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Anselm Jappe


Jenseits von Faulheit und Arbeit

 


Zuerst erschienen im Juli 2023 in französischer Sprache in: Philosophie Magazine, no. 58

 



In dem kurzen Märchen Die zwölf faulen Knechte der Gebrüder Grimm, das 1857 veröffentlicht wurde, dessen Ursprünge aber bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen, wetteifern zwölf Bauernknechte in der Beschreibung ihrer bis ins Groteske gesteigerten Faulheit: Sie legen sich zum Schlafen hin und ziehen die Beine nicht zurück, wenn ein Wagen über sie hinwegfährt, oder sie strecken trotz Hunger die Hand nicht aus, um nach dem Brot zu greifen. Und vor allem: Sie führen die ihnen erteilten Befehle nicht aus. In seiner übertriebenen Form zeugt dieses surreale Märchen – das übrigens nicht das einzige seiner Art in der Sammlung der Grimms ist – vom Widerstand des Volkes gegen die von den Herren aufgezwungene Arbeit.


Die Begriffe Faulheit und Arbeit ergeben nämlich nur dann einen Sinn, wenn man sie aufeinander bezieht. In vormodernen Verhältnissen und selbst in modernen Gesellschaften gibt es in der Regel Lebensrhythmen, in denen sich Momente intensiver Aktivität, die manchmal als angenehme Herausforderung oder Erregung empfunden werden, mit langen Intervallen abwechseln, in denen die Menschen nur wenig Energie verbrauchen, bis hin zur Bewegungslosigkeit. Diese Lebensweise stellt sich unter günstigen Bedingungen leicht wieder her, ganz so als ob sie der „Natur“ des Menschen entspräche. Sie wurde jedoch von den Trägern einer Produktionsweise, die auf regelmäßiger Arbeit beruht – was lange Zeit in der Geschichte nur das Los von Sklaven war –, als „Faulheit“ diffamiert. Seit dem Ende des Mittelalters hat die Arbeit gesellschaftlich enorm zugenommen: in der Quantität, mit Spitzenwerten im 19. Jahrhundert, aber auch in der Dichte bis heute, während der erkennbare Sinn aufgrund der immer stärkeren industriellen Arbeitsteilung abnahm. Das Fließband war die extremste Form davon. Einzelpersonen, soziale Gruppen und Kulturen, die nicht ihr ganzes Leben der Arbeit unterordneten, wurden als „faul“, „Schmarotzer“, „nutzlos“ und anfällig für Laster und Verbrechen aller Art stigmatisiert. Von „Umerziehung“ und Zwangsarbeit bis hin zur physischen Vernichtung, wie im Fall der Roma, war alles erlaubt. Dies ging einher mit einer Verherrlichung der Arbeit in Wissenschaft, Kunst, Ideologie und Mentalität im 19. und 20. Jahrhundert. Die Verehrung der Arbeit war damals fast einhellig, auch unter den Arbeitern selbst und ihren politischen Ausdrucksformen – der „Arbeiterbewegung“ –, die den „Bourgeois“ vor allem vorwarf, nicht zu arbeiten.


Die allgemeine Durchsetzung der Arbeit und der geringe Widerstand, auf den sie selbst bei ihren Opfern stieß, erzeugte als Gegenreaktion in kleineren Kreisen ein „Lob der Faulheit“, dessen bekanntester, aber nicht einziger Ausdruck die Streitschrift von Paul Lafargue (Das Recht auf Faulheit, 1883) ist. Sie ist auch heute noch erfrischend zu lesen und stellt eine nützliche Provokation dar, vor allem innerhalb des Marxismus. Allerdings wird seine theoretische Bedeutung oft etwas überschätzt. Seine Grenzen liegen jedoch nicht in der unterstellten Tatsache, dass man „ja arbeiten muss“ und dass eine Gesellschaft nicht auf Faulheit beruhen kann. Das Problem ist vielmehr, dass dieser Ansatz als Alternativen zur kapitalistischen Arbeit nur die Nichtaktivität und die absolute Ruhe kennt. Das führt logischerweise – wenn man nicht bereit ist, wie Diogenes in seinem Fass zu leben – zu der Vorstellung, dass Maschinen für uns arbeiten sollen: Die Automatisierung der Arbeit würde es uns ermöglichen, eine Fülle von Gegenständen und Dienstleistungen zu genießen, ohne dass wir uns anstrengen müssen, sie zu produzieren. Diese Hoffnung verbreitete sich im Zuge der fordistischen Nachkriegsprosperität unter dem Namen „Freizeitgesellschaft“, die in einer Verkürzung der nominalen Arbeitszeit bestand, mit dem „utopischen“ Horizont, eines Tages fast vollständig ohne Arbeit auskommen zu können. In den letzten Jahrzehnten haben die Fortschritte in der Computer- und Robotertechnik in manchen Kreisen die Zuversicht weiter wachsen lassen, dass die Technologien, wenn sie nur „demokratisch“ und nicht nur im Namen des kapitalistischen Profits eingesetzt werden, die Arbeitszeit auf ein Minimum reduzieren könnten. Das klingt sehr seltsam in einer Zeit, in der der Zugriff der Arbeit auf das Leben in Wahrheit stärker ist als je zuvor. In einem Regime der ständigen Unsicherheit und der obligatorischen Flexibilität steht das gesamte Leben unter dem Einfluss der Arbeit – wenn man Arbeit hat, wenn man sie sucht oder wenn man sich in einer „Ausbildung“ befindet –, während man in der noch gar nicht so fernen Vergangenheit die Arbeit vergessen konnte, sobald man die Fabrik oder das Büro verlassen hatte.


Diese Hoffnung, kapitalistischen Konsum ohne kapitalistische Arbeit haben zu können, weil Roboter unsere Arbeiter und Hausangestellten sein werden, ist jedoch ziemlich überholt, da die Technologien, selbst in ihren immateriellen Formen wie Algorithmen, immer mehr eine Bedrohung darstellen und uns nahegelegt wird, sogar unsere geistigen Tätigkeiten oder unsere biologische Reproduktion den Technologien anzuvertrauen. Eine vollständig automatisierte Welt scheint ein etwas zu hoher Preis für die Flucht vor der Arbeit zu sein.


Aber verläuft die Teilung eigentlich zwischen „Faulheit“ und „Arbeit“? Oder eher zwischen sinnvoller und sinnloser Tätigkeit? Selbst anstrengende Tätigkeiten können recht angenehm sein, wenn sie frei gewählt werden und ihren Zweck in sich selbst haben: Wer gerne einen Gemüsegarten anlegt, möchte seine Tomaten nicht mit einem Computerklick erhalten. Wer schreibt oder malt, möchte nicht, dass das bereits fertige Ergebnis auf magische Weise auftaucht. Erst der ständige Zwang, für den Lebensunterhalt zu arbeiten, weckt den gegenteiligen Wunsch, nichts zu tun und im Schlaraffenland zu leben.


Faulheit sollte nicht als einzige Alternative zur Arbeit gesehen werden. Wie Alastair Hemmens schön darlegt in seinem Buch The Critique of Work in Modern French Thought: From Charles Fourier to Guy Debord, hat die Arbeitskritik der letzten zwei Jahrhunderte, die bereits sehr minoritär war und sich oft auf Künstlerkreise und „Bohemiens“ beschränkte (mit Guy Debords Ne travaillez jamais als Höhepunkt), nicht wirklich berücksichtigt, was Marx als „Doppelnatur der Arbeit“ bezeichnete: abstrakt und konkret. In der kapitalistischen Gesellschaft hat jede Arbeit eine konkrete Seite, die sie von anderen Arbeiten unterscheidet und die irgendein Bedürfnis befriedigt. Gleichzeitig sind alle Arbeiten durch ihre „abstrakte“ Seite gleich, insofern nur die Arbeitszeit zählt – es ist diese rein quantitative Dimension, die den „Wert“ der Waren schafft, der schließlich in einem Geldpreis sichtbar wird. Es ist dieselbe Arbeit, die diese beiden Seiten hat, aber in der kapitalistischen Produktion hat die abstrakte Dimension die Oberhand. Und diese Dimension ist gleichgültig gegenüber den Inhalten und zielt nur auf ihr quantitatives Wachstum ab. Es geht also weder um den Nutzen oder die Qualität des Produkts, noch um die Zufriedenheit des Produzenten. Diese Faktoren sind nur sekundäre Aspekte im Hinblick auf den einzigen Zweck der Arbeit: aus 100 investierten Euro 110, dann 120 usw. zu machen.


Die unangenehmsten Aspekte der Arbeit, wie Ausbeutung, hohes Arbeitstempo, ungesunde Arbeitsbedingungen, extreme Spezialisierung und generell der Sinnverlust – man arbeitet nur für Lohn oder Einkommen, nicht für ein sichtbares Ergebnis, wie es der Bauer oder Handwerker tat – sind die Konsequenz dieser Rolle der Arbeit in der modernen Gesellschaft: Sie dient nur dazu, Wert und damit Geld zu schaffen, mit welchen Mitteln auch immer. Das ist der Grund, warum die allermeisten Arbeiten keine Befriedigung verschaffen und eher von Faulheit träumen lassen. Man könnte einwenden, dass es auch Arbeiten gibt, die nicht angenehm sind, die aber trotzdem jemand verrichten muss – aber die überwiegende Mehrheit der zeitgenössischen Arbeiten ist nicht objektiv notwendig und die Menschheit würde nichts verlieren, wenn man sie abschafft.


Gleichzeitig verhindert die Arbeitsgesellschaft häufig Aktivitäten, sobald diese nicht „rentabel“ sind, und verurteilt dann Menschen zu ungewollter Untätigkeit – „Faulheit“ –, z.B. indem sie Bauern von ihrem Land vertreibt, von dem sie nicht mehr leben können, oder indem sie Menschen, die aktiv werden – „arbeiten“ – wollen, den Zugang zu Ressourcen oder Wohnraum verwehrt, weil diese „Privateigentum“ sind. Auf der Ebene der Weltwirtschaft ist die Schaffung immer größerer Massen von „Überflüssigen“ zu beobachten – also Menschen, die oft zu unfreiwilliger Faulheit verurteilt sind.


Hinzu kommt, dass selbst die schädlichsten Tätigkeiten, wie die Herstellung oder der Verkauf von Waffen oder Pestiziden, als „Arbeit“ gelten und den entsprechenden sozialen Status verleihen, während viele der häuslichen Tätigkeiten, die in der Regel von Frauen ausgeführt werden, wie die Betreuung von Kindern oder älteren Menschen, nicht als „Arbeit“ gelten – ebenso wenig wie die Kultivierung des eigenen Gartens oder Heimwerkertätigkeiten, egal wie nützlich sie sind.


Es sei daran erinnert, dass die Kategorie Arbeit selbst eine moderne Erfindung ist: In früheren Gesellschaften bildeten produktive Tätigkeiten, häusliche Reproduktion, Spiele, Rituale und das soziale Leben eher ein Kontinuum. Den Tätigkeiten, die wir als „Arbeit“ bezeichnen, eine besondere „Würde“ beizumessen, ist eine Erfindung der kapitalistischen Bourgeoisie, insbesondere ab dem 18. Jahrhundert. Das Wort „Arbeit“ bedeutet in seiner Wurzel nicht die nützliche Tätigkeit, sondern stammt vom niederlateinischen tripalium, das auf ein Folterinstrument (mit drei Pfählen) zur Bestrafung von Sklaven hinweist, die eben nicht „arbeiten“ wollten, während labor im Lateinischen auf das Gewicht, unter dem man taumelt, und damit auf die körperliche Mühsal verweist, so wie das deutsche Arbeit auf Schmerz und Müdigkeit. In fast allen Kulturen wurde Arbeit als Leid angesehen, das auf das strikt Notwendige zur Befriedigung von Bedürfnissen und Wünschen beschränkt werden musste; erst in der kapitalistischen Moderne wurde Arbeit zur tragenden Säule des wirtschaftlichen und sozialen Lebens erhoben, wo die Menge an Arbeit (der eigenen oder der anderer, die man sich aneignen konnte) über die soziale Rolle des Einzelnen entscheidet. Dies ging mit einer massiven moralischen Aufwertung der Arbeit und der Anstrengung im Allgemeinen einher, die überhaupt nicht die Frage nach den Zwecken dieser Arbeit stellt.


Eine von Arbeit befreite Gesellschaft wäre also nicht zwangsläufig dem Nichtstun verschrieben, sondern eine Gesellschaft, in der zuerst definiert wird, was wirklich für ein „gutes Leben“ gebraucht wird, und dann die dafür unerlässlichen Tätigkeiten verteilt werden. Man kann sicher sein, dass die Menge an „Arbeit“, die dann noch benötigt wird, im Vergleich zu heute sehr, sehr gering sein wird. Das wäre nur dort ein Problem, wo Arbeiten – egal wofür – die Voraussetzung dafür ist, überhaupt leben zu können. In einer einigermaßen vernünftigen Gesellschaft, die soziales Glück nicht mehr mit der „Schaffung von Arbeitsplätzen“ identifiziert, würde dies bedeuten, dass die Alternative zwischen Faulheit und nutzloser Mühe überwunden werden müsste.


In der Zwischenzeit kann man diejenigen, die es vorziehen, „Faulheit“ zu praktizieren, nicht verurteilen: Wer sich nicht an Arbeiten beteiligt, die in ihrer großen Mehrheit nutzlos oder schädlich sind, fügt zumindest niemandem Schaden zu! Das bedingungslose Grundeinkommen, dessen Idee sich zunehmender Beliebtheit erfreut, ist aus verschiedenen Gründen tatsächlich problematisch – insbesondere besteht die Gefahr, dass es alle anderen Sozialleistungen ersetzt, und zwar auf einem niedrigen Niveau. Außerdem setzt es die Fortsetzung der kapitalistischen Akkumulation voraus, die sich als immer schwieriger erweist. Indem es jedoch die Möglichkeit eröffnet, sich der Erpressung, um jeden Preis zu arbeiten, zu entziehen, könnte das bedingungslose Grundeinkommen dazu beitragen, mit der Ideologie des „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ zu brechen, und so helfen, nach Jahrhunderten die Verherrlichung der Arbeit abzuschütteln. Nicht im Namen der Faulheit schlechthin, sondern von Tätigkeiten, die ihren Sinn in sich selbst haben und bewusst gewählt werden.