Gerd Bedszent
Krieg als Beruf
Zuerst erschienen im Dezember 2023 in: Ossietzky, Heft 25/2023, S. 880-884
Gab es Kriege schon immer? Eher nicht. Zumindest unterschieden sich bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen vormodern lebender Völkerschaften und Zivilisationen, die zumeist als Motivation ganz gewöhnlichen Raub oder aber simplen Streit um die Nutzung von Naturressourcen hatten, ganz wesentlich von den modernen Kriegen. Solch frühe Auseinandersetzungen sollte man natürlich weder verschweigen noch idealisieren. Die frühen bewaffnet ausgetragenen Streitigkeiten waren von ihren Auswirkungen her mit unseren modernen Kriegen aber kaum vergleichbar.
Das Militär als tragende Kraft derzeitig tobender Kriege bildete sich jedenfalls in seiner jetzigen Gestalt erst während der letzten Jahrhunderte heraus. Und es unterscheidet sich wesentlich von den Bauern- und Bürgermilizen sowie Abteilungen adliger Ritter des europäischen Hochmittelalters. An die Stelle des zeitweise rekrutierten Handwerkers oder Agrarproduzenten und des adligen Schlagetots trat nun der bezahlte Berufssöldner, der für Geld alles tat, was der jeweilige Kriegsherr von ihm verlangte. Bei diesen Empfängern von Sold handelte es sich tatsächlich um die ersten modernen Lohnarbeiter, die ihr Leben vollständig durch Geldeinkommen bestritten und auch bestreiten mussten. Und bei den frühen Kriegsherren, die diese Söldnerhaufen anführten und bezahlten, handelte es sich um die ersten Vorläufer der entstehenden Kapitalistenklasse. Denn diese neue Art von Kriegsführung gehorchte einer eher simplen, aber überzeugenden Logik: Der Gewinn – beispielsweise in Gestalt von Beute – sollte nach Möglichkeit größer sein als die Summe der Kriegskosten. Die endgültige Durchsetzung dieser Logik markiert den Trennstrich zwischen vormodernen Auseinandersetzungen und modernem Krieg.
Ermöglicht und befördert wurde die Entwicklung hin zum militärischen Spezialistentum durch Technologieschübe. Gingen im Frühmittelalter die feindlichen Kämpfer noch mit handgeschmiedeten Schwertern und Spießen aufeinander los und suchten sich mit primitiven Harnischen und Rüstungen vor den Waffen der Gegenseite zu schützen, so kam es nun zur Entwicklung von komplizierteren Fernwaffen.
Wann die Armbrust als neuartige Distanzwaffe erfunden und erstmals benutzt wurde, ist unter Historikern umstritten. Nachgewiesen ist, dass das zweite Laterankonzil im Jahre 1129 u. Z. den Einsatz dieses Kriegsinstruments gegen Christen und Katholiken verbot. Ermöglichten es doch Distanzwaffen wie die Armbrust oder auch der vom Konzil ebenfalls verbotene englische Langbogen, dass die hochtrainierten und schwergepanzerten adligen Ritter durch den geringsten Kriegsknecht vom Schlachtross geholt werden konnten. Durchsetzen ließ sich das vom katholischen Klerus erlassene Verbot schon damals freilich nicht. Die Armbrust erwies sich als perfekte Waffe für Angriffe aus dem Hinterhalt, wurde zur Hauptwaffe von Räubern, Rebellen und sonstigen Geächteten. Die Legende von Wilhelm Tell, Gründungsmythos der Schweizer Eidgenossenschaft, legt davon ein spätes Zeugnis ab.
Ein ganz wesentlicher Schub in Richtung Modernisierung setzte dann aber erst durch die Erfindung des Schießpulvers bzw. dessen Verbreitung im westeuropäischen Raum ein. Ob nun tatsächlich das Experiment eines mittelalterlichen Mönchs Auslöser dieser Erfindung war, ist in der Geschichtsschreibung ebenfalls umstritten. Die Chinesen nutzten das Schwarzpulver jedenfalls schon lange Zeit vorher, hauptsächlich für Feuerwerke. Wahrscheinlich verbreitete es sich durch Handelskontakte im 13. Jahrhundert nach Westeuropa – was zum Siegeszug der neuen Militärtechnologie führte. In jedem Fall ist aus dem Jahr 1334 erstmals der Einsatz eines Geschützes nachgewiesen. Sehr schnell rissen sich dann während der blutigen Wirren des ausgehenden Mittelalters kleine und große Feudalherren, Kirchenfürsten und Stadtobrigkeiten um den Besitz der neuen Waffe. Friedrich Engels schrieb im Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates dazu treffend: »Für die Wildheit war Bogen und Pfeil, was das eiserne Schwert für die Barbarei und das Feuerrohr für die Zivilisation: die entscheidende Waffe.«
Zur Produktion der Feuerwaffen bedurfte es allerdings nicht mehr der Werkstätten simpler Dorfschmiede, sondern immer aufwändiger arbeitender Produktionsstätten. Und im Verlauf der Formierungskriege des 14./15. Jahrhunderts trat dann endgültig an die Stelle des anachronistisch gewordenen ritterlichen Schlagetots der mit Feuerwaffen ausgerüstete und ausgebildete Berufssöldner.
Auf die Herausbildung erster Nationalstaaten folgte sehr schnell die Eskalation militärischer Auseinandersetzungen. Das war logisch und folgerichtig: Was in der spätfeudalen Zeit noch eher simple Streitigkeiten um den Besitz von Ländereien waren, entwickelte sich mit der Herausbildung des Frühkapitalismus zum Konkurrenzkampf zwischen entstehenden Volkswirtschaften. Die spätfeudalen Potentaten waren infolge der in diesem Kontext enorm anwachsenden Rüstungskosten gezwungen, sich zuerst bei städtischen Bankiers zu verschulden und dann die Interessen ihrer Gläubiger wahrzunehmen. In Gestalt gewinnträchtiger Handelsmonopole eröffnete sich für die europäischen Monarchen schließlich eine Alternative, mit der sie sowohl ihren ausufernden Finanzbedarf decken als auch aus der erdrückenden Schuldenlast wieder herauszukommen meinten. Solche Monopole kollidierten allerdings mit den Interessen anderer Akteure der damaligen Handelsnetze. Zahlreiche militärische Auseinandersetzungen dieser Zeit waren tatsächlich Handelskriege. Karl Marx beschrieb in seinem Hauptwerk Das Kapital diese frühe Phase des Kapitalismus als »Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz«.
Das Überschwappen der frühkapitalistischen Handelskriege von Europa auf das »Erdrund« begann im späten 15. Jahrhundert. Das bis dahin im europäischen Machtgefüge eher unbedeutende Königreich Portugal hatte im Jahre 1498 einen neuen Seeweg um die Südspitze Afrikas herum nach Indien erschlossen. Portugiesische Kriegsschiffe konnten dann dank ihrer militärtechnischen Überlegenheit den bis dahin muslimisch dominierten Seehandel auf dem Indischen Ozean unter ihre Kontrolle bringen und so ihrem Königshaus für mehrere Jahrzehnte das Monopol auf den Handel mit in Europa begehrten Gewürzen sichern. Nicht wenige an der Küste Ostafrikas, im Süden Arabiens und an den Küsten Indiens gelegene Handelsstädte wurden unter den drohenden Mündungen portugiesischer Geschütze genötigt, für sie ungünstige Verträge zu unterzeichnen. Städte, die sich den ihnen auferlegten Handelsdiktaten nicht beugen wollten und geforderte Tributzahlungen verweigerten, wurden entweder geplündert oder aber mittels Schiffsartillerie in Trümmer gelegt.
Riesengewinne aus Handel und kaum verbrämtem Raub flossen in der Folge an den portugiesischen Hof. König Manuel I. galt plötzlich als reichster Monarch Europas. Dies weckte die Begehrlichkeit anderer europäischer Mächte, wie England, Holland oder Dänemark, die sich ihren Anteil sichern wollten – das heutige Indonesien sowie große Teile Ostafrikas und Indiens in ihren Besitz nahmen.
Schon im Frühkapitalismus hatten die eskalierenden Handelskriege sowie die neu entwickelte Feuerwaffe eine bis dahin beispiellose Militarisierung der west- und mitteleuropäischen Regionen zur Folge – in verschiedenen Herrschaftsbereichen wuchs die Zahl der Streitkräfte in den Jahren von 1500 bis 1700 um das Vielfache. In dem Zusammenhang erfolgte eine schrittweise Umwandlung der frühkapitalistischen Haufen von Söldnern, die sich für Geld an jeden interessierten Kriegsherren feilboten, in bürgerliche Nationalarmeen. Erste Anfänge einer Wehrpflicht datieren schon aus dem 17. Jahrhundert – im 19. Jahrhundert dekretierten dann fast alle europäischen Mächte eine Zwangsrekrutierung von Teilen der Bevölkerung
Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft ist zum Siegeszug einer »Rüstungs- und Todesindustrie« (Robert Kurz) geworden, die die neu entstandene Gesellschaft nie abzustreifen vermochte und wohl auch nie vermag. Die sich kapitalistisch entwickelten Mächte gerieten nicht selten um die Kontrolle von Rohstoffquellen, Absatzmärkten und Handelsrouten einander militärisch in die Haare. Ein Beispiel: Das bürgerlich aufstrebende Frankreich besetzte unter dem selbsternannten Kaiser Napoleon I. fast ganz Europa, um so die Konkurrenz der britischen Volkswirtschaft auszuschalten – was ihm freilich nicht gelang. Noch heftiger allerdings wurden die militärischen Zusammenstöße in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als verschiedene Zuspätkommer in der Reihe europäischer Nationalstaaten – darunter das entstehende Deutsche Reich – versuchten, den Vorsprung der führenden kapitalistischen Mächte einzuholen. Das Ergebnis war eine Reihe entsetzlicher Kriege inklusive Massenmorde an völlig unbeteiligter Zivilbevölkerung.
Auf die ersten modernen Kriege und die ständig zunehmende Technisierung des Militärs folgten industrielle Revolutionen: Die frühen Kanonen, Hakenbüchsen und Musketen wurden schrittweise zu Schnellfeuergewehren, weittragenden Geschützen und Raketenwerfern. Reiterheere rüstete man um auf Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, erste Kriegsschiffe mutierten zu Panzerkreuzern- und U-Bootflotten. Die Erfindung des Flugzeugs führte folgerichtig zur Militarisierung des Luftraums, aus der Entwicklung der Informationstechnologie folgte zwangsläufig der Cyberwar. Seinen (bisher) schauerlichsten Höhepunkt erreichte der Wettlauf militärischer Hochrüstung durch die Entwicklung von Atom-, Wasserstoff- und Neutronenbomben. Finanziers der Rüstungsproduktion waren und sind nun nicht mehr beutegierige Kriegsherren und absolutistische Herrscher, sondern ganz normale kapitalistische Großunternehmen und Regierungsbürokraten.
Angewidert von den grausigen Gemetzeln des Weltkrieges Nummer Eins hatte Kurt Tucholsky schon im Jahre 1931 in Die Weltbühne den Krieg bitterböse, aber treffend charakterisiert: »Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war Mord obligatorisch, während er, eine halbe Stunde davon entfernt, ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.« Bekanntlich wurde der Weltbühne-Herausgeber Carl von Ossietzky nach Abdruck dieses Textes wegen »Verunglimpfung der Reichswehr« inhaftiert und angeklagt.
Einen dritten Weltkrieg gab es dank des lange Zeit andauernden militärischen Gleichgewichts zwischen den entwickelten Mächten (zum Glück) bisher nicht. Auf den stattdessen mehrere Jahre andauernden Modernisierungsschub in Gestalt von Mikroelektronik und Netztechnologie folgte nun aber wieder einmal eine umfassende Wirtschaftskrise inklusive auch militärisch ausgetragener Verteilungskämpfe. So etwas wie ewigen Frieden kann es im Kapitalismus nicht geben – dieser ist vom Grundsatz her eine Gesellschaft einander zerfleischender Konkurrenzsubjekte. Das Ende des Kapitalismus erfolgt wohl irgendwann in Gestalt einer Gemengelage blutig ausgetragener Verteilungskämpfe. Robert Kurz schrieb dazu: »Die Ökonomie des Todes wird das unheimliche Erbe der modernen marktwirtschaftlichen Gesellschaft bleiben, bis der Killer-Kapitalismus sich selbst zerstört hat.«