Gerd Bedszent
Nigeria – vom Ölparadies zum zerbrechenden Staat
Zuerst veröffentlicht 2016 in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 13, S. 101-122
Der westafrikanische Staat Nigeria geriet in den letzten Jahren häufig in die Schlagzeilen der internationalen Presse. Zuerst waren es grausige Bilder einer jahrzehntelang ohne Rücksicht auf ökologische Folgen betriebenen Erdölförderung, die nach dem Ende der Militärdiktatur nach und nach westliche Medien erreichten. In letzter Zeit überwogen Schreckensnachrichten über den im Landesinneren tobenden Bürgerkrieg zwischen nigerianischen Ordnungskräften, Ethnomilizen und islamistischen Terrorgruppen.
Instabiler Staat
Nigeria ist mit etwa 140 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Afrikas, verfügt über eine vergleichsweise hochgerüstete Armee und steht in Bezug auf die Wirtschaftsleistung in der ersten Reihe der afrikanischen Staaten. Nigerianische Truppen nahmen in den letzten Jahren an mehreren UN-Blauhelmeinsätzen in westafrikanischen Bürgerkriegsgebieten teil. Als Vielvölkerstaat ist Nigeria ein Produkt der Kolonialherrschaft. Im Zuge der Eroberung durch die Briten wurden seinerzeit zahlreiche afrikanische Feudalreiche und Stammesterritorien mit sehr unterschiedlicher Geschichte und Kultur gewaltsam zusammengepresst. Im Land werden insgesamt 514 afrikanische Sprachen und Dialekte gesprochen. Die Völker der bewaldeten Küstenregionen wurden von den Briten weitgehend christianisiert; die Steppenvölker des Landesinneren hängen schon seit dem frühen Mittelalter größtenteils dem Islam an. Dies ist allerdings keine Besonderheit Nigerias; die Bevölkerung der meisten westafrikanischen Staaten ist ähnlich konfessionell gepalten. Obwohl einer der weltweit größten Exporteure von Erdöl, neuerdings auch von Erdgas und Diamanten, ist der Staat geprägt durch Massenarmut, ausufernde Korruption und Kriminalität. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt derzeit etwa 40 Prozent. Siebzig Prozent der Bevölkerung Nigerias lebt von weniger als einen US-Dollar pro Tag.
Nigeria wurde 1960 als Föderation von drei Landesteilen unabhängig und war schon damals ein höchst instabiler Staat. Die britische Kolonialmacht hatte sich hauptsächlich auf die feudalen Eliten und Stammesoberhäupter der vorkolonialen Ära gestützt, deren hoffnungsvolle Sprösslinge in Missionsschulen ausgebildet und der neu geschaffenen einheimischen Administration schließlich kampflos die Macht überlassen. Formell konstituierte sich Nigeria als parlamentarische Republik. In den Jahren von 1960 bis 1966 stellte die Zentralregierung jedoch wenig mehr als ein machtloses Aushängeschild der drei Regionalregierungen dar.
Die großen politischen Parteien waren ethno-nationalistisch ausgerichtet und strebten jeweils die Regierungsbeteiligung an, um die eigene Region auf Kosten der anderen zu stärken – im Fall einer Wahlniederlage drohten sie regelmäßig mit Austritt aus dem Staatsverbund. Die einander ausschließenden Nationalismen führten schnell zu Gewalt, Chaos und zu massiven Wahlmanipulationen; besonders die Südwestregion verwandelte sich in ein Schlachtfeld von Parteimilizen. Nach Putschversuchen niederer Offiziere riss schließlich die Militärführung die Macht an sich. Um die Rolle der Zentralregierung gegenüber den Regionen zu stärken, erzwangen die Militärs eine Neuordnung des Landes in zwölf Bundesstaaten (mittlerweile ist deren Anzahl auf 36 gestiegen).
Biafra – ein vergessener Krieg
Hintergrund der Anfang der 1960iger Jahre tobenden bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen bildete schon damals der Streit um die Erlöse aus den seit 1956 im Delta des Niger sprudelnden Ölquellen. Von den verschiedenen Ethno-Eliten wollte jede ein möglichst großes Stück von Öl-Kuchen für sich ergattern. Als nach der Neuordnung des Landes die den Südosten dominierende Igbo-Elite die Kontrolle über das von kleineren Ethnien besiedelte Delta des Niger verlor, bereitete sie zielgerichtet die Abspaltung vor. Am 30. Mai 1967 wurde der unabhängige Staat Biafra proklamiert.
Es handelte sich bei der Sezession aber nicht nur um den Versuch der Eliten des südöstlichen Landesteiles, den Reichtum an fossilen Bodenschätzen für sich allein zu sichern und die Vertreter der anderen Volksgruppen „abzuhängen“. Die Regierungstruppen und das Militär des abtrünnigen Landesteiles waren gleichzeitig Akteure eines Stellvertreterkrieges – im Hintergrund stritten sich westliche Ölkonzerne um einen möglichst großen Anteil an den Lagerstätten.
Die Sezession wurde blutig niederschlagen – der sogenannte Biafra-Krieg von 1967 bis 1970 kostete etwa 36.000 Soldaten beider Seiten und etwa 600.000 Zivilisten das Leben. Immerhin gelang es dem Regime danach recht schnell, die abtrünnige Igbo-Elite wieder in den nigerianischen Staat zu integrieren. Hauptursache des Scheiterns der Abspaltung war vermutlich das Bestreben der Großmächte, nicht an den noch aus der Kolonialzeit stammenden, häufig willkürlichen Grenzziehungen in Afrika zu rühren. Tatsächlich haben die zahlreichen Bürgerkriege auf dem Kontinent bisher nur zwei international anerkannte afrikanische Staaten hervorgebracht: Eritrea und den Süd-Sudan. Der erstgenannte Staat wird derzeit von einem blutigen Militärregime beherrscht; das letztgenannte Gebilde gilt seit seiner Gründung als gescheitert und steckt hoffnungslos in einem Bürgerkrieg einander niedermetzelnder Ethno-Milizen.
Die Militärführung Nigerias sah sich nach dem Niederkämpfen der Biafra-Sezession als einzige Kraft, die dem Auseinanderstreben der einzelnen Ethnien und Regionen Einhalt gebieten konnte. Bewegungen, die angeblich oder tatsächlich die staatliche Einheit untergruben, wurden und werden seitdem regelmäßig mit brutaler Gewalt unterdrückt, politische Richtungsentscheidungen von der Armeeführung vorgegeben und auch durchgesetzt. Die folgenden Jahrzehnte waren demzufolge geprägt durch eine lang andauernde Kette von Putschen und Gegen-Putschen der Armee; die Militärherrschaft wurde jeweils nur für kurze Zeit von Zivilkabinetten abgelöst.
Gescheiterte Modernisierung
Der Versuch einer nachholenden Modernisierung in den 1970er und Anfang der 1980iger Jahre erfolgte im Wesentlichen unter der Regie rechtsgerichteter Militärregierungen. Es gab in Nigeria nie eine nennenswerte Nationalisierung von Bodenschätzen; die jeweilige Regierung bemühte sich stets um ein gutes Verhältnis zum Westen und begnügte sich finanziell damit, die Erdölförderung zu besteuern.
Die Erlöse aus dieser Besteuerung ließen nach dem Ölpreisschock der 1970iger Jahre die Staatseinnahmen dennoch heftig anschwellen. Das herrschende Militärregime investierte daraufhin massiv in ein das ganze Land umfassendes Modernisierungsprogramm. Anders als beispielsweise anfänglich in Libyen, Algerien oder dem Irak war dieser Modernisierungsversuch jedoch von keinem sozialpolitischen Programm flankiert. Der Dollarsegen aus Übersee ging demzufolge an der Bevölkerungsmehrheit vorbei.
Es wurden reichlich Fernstraßen, Flugplätze, Fernsehstationen und andere gigantomanische Projekte aus dem Boden gestampft. Eine nachhaltige Industrialisierung des Landes gelang jedoch nicht. Die meisten staatsfinanzierten Industrieanlagen wurden entweder nie fertiggestellt oder aber sie scheiterten sehr schnell am Weltmarkt. Ebenso wie bei den anderen „Zuspätkommern“ nachholender Modernisierung blieb die Volkswirtschaft Nigerias auf eine Rolle als Lieferant von Rohstoffen für die kapitalistische Verwertungsmaschine festgeschrieben und ist somit extrem von den Schwankungen der Weltmarktpreise abhängig.
Der Strom der Petrodollars ermöglichte allerdings Lebensmittelimporte – meist hochsubventionierte Produkte agrarkapitalistischer Großunternehmen. Deren Billigpreisen waren die heimischen Produzenten häufig nicht gewachsen, was einen stetigen Verfall der traditionell betriebenen Kleinbauernwirtschaften zur Folge hatte. Nigeria verfügt zwar derzeitig noch immer über eine nicht unbeträchtliche Agrarproduktion, kann aber seine Bevölkerung insgesamt nicht mehr ernähren und steckt daher unrettbar in der Zwickmühle des kapitalistischen Weltmarktes und seiner ungleichen Preisgestaltung fest.
Millionen Menschen strömten in der Hoffnung auf guten Verdienst in die Städte, wo sie dann aber oft keine Arbeit fanden und sich mittels prekärer Beschäftigungsverhältnisse durchschlagen mussten. Die Bevölkerung des städtischen Ballungszentrums um die Metropole Lagos stieg von etwa 300.000 Einwohnern im Jahre 1950 auf 13,4 Millionen im Jahre 2004. Außer dem Moloch Lagos gibt es in Nigeria derzeit noch zehn weitere Millionenstädte.
Die nigerianische Oberschicht – Militärführer und Geschäftsleute – investierten die Gewinne ihrer oftmals fragwürdigen Geschäfte nicht in Industrievorhaben, sondern bereicherten sich lieber durch Grundstücksspekulationen. Als Folge stiegen in den Städten die Immobilienpreise rasant an – und mit ihnen die Lebenshaltungskosten. Die für Ausbau und Instandhaltung urbaner Infrastruktur vorgesehenen Milliardenbeträge versickerten wirkungslos in den Tiefen einer korrupten und unfähigen Bürokratie – Trinkwasser und Elektrizität wurden zu Mangelwaren. Eine weitere Folge der Explosion städtischer Armut war das Ansteigen der Kriminalität.
Nigeria genießt schon seit den 1970iger Jahren innerhalb der afrikanischen Länder den traurigen Ruf, seiner weit verbreiteten organisierten Kriminalität nicht Herr werden zu können. Das war anfangs auch eine Folge des Biafra-Krieges: Um die Sezession niederzukämpfen, hatte die Regierung das Militär massiv aufgestockt – von anfangs 10.000 Soldaten war deren Stärke auf dem Höhepunkt der Kämpfe auf 270.000 angewachsen. Eine chaotisch verlaufende Demobilisierung nach Ende des Bürgerkrieges hinterließ dann eine ganze Generation demoralisierter, von den Kriegsgemetzeln traumatisierter Ex-Militärs, die ihre einzige Zukunft im kriminellen Untergrund sah. Zahlreiche Waffen der aufgelösten Truppenteile verschwanden damals spurlos. Den häufig wechselnden nigerianischen Regierungen gelang es nie, das Netzwerk krimineller Banden wenigstens annähernd unter Kontrolle zu bekommen. In Nigeria existiert mittlerweile eine ausgedehnte Schattenökonomie mit sehr unscharfer Trennung zwischen Unternehmen, Behörden und organisierter Kriminalität.
Mit dem Einbruch der Erdölpreise Anfang der 1980iger Jahre stand das Land vor einem finanziellen Abgrund. Die Oberschicht hatte sich zwar schamlos bereichert, die Staatskassen waren jedoch leer geblieben. Der IWF legte damals neben zahlreichen anderen Ländern auch Nigeria die Daumenschrauben an. Das Militär zog wieder einmal die Notbremse und putschte. Nach einem erfolgreichen Gegen-Putsch entschloss sich das neue Militärregime, der Forderung des IWF nach einem Strukturanpassungsprogramm nachzugeben. Auf Kosten der Bevölkerung, versteht sich. Es folgte ein massiver Arbeitskräfteabbau in den Verwaltungen, im Bildungs- und Sozialwesen. Mehrere hundertaussende Wanderarbeiter aus anderen westafrikanischen Staaten, die in der Hoffnung auf guten Verdienst nach Nigeria geströmt waren, wurden vertrieben. Die Privatisierung öffentlichen Eigentums geriet unter der Schirmherrschaft der Militärführung zu einem kriminellen Raubzug – beispielsweise ließen Generäle sich selbst oder ihren Familienangehörigen ohne jede Gegenleistung per Dekret Baugrundstücke übertragen und legten so den Grundstock für Riesenvermögen.
Nigeria kam nach der neoliberalen Schocktherapie zwar irgendwann in den Genuss eines Teilschuldenerlasses, aber die staatliche Infrastruktur lag zu diesem Zeitpunkt schon völlig darnieder. Eine öffentliche Krankenversorgung und ein durchgängiges Rentensystem existieren bis heute nicht; das staatliche Bildungssystem weicht mehr und mehr einem System kommerziell betriebener oder von religiösen Gruppen finanzierter Privatschulen. Obwohl Schulpflicht besteht, besucht derzeit nur jedes zweite nigerianische Kind eine öffentliche Bildungseinrichtung.
1991 zog die Militärregierung Babangida in die im Zentrum des Landes aus dem Boden gestampfte neue Hauptstadt Abuja um und überließ die Millionen von Entwurzelten in den Elendsvierteln der unkontrollierbar gewordenen Metropole Lagos ihrem Schicksal. Gemäß einem im Jahre 2003 veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen lebten damals 41,6 Millionen Einwohner Nigerias in Slums; das waren fast 80 Prozent der urbanen Bevölkerung. Im Jahre 2005 erntete das Armutsviertel Ajegunle auf acht Quadratkilometern Sumpfgelände am Rande der Metropole Lagos mit 1,5 Millionen Einwohnern den traurigen Ruhm, in einer Auflistung der weltweit größten Slums den sechsten Platz einzunehmen. Kenner der Verhältnisse beschreiben die Lebensverhältnisse in diesem Slum als „höllisch“.
Bis heute haben nur etwa 40 Prozent der nigerianischen Haushalte einen Stromanschluss. Die Energieversorgung ist höchst instabil, plötzliche Stromsperren nicht selten. Ein landesweites Wasserversorgungnetz gibt es nicht; nur jeder zweite Haushalt verfügt über sauberes Trinkwasser. Allein in der Zeit von 1970 bis 2000 stieg die Anzahl der Armen von 19 Millionen auf über 90 Millionen. Nur ein Prozent der nigerianischen Bevölkerung nimmt für sich regelmäßig 85 Prozent der Staatseinnahmen in Anspruch.
Die Folge zunehmender Erosion staatlicher Institutionen war die Entstehung privat betriebener Gewaltunternehmen. Ein Beispiel aus dem Jahre 1998, also aus der Endphase der Militärherrschaft: Da die Oberschicht einer nigerianischen Großstadt der ausufernden Kriminalität nicht mehr Herr wurde, rekrutierte sie mehrere hundert Arbeitslose für einen Ordnungsdienst. Nach einer Razzia unter der städtischen Armut wurden von den sogenannten „Bakassi Boys“ etwa 200 aufgrund erfolterter Geständnisse ‚überführte‘ Kriminelle öffentlich massakriert und ihre Leichen verbrannt (vgl. Kurz, 2003, S. 290f).
In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Zerfall sowohl staatlicher Infrastruktur als auch der traditionellen Großfamilien in den Armutsgebieten dazu beiträgt, dass die Reproduktion fast vollständig auf dem weiblichen Bevölkerungsteil ‚abgeladen‘ wird. Während Männer im arbeitsfähigen Alter häufig auf der verzweifelten Suche nach Jobs durch die Lande ziehen oder sich zu Banden bewaffneter Plünderer zusammenschließen, müssen die in den Slums oder in heruntergekommenen Dörfern zurückgebliebenen Frauen die Kinder oftmals allein durchbringen. Flankiert wird diese Entwicklung von einem Klima zunehmender Frauenfeindlichkeit, welches sich unter anderem durch den ideologischen Siegeszug des militanten Islamismus, aber auch durch eine barbarische Verfolgung angeblicher ‚Hexen‘ manifestiert.
Siegeszug der Schattenökonomie
Der Tod des Diktators General Abacha im Jahre 1998 beendete zwar die Periode der bis dahin kaum unterbrochenen Militärherrschaft, doch Ruhe trat in dem Land nicht ein. Der mit dem erneuten Preisanstieg für Rohöl wieder zunehmende Strom an Petrodollars ging und geht wieder an der Bevölkerungsmehrheit vorbei.
Dass mit dem Sturz der Diktatur auch die im Lande grassierende Korruption ende, erwies sich schnell als frommer Wunschtraum neoliberaler Ideologen. In einem Land, voll von anlagehungrigem Kapital, aber bar jeder Infrastruktur, die es ermöglicht, Gelder auf legalem Wege zu vermehren, ist kriminelle Geschäftemacherei Normalität. Tatsächlich hat sich nach dem Sturz der Diktatur die offene kriminelle Bereicherung lediglich von einer eng begrenzten Schicht führender Militärs auf breitere Kreise von Staatsbürokratie und Unternehmertum verlagert. Nigeria gilt demzufolge noch immer als eines der korruptesten Länder der Welt; auf dem Index von Transparency international belegt das Land derzeit Platz 136 (das Schlusslicht bildet mit Platz 174 der faktisch nicht mehr existente Staat Somalia).
Derzeit gibt es in Nigeria nach offiziellen Angaben 15.700 Dollar-Millionäre und mehrere Milliardäre. Nur ein Beispiel: Der gemäß Forbes-Liste mit 14,7 Milliarden US-Dollar reichste Mensch Afrikas ist der nigerianische Unternehmer Aliko Dangote – nach eigenem Angaben hat er sein Vermögen hauptsächlich mit der Produktion von Baustoffen und dem Import von Lebensmitteln erwirtschaftet. Bei der Zahl der nigerianischen Superreichen soll es allerdings eine extrem hohe Dunkelziffer geben – viele, deren Vermögen höchst zweifelhafter Herkunft ist, haben ihre Gelder in dubiosen Steueroasen versteckt und scheuen das Licht der Öffentlichkeit.
Nachdem die offene Repression der Militärherrschaft einer subtileren Form der Machtausübung gewichen war, hatten sich Unternehmen und lokale Behörden unverzüglich auf die nun auch für sie offene Möglichkeit einer Beteiligung an der illegalen Schattenökonomie gestürzt.
Eine Studie des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung besagt, dass im Niger-Delta jährlich 55 Millionen Barrel Öl gestohlen und unter Mitwirkung führender Militärs und Politiker ins Ausland verschoben werden. Nach Schätzungen internationaler Organisationen haben sich Angehörige nigerianischer Eliten in den letzten Jahrzehnten mindestens 400 Milliarden US-Dollar aus Öleinnahmen illegal angeeignet und auf ausländischen Konten geparkt.
Der größte Teil des in Nigeria geförderten Erdöls und Erdgases geht übrigens entweder auf legalem oder illegalem Wege in die USA. Diese ist in erster Linie am weiteren Sprudeln des Treibstoffes für die kapitalistische Weltmaschine interessiert und unternimmt keine Maßnahmen gegen offenen Diebstahl und kriminelle Geldtransfers.
Nigeria wurde außerdem – wie zahlreiche andere Randstaaten der zerbröselnden kapitalistischen Peripherie auch – zu einer Drehscheibe global agierender Mafia-Organisationen. Das Land ist mittlerweile in eine sehr beliebte Transitroute für den Schmuggel von Drogen aus Südamerika nach Europa eingebunden. Per Schiff über den Atlantik ankommendes Kokain wird über die schon weitgehend entstaatlichte Zentralsahara weiter in Richtung Mittelmeer geschleust; die Schmuggler profitieren von den nicht unbeträchtlichen Preisunterschieden zwischen den verschiedenen Umschlagplätzen. Zum Drogenschmuggel gesellten sich bald auch noch Waffenschmuggel, Menschenhandel, Schutzgelderpressung, Kidnapping und offener Raub.
Für den in Nigeria aktiven kriminellen Untergrund ist es völlig unproblematisch, die für ihre Geschäfte erforderlichen Handlanger zu rekrutieren. Für die immer weiter verarmende Bevölkerung von Agrargebieten und städtischen Slums sind solche illegalen Jobs oft die einzige Überlebensmöglichkeit. Wo eine legale Wirtschaft nicht oder nicht mehr existiert, ist eine Verstrickung in den kriminellen Untergrund Normalität.
Kriminelle Kartelle sollen beträchtliche Teile der nigerianischen Sicherheitsorgane auf ihren Gehaltslisten führen. Der damalige nigerianische Präsident Goodluck Jonathan sprach im Jahre 2012 von einem Netzwerk der Terror-Sympathisanten in den Reihen der Parlamentarier, sowie im Justizapparat, in der Polizei, im Geheimdienst und im Militär. Hintergrund der Anschuldigungen waren offensichtlich Waffenschiebungen von Armeeführung und organisierter Kriminalität, mit deren Hilfe sich islamistische Milizen damals aufrüsteten.
Der mittlerweile offen zutage getretene Zerfall der nigerianischen Gesellschaft wird wohl in absehbarer Zeit autoritäre Versuche einer Krisenbewältigung zur Folge haben. Darauf lässt beispielsweise der Sieg des ehemaligen Putschgenerals Muhammadu Buhari bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2015 schließen. Buhari entstammt der islamisch geprägten Elite des Nordens und war in seiner kurzen Zeit als Regierungschef für eine extrem frauenfeindliche Politik berüchtigt.
Autoritäre Krisenbewältigungsstrategien können die Entwicklung allerdings höchstens kurzzeitig ausbremsen, keinesfalls stoppen. Robert Kurz schrieb in diesem Zusammenhang: „Der Zerfallsprozess der Ökonomie ist aber stets auch ein Zerfallsprozess der Politik; der unlösbare Widerspruch entlädt sich in Hassideologien, religiösem Wahn, Terror, Massakern und ziellosen Bürgerkriegen“ (Kurz, 2005, S. 112). Mit genau diesem Szenario haben wir es in Nigeria seit Jahren zu tun.
Von der Ölpest zum Ethno-Gemetzel
Nigeria ist weltweit der elftgrößte Produzent und achtgrößte Exporteur von Rohöl. Die Öl- und Gasvorräte Nigerias konzentrieren sich im von zahlreichen kleinen Ethnien besiedelten Delta des Niger. Die Bewohner der Region hatten in der Zentralregierung stets nur ein begrenztes Mitspracherecht, mussten aber die ganze Last der Erschließung fossiler Rohstoffvorkommen tragen. Und schon diese Erschließung trug häufig kriminelle Züge: Sofort nach Entdeckung einer Lagerstätte, wurden die betreffenden Ländereien im Regelfall verstaatlicht. Entschädigungszahlungen gingen an den jeweils zuständigen Stammesfürsten oder Dorfvorsteher. Diese machten sich oft mit den eingestrichenen Geldern davon und überließen ihre Landsleute der Armut und Hoffnungslosigkeit.
Die Förderung der fossilen Rohstoffvorkommen lag von Anfang an in der Hand westlicher Konzerne. Die grausigen ökologischen Folgen des Ölbooms ließen sich nach dem Sturz der Diktatur nicht mehr unter den Tisch kehren. Seit dem Beginn der Ölförderung im Niger-Delta, gab nach offiziellen Angaben über 8.000 Unfälle sowie Beschädigungen von Förderanlagen und Pipelines; etwa 2 Millionen Tonnen Rohöl ergossen sich über die Flussarme des Niger in den Atlantik und vergifteten die Mangrovenwälder an der Küste. Zum Vergleich: Als im April 2010 die Ölplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko explodierte, stand die Welt wochenlang Kopf. Dabei waren es damals „nur“ etwa eine Million Tonnen Rohöl, die ins Meer geflossen waren und die Küsten der USA kontaminiert hatten. Das Wissen über die permanente Umweltkatastrophe im Delta des Nigers hat hingegen nie über interessierte Kreise von Umweltschutzgruppen und Menschenrechtsaktivisten Verbreitung erlangt.
Beschuldigte Konzerne machen regelmäßig Sabotage und Anschläge auf ihre Pipelines für die Ölpest verantwortlich. Beschädigungen von Förder- und Transportanlagen hat es während des im Delta herrschenden Bürgerkriegschaos tatsächlich viele gegeben. Dieser Bürgerkrieg war jedoch schon eine Folge unter anderem der permanenten Umweltvergiftung. Tatsächlich wiesen die im Delta verwendeten Technologien von Ölförderung und –transport von Anbeginn gravierende Mängel auf; die übergroße Mehrheit der Unfälle mit austretendem Öl war hausgemacht und resultierte ganz simpel aus dem Bestreben nach Profitmaximierung.
Bekannt ist außerdem, dass die in Nigeria aktiven Ölkonzerne jahrzehntelang – natürlich ebenfalls aus Kostengründen – das bei der Ölförderung anfallende Erdgas nicht aufbereitet, sondern einfach abgefackelt hatten. Nach Schätzungen von Experten verbrannten dadurch bis jetzt etwas 15 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. Der durch die Verbrennung entstehende Ruß fiel wieder auf die Erde zurück, verschmutzte das Trinkwasser, drang in die Nahrungskette ein und verursachte bei der Bevölkerung der Region massive Gesundheitsprobleme.
Die permanente Vergiftung ihrer Umwelt raubte den im Niger-Delta ansässigen ethnischen Gruppen auf Dauer Gesundheit und Lebensunterhalt, während die nigerianische Zentralregierung keinerlei Anstalten machte, von ihrer Misere Kenntnis zu nehmen. Nach Schätzungen von Experten ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Bewohner des Niger-Deltas als Folge der Ölpest um 10 Jahre gesunken.
Eine UN-Studie besagte, dass allein die Dekontamination des vergleichsweise kleinen Territoriums der im Delta ansässigen Ogoni-Ethnie ungefähr 30 Jahre dauern und etwa eine Milliarde US-Dollar kosten würde. Selbstverständlich wurde mit dieser Dekontamination bisher noch nicht einmal begonnen. Und ebenso selbstverständlich kam und kommt es auch weiterhin zu Umweltkatastrophen; die letzte öffentlich bekannt gewordene größere Ölpest, für die diesmal der Konzern ExxonMobil verantwortlich zeichnete, war im Juni 2010. Im Jahre 2013 wurde das Niger-Delta in einer von einem unabhängigen Umweltschutzinstitut erstellten Studie unter den „Top Ten der am stärksten verseuchten Gebiete der Erde“ geführt.
Die Profitmaximierung um jeden Preis verschaffte zwar den Ölkonzernen Milliardengewinne und ließ auch eine kleine nigerianische Oberschicht steinreich werden; die Masse der Bevölkerung versank jedoch immer mehr in Armut und Hoffnungslosigkeit. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten.
Nach dem Ende der Militärdiktatur geriet die Situation im Delta völlig außer Kontrolle. Die anfänglich sozial begründeten Proteste gegen die permanente Umweltvergiftung durch westliche Konzerne führten binnen kurzer Zeit zu einer vollständigen Auflösung des ohnehin bereits stark angeschlagenen Gewaltmonopols des Staates. Die Region wurde zum Tummelplatz einer Unmenge von Warlords, Ethno-Milizen, selbsternannten Befreiungsbewegungen und Banden ganz gewöhnlicher Krimineller. Hatte die Biafra-Sezession noch die Gründung eines eigenen Nationalstaates zum Ziel gehabt, so ging es den meisten Parteien beim nun folgenden Bürgerkriegschaos im Delta um einen möglichst großen Anteil an den Fördererlösen sowie um Verteilungskämpfe mit anderen Akteuren.
Von Ölfirmen oder lokalen Politikern aufgestellte Milizen und Sicherheitsunternehmen verselbständigten sich und agierten zunehmend auf eigene Faust. Das "Movement for the Emancipation of the Niger Delta" (MEND) und mehrere andere bewaffnete Gruppen mit ähnlicher Programmatik verlangten von der Zentralregierung, ihrer jeweiligen Ethnie einen größeren Anteil an den Öleinnahmen des Landes zuzuteilen. Sie untersetzten ihre Forderungen durch Anschläge auf Förderanlagen und Pipelines, lieferten den in die Region geworfenen Militäreinheiten einen blutigen Guerillakrieg und bekämpften sich außerdem gegenseitig.
Andere Gruppen zapften im Windschatten der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen ganz offen Pipelines an und verkauften das so gewonnene Rohöl auf eigene Rechnung. Piraten attackierten Ölplattformen und Tanker, stahlen das geförderte Öl und nahmen die Belegschaften als Geiseln. Wieder andere Gruppen spezialisierten sich auf Schutzgelderpressung und Kidnapping.
Milizen der verschiedenen im Delta beheimateten Völkerschaften gingen aufeinander los und reklamierte jeweils für sich die ausschließlichen Rechte an Gebieten, in denen Öllagerstätten nachgewiesen sind oder auch nur vermutet werden. Über 700.000 Menschen wurden im Verlaufe dieser Ethno-Kriege vertrieben; die Anzahl der Toten ist unbekannt. In den Städten bekämpften sich rivalisierende Jugendgangs, von denen jede das alleinige Recht beanspruchte, den Sicherheitsdienst für die in der jeweiligen Region tätige Ölfirma zu stellen. Allein in den Jahren von 2005 bis 2009 gab es 12.000 Fälle von Pipeline-Vandalismus; in über 3.000 dieser Fälle trat Öl aus. Etwa zeitgleich wurden über 400 ausländische Angestellte der im Delta tätigen Ölfirmen entführt und erst nach Lösegeldzahlung wieder freigelassen.
Die Regierung war gegenüber der Explosion von Gewalt hilflos. Was nicht verwundern kann: Die im Südosten Nigerias aktiven Warlords, Armutspiraten, Öldiebe und Kidnapper haben nur das reproduziert, was ihnen die heimische Oberschicht schon seit langer Zeit vorexerziert hat. Die Armeeführung reagierte ausschließlich repressiv. Etwa 200.000 Menschen wurden vom Militär aus ihren Dörfern vertrieben, was den Rebellengruppen und kriminellen Banden dann noch mehr Zulauf verschaffte.
Erst nachdem die nigerianische Ölförderung massiv eingebrochen war und zahlreiche Förderstätten geschlossen werden mussten, entschloss sich im Jahre 2009 die größte Rebellengruppe MEND zum Einlenken, akzeptierte ein Amnestieangebot der Regierung und legte die Waffen nieder. Ruhe kehrte in der Region aber noch lange keine ein, schon allein deshalb nicht, weil sich die Regierung als unfähig erwies, das von ihr zugesagte Eingliederungsprogramms für ehemalige Ethno-Rebellen auch umzusetzen.
Angesichts der nicht eingehaltenen Zusagen und unveränderter Misere kam es ab 2012 wieder zu einer merklichen Zunahme von Anschlägen und bewaffneten Zusammenstößen. Kurz darauf wurde bekannt, dass die nigerianische Regierung den wichtigsten der das Delta beherrschenden Warlords Millionenbeträge für die Bewachung von Pipelines und Förderanlagen bezahlte. Das war die offene Kapitulation des Staates vor dem in Gestalt einer neu entstandenen Kaste von Gewaltunternehmern grassierenden Banditentum.
Fundamentalismus als Krisenreaktion
Während die Akteure der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Delta sich des Ethno-Nationalismus als Legitimationsideologie bedienen, toben sich Plünderungen und Gewaltorgien in den übrigen Landesteilen überwiegend unter religiösem Deckmantel aus. Der im Norden und in der Zentralregion grassierende islamische Fundamentalismus hat dabei seine Entsprechung im Fundamentalismus christlich-evangelikaler Sekten, die in den südlichen Landesteilen immer stärker an Zulauf gewinnen. Auf Pogrome an der christlichen Minderheit im Norden folgten zumeist sehr schnell Ausschreitungen gegen die islamische Minderheit im Süden. Der eine Mob tobte sich an Kirchen aus, der andere konterte damit, Moscheen abzufackeln. Um Vertreibungen und religiös motivierten Gemetzeln Einhalt zu gebieten, musste die Regierung mehrmals über die betroffenen Bundesstaaten den Ausnahmezustand verhängen.
Westliche Beobachter durchschauen die oft sehr komplizierten Interessensgegensätze innerhalb einer insgesamt immer mehr verarmenden Bevölkerung häufig nicht und deuten gewaltsam ausgefochtene Konflikte im Sinne von Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Tatsächlich haben diese Gemetzel kaum historische Wurzeln, sind viel eher ein Konglomerat aus ideologisch verbrämter Plünderung, kriminellen Verteilungskämpfen und purem Verzweiflungsnationalismus. Und die Bevölkerungsmehrheit der umkämpften Regionen ist keineswegs Akteur, sondern Opfer.
Unter den vom zunehmenden Staatszerfall profitierenden ideologischen Strömungen ist der islamische Fundamentalismus sicher besonders unappetitlich. Seine Hochburgen hat er nicht zufällig im äußersten Norden des Landes. Die Trockensavannen und Halbwüsten am Rande der Sahara waren für Investoren stets wenig attraktiv. Der Karawanenhandel, in der feudalen Ära ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor, ist mit dem Siegeszug von Auto und Flugzeug obsolet geworden. Die Viehzucht büßte durch die ölfinanzierten Lebensmittelimporten maßgeblich an Bedeutung ein. Nennenswerte Industriestandorte existieren nicht. Der Norden Nigerias teilte mit dem Einbruch der Moderne das Schicksal der meisten niedergehenden Saharastaaten; seine Bevölkerung verarmte noch schneller als die der wenigstens geringfügig entwickelten südlichen Regionen.
Der religiöse Fundamentalismus ist in Nigeria schon seit längerer Zeit auf dem Vormarsch. Aus dem niederen Klerus stammende „Erneuerer“ präsentieren sich immer wieder als Alternative gegenüber der in einem Sumpf von Korruption und Vetternwirtschaft steckenden religiösen und politischen Oberschicht, verweigern dem säkularen Staat ihre Anerkennung oder bekämpften ihn ganz offen. Der politische Islam wurde von einer neu herangewachsenen Politikergeneration als Programm benutzt, um die unbeliebte und zunehmend ohne jeden Rückhalt agierende Oberschicht von den Futterkrippen der Macht zu verdrängen. Über eine Rezeptur zur Beseitigen der Misere verfügt die aufstrebende Generation radikaler Islamisten ebenso wenig, wie der von ihr bekämpfte höhere Klerus. Im Gegenteil: Die von fundamentalistischen Hasspredigern durchgesetzten Maßnahmen sind eher darauf angelegt, die Lage der Bevölkerung noch weiter zu verschlimmern.
In zwölf Bundesstaaten im Norden Nigerias wurde seit Beginn der Demokratisierung im Jahre 1999 unter dem Druck der Islamisten offiziell die Scharia eingeführt. Von der Mehrheit der dort ansässigen Menschen wurde dies zunächst willig akzeptiert; man erhoffte sich wohl, dass durch eine religiöse Erneuerung die allgegenwärtige Korruption wenigstens etwas zurückgedrängt würde. Die offene Bereicherung der Oberschicht wurde aber nicht geahndet. Die von den islamischen Gerichten verhängten Strafen richteten sich ausschließlich gegen Vergehen wie Diebstahl, Ehebruch, Prostitution, Homosexualität, vorehelichem Geschlechtsverkehr und den Konsum von Alkohol. Bei Diebstahl wurden die Betroffenen im Regelfall zu einer körperlichen Verstümmelung verurteilt, bei Ehebruch zur Steinigung. Die Kleinkriminalität sank infolge der drakonischen Urteile nicht etwa, sondern stieg sogar weiter an. Kinder und Jugendliche ließen sich oftmals absichtlich bei kleineren Diebstählen erwischen und verzichteten auf Einsprüche gegen die Vollstreckung des Urteils, um dann nach vollzogener Verstümmelung in den Genuss einer „Resozialisierungsprämie“ der Regierung zu kommen. Umgerechnet 500 US-Dollar zahlte der nigerianische Staat für eine abgehackte Hand – für die Ärmsten der Armen in den heruntergekommenen Dörfern in Nigerias Norden bedeutet dies ein ansonsten unerschwingliches Vermögen.
Weitere Glanzlichter islamistischer Aktivitäten waren und sind beispielweise die endgültige Abschaffung des staatlichen Schulsystems in mehreren Bundesstaaten zugunsten eines durchgehenden Systems von Koranschulen sowie ein ebenfalls in mehreren Bundesstaaten durchgesetztes rigoroses Verbot von Impfungen.
Das Ausbleiben sozialer Veränderungen nach Einführung der Scharia führte dann nicht etwa zu einem Verfall des Islamismus, sondern zu seiner weiteren Radikalisierung. Bisher im Solde örtlicher Machthaber operierende Gruppen verselbständigten sich und artikulierten eigene Forderungen.
Als frühes Beispiel für den im Norden Nigerias zunehmend grassierenden Irrsinn möge die Miss-World-Wahl des Jahre 2002 dienen: Da die Gewinnerin des Vorjahres aus Nigeria stammte, wurde – wie üblich – die nigerianische Hauptstadt Abuja zum Austragungsort bestimmt. Als eine überregionalen Zeitschrift eine Kolumne veröffentlichte, die islamistische Hassprediger als blasphemisch gegenüber dem Propheten Mohammed deuten konnten, brach eine Orgie der Gewalt los: Zuerst wurde das Büro der Zeitschrift abgefackelt, dann gingen Moscheen, Kirchen, Autos, ganze Stadtviertel in Flammen auf. Die damaligen Unruhen kosteten etwa 200 Menschen das Leben, weitere 1.000 wurden verletzt, tausende verloren ihre Unterkunft. Die Teilnehmerinnen der Miss-World-Wahl wurden umgehend nach London evakuiert, wo das unterbrochene Spektakel dann ungestört fortgesetzt werden konnte.
Die Ereignisse des Jahres 2002 gelten als Beginn des im Norden Nigerias mittlerweile offen tobenden asymmetrischen Krieges zwischen Sicherheitsorganen und radikalen islamistischen Gruppen.
Hassprediger und Banditen
Es war der ökonomische und politische Zersetzungsprozess des nigerianischen Staates, der im Norden des Landes die „scheinreligiöse Hassidee“ (Kurz, 2003, S. 117) des militanten Islamismus hervorbrachte. Robert Kurz schrieb dazu weiter: "Wenn es auf die totale Sinnlosigkeit und Absurdität der an ihre Grenzen stoßenden kapitalistischen Ökonomie keine emanzipatorische Antwort mehr zu geben scheint, muss sie sich in immer neuen, immer heftigeren Wellen einer ebenso sinnlosen, auf keine gesellschaftlichen Ziele mehr ausgerichteten Gewalt- und Selbstzerstörungs-Identität entladen" (ebd. S. 273). Mit einer solchen Orgie von Gewalt und Selbstzerstörung haben wir es im Norden Nigerias derzeit zu tun – die Gotteskrieger bauen in den von ihnen kontrollierten Regionen nichts auf, demolieren statt dessen auch noch das wenige, was die blinde Zerstörungswut der entfesselten Marktkräfte übriggelassen hat, und verkaufen die Reste an jeden, der ihnen etwas dafür zahlt.
Natürlich handelt es sich bei den Versuchen (solche gibt es bekanntlich mehrere, nicht nur in Nigeria), ein islamisches Kalifat zu errichten, um den ideologischen Rückgriff auf vormoderne Herrschaftsstrukturen. Solche Herrschaftsbereiche (als Staat kann man sie nicht bezeichnen, da ihnen wesentliche Momente des modernen Staates fehlten) wieder herzustellen, ist aber allein schon aus den Gründen unmöglich, weil die ökonomischen Grundlagen für solche vormodernen Strukturen gar nicht mehr vorhanden sind. Das mittelalterliche Kalifat von Sokoto im Norden des heutigen Nigeria, auf das sich die Gotteskrieger von Boko Haram positiv beziehen, beruhte hauptsächlich auf tributären Verhältnissen: Die feudalen Eliten beschützten den Karawanenhandel durch die Sahara und die Kaufleute entrichteten dem Sultan und den Emiren dafür einen Teil ihres Gewinnes als Tribut. Mit dem Einzug von Auto und Flugzeug gibt es aber keinen Karawanenhandel mehr; die heutigen Gotteskrieger können also nur von Schmuggel oder von nacktem Raub leben. Es ist also ein rein ideologischer Bezug, der mit den realen Verhältnissen kaum etwas zu tun hat.
Die Führungsriege der militanten Islamisten rekrutiert sich bezeichnenderweise nicht aus den Reihen der Allerärmsten, sondern häufig aus entgleisten Angehörigen der Oberschicht. Bekanntlich war schon ein gewisser Osama bin Laden der akademisch gebildete Sohn eines saudischen Milliardärs, was Robert Kurz seinerzeit treffend kommentierte: „Die pathologisierten Sprösslinge pathologisierter Eltern stehen an vorderster Front der wahnhaften Krisenverarbeitung“ (ebd. S. 273). Von den Segnungen der westlichen Moderne angeödete Playboys und Nachwuchsmanager findet man nun auch in Führungszirkeln und im Umfeld der islamistischen Milizen Nordafrikas und der Zentralsahara. 2009 wurde beispielsweise ein junger Nigerianer in den USA beim Versuch überwältigt, als Selbstmordattentäter ein Passagierflugzeug in die Luft zu sprengen. Der Täter entstammte der Oberschicht Nord-Nigerias und war nach seinem Studium an einer westlichen Universität in Kontakt zu radikal-islamistischen Kreisen gekommen.
Die mittlerweile wohl bekannteste der militanten islamistischen Sekten Nigerias ist die 2002 gegründete „Jama’at Ahl as Sunnah Lid da’awati wa-I Jihad“ (Verband der Sunniten für den Aufruf zum Islam und den Jihad), die in den Medien meist unter der verkürzten Bezeichnung „Boko Haram“ (westliche Bildung ist verboten) firmiert. Der Gründer dieser Gruppierung, Imam Mohammed Yussuf, orientierte sich seinerzeit an stockkonservativen islamischen Theologen des Mittelalters und forderte eine radikale Abkehr von allem, was die westliche Moderne ausmache – bis hin zum Genuss von Schokoriegeln. Unter Bezug auf den Koran lehnte er beispielweise die darwinsche Evolutionstheorie ab und leugnete ganz offen die Kugelgestalt der Erde (vgl. Smith, 2015, S. 105). Soziale und emanzipatorische Ansätze sind in seinen Predigten hingegen nicht nachweisbar.
Seine soziale Basis hatte Yussuf bezeichnenderweise im selbst für nigerianische Verhältnisse bitterarmen Bundesstaat Borno im äußersten Nordosten, an der Grenze zum Wüstenstaat Tschad. In Borno gelten nach offiziellen Angaben drei Viertel der Menschen als arm, die Mehrheit der Bevölkerung besteht aus Analphabeten. Anfangs finanziert durch Spendengelder aus dem repressiv regierten Königreich Saudi-Arabien, breitete sich Boko Haram zielstrebig von Borno aus über benachbarte Bundesstaaten aus. Die Gewaltsekte hatte sich anfänglich die afghanischen Taliban als Vorbild auserkoren; mittlerweile haben die westafrikanischen Gotteskrieger ein Bündnis mit den in Syrien und im Irak aktiven “Steinzeitislamisten“ des ‚Islamischen Staates‘ (Konicz, 2015, S. 21) geschlossen.
In der bekannt-berüchtigten Propagandaschrift „Frauen für den Dschihad“ wird auf die ökonomischen Grundlagen des ‚Islamischen Staates‘ (IS) bezeichnenderweise nicht eingegangen. Lediglich an einer Stelle heißt es „Die Emire des Kalifatsstaates sind (…) fromme gläubige Menschen, die das Geld des Staates unter dem Volk verteilen, sie behalten es nicht für sich“ („Frauen für den Dschihad“, 2015, S. 81). An mehreren anderen Stellen des Pamphletes wird dem Wohlstand und dem technischen Wissen der materialistischen westlichen Gesellschaft der Kampf angesagt. Als Beginn des westlichen Irrweges gelten dabei die „mit Wucher behafteten Papierwährungen“ (ebd. S. 50). Idealisierend wird auf die Zeit des Propheten Mohammed verwiesen, also auf die arabische Stammesgesellschaft des 7. Jahrhunderts: „In jener Zeit verhungerten die Menschen mehr; als dass sie satt wurden, (…) doch trotz alldem stand diese Gesellschaft an erster Stelle vor dem Erhabenen Allah.“ (ebd. S. 53f) Faktisch besagt dieses „Manifest“, dass die Menschen sich mit Almosen zufrieden geben sollen. Mit anderen Worten: Es ist ein Hohelied auf eine repressive Armutsdiktatur.
Freilich hat sich inzwischen längst herumgesprochen, dass die militanten Gotteskrieger von den technischen Produkten der von ihnen ansonsten erbittert bekämpften westlichen Moderne gern und oft Gebrauch machen, dass sie ihre Geschäfte nicht mit Hilfe von selbstgeprägten Silbermünzen sondern per Kreditkarte abwickeln und dass – zumindest bei ihrer Führungsschicht – von selbstgewählter Armut und Askese keine Rede sein kann. Es handelt sich bei Boko Haram – ebenso wie bei dem IS und ähnlichen Gruppierungen – um kriminelle Gewaltsekten, die im Klima der allgemeinen Verrohung der spätkapitalistischen Gesellschaft relativ problemlos Fußvolk zum Töten und getötet werden rekrutieren konnten und noch können.
Der Vormarsch der Islamisten wurde von Teilen der Oberschicht irgendwann als Bedrohung aufgefasst. Der US-amerikanische Journalist Mike Smith zitiert einen altgedienten Politiker aus der Elite Nord-Nigerias: „Die Menschen werden kommen und mein Haus zerstören. (…) Diese arbeitslosen Jugendlichen werden einfach ihre Wut ausleben, ohne Rücksicht auf die Folgen, und sie werden jeden angreifen, der so aussieht, als sei er wohlhabend.“ (Smith, 2015, S. 147)
Im Jahre 2008 wurden im Bundesstaat Bauchi eine von Boko Haram organisierte Demonstration verboten, daraufhin ausgebrochene Unruhen von Militär und Polizei blutig unterdrückt. Nach Angaben des Militärs kamen dabei etwa 700 Menschen ums Leben und wurden umgehend in Massengräbern beigesetzt. Augenzeugen berichteten, die Armee habe willkürlich auf Unbewaffnete geschossen und bereits gefangene Islamisten ohne Urteil reihenweise exekutiert. Unter den Opfern befand sich auch Sektengründer Yussuf; er wurde bei Erstürmung seines Hauptquartiers festgenommen und kurze Zeit später im Polizeigewahrsam getötet – angeblich bei einem Fluchtversuch. Der staatlich angeordnete und gedeckte Mord trieb offensichtlich eine ganze Generation jugendlicher Islamisten in den Untergrundkrieg.
Unter Imam Yussufs Nachfolger Abubakar Shekau geht Boko Haram seit dem Jahre 2010 mit Terroranschlägen gegen Einrichtungen der nigerianischen Regierung vor. Im Juni 2011 sprengte sich in der Hauptstadt Abuja ein Selbstmordattentäter unmittelbar vor dem Hauptquartier der Polizei in die Luft. Ein weiterer Anschlag wenige Wochen später galt dem Hauptquartier der Vereinten Nationen in Nigeria. Es folgten Attentate auf Einrichtungen von Armee und Polizei, auf Behörden, Politiker, Schulen, Universitäten, medizinische Einrichtungen, Kirchen, Zeitungsredaktionen. Die Regierung reagierte auf die blutige Anschlagsserie mit Verhängung des Ausnahmezustandes und erklärte der Terrorgruppe im Mai 2014 gar den „totalen Krieg“.
Im Januar 2012 stellte Boko Haram dem christlichen Bevölkerungsteil das Ultimatum, sofort den Norden des Landes zu räumen. Es folgten gezielte Mordanschläge und Massaker militanter Islamisten an Angehörigen nicht-islamischer Religionsgruppen. Mittlerweile sind die meisten Opfer der Terrormilizen allerdings moderate Muslime, die die rigide Koranauslegung der Islamisten nicht teilen, oder aber ganz normale Dorfbewohner, die sich finanziellen Erpressungsversuchen der Gotteskrieger nicht beugen wollen oder nicht können.
Bevorzugtes Ziel der bewaffneten Untergrundkämpfer sind die wenigen im Norden Nigerias noch existierenden nicht-islamischen Schulen. Boko Haram ist bestrebt, der heranwachsenden Generation den Zugang zu westlicher Bildung unmöglich zu machen – und die regierende Elite reagierte auf Anschläge meist damit, bedrohte Schulen „aus Sicherheitsgründen“ zu schließen. Hervorzuheben ist außerdem die extreme Frauenfeindlichkeit der militanten Gotteskrieger. Die Repression der islamistischen Milizen gegenüber dem weiblichen Bevölkerungsteil samt Schleierzwang, Steinigung und Zwangsverheiratung im Kindesalter ordnet sich nahtlos ein in die “Verwilderung bzw. Barbarisierung des warenproduzierenden Patriarchats im Weltmaßstab“ (Scholz, 2005, S. 27).
Der organisierte Menschenraub vom April 2014, bei dem islamistische Kämpfer ein Mädcheninternat stürmten, 243 Insassinnen entführten und die Mädchen dann entweder umbrachten oder für umgerechnet neun Euro pro Person verkauften, rief zwar international einen Aufschrei des Entsetzens und der Empörung hervor. Das menschenverachtende Kidnapping war jedoch nur eines von zahlreichen barbarischen Gewaltexzessen, denen Schüler/innen und Studenten/innen zum Opfer fielen – die meisten erreichten nie westliche Medien.
Asymmetrischer Krieg
Die Unfähigkeit westlicher Medienvertreter, die Ursachen für den nigerianischen Bürgerkrieg zu erfassen, lässt sich wohl kaum treffender charakterisieren als anhand diesbezüglicher Kommentare des bekannten Afrika-Korrespondenten Marc Engelhardt. Dieser bezeichnet Boko Haram zwar zutreffend als „Symbol eines zerfallenden Staates“ (Engelhardt, 2014, S. 148) und charakterisiert die durchgeknallten Gotteskrieger an anderer Stelle auch schon mal als Söldnerorganisation, die sich an den Meistbietenden verkauft (vgl. ebd. S. 141). Die Gründe für das Aufkommen des militanten Islamismus sieht er jedoch nicht in einem barbarischen Zerfallsprozess eines gescheiterten Modernisierungsregimes, sondern ausschließlich in überlebten Relikten der Vormoderne: „Boko Haram steht in der Tradition einer tief verwurzelten Abneigung gegen westlichen Einfluss und westliche ‚Umerziehung‘, die bis zur Kolonisierung des traditionsreichen Sokoto-Kalifats Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreicht. (ebd. S. 139f). Die Schwäche des Nationalstaates und die Stärke der kriminellen Schattenwirtschaft werden von ihm zwar thematisiert, nicht jedoch deren Ursachen. Der Vormarsch von Boko Haram und ähnlicher Gruppierungen sei „niemals möglich gewesen, wenn die Regierungen (…) sich in angemessenem Maße um die Bürger gekümmert hätten oder es wenigstens heute täten" (ebd. S. 208f).
Engelhardts Buch wurde gewiss nicht zufällig von der ‚Bundeszentrale für politische Bildung‘ gefördert. Der politische Mainstream des Westens macht für den Siegeszug der durchgeknallten Gotteskrieger nicht die Gesetzmäßigkeiten einer in ihre finalen Krise geratenen Warenproduktion und den daraus resultierenden Staatszerfall in peripheren Randgebieten verantwortlich, sondern die Verblödung einer mittelalterlich-zurückgebliebenen Bevölkerung sowie die Dummheit und Ignoranz von Regierungen, die sich nicht richtig um ihre Bürger „kümmern“. Was liegt denn also näher, als diese unfähigen Regierungschefs ganz einfach durch befähigtere zu ersetzen und den ungebildeten afrikanischen Ziegenhirten anschließend die zivilisatorischen Segnungen von Burger King und Coca Cola einzubläuen – und sei es mittels militärischer Gewalt.
Tatsächlich haben Einsätze des Militärs den Vormarsch der Gotteskrieger von Anfang an begleitet, ohne ihn jedoch auch nur zeitweise stoppen zu können. Bereits im Januar 2012 tobten in Kano, einer der größten Städte Nigerias, schwere Kämpfe zwischen Polizei und bewaffneten Islamisten. In der Folge wurden zusätzliche Armeeinheiten in den Norden geworfen; die nigerianische Luftwaffe flog Angriffe auf mutmaßlich von den Islamisten besetzte Dörfer. Beobachter berichteten regelmäßig über schwere Menschenrechtsverletzungen des nigerianischen Militärs, über Folter und willkürliche Tötungen. Polizeieinheiten besetzten Hochburgen der Islamisten und nahmen ohne jede juristische Handhabe die Familien von bekannten Untergrundkämpfern in Geiselhaft. Gemäß der Berichterstattung von Amnestie International sollten hunderte gefangener Islamisten, aber auch zahlreiche unbeteiligte Dorfbewohner den Operationen der nigerianischen Armee zum Opfer gefallen sein. Willkürliche Festnahmen und Folter seien in der Region an der Tagesordnung; in Internierungslagern herrschten menschenunwürdige Zustände. Der Eroberung von Ortschaften durch die eine oder andere der kämpfenden Parteien folgten regelmäßig Massaker an der Bevölkerung. Mittlerweile fürchten die meisten Menschen in der Bürgerkriegsregion einen Einmarsch von Militäreinheiten ebenso wie Aktionen islamistischer Terrorkommandos. Zahlreiche Ortschaften befinden sich daher in den Händen von außerhalb jeder Kontrolle agierenden lokalen Bürgerwehren.
Allein in den Jahren 2012 und 2013 sind mehr als 4.000 Menschen den Mordanschlägen und bewaffneten Auseinandersetzungen im Norden Nigerias zum Opfer gefallen; insgesamt kostete die Gewaltorgie mittlerweile schon über 15.000 Todesopfer. Etwa 1,5 Millionen Bewohner sind aus der Bürgerkriegsregion geflüchtet, viele von ihnen in die Nachbarstaaten Niger und Kamerun.
Im August 2014 rief die Führung von Boko Haram im Nordosten von Nigeria ein Kalifat aus. Ein Territorium etwa von der Größe Belgiens befindet sich mittlerweile außerhalb der Kontrolle von Regierung und Militär. Die Kämpfe haben inzwischen auch auf die Nachbarstaaten Kamerun und Tschad übergegriffen. Obwohl die nigerianische Armeeführung mit dem Militär von Niger, Tschad und Kamerun kooperiert, ist es bis jetzt nicht gelungen, die islamistischen Milizen entscheidend zu schwächen. Mehrere international agierende Söldnerfirmen sind inzwischen auf nigerianischem Territorium aktiv. Außerdem ist die Entsendung eines multinationalen Truppenkontingentes der Afrikanischen Union in die Bürgerkriegsregion angekündigt; westliche Militärs wollen die nigerianische Armeeführung unterstützen.
Letzteres ist natürlich in erster Linie nicht dem vielbeschworenen Kampf gegen die islamistische Barbarei geschuldet. Es wird wohl befürchtet, ein weiterer Vormarsch der Gotteskrieger könnte die mühsam wieder notdürftig befriedeten Fördergebiete im Süden des Landes gefährden und damit den Strom billigen Öls in die kapitalistischen Metropolen unterbrechen. Der Westen vertritt mit der Stützung der nigerianischen Regierung also zuvorderst eigene Interessen.
Doch davon einmal abgesehen: Können Einsätze ausländischer Truppen das Land überhaupt unter Kontrolle bekommen, den Vormarsch von Ethno-Milizen, Gotteskriegern und kriminellen Banden stoppen? Robert Kurz kommentierte westliche Militäreinsätze in Zusammenbruchsregionen wie folgt: "Die Warlords und bewaffneten Bürgerkriegsbanden, aber auch die von religiösen Wahnvorstellungen getriebenen Terrorgruppen der global verzweigten Plünderungsökonomie, wie sie hinter den löchrigen Staatsfassaden operieren, tauchen einfach unter den Hightech-Gewaltapparaten weg; ihre 'Kriege' sind von keinem welt-demokratischen Pazifizierungsprogramm erreichbar (...) Es gibt gar keine gemeinsame Kampfebene mehr" (Kurz, 2005, S. 89).
Ebenso wie bei vergangenen Einsätzen westlicher Weltordnungskrieger beispielsweise in Afghanistan, Irak oder Libyen würde ein solcher auch in Westafrika nur ins Leere laufen. Dass die nigerianische Regierung und Armeeführung als Folge eines solchen Einmarsches bisher noch vorhandene Reste von Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verlieren, dürfte den Staatszerfall dann eher noch beschleunigen. Den verantwortlichen westlichen Militärs ist dies vermutlich auch klar – ansonsten wäre der neue Weltordnungskrieg längst im Gange. Wahrscheinlich ist daher viel eher ein Einsatz afrikanischer Bürgerkriegstruppen als bezahlte Söldner des Westens. Diese genießen allerdings den Ruf, kaum weniger brutal zu agieren, als die von ihnen bekämpften religiösen und Ethno-Milizen. Ob es der herrschenden Oberschicht Nigerias daher noch einmal gelingen kann, das von ihr selbst hervorgebrachte Banditentum gewaltsam wieder in die Flasche zu zwingen, ist zu bezweifeln. Die Zukunft für diese Region wird wohl ein lang andauernder Krieg zwischen uniformierten und nicht-uniformierten Banden bewaffneter Plünderer sein.
Boko Haram soll inzwischen in verschiedene Gruppen zerfallen sein. Bewirkt hat dies aber gar nichts. Im Gegenteil: Die Gewaltspirale dreht sich ganz munter immer weiter.
Plünderungsökonomie als Teilhabe am Weltmarkt
Die Krise schreitet inzwischen weiter voran. Der Norden Nigerias versinkt infolge der Verschmelzung von politischer und krimineller Gewalt immer weiter in einem Sumpf von Gesetzlosigkeit: Raubmorde, Kidnapping, Schutzgelderpressungen, Plünderungen und Banküberfälle sind an der Tagesordnung. Zahlreiche Kriminelle nutzen offensichtlich die Gelegenheit, sich im Windschatten der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen persönlich zu bereichern. Dörfer, die von islamistischen Milizen geforderte Schutzgelder nicht zahlen können, werden regelmäßig überfallen, Männer grundlos erschossen, Frauen vergewaltigt, Kinder entführt und entweder für die islamistischen Milizen zwangsrekrutiert oder aber meistbietend als Sklaven verkauft.
Der nigerianische Geheimdienst verweist in einer schon seit Jahren vorliegenden Studie auf personelle Überschneidungen zwischen Boko Haram und mehreren, auch im Süden des Landes tätigen kriminellen Kartellen. Weitere Kontakte sind in den nördlichen Nachbarstaat Tschad nachgewiesen, der schon seit Jahren in einem Bürgerkriegschaos einander bekämpfender Milizen steckt. Robert Kurz beschrieb eine solche Entwicklung am Beispiel des in den 1990iger Jahren tobenden Bürgerkrieges zwischen den ehemals jugoslawischen Teilrepubliken: „Längst sind die Übergänge zwischen Mafia, Sekte, ethnischen Separatismus, Nazi-Bande, Räuberhorde, Guerilla etc. fließend geworden“ (ebd. S. 48).
Beim von den Gotteskriegern im Norden Nigerias ausgerufenen Kalifat handelt es sich demzufolge nicht um ein Staatswesen, ebenso wenig wie beispielsweise bei den Bürgerkriegsregionen im Irak und in Syrien, die sich unter Kontrolle des ‚Islamischen Staates‘ befinden. Es handelt sich bei solchen poststaatlichen Gebilden auch gar nicht um den Versuch, einen funktionierenden Nationalstaat aufzubauen und schon gar nicht darum, ein feudales Herrschaftsgebilde wieder auferstehen zu lassen. Der Versuch einer nachholenden Modernisierung hat in diesen Regionen längst stattgefunden und verbrannte Erde hinterlassen. Und eine Rückkehr zu vormodernen Agrarverhältnissen und auf diesen beruhenden Herrschaftsstrukturen ist unter den Bedingungen des Weltmarktes schlicht unmöglich.
Die Funktionsweise dieser poststaatlichen Gebilde beruht überwiegend auf Plünderungsökonomie. Es handelt sich somit um Zusammenbruchsregionen, die sich außerhalb der Kontrolle staatlicher und internationaler Institutionen befinden. Die Ruinen einer „am Weltmarkt gescheiterten nationalökonomischen Substanz“ (ebd. S. 315) werden profitabel ausgeschlachtet und auf dem Umweg über die kriminelle Schattenwirtschaft, die ja nur eine Sub-Struktur der legalen Ökonomie und mit dieser eng verzahnt ist, in den Weltmarkt überführt. Der Verlust staatlicher Souveränität in den von Gotteskriegern kontrollierten Regionen ermöglicht zudem eine profitable Vernutzung menschlichen Lebens, wie sie derzeit nicht einmal in von übelsten Diktatoren regierten Staaten möglich ist – die Barbarei kapitalistischer Verwertung triumphiert über sämtliche moralischen Schranken. Der unverblümte Sklavenhandel der nigerianischen Gotteskrieger hat dabei seine Entsprechung beispielsweise im Geschäftsmodell ägyptischer Menschenhändler, die in der weitgehend entstaatlichten Halbinsel Sinai reihenweise afrikanische Flüchtlinge ermorden oder verstümmeln, um einen schwunghaften Handel mit ihren Organen zu betreiben. (vgl. Groth / Diehl, 2013, S. 13ff)
Die Mehrzahl der von den Anführern der Gotteskriegern rekrutierten Jugendlichen hat kaum eine religiöse, sondern vielmehr eine handfeste ökonomische Motivation: dem Elend und der Hoffnungslosigkeit entkommen und dabei möglichst auch noch reich werden. Thomas Konicz charakterisiert treffend den „postmodernen Gemütszustand vieler jugendlicher Dschihadisten, der kaum noch Ähnlichkeiten mit der klassischen islamischen Religion aufweist: Sie möchten in einem Luxusschlitten zurück in die Steinzeit fahren“ (Konicz, 2015, S. 23). Allerdings hält sich der Sold für einen Gotteskrieger in dieser westafrikanischen Armutsregion derzeit noch sehr in Grenzen – knapp 40 Euro soll Boko Haram im Monat zahlen (Engelhardt, 2014, S. 153).
Bereits 2003 hat Robert Kurz eine solche grausige Entwicklung beschrieben, die mittlerweile auch das westafrikanische Land ereilt hat: "Im Wesentlichen ist es die 'Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln', die in den Krisen- und Zusammenbruchsregionen die Gewalt gebiert. (...) Es ist eine 'verlorene Generation' ebenso tatkräftiger wie desorientierter junger Männer, die auf ihre kapitalistische 'Überflüssigkeit' bösartig reagiert und sich in den hoffnungslosen Milizen dieser Welt wiederfindet" (Kurz, 2005, S. 47ff).
Literatur
Bergstresser, Heinrich (2010) „Nigeria. Macht und Ohnmacht am Golf von Guinea“, Brandes & Apsel, Frankfurt am Main.
Engelhardt, Marc (2014) „Heiliger Krieg heiliger Profit. Afrika als neues Schlachtfeld des internationalen Terrorismus“, Christoph Links Verlag, Berlin.
O.A. (2015) „Frauen für den Dschihad. Das Manifest der IS-Kämpferinnen“, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau.
Groth, Anette und Diehl, Wiebke (2013) „Menschen- und Organhandel im Sinai“ in: ‚BIG Business Crime‘ Nr. 1/2013.
Konicz, Tomasz (2015) „Geschäftsfeld: Barbarei. Der Islamische Staat als global agierender Terrorkonzern.“, in: ‚BIG Business Crime‘ Nr. 1/2015.
Kurz, Robert (2003) "Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung", Horlemann Verlag, Bad Honnef.
Kurz, Robert (2005) „Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems“, Edition Tiamat, Berlin.
Scholz, Roswitha (2005) „Differenzen der Krise – Krise der der Differenzen. Die neue Gesellschaftskritik im globalen Zeitalter und der Zusammenhang von ‚Rasse‘. Klasse, Geschlecht und postmoderner Individualisierung“, Horlemann Verlag, Bad Honnef.
Smith, Mike (2015) „Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats“, Verlag C.H.Beck, München.
Watts, Michael (2013) „Imperiales Öl und vergessene Verbrechen: Grenzgebiete der Enteignung im Niger-Delta“, in: PROKLA, Heft 170, Jg. 2013, Verlag Westfälisches Dampfboot
Eine erste Variante dieses Artikels erschien in der Ausgabe 3/2015 der Zeitschrift "BIG Business Crime". Der Text wurde in der Folge stark überarbeitet.