Gerd Bedszent
Moderne Nomaden in den USA
Rezension von:
Jessica Bruder: Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert. München, Karl Blessing Verlag, 2021 (2. Auflage)
Zuerst erschienen Anfang Januar 2023 in der Printausgabe 1-2023 der Zeitschrift „BIG Business Crime“
Mit dem Begriff „Nomaden“ verbinden sich im Allgemeinen Assoziationen von Gruppen vormodern lebender Viehzüchter, die in Steppen- und Wüstengebieten von Weideplatz zu Weideplatz und von Wasserstelle zu Wasserstelle ziehen. Solch eine vormodern nomadisierende Lebensweise gehört allerdings längst der Vergangenheit an, wurde von den Industrialisierungswellen der letzten Jahrzehnte gefressen.
Es gibt mittlerweile eine moderne Variante des überkommenen Nomadentums: Leute, die in Wohnwagen leben und von Parkplatz zu Parkplatz ziehen, weil sie sich im Zeitalter steigender Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlter Minijobs, explodierender Mieten, permanent steigender Grundstückspreise und unbezahlbarer Hypotheken eine sesshafte Lebensweise in ganz normalen Wohnhäusern nicht mehr leisten können. Die US-amerikanische Journalistin Jessica Bruder ist über Jahre hinweg mit einem Wohnmobil übers Land gezogen und hat vor Ort recherchiert. Das Ergebnis ist ein dickleibiges Buch, in dem die Autorin wenig bekannte Abgründe der spätkapitalistischen Gesellschaft aus Sicht einiger Betroffener dokumentiert.
Von Kritikern wird das Buch gelegentlich mit John Steinbecks grandiosem Roman „Früchte des Zorns“ verglichen. Dies stimmt insofern, als die Autorin mehrfach selbst auf dieses Buch Bezug nimmt – Steinbeck thematisierte in seinem Werk bekanntlich die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre aus Sicht der verarmten, von ihrem Land vertriebenen und zwangsproletarisierten Farmer. Beim hier rezensierten Buch von Jessica Bruder handelt es sich aber eher um eine Kombination aus Belletristik und Sozialreportage. Auch war die Krise der 30er Jahre samt der fast zeitgleich stattgefundenen Dürrekatastrophe (Dust Bowl) etwas Vorübergehendes. Die meisten zeitweise verarmten Leute, so sie die Krise überlebt hatten, kehrten irgendwann in das ganz normale Dasein zurück. Heute ist es eher so, dass die Menschen den Zusammenbruch von weiten Teilen des Wirtschafts- und Sozialsystems verinnerlicht haben und sich auf Dauer auf das Dasein am Rande der Gesellschaft einrichten.
Nicht wenige dieser modernen Nomaden sind tatsächlich schon im Rentenalter, arbeiten aber trotzdem weiter, weil sie ungeachtet eines angestrengten Arbeitslebens über keinerlei Rücklagen fürs Alter verfügen. Die Autorin schildert mehrere typische Biographien: Auf einen Firmenzusammenbruch folgte Arbeitslosigkeit und beginnender Absturz in die Armut. Dann kamen Jobs als Hilfsarbeiter mit permanent wechselnden Arbeitsorten – der Amazon-Konzern beispielsweise bot Billig-Wanderarbeitern anfangs einen kostenlosen Stellplatz für ihren Carport. Im Gegenzug mussten sie allerdings zum Teil grausige Arbeitsbedingungen akzeptieren. Das erzwungen zeitweilige Leben als Nomade wurde irgendwann Dauerzustand und die Leue balancierten permanent am Rande der Obdachlosigkeit. Am Ende verdienten sie sich ihr Geld, indem sie die Plumpsklos auf Campingplätzen putzten und Müllberge entsorgten, die die „richtigen“ Camper achtlos zurückgelassen hatten. Und kamen endlich, nachdem sie „ihr Leben lang dem Amerikanischen Traum hinterhergejagt hatten“, zu dem Schluss, „dass alles eine einzige große Verarsche war“.
Aber was hat dies nun mit Wirtschaftskriminalität zu tun? Es gibt niemanden, der so arm ist, dass man sich an ihm bzw. an ihr nicht auch noch auf kriminelle Weise einen Zusatzgewinn herausquetschen kann. Wie die Autorin dokumentiert, müssen Workcamper beispielsweise regelmäßig mehr Stunden beim Reinigen von Campingplätzen ableisten, als sie dann tatsächlich bezahlt bekommen – der ohnehin geringe Mindestlohn wird so gezielt unterlaufen.
Ausführlich schildert die Autorin auch die Arbeitsbedingungen bei Amazon aus Sicht von Workcampern. Der Stumpfsinn und die Monotonie der Arbeit brachte Leute auf die merkwürdigsten Ideen – etwa in den Regalen das Sortiment entweder auf sehr eigenartige Weise zu sortieren oder aber „den sonderbaren und furchterregenden Scheiß zu katalogisieren, den wir in die Regale legen“. Die Autorin zitiert eine zu Recht verbitterte Amazon-Mitarbeiterin: „(…) sorgt dafür, dass die Taschen der Konzernbosse Löcher kriegen. (…) Die Reichen werden immer reicher, während wir hier sitzen und immer ärmer werden.“ Tatsächlich zitiert die Autorin dann gegen Ende des Buches eine Untersuchung, nach der „die Vereinigten Staaten (…) heute die am stärksten ungleiche Gesellschaft aller entwickelten Nationen (haben).“
Als Fazit des Buches bleibt ein Zitat: „Das letzte Stückchen Freiheit in Amerika ist ein Parkplatz.“