Gerd Bedszent
Die Gier des Zuspätgekommenen
Italiens fast vergessenes Kolonialreich. Die Jahre 1870 – 1918 (Teil 1 von 2)
Zuerst erschienen in der Tageszeitung junge Welt vom 13./14. Juni 2020. Die Fortsetzung erschien in der jungen Welt vom 20./21. Juni 2020.
Die Kriegsverbrechen des italienischen Militärs bei der Eroberung des Kaiserreiches Äthiopien (1935/36) sind von der Geschichtswissenschaft längst aufgearbeitet. Eher selten thematisiert wird, dass die Versuche Italiens zur kolonialen Inbesitznahme von Teilen Afrikas bereits Jahrzehnte vor der Machtübernahme Benito Mussolinis und der Installation des faschistischen Regimes begonnen hatten. Die Durchsetzungsphase des Kapitalismus samt Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten war insgesamt geprägt von Gewalt, sozialen Grausamkeiten und organisiertem Massenmord an unerwünschten Bevölkerungsgruppen. Der Faschismus als besonders brutal agierende Variante nachholender Modernisierung hat diese Grausamkeiten auf eine bis heute unerreichte Spitze getrieben.
Imperiale Ambitionen
Das Königreich Italien konnte erst spät die aus der feudalen Ära herrührende territoriale Zersplitterung überwinden und sich als bürgerlicher Nationalstaat konstituieren. Die endgültige Reichseinigung erfolgte im Jahre 1870 mit dem Ende der Unabhängigkeitskriege, also nur kurz vor der Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs. Der italienische Nationalismus erwies sich in der Folge als genauso unappetitlich wie der anderer „Zuspätkommer“ in der Reihe europäischer Nationalstaaten. Auf dem Territorium Italiens lebende Minderheiten wurden mit einer rabiaten Italienisierungspolitik drangsaliert. Und das junge Königreich hatte auch sehr schnell imperiale Ambitionen.
Die Entwicklung Italiens hin zu einer modernen kapitalistischen Macht war aufgrund der unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnisse der verschiedenen Landesteile schwierig. Der Süden der Halbinsel war geprägt durch rückständige Agrarproduktion bei Fortbestehen von Resten feudaler Verhältnisse. Das daraus resultierende wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord- und Süditalien besteht bis in unsere Gegenwart fort.
Da die sogenannten Eliten des Landes der Bevölkerungsmehrheit zunächst keine soziale Absicherung zugestand, lebte diese in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung unter grausigen Zuständen. Ein öffentlich organisiertes Gesundheits- und Bildungssystem existierte nicht; der Großteil der Bevölkerung bestand aus Analphabeten. Das brachte im Süden ein weit verbreitetes Banditentum hervor. Im Norden formierte sich hingegen trotz teilweise heftiger Verfolgung eine starke Arbeiterbewegung.
Gegen immer wieder aufflammende Hungerkrawalle und Sozialrevolten setzte die Regierung Militär ein, das mit brutaler Gewalt gegen Aufständische vorging. Anarchistische Gruppen reagierten mit Gegengewalt. Zeitweise herrschten im Italien des ausgehenden 19. Jahrhunderts bürgerkriegsähnliche Zustände. Allein in den Jahren von 1880 bis 1925 verließen über 16 Millionen Menschen das Land – meist in Richtung Argentinien, Brasilien oder der USA.
Die königliche Regierung setzte zwecks Krisenbewältigung vor allen auf territoriale Expansion. Diese richtete sich vorrangig gegen europäische Nachbarstaaten, betraf aber auch überseeische Gebiete. Durch Schaffung eines Kolonialimperiums wollte die italienische Oberschicht einerseits den Rohstoffhunger der entstehenden Industrie befriedigen, andererseits sollten die Kolonien unerwünschte oder im kapitalistischen Sinne schlicht „überflüssige“ Bevölkerungsgruppen aufnehmen und damit die soziale Lage entspannen.
Sehr früh finanzierten italienische Unternehmen Forschungsreisen in Afrika und Asien. Diese dienten vordergründig wissenschaftlichen Zwecken; sie ermöglichen aber auch Handelskontakte. Das Königreich wurde allerdings erst spät zur Kolonialmacht – seine koloniale Expansion begann im Juni 1882 auf dem Gebiet des heutigen Staates Eritrea.
Erste Landnahmen
Das Küstengebiet Eritreas war seit dem Frühmittelalter durch den arabischen Fernhandel nach Persien, Indien und den Süden Afrikas dominiert; die Bevölkerung der Küstenstädte bekannte sich mehrheitlich zum Islam. Im ausgehenden 16. Jahrhundert eroberte das Osmanische Reich mehrere Städte. Später ging der Einfluss der Osmanen zurück; diese überließen die Verwaltung ihrer Provinz zunehmend Einheimischen.
Unmittelbar vor der Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1870 erwarb ein italienischer Geschäftsmann die Bucht von Assab und errichtete einen Handelsstützpunkt. Dieser wechselte mehrmals den Besitzer, bis er 1882 vom italienischen Staat annektiert wurde. Es gab zunächst keinen nennenswerten Widerstand. Im Norden des heutigen Sudan rebellierten damals radikale Muslime sowohl gegen die ägyptische Regierung als auch gegen den Vormarsch europäischer Kolonialisten. Durch diesen Mahdi-Aufstand (1881-1899) war Eritrea von den Zentren des Osmanischen Reiches abgeschnitten. Italienisches Militär besetzte daraufhin weitere Gebiete und Küstenstädte, im Jahre 1890 wurde die Kolonie Eritrea ausgerufen. Eine Revolte der Bevölkerung schlugen italienische Truppen im Jahre 1894 nieder.
Die italienischen Kolonialisten waren zu dieser Zeit schon an der afrikanischen Küste entlang weiter nach Süden vorgedrungen. Ab 1888 gelang es ihnen – zum Teil durch Schutz- und Beistandspakte mit lokalen Herrschern, teils durch Verträge mit dem die ostafrikanische Küste dominierenden Sultanat Sansibar –, den südlichen Teil des heutigen Staates Somalia unter ihre Kontrolle zu bringen; den Norden hatte sich bereits die britische Konkurrenz gesichert. Die offizielle Inbesitznahme der Kolonie Somaliland durch die italienische Krone erfolgte allerdings erst im Jahre 1905.
Ziel der italienischen Expansion war die Schaffung eines großen zusammenhängenden Kolonialterritoriums in Ostafrika. Das weitere Vordringen der italienischen Kolonialisten ins Landesinnere stieß allerdings auf den Widerstand Äthiopiens.
Ein afrikanisches Kaiserreich
Das Territorium des heutigen Staates Eritrea und der Norden Äthiopiens waren in der Antike Bestandteil des Reiches von Aksum. Schon in der Spätantike konnte – von der arabischen Halbinsel kommend – das Christentum in dieser Region Fuß fassen. Mit beginnendem Siegeszug des Islam wurde Aksum vom Überseehandel auf dem Roten Meer abgeschnitten und zerfiel. Koptische Christen zogen sich ins Landesinnere zurück, dort breitete sich die Religion weiter aus.
Gegen Ende des 10. Jahrhunderts entstand im äthiopischen Hochland ein christlich dominiertes Feudalreich. Unter dem jeweiligen Kaiser (Negus Negest – wörtlich: König der Könige) schloss Abessinien Verträge mit europäischen Mächten, wurde von ihnen entweder unterstützt oder auch bekämpft, führte zahlreiche Kriege gegen Nachbarvölker, erlebte auch Bürgerkriege, in denen lokale Herrscher gegen die kaiserliche Zentralgewalt aufbegehrten. Auf Expansionsbestrebungen europäischer Mächte reagierten die äthiopischen Herrscher mit einer pragmatischen Schaukelpolitik. Mitte des 19. Jahrhunderts unternahmen sie erste Versuche zur Modernisierung des Landes. Die äthiopischen Kaiser verboten den Sklavenhandel, organisierten einen funktionierenden Verwaltungsapparat und ein stehendes Heer. Letzteres konnte Eroberungsversuche osmanischer Truppen abwehren.
1887 besiegte ein äthiopisches Heer bei Dogali eine italienische Militärexpedition – mehr als 400 Soldaten und Offiziere blieben auf dem Schlachtfeld. In der Folge wurden die Interessensphären der beiden Staaten vertraglich voneinander abgegrenzt. Die italienische Regierung interpretierte dieses Abkommen dann als Protektoratsvertrag – der nächste Krieg war vorprogrammiert.
Die Niederlage bei Dogali hatte die italienischen Kolonialisten zwar geschockt, ihre Expansionsbestrebungen aber nicht gedämpft. Im Dezember 1894 überschritten starke italienische Truppenverbände die äthiopische Grenze. Sie stießen auf einen gut vorbereiteten Gegner. Die kaiserliche Regierung hatte bei anderen europäischen Mächten umfängliche Waffenlieferungen geordert und ihr Heer modern ausgerüstet.
Dieser erste italienisch-äthiopische Krieg hatte durchaus Züge eines Stellvertreterkrieges: Großbritannien erkannte die Forderungen Italiens als berechtigt an und wollte sich wohl ebenfalls Gebiete des Kaiserreichs einverleiben. Frankreich und Russland waren an einer Stärkung Italiens und Großbritanniens nicht interessiert, unterstützten folglich Äthiopien.
Der Krieg entwickelte sich für das italienische Militär zur Katastrophe. Zunächst besiegte das äthiopische Heer in den Kämpfen von Amba Alagi, dem höchsten Berg Äthiopiens, eine italienische Abteilung. Mehrere lokale Fürsten, die zu den Italienern übergegangen waren, kehrten nun reumütig zum Kaiser zurück. Die dann folgende Entscheidungsschlacht bei der Ortschaft Adua endete am 1. März 1896 mit der fast vollständigen Vernichtung des europäischen Heeres. Insgesamt starben im Verlauf des Krieges etwa 15.000 italienische und 17.000 äthiopische Soldaten; über die Zahl der getöteten afrikanischen Zivilisten gibt es keine Angaben.
Im November 1896 erhob sich – vermutlich unter dem Einfluss des äthiopischen Sieges – die Bevölkerung mehrerer italienisch besetzter somalischer Küstenstädte. Den sogenannten Lafolee-Massakern fielen etwa hundert Italiener zum Opfer.
In Italien selbst brachen schwere Unruhen aus. Die sozialistische Linke organisierte Antikriegskundgebungen. Als Resultat einer Regierungskrise trat der Ministerpräsident zurück. Sein Nachfolger erkannte im Friedensvertrag von Addis Abeba „auf ewige Zeiten“ die Unabhängigkeit des ostafrikanischen Kaiserreichs an.
Die Rechte fand sich nicht mit der für sie beschämenden Niederlage ab. „Rache für Adua“ wurde in der Folge zu einer immer wieder skandierten Parole italienischer Bellizisten, die in kolonialer Expansion ein Allheilmittel gegen Wirtschaftskrisen und sozialen Konflikte sahen.
Der äthiopische Feldzug hatte für Italien nicht nur mit einem militärischen, sondern auch mit einem finanziellen Desaster geendet. Das Königreich erlebte in der Folge eine Periode schwerer sozialer Unruhen, die nicht selten vom Militär zusammengeschossen wurden. Die Regierung bekam die Situation allmählich unter Kontrolle, nachdem sie erste Schritte hin zu einer effektiven Gesundheits- und Sozialpolitik beschlossen hatte. Die bisher schutzlos dem Elend preisgegebene Unterschicht wurde so ruhiggestellt.
Das gelobte Land
Die kolonialen Bestrebungen der italienischen Oberschicht konzentrierten sich anschließend auf den Mittelmeerraum. Das Gebiet des heutigen Staates Libyen war mit der Eroberung Ägyptens durch Großbritannien vom restlichen osmanischen Gebiet abgeschnitten und das geschwächte Osmanische Reich erschien ohnehin nicht als ernsthafter Gegner. Im Jahre 1902 schlossen Frankreich und Italien ein Abkommen, das den Norden Libyens zur italienischen Einflusszone erklärte.
Die Küstenregionen Libyens waren schon seit dem Frühmittelalter islamisiert und weitgehend arabisiert worden. Eine Einheit bildeten sie allerdings nie. Wirtschaftlich bedeutend war lediglich die Region Tripolitanien im Nordwesten sowie die der Cyrenaika im Osten des Landes, unweit der Grenze zu Ägypten. Seit dem Jahre 1551 gehörten beide Gebiete formell zum Osmanischen Reich. Der Großteil des Landesinneren blieb aber faktisch Besitz der zahlreichen, nicht selten untereinander verfeindeten Nomadenstämme. Mit dem Niedergang der Osmanenherrschaft hatte, insbesondere in der Cyrenaika, eine radikalislamistisch-sufistische Bruderschaft an Einfluss gewonnen. Entstanden im Jahre 1837 konnten sich die Sanusi über weite Regionen Nordafrikas ausbreiten. Die materielle Basis des Ordens waren Sawiyas – islamische Klöster, die sich in den von Stammesfehden zerrissenen Territorien als Zentren des wirtschaftlichen und geistigen Lebens etablierten. Die Sanusi lehnten das weitere Vordringen europäischer Mächte strikt ab und hatten verschiedentlich Angriffen französischer Kolonialtruppen erbitterten Widerstand entgegengesetzt.
Die nationalistische Presse Italiens titelte am 29. Mai 1911, Libyen sei „das gelobte Land, Italien von der Vorsehung zugesprochen.“ Andere Blätter wetterten gegen die osmanische Misswirtschaft, ergingen sich in imperialen Visionen, meinten, nur durch Eroberung Nordafrikas könne der angebliche Bevölkerungsüberschuss Italiens umgelenkt und gleichzeitig neue Märkte erschlossen werden. Tatsächlich war die Wirtschaft der libyschen Küstenregionen damals schon zum großen Teil in italienischer Hand.
Konkreter Anlass für das neue koloniale Abenteuer waren dann angebliche Behinderungen der Aktivitäten italienischer Kaufleute in Tripolis durch osmanische Behörden. Die italienische Regierung rechnete nicht mit ernsthaftem Widerstand, als sie im Jahre 1911 das Osmanischen Reich ultimativ zur Übergabe des Territoriums aufforderte. Sultan Mehmed V. wies dies jedoch zurück, woraufhin Italien mit einer Kriegserklärung reagierte und sofort mit dem Überfall begann.
Das Osmanische Reich hatte in der Cyrenaika und in Tripolitanien nur wenige Soldaten stationiert. Nach Versenkung mehrerer Kriegsschiffe durch die italienische Marine war es unmöglich geworden, Truppenverstärkungen in die umkämpften Landesteile zu bringen. Die Italiener konnten fast ungehindert mit einem Expeditionsheer von 34.000 Soldaten die wichtigsten Küstenstädte erobern. Die wenigen osmanischen Militäreinheiten zogen sich ins Landesinnere zurück.
Entgegen aller Erwartungen setzte jedoch die Bevölkerung den Invasoren energischen Widerstand entgegen. Sowohl Ordenskrieger der Sanusi als auch Angehörige verschiedener Stammesföderationen organisierten einen Guerillakrieg. Bewohner von Küstenstädten revoltierten mehrmals gegen die Besatzer. Die italienische Militärführung sah sich nach kurzer Zeit gezwungen, ihre Invasionsstreitmacht wesentlich zu verstärken.
Der wenig bekannte Konflikt der Jahre 1911 und 1912 gilt als erster Krieg, in dem zielgerichtet moderne Waffentechnik gegen Zivilisten eingesetzt wurde. Das gerät ob der Schrecken des Ersten Weltkrieges oft aus dem Blick. Nachgewiesen sind Bombenabwürfe eines italienischen Luftschiffes auf die Bevölkerung von Wüstensiedlungen. Schiffsartillerie beschoss libysche Küstenstädte. Die italienische Militärführung versuchte ihr Vorgehen unverblümt als Vergeltungsschlag für Guerillaaktionen libyscher Stammeskrieger zu rechtfertigen.
Das Berliner Tageblatt veröffentlichte damals Augenzeugenberichte des in Tripolis lebenden deutschen Ethnographen Gottlob Adolf Krause. Dieser berichtete über Plünderungen und Geiselnahmen von seiten italienischer Soldaten und auch über die Erbitterung der einheimischen Bevölkerung: „Hier (…) kämpfen nicht türkische Soldaten gegen italienische, sondern es war ein Kampf der arabischen Zivilbevölkerung gegen die fremden Eroberer.“ Die Truppen Italiens reagierten auf den bewaffneten Widerstand mit Deportationen und Massenhinrichtungen. Unbewaffnete Zivilisten wurden „zur Abschreckung“ öffentlich gehängt. Der russische Revolutionär Lenin charakterisiert in einem 1912 erschienen Zeitungsartikel die italienische Kriegführung als: „(…) vervollkommnetes, zivilisiertes Massaker, ein Abschlachten der Araber mit ‚neuzeitlichsten‘ Waffen“.
Trotz dieser barbarischen Kriegsführung gelang es dem italienischen Militär nicht, das libysche Territorium vollständig unter Kontrolle zu bekommen. Der Widerstand der Bevölkerung erlosch auch nicht, als das Osmanische Reich 1923 im Friedensschluss von Lausanne auf die Cyrenaika und auf Tripolitanien verzichtete.
Literatur
Autorenkollektiv: Geschichte der Araber, Bd. 2, Akademie Verlag, Berlin 1971
Andrzej Bartnicki / Joanna Mantel-Niecko: Geschichte Äthiopiens Bd. 1 und 2, Akademie Verlag, Berlin 1978
Gerd Bedszent: Zusammenbruch der Peripherie, Horlemann Verlag, Berlin 2014
Burchard Brentjes: Libyens Weg durch die Jahrtausende, Urania Verlag, Leipzig, Jena, Berlin 1982
Fritz Edinger (Hg.): Libyen. Hintergründe, Analysen, Berichte, Promedia Verlag, Wien 2011
Gottlob Adolf Krause: Tripolitanisches Kriegstagebuch, Edition Falkenberg, Bremen 2014
Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Band 18, Dietz Verlag, Berlin 1974