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Gerd Bedszent


Keine Zurückhaltung mehr

Jürgen Wagner über die lange vorbereitete Zeitenwende“ zu Militarisierung und Krieg

 


Rezension von:

Jürgen Wagner: Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung. Köln, PapyRossa, 2022


Zuerst erschienen am 23. Januar 2023 in der linken Tageszeitung junge Welt



Dass der Krieg in der Ukraine eine oft genug und routiniert ausgeblendete Vorgeschichte hat, pfeifen mittlerweile sämtliche Spatzen von den Dächern. In dem Buch „Im Rüstungswahn“ von Jürgen Wagner wird ein Akteur benannt, der es bisher immer noch recht gut versteht, im Hintergrund zu bleiben: Die Rüstungsindustrie, hier konkret die deutsche.


Der Historiker Jürgen Wagner, Vorstandsmitglied der in Tübingen ansässigen Informationsstelle Militarisierung beschäftigt sich seit Jahren kritisch mit der Militarisierung deutscher Außenpolitik. Einen Paradigmenwechsel, der die aktuelle Hochrüstungspolitik vorbereitet hat, sieht er in der Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2014. Deutschland müsse sich, so Gauck damals, endgültig seiner (angeblichen) „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ entledigen und nunmehr eine „Führungsrolle“ anstreben.


Diese musste natürlich durch ein Programm militärischer Aufrüstung untersetzt werden; und zwar vorzugweise auf der Basis heimischer Militärtechnik. Denn was nutzen einem angeschaffte Panzer, wenn aufgrund von Boykottmaßnahmen auswärtiger Herstellerfirmen keine Ersatzteile mehr vorhanden sind oder aber die Munition plötzlich knapp wird. Zwischen 2014 und 2022 kam es zu mehreren Etatsteigerungen bei der Bundeswehr. Mit der Geldmobilisierung in Gestalt des „Zeitenwende“-Sondervermögens erreicht der „Turbomilitarismus“ in Deutschland nun eine bis dahin für viele unvorstellbare  Dimension.


Wagner beschäftigt sich in dem Buch mit der Militarisierungsgeschichte der Bundesrepublik und der allmählichen Enttabuisierung des militärischen Denkens. Der Leser kann die Schritte in die Richtung einer angestrebten „Kultur der Kriegsfähigkeit“ so nachvollziehen.  Als Triebkraft für die militärische Hochrüstung benennt Wagner das Streben nach Rohstoffsicherung und Kontrolle von Handelswegen. Die sich anbahnenden oder bereits offen ausgebrochenen Auseinandersetzungen zwischen den bisher führenden kapitalistischen Mächten und diversen „Newcomern“ charakterisiert er zutreffend als Kampf um die Aufrechterhaltung der derzeitigen „Hierarchie- und Ausbeutungsstrukturen“. Er betont auch, dass diese Newcomer derzeit kein aus Sicht der Linken attraktives Gegenmodell anbieten würden.


Wagner schreibt auch darüber, dass die NATO schon seit geraumer Zeit Russland wieder als Hauptfeind verortet habe, wobei sich die Streitkräfte der Länder der Europäischen Union, auch wenn diese – wie Schweden und Finnland – bislang keine NATO-Mitglieder waren, in der strategischen Orientierung nur unwesentlich von den NATO-Streitkräften unterschieden. In diesem Kontext erfolgt weitgehend unbeachtet schon seit Jahren eine Modernisierung der in Westeuropa lagernden Atomwaffen.


Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ist – wie der Autor schreibt – lediglich der (vorläufige) Höhepunkt einer seit langer Zeit schwelenden Auseinandersetzung zwischen den NATO-Staaten und Russland. Als erschreckend charakterisiert der Autor, wie angesichts dieses zweifelsfrei völkerrechtswidrigen Angriffs bei Teilen der Linken friedenspolitische Vorstellungen wie ein Kartenhaus zusammenbrachen und sie blitzschnell ins Lager der „eigenen“ Militaristen überliefen. Das Konzept des zivilen Widerstandes, wie es lange Zeit und nicht ohne Erfolg praktiziert wurde, sei fast schon in Vergessenheit geraten. Die derzeitige Auseinandersetzung – so betont Wagner weiter– führe nicht zwangsläufig in einen dritten Weltkrieg. Die Gefahr einer solchen Eskalation bestehe aber real. Ursache dafür sei letztlich das Bestehen einer auf „Wettbewerb, Wachstum und Ausbeutung basierenden Ökonomie“.