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Anselm Jappe

 

Schluss mit Putins Gas?


 

Die ersten Analysen zum Krieg in der Ukraine, die im wertkritischen Umfeld umlaufen, stellen ihn in den Zusammenhang des allgemeinen Kollapses der weltweiten Warengesellschaft. Sie haben natürlich Recht, aber sie laufen Gefahr, allzu allgemein zu bleiben, und vor allem vermögen sie keine praktische Aktion anzugeben, die man sofort in Gang setzen könnte. Es ist die Rede von der Notwendigkeit einer transnationalen emanzipatorischen Bewegung, die alle Kriegsteilnehmer und deren Ideologien ablehnt. Wer würde schon dagegen sein? Aber schwerlich kann eine solche Bewegung schnell genug entstehen, um auf die laufenden Ereignisse Einfluss zu gewinnen. In der Hinsicht wäre es das beste, den wahrhaft heroischen Russinnen und Russen zu helfen (aber wie?), die zu Tausenden, trotz aller Gefahren, auf den Straßen demonstrieren oder sogar in die Fernsehstudios eindringen.

 

Es wäre auch manchmal nützlich, an Worte wie „Machnovščina“ oder „Holodomor“ zu erinnern, die seit Kriegsbeginn nie in den Mainstreammedien erwähnt werden, obwohl sie dazu beitragen könnten, zu verstehen, dass die Ukrainer nicht alle notwendigerweise eingefleischte Faschisten sind, wie manche Putinfreunde es behaupten, und vor allem erklären, warum die Ukrainer ein klein wenig misstrauisch gegenüber ihren russischen „Vettern“ sind.

 

Einige Beiträge halten es für nötig, die Pro-Putin-Haltung zu verurteilen, die manche im Namen des „Imperialismus“ annehmen. Die Ablehnung einer solchen Haltung sollte selbstverständlich sein, und man kann sich nur darüber wundern, dass es – so scheint es – solche ideologischen Delirien immer noch in anderer Form denn als reinen Restbestand gibt.

Eine No-Fly-Zone einrichten, den Ukrainern Waffen liefern, direkt auf dem Schlachtfeld eingreifen? Man hätte oft Lust, so etwas zu unterstützen, und sei es auch nur, um zu verhindern, dass die Ukraine wie Tschetschenien oder Syrien endet. Aber solche Maßnahmen zu verlangen, oder zu billigen, würde für die Sozialkritik bedeuten zuzugeben, dass der Wahnsinn eines Staates nur von einem anderen Staat gestoppt werden kann und dass man auf den Krieg nur mit Krieg antworten kann. Das kann manchmal wahr sein: seit 1938 ist ein grundsätzlicher, bedingungsloser Pazifismus nicht mehr haltbar. Versuchen wir, trotz allem, ein tertium datur zwischen „Münchner Abkommen“ und „Kriegstreibern“ zu finden.

Das könnte in der Forderung nach einer sofortigen, vollständigen und definitiven Einstellung des Kaufs von russischem Petroleum und Erdgas, aber auch aller anderen Rohstoffe, bestehen, und überhaupt nach dem Ende aller Handelsbeziehungen, alles Export und Import mit Russland. Man muss die Pipelines (North Stream) abbauen, um zu zeigen, dass keine Umkehr mehr möglich ist. Eine solche Sanktion – die vielleicht die einzige ist, die Putin dem Westen nicht zutraut – könnte ihn wirklich zu einem Rückzug zwingen.

 

Sicher, das könnte den westlichen Ökonomien teuer zu stehen kommen, den „Unternehmen“, den „Verbrauchern“, den „Arbeitsplätzen“ und der „Kaufkraft“. Der Westen zieht es deshalb vor, anderen Leuten Waffen in die Hände zu drücken und sie in den Tod zu schicken - „armiamoci e partite” sagt man auf Italienisch, „bewaffnen wir uns und geht los“ - anstatt einen dickeren Pullover im Haus anzuziehen oder den Bus statt dem Auto zu benutzen.

 

Aber gerade aus diesem Grunde sollten die kritischen Geister ihre Vorschläge auf „Schluss mit Putins Gas“ konzentrieren. Nicht nur ist das vielleicht die einzig wirksame „Waffe“ um die Waffen zum Schweigen zu bringen, sondern ein solcher Verzicht könnte die so dringend nötige „Décroissance“ und Deindustrialisierung in die Wege leiten. Die wirtschaftlichen und politischen Mächte möchten sich einige Jahrzehnte Zeit lassen, um ihre „Energiewende“ mit Übergang vom Erdöl zu „erneuerbaren“ Energien (darunter die Atomkraft!) zu organisieren, damit der Kapitalismus weiter besteht. Ein sofortiger Einfuhrstopp für russisches Erdöl und -gas, auch ohne dass Alternativen bestehen, könnte den ganzen Industriekapitalismus in eine schwere Krise stürzen und zur Einführung von Formen der „freiwilligen Einfachheit“ führen. Zu den als unabdingbar geltenden russischen Produkten zählen auch chemische Düngemittel (Russland ist weltweit der größte Exporteur von Stickstoffdünger und der zweitgrößte von Kalium- und Phospordüngern). So könnte man mit einer Klappe zwei Fliegen schlagen…

Natürlich müsste eine solche Umstellung, um nicht einseitig die bereits Armen zu treffen, mit drastischen Umverteilungsmaßnahmen einhergehen: hohe Steuern auf große Unternehmen, großen Reichtum, hohe Gehälter und Renten. Das wäre noch keine Überwindung der Warengesellschaft, aber wäre doch schon ein Schritt in die richtige Richtung.

Es genügt, die Wut zu sehen, die der Vorschlag eines Gas-Stopps unter den Politikern der Linken (Mélenchon in Frankreich), der Mitte und der Rechten hervorruft (Marine Le Pen erklärt, die Sanktionen dürften nicht die Kaufkraft der Franzosen verringern! Selbst die extreme Rechte will nicht mehr in den Krieg ziehen, wenn das zu teuer wird…), oder dass Unternehmen wie Total ihn ablehnen, dass der deutsche Finanzminister wie immer die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung verwirft – um zu verstehen, wie sehr dieser Weg es verdient, ausprobiert zu werden. Nicht als „notwendiges Opfer“, sondern als Gelegenheit, endlich etwas anzugehen, was man schon viel früher hätte tun sollen: die „Droge Energie“ absetzen. Dieser Vorschlag kombiniert die pazifistischen, ökologischen und sozialen Kämpfe. Es wird nicht einfach sein, ihn durchzusetzen – aber er könnte auf eine gewisse Zustimmung stoßen. Im günstigsten Falle werden diese „Energiesparmaßnahmen“ auch nach dem Ende des Krieges einen „Tugendzirkel“ in Richtung Ausstieg aus dem Industriekapitalismus in Gang setzen.