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Anselm Jappe


Eine betonierte Welt

 


Interview mit Anselm Jappe in der französischen Zeitschrift La Décroissance, Nr. 174, November 2020

 



Wie hat der Beton unsere Umwelt überzogen? Das Buch Béton. Arme de construction massive du capitalisme, erschienen im Verlag L'Échappée, analysiert die Geschichte dieses verheerenden Baustoffs und kritisiert auf diesem Wege auch die moderne Architektur und Stadtplanung.


 

La Décroissance: „Die Schrecken der heutigen Architektur und der modernen Bauten sind die Folge der Kombination von Beton und Stahl”, schreiben Sie. Wie ist Stahlbeton, der mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert aufkam, in unserer Welt so allgegenwärtig und für die Infrastruktur unserer Gesellschaften unverzichtbar geworden?


Anselm Jappe: Wie konnte es so weit kommen? Der Beton ist nicht schuld, sagen seine Befürworter. Er wurde bereits von den Römern verwendet, unter anderem für die Kuppel des Pantheons. Er ist nur eine Mischung aus Sand, Kalk und Wasser: nichts besonders Schlimmes. Aber dieses Argument ist irreführend. Nicht der Beton als solcher, der hauptsächlich im 18. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, hat die Welt verändert, sondern der Stahlbeton, der auf Stahl-„Bewehrungen” gegossen wurde. Er wurde um 1867 erfunden und verbreitete sich schnell. Zunächst stieß er jedoch auf großes Misstrauen, und die Bürger wollten ihn nicht für ihre Wohnhäuser. Das Hauptanwendungsgebiet war der soziale Wohnungsbau. Sein eigentlicher Siegeszug in der ganzen Welt begann erst nach 1945. Die größten Mengen wurden nicht für Wohnungen und öffentliche Gebäude verwendet, sondern in der Infrastruktur: Autobahnen, Parkplätze, Flughäfen, Deiche, Atomkraftwerke und – am wichtigsten – Staudämme. Mittlerweile ist es China, das alle Rekorde in Bezug auf seine Nutzung bricht, und es sieht nicht so aus, als würde es damit aufhören. Aber auch die „Kleinen” greifen auf ihn zurück: Ein nicht unerheblicher Teil der weltweiten Betonproduktion „fließt” in die Slums und Selbstbauten der Welt und gibt den Armen die Illusion, „modern” geworden zu sein und nun in der Liga der Großen mitzuspielen. Außer wenn Gebäude, die mit zu viel Sand im Beton errichtet wurden, beim ersten Erdbeben zusammenbrechen.


Warum dieser gigantische Erfolg? Zunächst einmal, weil Beton wirklich nicht viel kostet: Seine Bestandteile sind in der Natur leicht zu finden, und das Bauen mit Beton erfordert nur wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Die spezielleren Fähigkeiten und die Planung sind bei Architekten und Ingenieuren mit ihren Diplomen konzentriert, was mit der zentralen Rolle übereinstimmt, die Technokraten und Experten erworben haben, die vom Staat beauftragt und dem Markt unterworfen sind, aber keine Verbindung zu den Bewohnern und ihren Bedürfnissen haben. Das Bevölkerungswachstum, die Migration vom Land in die Stadt und die Kriegszerstörungen dienten in der Nachkriegszeit in Europa als Vorwand für diese „Betonitis”, Vorwände, die von allen akzeptiert wurden, bevor sie im Rest der Welt wiederholt wurden. Die Tendenz zur Standardisierung und Uniformierung, die dem Kern der kapitalistischen Logik eingeschrieben ist, selbst wenn sie sich gelegentlich mit „Personalisierung” oder „Customization” schmückt, zeigt sich in diesem Material, das alle anderen ersetzt und überall einen ähnlichen „Stil” durchsetzt – die Neubauviertel von Shanghai oder São Paulo, Paris oder Riad unterscheiden sich nicht mehr voneinander, und ihre Armenviertel auch nicht.

 

La Décroissance: Die ökologischen Verwüstungen durch dieses Material sind groß...

 

Anselm Jappe: Der Beton hat seine Unschuld verloren und steht nun oft im Kreuzfeuer der Kritik. Vor kurzem verkündete die Pariser Stadtverwaltung heuchlerisch das „Ende der Herrschaft des Autos, des Asphalts und des Betons” und die Mehrheit des Stadtrats scheint sich über das Schicksal der Zementfabrik Lafarge zu zerfleischen, die sich an den Ufern der Seine mitten in Paris befindet und beschuldigt wird, dort umweltschädliche Abfälle zu entsorgen. Wie bei Pestiziden, Plastik oder Erdöl hat man nach und nach entdeckt, dass Materialien, die als rein technische Lösungen für alte Probleme der Menschheit angepriesen wurden, in Wahrheit mit zahlreichen absolut unerwünschten Nebenwirkungen verbunden sind. Beton war dieser Infragestellung in der breiten Öffentlichkeit jedoch lange Zeit entgangen. Warum ist das so?


Beton gilt als weniger schädlich, weniger umweltbelastend als die bereits erwähnten Materialien. Dies ist jedoch falsch: Betonstaub kann Atemwegserkrankungen verursachen; die hohen Temperaturen, die für seine Herstellung erforderlich sind, erfordern einen hohen Energieverbrauch, der stark zum CO2-Ausstoß beiträgt; der Sandabbau verursacht erhebliche Schäden an Stränden und Wasserläufen sowie an den Lebensbedingungen vor Ort und begünstigt den kriminellen Handel, vor allem in armen Ländern; das Zubetonieren von Städten schafft „Hitzeinseln”, die Klimaanlagen erforderlich machen, eine weitere moderne Plage; die Versiegelung von Böden begünstigt immer zerstörerischere Überschwemmungen; und schließlich werden Stahlbetonabfälle aufgrund der hohen Kosten nur selten recycelt.

 

La Décroissance: Sie haben Ihr Buch nach dem Einsturz der Morandi-Brücke in Genua geschrieben. Sie sehen die Ursache für diesen Einsturz im Material selbst, dem Stahlbeton mit einer Lebensdauer von nur wenigen Jahrzehnten, der symptomatisch für unser Zeitalter der Obsoleszenz ist. Inwiefern kann dieser Einsturz als „Schulbeispiel für die Hybris, die die kapitalistische Antizivilisation in höchstem Maße und auf allen Ebenen kennzeichnet”, aufgefasst werden, wie Sie schreiben? Müssen wir mit weiteren Einstürzen und dem Verfall unserer riesigen Stahlbeton-Infrastruktur rechnen?

 

Anselm Jappe: Hier wie in anderen „ökologischen” Fällen besteht das Problem nicht nur in den messbaren Schäden, und weniger denn je geht es darum, darauf mit Lösungen zu reagieren, die selbst technologisch sind, wie der sogenannte „grüne Beton”. Stahlbeton ist wirklich ein Kind des kapitalistischen und industriellen Zeitalters. Unter diesem Gesichtspunkt kann man ihm noch viele andere Fehler zuschreiben. Wie der Kapitalismus im Allgemeinen ist auch Beton kurzfristig orientiert und verkündet: „Nach mir die Sintflut”. Der Einsturz der Morandi-Brücke in Genua am 14. August 2018 hat besonders deutlich gezeigt, dass Beton in Kombination mit einer Stahlbewehrung – der sogenannte „Stahlbeton” – nicht unbegrenzt haltbar ist, wie man zur Zeit seines universellen Einsatzes in den 1950er und 1960er Jahren glaubte. Nach etwa fünfzig Jahren führt die praktisch unvermeidliche, aber oft schwer zu erkennende Korrosion des Stahls, der den Beton armiert, dazu, dass das betreffende Bauwerk einer ständigen Wartung bedarf, die sowohl die unter Haushaltskürzungen leidende öffentliche Hand als auch die von der „Wettbewerbsfähigkeit” besessenen privaten Eigentümer als sehr teuer ansehen. Es handelt sich um eine Ausgabe, die gerne auf später verschoben wird.


Es ist daher zu erwarten, dass die zahlreichen Gebäude, die in den Jahrzehnten des „Wirtschaftswunders” errichtet wurden, die auch die große Zeit des Stahlbetons für Pavillons und Staudämme war, in naher Zukunft unter ernsthaften Problemen leiden werden. Offizielle Berichte zeigen sich besorgt über den Zustand der Brücken in den USA und Europa – nicht weniger als 25.000 Brücken in Frankreich befinden sich laut einem Parlamentsbericht von 2019 in einem gefährlichen Zustand. Der Zusammenbruch der kapitalistischen und industriellen Moderne könnte also eine sehr konkrete, sehr materielle Bedeutung annehmen. Und es ist erschreckend, sich die Ruinen vorzustellen, die der Zusammenbruch einer Welt aus Beton, Asbest, Plastik und Aluminium hinterlassen wird! Sicherlich werden es nicht die Ruinen des antiken Roms sein.

 

La Décroissance: Sie zeigen auch, dass der Beton die Lebensräume vereinheitlicht, das Handwerk und die vernakuläre Wohnkultur zerstört. Inwiefern ist er das Leitmaterial einer entmenschlichenden Architektur und einer Stadtplanung, die Städte in geometrische Räume für den Verkehr von Maschinen verwandelt?

 

Anselm Jappe: Beton spielte eine zentrale Rolle bei der Kommerzialisierung des Wohnraums und dem massenhaften Bau von „Wohnmaschinen”, wie Le Corbusier sie treffend, aber voller Stolz nannte – und der bei einem Teil der Öffentlichkeit noch heute den Ruf eines großen Architekten und sogar Humanisten genießt, während er nie ein Geheimnis aus seinen autoritären und klassistischen Absichten machte: Raffinesse für seine reichen Kunden, „Kaninchenställe” für die anderen. Beton profitierte auch von einem guten Image bei den Linken, die in ihm ein proletarisches Material sahen, das vor allem für die Förderung von sogenannten „sozialen”, d. h. billigen Wohnungen geeignet war.


Was niemand sehen wollte, von wenigen Ausnahmen wie den Situationisten abgesehen, ist die Tatsache, dass Wohnen nicht auf „ein Dach über dem Kopf haben“ reduziert werden kann, genauso wie Essen niemals nur in der Aufnahme einer ausreichenden Menge an Kalorien bestehen kann. In beiden Fällen kommt eine breite Palette an emotionalen und symbolischen Faktoren ins Spiel – Wohnen bedeutet vor allem, seinen Platz in der Welt zu haben, mit der Welt verbunden zu sein. Seit Jahrtausenden und auf der ganzen Welt hat die Architektur im weitesten Sinne immer diese Funktion erfüllt.


Man muss dem Beton auch vorwerfen, was im Gegenteil häufig als sein größtes Verdienst verkündet wurde: die Architektur des 20. Jahrhunderts ermöglicht zu haben. Der „Brutalismus” genießt zwar keine große Beliebtheit mehr, aber wer will schon auf den einfachen, billigen und leicht zu verarbeitenden Beton verzichten? Dennoch muss man darauf hinweisen, dass Beton – oder besser gesagt, die Leute, die ihn verwenden! – in erster Linie für die Vernichtung der „traditionellen” oder „volkstümlichen” Architektur in der Stadt und auf dem Land verantwortlich ist. Dies war im Allgemeinen eine „Architektur ohne Architekten”, wie sie der Architekturhistoriker Bernard Rudofsky nannte. Sie hatte jedoch viele Vorteile: Bau durch die Bewohner selbst oder durch lokale Teams, die über wenig Technologie, aber über ein bemerkenswertes Know-how verfügten; Verwendung lokal verfügbarer Materialien; Anpassung an die klimatischen Bedingungen des Ortes; in der Regel sehr lange Lebensdauer; recht geringe ökologische Auswirkungen; Kombination von materiellen, sozialen und symbolischen Kriterien; große Bandbreite an Nuancen auch innerhalb desselben Dorfes. Traditionelle Architektur ist nicht „primitiv”, sondern weist oftmals hervorragende technische Lösungen auf, die das Ergebnis von Erfahrung sind, z. B. in Bezug auf Wärmedämmung. Sie variieren von Region zu Region und tragen so zur Vielfalt der Welt, zu ihrem Reichtum, zur Fähigkeit, die örtlichen Gegebenheiten zu nutzen, bei und sind insgesamt eines der wichtigsten Zeugnisse des menschlichen Genies. Die Entwertung oder gar Zerstörung dieses Erbes, um es durch Gebäude aus Stahlbeton oder Hohlblocksteinen zu ersetzen, die an ein und demselben Ort hunderte Male identisch wiederholt werden, wird zweifellos eines Tages als eine der größten Torheiten des kapitalistischen und industriellen Zeitalters (das damit nicht geizt!) erscheinen.


Natürlich erfordert das Bauen mit behauenen Steinen viel mehr Zeit, was im Kapitalismus auch mehr Geld bedeutet. Wenn man will, dass ein Haus in dem Moment auseinanderfällt, in dem der Eigentümer seine Kredite abbezahlt hat, um einen weiteren Bau mit seiner „Investitionsrendite”, den dadurch geschaffenen „Arbeitsplätzen” und dem daraus resultierenden „Wirtschaftswachstum” wieder in Gang zu setzen, dann ist Stein tatsächlich nicht geeignet. Wenn man hingegen versteht, wie William Morris bereits im 19. Jahrhundert sagte, dass ein solcher Bau dann lange Zeit Bestand haben wird und sich die Gesellschaft „ausruhen” kann, dann ist Stein geeignet. Aber der Kapitalismus hat es geschafft, eines der ältesten Materialien der Welt in einen Luxus für die Reichen zu verwandeln! Mit diesen Materialien verschwanden auch über Jahrhunderte geduldig angesammelte handwerkliche Fertigkeiten, der Geist des kollektiven Bauens und generell die Kunst des Wohnens als Teil der Lebenskunst auf allen Ebenen.

 

La Décroissance: In Ihrem Epilog schreiben Sie: „Die Kritik der Architektur und insbesondere des Betons ist die ideale Verbindung zwischen der Kritik des Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und der Kritik der Industriegesellschaft.” Warum ist es so wichtig, diese Verbindung heute herzustellen?

 

Anselm Jappe: Es gibt eine leidenschaftliche Liaison zwischen der kapitalistischen Moderne und dem Beton, die wenig sichtbar und eher „unbewusst” ist. Die Akkumulation von Kapital bedeutet die Akkumulation von Geld, und das bedeutet die Akkumulation von Wertmengen. Wert (im Marxschen Sinne) ist durch abstrakte Arbeit gegeben, d. h. die abstrakte Seite der Arbeit: Arbeit, die nur als die Menge an verbrauchter menschlicher Energie, gemessen an der Arbeitszeit, betrachtet wird. Die abstrakte Seite der Arbeit ist die einzige, die in der kapitalistischen Perspektive zählt, wie man an der Unterordnung des gesamten Lebens unter die Logik des Geldes und seiner Vermehrung erkennen kann. Aus dieser Perspektive sind alle Arbeiten gleichwertig, es zählt nur die Menge an Wert, die sie produzieren, und alle Gebrauchswerte sind nur „Träger” dieser grundlegenden und immer gleichen Abstraktion, die der von der abstrakten Arbeit geschaffene Warenwert ist. Marx spricht in der Tat von einer „Gallerte”, um diese amorphe Masse abstrakter Arbeit zu charakterisieren.

Was aber entspricht dieser „Gallerte” in materieller Hinsicht besser als bestimmte Materialien wie Plastik oder Beton? Künstlich, immer gleich, ohne Bezug zu ihrer Umgebung, in der Lage, jede Form anzunehmen, ohne eine eigene zu haben: Beton ist perfekt, um die grundlegende und immaterielle Abstraktion, die die moderne Gesellschaft beherrscht, zu konkretisieren und zu materialisieren. Wenn wir uns daran erinnern, dass Beton auf Englisch concrete heißt (daher Bob Marleys Concrete Jungle), können wir mit einem kleinen Wortspiel sagen, dass Beton die konkrete Seite der kapitalistischen Abstraktion ist. Natürlich wird Ihnen kein Bauunternehmer sagen, dass er deshalb lieber aus Beton baut: Aber Beton hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.

 

Deshalb befinden sich der Beton und seine Welt an der Schnittstelle zwischen der Kritik am Kapitalismus und der Kritik an der Industriegesellschaft: Er ist kein „neutrales” Material, das vom Kapitalismus einfach missbraucht wird und für andere, edlere Zwecke verwendet werden könnte. Seine Struktur ist an sich schon kritikwürdig, und seine Anwendungen sind es noch mehr. Dieses Beispiel sollte daher die Gelegenheit bieten, die Kritik an der Industriegesellschaft mit der Kritik am Kapitalismus zu verbinden, wobei letzterer nicht nur als Herrschaft einer Klasse über eine andere, sondern auch als tautologische und sinnlose Anhäufung von Wert durch Arbeit verstanden wird. Es stimmt nicht, dass Technologien, wie manche behaupten, „an sich weder gut noch schlecht” sind und dass alles davon abhängt, wie man sie einsetzt. Es ist mittlerweile leicht zu erkennen, dass dies beispielsweise für die Atomkraft oder die Gentechnik nicht gilt. Das Beispiel Beton lehrt uns hingegen, dass selbst scheinbar nicht „apokalyptische“, fast „unschuldige” Techniken in ihrer Struktur mit dem Kapitalismus verwandt sind und sich nur in diesem Regime entwickeln können, das sie wiederum am Leben erhalten. Man sollte also weder Beton kritisieren, ohne die kapitalistische Gesellschaft, die ihn gefördert hat, in Frage zu stellen –  sonst landet man bei Greenwashing und von Google verwalteten Ökoquartieren –, noch sollte man den Kapitalismus anprangern, ohne sich um seine Materialien und Techniken zu kümmern – sonst endet man damit, dass man bei der Regierung den Bau neuer Sozialwohnungen fordert...