Anselm Jappe


Ist das Geld obsolet geworden?



Das französische Original „L’argent est-il devenu obsolète?“ ist in gekürzter Fassung am 01. 11. 2011 in Le Monde erschienen, in vollständiger Fassung im Dezember 2011 in der Zeitschrift Offensive Libertaire et Sociale, Nr. 32




Offizielle Stellen wie auch die Medien bereiten uns darauf vor: Eine neue globale Krise wird demnächst über uns hereinbrechen, die schlimmer ist als die von 2008. Es wird offen von „Katastrophen” gesprochen. Aber was dann? Wie wird unser Leben nach einem Zusammenbruch des Finanzsystems in großem Stil aussehen? Argentinien ist diesen Weg schon 2002 gegangen. Um den Preis der Massenverarmung hat die Nationalökonomie dieses Landes seither zwar eine partielle Trendwende in die Wege geleitet. Aber es ging damals nur um einziges Land, dem andere noch beispringen konnten. Heute hingegen könnten die europäischen und nordamerikanischen Finanzsysteme alle zusammen ohne jede Hoffnung auf Rettung untergehen.

An welchem Punkt hört der Zusammenbruch des Aktienmarkts auf, bloßer Gegenstand von Nachrichtensendungen zu sein und wird stattdessen im Alltag sinnfällig? Die Antwort ist: Wenn das Geld nicht mehr wie gewohnt eingesetzt werden kann, entweder weil es knapp wird (Deflation) oder weil es in riesigen, wenngleich entwerteten Mengen kursiert (Inflation). In beiden Fällen hält die Zirkulation von Waren und Dienstleistungen nach und nach an, weil ihre Besitzer niemanden mehr mit den nötigen Geldmitteln finden können, die ihnen wiederum den Zugang zu anderen Waren und Dienstleitungen erlauben würden. Sie werden also dazu gebracht, ihre Waren für sich zu behalten. Es wird gut gefüllte Läden ohne einen einzigen Kunden geben, voll betriebsbereite Fabriken ohne Fabrikarbeiter und Schulen ohne Lehrer, da ihnen seit Monaten kein Gehalt mehr gezahlt wurde. Etwas, das so selbstverständlich ist, dass es nicht mehr wahrgenommen wurde, wird dann anerkannt werden müssen: Es gibt keine Krise in der Produktion selbst. Die Produktivität wächst in allen Sektoren und fortwährend. Das Ackerland ist für den globalen Bedarf an Nahrungsmitteln mehr als ausreichend, Fabriken und Werkstätten können sogar weit mehr produzieren, als nötig oder wünschenswert ist. Not und Leid auf der Erde sind nicht - wie im Mittelalter - durch Naturkatastrophen bedingt, sondern durch eine Art von Zauberei, die die Menschen von ihren Produkten trennt.


Was nicht mehr funktioniert, ist die „Schnittstelle“, die zwischen dem Menschen und seinen Produkten liegt: das Geld. In der Moderne ist Geld zur „allgemeinen Vermittlung“ (Marx) geworden. Die gegenwärtige Krise konfrontiert uns mit dem Paradoxon im Kern der kapitalistischen Gesellschaft. Es besteht darin, dass die Produktion von Gütern und Dienstleistungen ihren Zweck nicht in sich selbst hat, sondern vielmehr ein bloßes Mittel ist. Das alleinige Ziel ist die Anhäufung von Geld - die Investition von einem Euro oder Dollar, um zwei zu bekommen. Im Ergebnis kann die „reale“ Produktion in ihrer Gesamtheit davon betroffen sein und zum Stillstand kommen, sollte dieser Mechanismus zusammenbrechen. Wie Tantalus in der griechischen Sage würden wir dann gequält von den Reichtümern, die wir sehen können, die aber außerhalb unserer Reichweite liegen, weil wir nicht in der Lage sind, sie zu bezahlen. Dieser erzwungene Verzicht ist immer das Schicksal der Armen gewesen, doch in nie dagewesener Weise scheint es jetzt fast die gesamte Gesellschaft zu betreffen. Das letzte Wort des Marktes ist, uns verhungern zu lassen inmitten von Bergen verrottender Lebensmittel, die niemand berühren darf.

Die Kritiker des Finanzkapitalismus jedoch versichern uns, dass die Finanz, der Kredit und der Aktienmarkt bloß die Auswüchse einer ansonsten gesunden Ökonomie seien. Sobald die Blase platzt, werden natürlich Marktturbulenzen und Verluste folgen, aber das werde bloß ein heilsamer Aderlass sein und die Bühne anschließend frei sein für eine neue Periode ökonomischen Wachstums und ökonomischer Stabilität.


Ist das wirklich so? Heute erhalten wir fast alles nur noch gegen Bezahlung. Dies gilt insbesondere für die in Städten wohnende Mehrheit der Bevölkerung, die davon abhängig ist, dass andere Nahrung, Heizung, Elektrizität, Gesundheitsfürsorge und Transportmittel für sie bereitstellen. Sonst könnte sie nicht einmal drei Tage überleben. Sollten Supermärkte, Energieversorger, Tankstellen und Krankenhäuser dann nur noch die schnell verschwindenden Reserven des „richtigen“ Geldes akzeptieren - zum Beispiel nicht das in diesem Falle total entwertete einheimische Geld, sondern nur eine starke ausländische Währung -,  dann sind Not und Entbehrung nicht mehr fern. Sollten genug von uns da sein, die bereit sind, einen „Aufstand“ anzuzetteln, so könnten wir noch die Supermärkte stürmen oder elektrischen Strom ohne Bezahlung abziehen. Aber wenn der Supermarkt nicht mehr beliefert wird und die Energiezentrale abgeschaltet wird, weil Angestellte und Lieferanten nicht mehr bezahlt werden können, was dann? Direkter Tausch und gegenseitige Hilfe ließen sich vielleicht organisieren: es könnte sich hieraus sogar eine außerordentliche Gelegenheit ergeben, den sozialen Zusammenhalt wiederzubeleben. Aber ist es wirklich glaubhaft, dass dies schnell und umfassend erreicht werden kann, inmitten von Gewalt und Plünderung? Einige werden auf den ländlichen Raum verweisen, wo Rohstoffe für alle zu haben seien. Schade nur, dass die Europäische Union jahrzehntelang die Bauern dafür bezahlt hat, ihre Bäume abzuholzen, ihre Weinstöcke auszureißen und ihren Tierbestand zum Schlachter zu schicken ... In der Folgezeit des Zusammenbruchs der Länder des Ostblocks haben Millionen von Leuten dank ihrer Verwandten in ländlichen Gebieten mit ihren kleinen Höfen überlebt. Wäre dasselbe im heutigen Frankreich oder Deutschland zu erwarten?

Es ist natürlich nicht sicher, dass es so weit kommen wird. Aber selbst ein partieller Zusammenbruch des Finanzsystems wird uns mit den Konsequenzen der Tatsache konfrontieren, dass wir uns mit Händen und Füßen ans Geld gebunden und ihm allein die Aufgabe übertragen haben, für das Funktionieren der Gesellschaft zu sorgen. Man versichert uns, dass es Geld seit den ersten Anfängen der Geschichte gegeben habe. Doch in den vorkapitalistischen Gesellschaften hat es nirgendwo eine mehr als marginale Rolle gespielt. Und erst in den letzten Jahrzehnten haben wir den Punkt erreicht, an dem ohne Geld keine Lebensäußerung mehr möglich und es in jede Nische der individuellen und kollektiven Existenz eingedrungen ist. Ohne das Geld, das die Dinge in Bewegung bringt, sind wir wie ein Körper, aus dem das Blut abgelassen wurde.


Geld ist jedoch nur dann „real“, wenn es der Ausdruck wirklich verrichteter Arbeit ist und des sie darstellenden Werts. In jeder anderen Hinsicht ist Geld eine bloße Fiktion, die in nichts als dem Vertrauen gründet, das die Vertragspartner zueinander haben, ein Vertrauen, das von einem Augenblick auf den nächsten verschwinden kann, wie es gerade der Fall ist. Wir sind jetzt Zeugen eines Phänomens, das in der Volkswirtschaftslehre nicht vorgesehen ist: nicht die Krise einer bestimmten Währung und der Ökonomie, die sie repräsentiert, zugunsten einer anderen, stärkeren Währung. Vielmehr sind Euro, Dollar und Yen alle in der Krise, und es besteht keinerlei Aussicht, dass die wenigen Länder, die noch über ein AAA-Rating verfügen, allein in der Lage sein werden, die Weltwirtschaft zu retten. Keines der ökonomischen Konzepte verspricht noch zu funktionieren. Der freie Markt ist so dysfunktional wie der Staat, Austeritätspolitik so dysfunktional wie Konjunkturprogramme, Keynesianismus so dysfunktional wie Monetarismus. Tatsächlich liegt das Problem auf einer weit tieferen Ebene. Wir sind Zeugen einer Entwertung des Geldes an sich, des Verlustes seiner gesellschaftlichen Funktion, kurz gesagt seiner Obsoleszenz. Aber nicht als Ergebnis einer bewussten Entscheidung, getroffen von einer Menschheit, die dessen überdrüssig geworden wäre, von dem schon Sophokles sagte: „Kein ärger Brauch erwuchs den Menschen als das Geld“. Es handelt sich vielmehr um einen unkontrollierten, chaotischen und extrem gefährlichen Prozess. Es ist, als würde jemandem der Rollstuhl weggenommen, der schon lange die Fähigkeit verloren hat, seine Beine zu gebrauchen. Geld ist unser Fetisch, ein Gott, den wir selbst erschaffen haben, von dem wir aber dennoch denken, wir hingen von ihm ab, und für den wir alles zu opfern bereit sind, um seinen Zorn zu beruhigen...


Was also ist zu tun? Es gibt keine Knappheit an Vertretern alternativer Rezepte: soziale und solidarische Ökonomie, Systeme lokalen Austauschs, Alternativwährungen, kooperative Hilfe ...  Sie alle könnten allenfalls auf einem lokal extrem beschränkten Niveau arbeiten und setzen voraus, dass der Rest drumherum weiter funktioniert. Aber eins ist sicher: „Empörung“ über finanzindustrielle „Exzesse“ oder die „Gier“ der Banker ist nicht genug. Trotz der realen Existenz solcher Erscheinungen sind sie nicht die Ursache, sondern die Folge des Erschlaffens der kapitalistischen Dynamik. Die Ersetzung lebendiger Arbeit - der einzigen Quelle des Werts, der in Gestalt des Geldes das ausschließliche Ziel kapitalistischer Produktion ist - durch Technologien, die keinen Wert schaffen, hat die Quelle der Wertproduktion nahezu versiegen lassen. Indem er unter dem Druck der Konkurrenz gezwungen war, diese Technologien zu entwickeln, hat der Kapitalismus auf die Dauer den Ast abgesägt, auf dem er sitzt. Dieser Prozess, der von Anfang an Teil seiner basalen Logik war, hat in den letzten Jahrzehnten eine kritische Schwelle überschritten. Es ist nur noch möglich gewesen, die Nichtprofitabilität des Kapitaleinsatzes zu bemänteln, indem zu Krediten immer höheren Umfangs Zuflucht genommen wurde, also zum zunehmenden Konsum erwarteter zukünftiger Profite. Nunmehr scheint der Punkt erreicht, an dem diese künstliche Verlängerung des Lebens des Kapitals an ihre endgültigen Grenzen gestoßen ist.

Es besteht somit die Notwendigkeit - und zugleich die offensichtliche Möglichkeit und Gelegenheit -, aus einem System auszusteigen, das auf Wert und abstrakter Arbeit, Geld und Ware, Kapital und Löhnen beruht. Dieser Sprung ins Ungewisse ruft jedoch Angst hervor, selbst bei denjenigen, die unermüdlich die Verbrechen der „Kapitalisten“ anklagen. Der aktuelle Fokus scheint auf der Verfolgung des bösen Spekulanten zu liegen. Auch wenn es leicht ist, die Empörung über die Profite der Finanzindustrie zu teilen, ist doch zu betonen, dass sie für eine systemische Kritik des Kapitalismus zu kurz greift. Es ist keine Überraschung, dass Barack Obama und George Soros für eine derartige Empörung Verständnis aufbringen können. Die Wirklichkeit ist noch tragischer: Sollten die Banken dauerhaft funktionsunfähig werden und aufhören, Geld auszugeben, könnten wir alle zusammen mit ihnen untergehen, da man uns schon lange die Fähigkeit entzogen hat, ohne Geld zu leben. Es wäre gut, das wieder zu lernen. Aber wer weiß, zu welchem „Preis“ das geschehen wird!

Niemand kann ehrlicherweise für sich beanspruchen zu wissen, wie das Leben von Zigmillionen Menschen zu organisieren wäre, wenn das Geld seine Funktion verloren hat. Zumindest könnte die Kenntnisnahme und Anerkennung des Problems ein guter Anfang sein. So wie auf eine Zeit nach dem Öl sollten wir uns auf eine Zeit nach dem Geld vorbereiten.