnen, daß nicht nur die USA Bin Laden und die Taliban hochgepäppelt haben, sondern vielleicht auch die algerischen und französischen Geheimdienste etwas mit den algerischen Massakern zu tun haben, der Mossad mit der Gründung von Hamas usw. Die Integralisten sind wie durch Zauberhand überall dort erschienen, wo es wirkliche Protestbewegungen gegeben hatte, so etwa nach den Revolten in Algerien 1988 gegen die Auflagen des Internationalen Währungsfonds. Oder dort, wo es resolute Kämpfe kleiner Gruppen gab, die ursprünglich nichts mit dem Islam zu tun hatten, wie in Tschetschenien. Die Parallelen zum Auftreten des Stalinismus in der Arbeiterbewegung sind nicht ganz zufällig. Wer noch kein Islamist ist, wird schon dazu gemacht werden. Denn die „andere Seite“ argumentiert genau wie Bush: wer nicht für uns ist, ist gegen uns; und der gegenwärtige Krieg, von dem beide Seiten versprechen, daß er viele Jahre dauern wird, ist ihre große Chance.
Der islamische Integralismus hat viel mit Geheimdiensten und wenig mit Fanatismus zu tun. Der heuristische Wert einer Kategorie wie „Fanatismus“ ist eher gering anzuschlagen, wie schon Dostojewski in seiner Parabel vom Großinquisitor erkannte. „Ehrliche“ Fanatiker mögen die Fußtruppen sein und vielleicht mancher Chef einer kleinen Sekte. Aber zur Leitung großer Organisationen und ganzer Staaten gelangt nur, wer sich solche Flausen aus dem Kopf schlägt und kalt zu kalkulieren weiß. Es ist eher unwahrscheinlich, daß Antisemitismus wirklich der letzte Beweggrund aller Nazis war (Vernichtungswille allerdings, aber das ist eine sozialpsychologische, keine ideologische Kategorie), daß ein falschverstandener Wunsch, eine Arbeiterutopie zu verwirklichen, die Stalinisten animierte, und daß das Streben nach einem Gottesreich die Islamisten motiviert. Nur die Anti-Ideologen des Markts glauben vielleicht wirklich an ihre Ideologie. Anekdoten belegen das genug: Goebbels, der sagte: „Wer Jude ist, bestimmen wir“; Stalin, der sich Western vorführen ließ, während sich Beria rühmte, er sei in der Lage, Marx zum Geständnis zu zwingen, ein Agent Bismarks zu sein; christlich-fundamentalistische Prediger, die mit Pornoheften erwischt werden. Und so wie die integralistischen Tschetschenen-Chefs offenbar Geschäftsverbindungen zu russischen Oligarchen des Jelzin-Clans hatten, so würde sich vermutlich auch Bin Laden kein Problem daraus machen, mit dem Mossad oder jüdischen Geschäftsleuten Verbindungen einzugehen, um islamische Rivalen auszustechen. Khomeiny nahm gern Waffen von Israel an während des Kriegs gegen den islamischen Irak (Contras-Affäre). In Amerika angeklagte islamische Fundamentalisten lassen sich bevorzugt von einem jüdischen Anwalt verteidigen, den sie dafür begeistert in ihre Moscheen einladen (Sette – Corriere della Sera 40/2001). Wer glaubt, daß alles, was die Islamisten tun, sich immer nur zwanghaft auf die Juden beziehe, übersieht auch, daß Bin Laden bei seiner Botschaft vom 7. 10. 2001 zum ersten Mal zur „Befreiung“ Palästinas aufrief. Vorher ging es ihm hauptsächlich um die Vertreibung der Amerikaner aus Saudi-Arabien. – Kurzum, wer in der Warengesellschaft an das glaubt, was er sagt, aus dem wird nicht viel.
Die „Steinzeittheologen“ (Jungle World) sind sowieso, wenn das ihren Interessen dient, so flexibel wie die Kirche bei der Zinsfrage. Das Bilderverbot des Islam hat die Integralisten nicht daran gehindert, aus dem Video eines ihrer Hauptpropagandamittel zu machen. Deshalb ist es überflüssig, den Fundamentalisten die Warenkultur bringen zu wollen, wie es Berlusconi und die Antideutschen vorschlagen. Fanta ist besser als Fatwa? Als ob sich das ausschlösse! Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Ein hübsches Photo in Sette-Corriere della Sera 40/2001 zeigt im Teheraner Museum für moderne Kunst eine von Kopf bis Fuß verschleierte Frau, die eine Ausstellung des Pop-Art-Stars Roy Lichtenstein betrachtet.
Auf eine andere Weise aber trägt der religiöse Aspekt tatsächlich zur heutigen Rolle des Islamismus auf der Globalisierungsbühne bei. Es wird oft behauptet, Japan hätte deshalb als einziges außereuropäisches Land den Anschluß an den klassischen Kapitalismus geschafft, weil es bereits vor seinem Kontakt mit dem Westen eine diesem recht ähnliche Sozialstruktur und vor allem Mentalität hatte. Heute kann man beobachten, daß der Islam, vor allem in seinen Randströmungen, besonders geeignet ist für die Phase des mafiösen Zerfalls des Kapitalismus in Banden. Der Islam sieht eine unbedingte Ergebenheit in den Willen Gottes vor, ohne irgendeine Möglichkeit des Dialogs. Das ist die erste Pflicht jedes Gläubigen. Aber es gibt im Islam keinen Papst, keine Bischofskonferenz, keine allgemein anerkannte Struktur, die mit verbindlicher Autorität Gottes Willen interpretieren kann. Deshalb ist der Islam in seiner ganzen Geschichte eine Prophetenreligion geblieben: es treten dauernd Leute auf, die beginnen, zu predigen und eine Sekte oder Schule zu gründen. Wenn sie Erfolg haben, belegt das in den Augen der Anhänger, daß sie tatsächlich Gottes Wort verkünden (ein „demokratisches“ Element!); die Verurteilungen durch offizielle Theologen können die Lawine dann nicht mehr aufhalten. Daraus ergibt sich ein sehr enges Verhältnis zwischen den Sektenführern und den größeren oder kleineren Gefolgschaften, die ersteren unbedingten Gehorsam schulden – die ideale Voraussetzung zur Bandenbildung. Es ist schon deshalb wohl etwas Wahres an den Verweisen auf „islamische Mafias“ in den verschiedensten Ländern.
Wer persönlich betroffen ist, hat sicher das Recht, seinen unmittelbaren Vorteil zu wählen. Es ist immer noch besser, von der Regierungsmafia ausgebeutet als von der islamistischen Mafia abgestochen zu werden. Und in Bushs Amerika mag es immer noch mehr Raum für innere Dialektik geben als in Pinochets Chile oder im Sudan. Aber wer das Glück hat, in noch nicht direkt von der Weltunordnung allzusehr betroffenen Gebieten zu leben, also nicht in Algerien oder Manhattan oder Afghanistan, hat auch die Pflicht, seinen Verstand zu bewahren, statt begeistert in die wohlige emotive Gemeinschaft der Hysteriker zu verfallen. Ein JungleWorld-Autor fragt Kurz hämisch (40/2001), wie das Programm einer emanzipativen Kritik denn den Bewohnern New Yorks helfen könne, ihr gewohntes Leben fortzusetzen. Unmittelbar sicher gar nicht. Unmittelbar können wohl, wenn überhaupt, nur immer mehr Polizisten dazu beitragen. Aber Kritik würde ihre Rolle verraten, wenn sie sich auf dieses Niveau begäbe. Ihre Aufgabe ist es, die ewige Erpressung mit dem kleineren Übel abzulehnen und zu denunzieren, statt auf einmal für all das zu sein, was sie bis gestern immer abgelehnt hatte. Das Programm einer „emanzipativen Anti-Moderne“ liegt völlig quer zu der um sich greifenden neuen „Zwei-Lager-Theorie“. Diese wird sowohl von denen vertreten, die, wie eine Wirrköpfin in Jungle World 40/2001, Massaker für „antimodern“ halten, als auch von denen, die ihre höchst modernen Maschinengewehre und Videokassetten zur angeblichen Wiederherstellung von dem benutzen, was sowieso nie existiert hat. „Entweder für Bush oder für Bin Laden“ bedeutet auch: „entweder für die Moderne oder für die Moderne“.
Aber wie auf den Sturm der Regenbogen folgt, ist in Algerien schließlich eine Bewegung erschienen (die sogenannte Berberbewegung), die sich nicht mehr in die falsche Alternative pressen läßt. Und das ist auf größerer Ebene genau das, was die Prediger des „entweder mit Amerika oder mit Bin Laden“ und des „entweder mit den Taliban oder mit den Ungläubigen“ verhindern wollen. Tertium datur.
Nachtrag
Die Zivilisation ist gerettet: in Afghanistan gibt es wieder Fernsehübertragungen. Das Wichtigste ist erreicht, der Rest wird sich daraus schon von selbst ergeben. Um die westliche Öffentlichkeit zufriedenzustellen, werden dort auch ein paar Frauen auftreten. Ansonsten wird, sobald Bin Laden irgendwie zur Strecke gebracht ist, der Vorhang zugehen und das Land erneut in Bürgerkrieg versinken. Besser gehen wird es niemandem dort. Und auch weltweit steht es dann um die Sache der Emanzipation nicht besser. Die USA haben bewiesen, daß es mit allen, die sich mit ihnen anlegen, schnell ein böses Ende nimmt. In der neuen Weltordnung reicht ihr Arm überall hin. Das hatte schon Milosevićs Verhaftung gezeigt. Es ist kein Zufall, daß in den Tagen des amerikanischen Triumphs in Afghanistan die Konferenz der Welthandelsorganisation in Quatar die „Schande von Seattle“ wettgemacht hat, indem erneut die vor allem von den USA geforderte „rückhaltlose“ Liberalisierung des Welthandels beschlossen wurde. Mögen die USA auch nicht das Weltkapital „sein“, so haben sie sich doch selber die Rolle des Gendarmen und Schrittmachers zugedacht. Hätte sich die amerikanische Supermacht als schwach und verwundbar erwiesen, hätte das überall antikapitalistischen Initiativen Mut gemacht. Der neue amerikanische Sieg stellt hingegen eine Einschüchterung für jeden Versuch dar, die herrschende Weltordnung irgendwo und irgendwie zu stören. Mit denselben Methoden wie gegen Al-Quaida, oder mit anderen, werden die USA allen Versuchen begegnen, die Marktwirtschaft an ihrem Funktionieren zu hindern. Wer mit Bin Laden fertig geworden ist, wird sich nicht mehr von französischen Bauern, No-Global-Demonstranten und indischen Ökologisten ins Handwerk pfuschen lassen.
Die USA üben jetzt genau die Rolle des „Gendarmen der Reaktion“ aus, die laut Marx Rußland nach 1848 ausübte und die ihn zu einer regelrechten „Russenphobie“ veranlaßte, der zufolge jede Schwächung Rußlands ein Gewinn für die revolutionären Bewegungen sei. Die USA meinen es jetzt ernst: mit einem Dekret setzte Bush die seit 1942 nicht mehr angewandte Militärjustiz wieder ein (Le Monde, 17.11.2001). Das heißt, der amerikanische Präsident kann, in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Armee, Ad-Hoc-Tribunale ernennen, die unter Benutzung des Kriegsrechts und ohne Einhaltung der amerikanischen Verfassungsgarantien Nicht-Amerikaner aburteilen können, ohne dabei Beweise vorlegen zu müssen, die „Informanten“ gefährden könnten. Anders gesagt, der US-Präsident hat sich selber das Recht erteilt, jede Person auf der Welt im Schnellverfahren zum Tode zu verurteilen und das Urteil vollstrecken zu lassen. Der globalisierte Kapitalismus ist zum globalen Standgericht übergegangen.