Gerd Bedszent


Die Ukraine – Dualität von Nationalismus und Staatszerfall



Zuerst erschienen 2014 in exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 14, S. 176-184





Während der letzten Monate überschlugen sich die Nachrichten über die Entwicklung in Osteuropa förmlich. Was im Herbst 2013 in der Ukraine noch als ganz gewöhnliche Holzerei zwischen verschiedenen Fraktionen einer mehr oder weniger kriminellen Oberschicht begonnen hatte, entwickelte sich binnen in kurzer Zeit zu einem handfesten Entstaatlichungskrieg.
Solch eine Entwicklung ist durchaus nichts Neues – nicht einmal in Europa. Schon vor über zwanzig Jahren mündete der wirtschaftliche Zerfall Jugoslawien in einer ganzen Reihe blutiger Verteilungskriege zwischen den die einzelnen Regionen beherrschenden nationalistischen oder offen kriminellen Banden. Das militärische Eingreifen des Westens in Bosnien und im Kosovo führte letztlich dazu, in diesen pseudostaatlichen Territorien eine repressive Armutsverwaltung zu installieren – mit einem einzigen boomenden Wirtschaftszweig: der kriminellen Schattenwirtschaft.


Ein ähnliches Szenario deutet sich derzeit auch in der Ukraine an. Auch hier waren unter dem Dach eines Projektes nachholender Modernisierung mehrere höchst unterschiedliche Landesteile zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (1922-1991) zusammengepresst worden. Und wie auch im Fall Jugoslawien gelang es den Akteuren des ‚protokapitalistischen Modernisierungsregimes‘ (Robert Kurz) nicht, die volkswirtschaftlichen Disproportionen zwischen den einzelnen Landesteilen zu beseitigen. Wobei in diesem Fall hier noch die Besonderheit hinzukam, dass der 1991 als formell selbständig proklamierte ukrainische Staat schon das Produkt des Staatszerfalls der Sowjetunion war.
In den östlichen Grenzregionen der Ukraine halten sich seit dem Wirtschaftscrash zu Beginn der 1990er Jahre immer noch starke Reste der ehemals sowjetischen Schwerindustrie, die vor allem von der territorialen Nähe zu Russland profitieren. Die Ukraine ist immer noch einer der wichtigsten Zulieferer der russischen Rüstungs- und Weltraumindustrie. In den westlichen Grenzregionen, die überhaupt erst 1939 bzw. 1945 zur Ukraine kamen, hatte das Projekt einer nachholenden Modernisierung hingegen nie mehr als in Anfängen gegriffen. Diese Regionen waren immer stark landwirtschaftlich geprägt und fielen mit Auflösung der post-sowjetischen Agrargenossenschaften einem rapiden Verarmungsprozess anheim. Die ukrainische Agrarproduktion scheint sich zwar seit einigen Jahren vom Crash der 1990iger Jahren zwar wieder zu erholen – jedoch nur unter den Bedingungen einer rabiaten kapitalistischen Durchrationalisierung und dem damit verbundenen massiven Arbeitskräfteabbau.
Aus dem anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang des flachen Landes und den in der Hauptstadt tobenden Verteilungskämpfen zwischen der reich gewordenen postsowjetischen Nomenklatura und dem ab 1991 faktisch legalisierten kriminellen Untergrund resultierte ein zunehmender Verfall staatlicher Institutionen bei gleichzeitigem Aufstieg rechtsradikaler Milizen. Letztere sehen sich bewusst in der Tradition der bewaffneten Gruppen, die zwischen 1918 und 1922 sowohl in der Ost- als auch in der West-Ukraine vergeblich versucht hatten, einen unabhängigen Staat zu installieren und dann im 2. Weltkrieg gegen vage Versprechen einer künftigen Unabhängigkeit den deutschen Besatzern Handlangerdienste bei antisemitisch motivierten Massenmorden leisteten.


Die seit Monaten durch die Medien geisternde Hysterie von einem Wiederaufflammen des kalten Krieges entbehrt selbstverständlich jeglicher Grundlage. Der Konflikt zwischen Russland und westlichen Mächten hat keinerlei ideologischen Hintergrund, sondern ist ein ganz normaler neoimperialistischer Wirtschaftskrieg. Der ehemalige KGB-Offizier Wladimir Putin ist eben keine Neuauflage von Lenin oder Stalin, sondern ein typischer Interessenvertreter der als Folge des politischen Crashs der Sowjetunion und nachfolgender Privatisierungsorgien reich gewordenen ehemaligen Funktionärsschicht. Dass Putin es gegen den Widerstand von Teilen der postsowjetischen Oligarchenschicht geschafft hat, dem Ende der 1990er Jahren unübersehbar gewordenen Staatszerfall Russlands vorläufig Einhalt zu gebieten und den Staat, freilich auf niedrigem Niveau, zu stabilisieren, spricht eigentlich eher für seine politischen Qualitäten. Langfristig nützen können diese allerdings auch nicht viel. Denn das neue Wirtschaftsmodell Russlands basiert nicht auf einem eigenständigen Modernisierungsprogramm, sondern vorrangig auf dem Export von Rohstoffen in die noch funktionierenden Zentren kapitalistischer Warenproduktion. Seinen Staatshaushalt finanziert Putin zu nicht unbeträchtlichen Teilen aus Verkaufserlösen des größtenteils staateigenen Konzerns GAZPROM. Russland ist derzeit weltweit der größte Erdgas- und zweitgrößte Erdölexporteuer; die Exportpreise für russisches Öl und Gas liegen um das Mehrfache über den im eigenen Land berechneten Binnenpreisen. GAZPROM funktioniert so als Motor eines Wirtschaftswunders auf Zeit; Russland ist faktisch ein Ölkonzern mit angehängtem Staat.


Obwohl der galoppierende Absturz in die Verarmung für die russische Bevölkerungsmehrheit mit dem Machtantritt Putins und der von ihm betriebenen Hochpreispolitik für Rohstoffexporte vorläufig ausgebremst wurde, klafft die soziale Schere immer weiter auseinander. Derzeit soll es allein in Moskau mehr Milliardäre geben als in ganz Deutschland. Eine Idealisierung des Putin-Regimes, wie sie derzeit von Teilen der Rest-Linken betrieben wird, ist demzufolge mehr als fragwürdig.
Während westliche Länder sich durchaus gegen russische Preisdiktate zur Wehr setzen können, sind verarmende osteuropäische und mittelasiatische Randstaaten diesen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. Ein Beispiel dafür ist die Ukraine, deren verbliebene Wirtschaft hochgradig von russischem Erdgas abhängig ist. Erwarben in den 1990er Jahren ukrainische Oligarchen durch den Zwischenhandel mit billigem russischem Gas noch Riesenvermögen, so war der ukrainische Staat zehn Jahre später gezwungen, das von der Bevölkerung insbesondere im Winter verbrauchte Heizgas zu subventionieren.
Die politische Instabilität und die häufigen Regierungswechsel der letzten Jahre in der Ukraine haben letztlich ihre Ursache in Machtkämpfen verschiedener Oligarchengruppen. Die einen waren bestrebt, durch wirtschaftliche und politische Anlehnung an die EU den russischen Preisdiktaten Paroli zu bieten und nahmen dabei in Kauf, die Reste der ukrainischen Industrie schutzlos der überlegenen westlichen Konkurrenz preiszugeben. Andere setzten auf eine Fortsetzung der noch aus sowjetischer Zeit stammen Wirtschaftskontakte zu Russland und akzeptierten die russische Hochpreispolitik als notwendiges Übel. Da beides letztlich eine Wahl zwischen Pest und Cholera war, konnte sich keine dieser Gruppierungen nachhaltig durchsetzen. Die Bevölkerung verarmte immer mehr, die Staatsverschuldung näherte sich drohend der Zahlungsunfähigkeit, die verschiedenen Landesteile drifteten immer weiter auseinander und vor allem in der West-Ukraine erstarkte die radikale Rechte.


Der Westen verfolgt gegenüber der Ukraine durchaus unterschiedliche Interessen. Für die niedergehenden USA war und ist die Ukraine lediglich eine Schachfigur in ihrem Wirtschaftskrieg mit der konkurrierenden russischen Ölindustrie. Die EU ist hingegen durchaus interessiert, sich die Ukraine als Lieferant billiger Agrarprodukte einzuverleiben. Dass dies – wie die Erfahrungen mit anderen osteuropäischen Staaten zeigen – den wirtschaftlichen Kollaps der Ukraine und den schon jetzt unübersehbaren Zerfallsprozess der EU nur beschleunigen kann, wird dabei systematisch ausgeblendet. Die Verhandlungen des Janukowitsch-Regimes zum Abschluss eines Assoziationsabkommens mit der EU scheiterten Ende 2013 letztlich daran, dass die faktisch zahlungsunfähige ukrainische Regierung nicht mehr in der Lage und die EU-Bürokratie nicht willens war, die Kosten für die Umsetzung des Abkommens zu tragen. Die vom Westen finanziell ausgehaltene sogenannte demokratische Opposition sah daraufhin ihre Felle davonschwimmen, verbündete sich mit der extremen Rechten und erzwang so den Regimewechsel. Bürgerkrieg und weiterer Staatszerfall waren damit vorprogrammiert.
Die Medienhysterie angesichts der Annexion der Krim durch Russland und dem nachfolgenden Bürgerkrieg in den östlichen Grenzregionen ist eigentlich nur mit der Unfähigkeit westlicher Politiker zu erklären, den Staatszerfall der Ukraine als solchen überhaupt wahrzunehmen. Dass der Putin-Administration medial unterstellte „Sammeln russischer Erde“ ist jedenfalls purer Unsinn. Eine angeblich beabsichtigte Annexion der gesamten Ukraine würde für Russland in erster Linie eine finanzielle Last bedeuten, die das Land keinesfalls tragen kann, ohne den eigenen Zusammenbruch zu riskieren. Die Besetzung der Schwarzmeerhalbinsel dürfte wohl eher eine Folge rein praktischer Erwägungen gewesen sein: Russland nutzt den Grund des Schwarzen Meeres für Erdgastransporte per Pipeline in Richtung Südeuropa und Nahost und hat die Abwesenheit einer funktionsfähigen ukrainischen Regierung kurzerhand dafür ausgenutzt, sich mit der Krim einen strategisch wichtigen Flottenstützpunkt zur Sicherung dieser Trassen einzuverleiben. Anzunehmen ist außerdem, dass Russland sich bei der Gelegenheit die vor der Küste der Krim vermuteten Erdgasvorkommen sichern wollte.


Der Zustand, in dem sich die staatlichen Institutionen der Ukraine mittlerweile befinden, kann man am ehesten daran ermessen, dass die auf der Krim stationierten ukrainischen Sicherheitskräfte der Annexion der Schwarzmeerhalbinsel faktisch kaum Widerstand entgegensetzten und Russland sich auch noch fast die gesamte ukrainische Kriegsflotte kampflos aneignen konnte. Ein großer Teil der ukrainischen Soldaten wechselte sofort in die russischen Streitkräfte, froh, nun endlich wieder mit regelmäßig gezahlten Dienstbezügen rechnen zu können. Die Mehrheit der hoffnungslos verarmten Krimbevölkerung – und zwar unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft – begrüßte jubelnd die Eroberer und erhoffte sich eine schnelle Verbesserung ihrer Lage. Dem Jubel ist mittlerweile Ernüchterung gewichen. Was voraussehbar war – schließlich haben die Bewohner der Halbinsel nur ein bankrottes Oligarchenregime gegen ein anderes, weniger bankrottes, eingetauscht.
Dass schließlich auch noch in zwei östlichen Grenzregionen pro-russische Aktivisten die Macht an sich rissen, zuerst eine staatliche Unabhängigkeit als „Volksrepubliken“ und dann den Anschluss an Russland proklamierten, war ein ebenso unsinniges wie voraussehbares Unterfangen. Russland unternahm bisher auch keinerlei ernsthafte Bemühungen, sich die abtrünnigen Landesteile einzuverleiben, sondern forderte eine „Regionalisierung“ der Ukraine – also faktisch eine Aufteilung des Landes in wirtschaftliche Interessensphären. Was der Westen bisher allerdings nicht hinnehmen will.


Es stellte sich dann schon zu Beginn des Bürgerkrieges heraus, dass die Ukraine über gar keine funktionsfähige Armee und Polizei mehr verfügt. Ein namentlich nicht genannter ukrainischer Offizier erklärte beispielsweise gegenüber einer deutschen Tageszeitung, dass ein modern ausgerüstetes Panzerregiment verschwunden sei, weil man die Gefechtsfahrzeuge klammheimlich an ein arabisches Regime verkauft hätte. Polizeieinheiten verweigerten gegen die Aufständischen gerichtete Einsatzbefehle; hastig in die Region geworfene Truppen ließen sich von protestierenden Dorfbewohnern entwaffnen. In verschiedenen Städten der Ost-Ukraine üben im Auftrage ukrainischer Oligarchen agierende Werkschutzeinheiten anstelle der nicht mehr funktionierenden Staatsgewalt zeitweise die Macht aus. Andere Oligarchen finanzierten rechtsradikale „Freiwilligeneinheiten“ und schufen sich so eine eigene kleine Privatarmee.
Die Regierung erklärte schließlich durch einen Federstrich verschiedene rechtsradikale Milizen zur „Nationalgarde“ und schickte sie in die aufständischen Regionen. Dies freilich auch mit dem Hintergedanken, den aktiven Kern der zunehmend irrational agierenden Nationalisten aus der Umgebung von Hauptstadt und Regierungssitz fortzubekommen. Und da der zusammenbrechende Staatsapparat nicht einmal mehr dazu in der Lage war, wurden die mordenden und plündernden Söldnerbanden im Wesentlichen von regierungsnahen Oligarchen ausgerüstet und besoldet. Voraussehbare Folge war, dass diese Einheiten Nationalgarde zunehmend außerhalb jeder Kontrolle durch das Regime agierten. Angesichts der durch den Bürgerkrieg kaum gebremsten Bereicherungssucht der derzeit in Kiew herrschenden Oligarchen – ein Großteil der westlichen Militärhilfe kam beispielsweise nie an der Front an, sondern landete umgehend auf dem Schwarzmarkt – drohten die bewaffneten Rechtsradikalen auch schon mal, auf Kiew zu marschieren und eine Militärregierung zu installieren.


Nachgewiesen ist, dass verschiedene Bataillone der Nationalgarde und anderer Freiwilligeneinheiten ganz offen unter dem Hakenkreuz und anderen faschistischen Symbolen marschieren und gegenüber westlichen Journalisten damit prahlten, ihr eigentliches Ziel sei die Eroberung Moskaus. Was angesichts des realen militärischen Kräfteverhältnisses eigentlich nur mit schwerem Größenwahn erklärbar ist.
Zur Situation in den beiden ost-ukrainischen „Volksrepubliken“ gibt es nur wenig zuverlässige Informationen. Fest steht, das Umsturz in Kiew von blutigen Pogromen gegen Anhänger des gestürzten Präsidenten Janukowitsch sowie gegen Kommunisten und andere organisierte Linke flankiert wurde – in der Küstenstadt Odessa fackelte beispielsweise ein rechtsradikaler Mob unter Duldung der Polizei ein Gewerkschaftsgebäude ab und massakrierte die aus den Flammen Flüchtenden. Zahlreiche an Leib und Leben bedrohte Menschen flohen demzufolge in die östlichen Grenzregionen, wo sie bis zum Ausbruch des offenen Bürgerkrieges in relativer Sicherheit waren.
Die politische Führung der beiden „Volksrepubliken“ – wenn man von einer solchen überhaupt reden kann – ist demzufolge ein krudes Konglomerat aus Sowjet-Nostalgikern, russischen Rechtsradikalen und pragmatisch agierenden Wirtschaftsfunktionären. In der Verfassung der „Volksrepublik Donezk“ ist beispielsweise sowohl das Fortbestehen sozialstaatlicher Regularien als auch die Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche festgeschrieben.


Der prorussischer Sympathien gewiss unverdächtige ukrainische Generaloberst Wladimir Ruban erklärte beispielsweise am 20. August in einem Interview in der Ukrainskaja Prawda, dass beide Seiten ideologisch kaum voneinander zu unterscheiden seien – einer der seltenen Fälle, in denen ein beteiligter Militär beim massenhaften Ausbruch nationalistischer Paranoia einen klaren Verstand bewahrte.
Einer Idealisierung der die beiden ostukrainischen „Volksrepubliken“ stützenden Milizen, wie sie von großen Teilen der Rest-Linken betrieben wird, ist nun erst zu widersprechen. Beispielsweise hatten sich auf Seiten der Aufständischen kämpfende Kosakeneinheiten vor Ausbruch des Bürgerkrieges durch Pogrome gegen nicht-slawische Minderheiten einen traurigen Ruhm erworben. Kämpften in den Bataillonen der Nationalgarde von Anfang an schwedische und italienische Rechtsradikale für den Ruhm der Ukraine, so erhielten die Milizen der Aufständischen schnell Zulauf durch russische und französische Rechtsradikale.
Bei dem Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine handelt es sich eben nicht – wie vor allem von der russischen Presse gern behauptet – um die Neuauflage des spanischen Bürgerkrieges von 1936 bis 1938 oder gar des antifaschistischen Verteidigungskrieges von 1941 bis 1945, sondern um einen Entstaatlichungskrieg, der sich in Verteilungskämpfen zwischen verfeindeten Volksgruppen äußert. Geplündert und gemordet wurde auf beiden Seiten. Die auf dem Territorium der beiden „Volksrepubliken“ nur in Rudimenten vorhandene staatliche Ordnung bildete die ideale Grundlage für eine ganzen Welle von Raubökonomie: Plünderung, Erpressung, Geiselnahme und Mord.
Das brutale Vorgehen der Nationalgarde und der sie unterstützenden Reste der regulären Armee lief anfangs auf eine ethnische Säuberung der Ost-Ukraine vom russischsprachigen Bevölkerungsteil hinaus. Von den Aufständischen kontrollierte Städte wurden von den belagernden Regierungstruppen gezielt von der Energie- und Trinkwasserversorgung abgeschnitten und anschließend mit schwerer Artillerie sturmreif geschossen. In den vom Kiewer Militär zurückeroberten Gebieten befanden sich kaum noch Einwohner. Hunderttausende Ukrainer flüchteten ins Nachbarland – in den russischen Grenzregionen musste der Notstand ausgerufen werden. Nach dem Zusammenbruch des Eisenbahnbetriebes wurden nach Osten strebende Flüchtlingskolonnen auch schon einmal von der ukrainischen Luftwaffe bombardiert.


Der Bürgerkrieg im Nachbarland berührte spätestens im August 2014 unmittelbar russische Interessen. Zwar befindet sich glücklicherweise keiner der 17 ukrainischen Atomreaktoren (nicht mitgerechnet die vier stillgelegten Tschernobyl-Wracks) in den umkämpften Gebieten. Die Betriebsleitung des größten ukrainischen Chemiewerkes „Styrol“ schickte aber damals einen verzweifelten Hilferuf an die Kiewer Militärführung, die Beschießung des Betriebsgeländes sofort einzustellen – bei einer Explosion ihrer Lagerbestände drohe eine länderübergreifende Umweltkatastrophe. Dieser Vorfall veranlasste wahrscheinlich die russische Regierung, die von ihr anfangs nur geduldeten Aktivitäten der beiden „Volksrepubliken“ nun auch real zu unterstützen. Also Folge schlug das militärische Kräfteverhältnis binnen ganz kurzer Zeit um. Die Kiewer Truppen erlitten eine ganze Reihe schwerer Niederlagen – mehrere Bataillone der Nationalgarde wurden eingekreist und vernichtet. In der zum großen Teil aus Wehrpflichtigen bestehenden regulären Armee mehrten sich die Auflösungserscheinungen. Ganze Einheiten desertierten geschlossen von der Front oder flüchteten auf russisches Gebiet und baten dort um politisches Asyl. Zurückgehende Truppenteile wurden nicht selten von rechtsradikalen Freiwilligenverbänden beschossen und zur Umkehr gezwungen.


Die Versuche einer Krisenbewältigung hatten sich von Seiten der Kiewer Regierung in zunehmend hilfloseren Hilfeschreien in Richtung Westeuropa erschöpft. Dass der Westen weder willens noch überhaupt in der Lage ist, die zusammenbrechenden Reste des osteuropäischen Modernisierungsprojektes irgendwie aufzufangen, ist in den Köpfen ukrainischer Oligarchen offensichtlich nicht angekommen. Nur so ist die völlig irrationale Reaktion des ehemaligen Bankers und jetzigen ukrainischen Ministerpräsidenten Jazenjuk zu erklären: Als die militärische Niederlage bereits unübersehbar war, sich ein Belagerungsring russischer Milizen um die von Resten der Regierungstruppen gehaltenen Stadt Mariupol schloss, kündigte dieser an, die Ukraine werde sich mittels des Baus einer „Mauer“ vom östlichen Nachbarland abschotten. Eine Meldung, die bei westlichen Nachrichtenredaktionen zwar zunächst Kopfschütteln auslöste, dann aber doch gierig weiterverbreitet wurde. Die unbestreitbaren Tatsachen, dass die betreffenden Grenzregionen sich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle der Regierung befinden und dass der faktisch bankrotte Staat außerdem die finanziellen Mittel für den Bau einer über 2000 Kilometer langen Befestigung nie und nimmer aus eigener Kraft aufbringen kann, wurden nicht kommentiert. Und erst recht nicht, dass eine wirtschaftliche Abschottung nach Russland für die schon jetzt weitgehend zerstörten Grenzregionen nun das endgültige Ende bedeuten würde.


Wieviel Menschenleben der Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine bisher gekostet hat, ist unklar. Die zuletzt genannt Zahl von 2000 Toten dürfte mit Sicherheit viel zu niedrig gegriffen sein. Dass sich mit dem derzeitigen, allerdings äußerst brüchigen Waffenstillstand zwischen den Resten der Kiewer Truppen und den Milizen der beiden „Volksrepubliken“ an dem Desaster der Ukraine nicht das Geringste ändern kann, muss hier sicher nicht extra betont werden. Die massiven Kriegsschäden gerade im zuvor wirtschaftlich noch einigermaßen stabilen Osten des Landes dürften eine weitere Deindustrialisierung des schon jetzt bettelarmen Landes beschleunigen. Dass ukrainische Oligarchen gewillt sind, mittels ihrer ergaunerten Milliarden die zerstörten Produktionsanlagen wieder in Gang zu setzen, ist schwer vorstellbar. Und erst recht nicht, dass irgendein westliches Unternehmen nennenswerte Investitionen in einer instabilen, von Bürgerkrieg zerrissenen Region tätigt.
Ein Beinahe-Treppenwitz der Geschichte ist, dass westliche Staaten und Institutionen sich während des Bürgerkrieges doch herbeiließen, das von ihnen installierte Poroschenko-Regime mittels Milliardenkrediten zu stützen – dieselben Kredite, die sie zuvor dem Janukowitsch-Regime verweigert hatten. Zu einer nachhaltigen Stabilisierung der Ukraine können diese Gelder aber schwerlich beitragen; sie dürften umgehend in den Schuldendienst und in die durch den Bürgerkrieg aufgerissenen Haushaltslöcher gewandert sein. Was der Westen gegenüber der Ukraine letztlich betreibt, ist eine Plünderung der Reste des gescheiterten Modernisierungsprojektes. Das Betreiben der für diese organisierte Plünderung notwendigen Infrastruktur kann zwar noch eine Minderheit der dort ansässigen Menschen zeitweise einbinden, niemals jedoch die Bevölkerungsmehrheit. Ein weiterer Zusammenbruch der Ukraine ist somit nur eine Frage der Zeit.


Die Kiewer Regierung konnte sich in den von ihr kontrollierten Gebieten bisher nur dank einer rabiaten Politik von Sozialkahlschlag, Lohnkürzungen, Stellenabbau im öffentlichen Dienst und fiskalischer Ausplünderung der eigenen Bevölkerung überhaupt halten. Der Widerstand dagegen dürfte sich in engen Grenzen bewegen, da im Windschatten des Bürgerkrieges mehrere Gesetzesänderungen durchgepeitscht wurden: Die Ukraine hat derzeit einer der repressivsten Gesetzgebungen Europas; die Polizei darf unter anderem ohne Gerichtsbeschluss jede verdächtige Person willkürlich bis zu 30 Tage inhaftieren.
Der Sturz des Janukowitsch-Regime hatte zudem eine ganze Welle von kriminellen Verteilungskämpfen ausgelöst. Unter dem Druck bewaffneter Banden, die infolge zunehmender Auflösung der Polizei in den meisten Städten faktisch die Macht ausüben, legitimieren formell noch rechtstaatlich agierende Justizangestellte Akte nackten Raubes. Mehrere Oligarchen, die bei der Verteilung von Regierungsposten zu kurz gekommen waren, konnte sich, gestützt auf von ihnen finanzierte Milizen, in abgelegenen Regionen eigene Machtapparate aufbauen und agieren zunehmend außerhalb jeder Kontrolle durch die Zentralregierung.


Die Erdgaslieferungen aus Russland an den westlichen Nachbarn wurden unterbrochen, da die ukrainische Regierung sich bisher weigerte, die geforderten Milliardenbeträge aus Altschulden zu bezahlen. Westliche Energielieferanten, die zwar eilig in die Bresche sprangen, bestanden angesichts der wirtschaftlichen Situation ihres Geschäftspartners auf Vorkasse. Der ukrainischen Bevölkerung dürfte jetzt wohl ein sehr kalter Winter bevorstehen.

Bedenklich ist nicht nur die unverhohlene Kriegsrhetorik westlicher Medien in den letzten Monaten. Diese hatten die Existenz bewaffneter und offen antisemitischer Nationalistenverbände in der Ukraine lange Zeit entweder rigoros geleugnet und als russische Propagandalügen bezeichnet oder aber versucht, sie als notwendiges Übel darzustellen. Der auch auf die kapitalistischen Zentren übergreifende wirtschaftliche Kollaps bringt offensichtlich eine Renaissance rechtsradikalen Denkens sowie eine Akzeptanz von strukturellem bis hin zu offenem Antisemitismus hervor.


Wie aber nun weiter mit dem zerbröselnden osteuropäischen Staat? Eine von Teilen der traditionsmarxistischen Linken befürchtete Wiederauflage der klassischen faschistischen Diktatur kann es jedenfalls nicht geben. Die „fordistische Zwangsformierung des Nationalsozialismus“ (Robert Kurz) als Sonderweg nachholender Modernisierung ist an eine historische Epoche gebunden, die für immer der Vergangenheit angehört. Andererseits ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Markt zum alleinseligmachenden Götzen erklärt wird und die „nicht mehr marktfähigen Menschen“ (Robert Kurz) gleichzeitig der Hoffnungslosigkeit einer dauerhaften Armutsverwaltung preisgegeben werden, ein geeigneter Nährboden, auf dem Rassismus und Nationalismus blühen und gedeihen. Was sich in der Ukraine zur Zeit austobt, ist demzufolge ein „sozialer Verzweiflungsnationalismus“ (Robert Kurz). Ein Verzweiflungsnationalismus, der allerdings kaum weniger barbarisch agiert als sein historisches Vorbild. Die von bewaffneten Faschistenverbänden der Ukraine favorisierte „wirtschaftliche Autarkie“ läuft letztlich auf die Installation einer besonders repressiven Armutsverwaltung hinaus, verbunden mit ethnisch motivierter Plünderungsökonomie, wie sie in weiten Teilen des Planeten schon längst Realität ist. Es ist wahrscheinlich, dass sich die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ost-Ukraine langfristig gesehen nur als Auftakt einer ganzen Kette von Bürgerkriegen erweisen, die letztlich im vollständigen Zerbrechen staatlicher Strukturen und dem Absturz weiter Teile Osteuropas in die Barbarei münden.
Der Zerfall der Ukraine ist ein schauerliches Menetekel, ein Blick in eine Zukunft, die den derzeit noch funktionierenden europäischen Staaten über kurz oder lang ebenfalls bevorstehen wird.



Literatur


Robert Kurz „Die Krise, die aus dem Osten kam“, in: Helmut Thielen (Hg.) „Der Krieg der Köpfe. Vom Golfkrieg zur neuen Weltordnung“, Horlemann, 1991


Robert Kurz „Die Demokratie frisst ihre Kinder“, in: Gruppe Krisis (Hg.) „Rosemaries Babies. Die Demokratie und ihre Rechtsradikalen“, Horlemann, 1993


Robert Kurz „Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung“, Horlemann, 2003