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Gerd Bedszent


Das Neue im Alten

Über Bauernkrieg und Reformation, Feudalismus und Kapitalismus



Erstmals erschienen in: junge welt, Ausgabe vom 24.5.2025 (Wochenendbeilage), S. 4



Das 16. Jahrhundert war eine Zeit der Unruhe und des Umbruchs, des Aufbruchs in eine neue Zeit. Allerdings keines Aufbruchs in eine bessere Welt. Viele damals lebende Menschen spürten oder ahnten dies, waren besorgt wegen ihrer immer schlechter werdenden Lebensverhältnisse, suchten Auswege. Da es so etwas wie Gesellschaftswissenschaft noch nicht gab, äußerte sich diese Beunruhigung hauptsächlich in religiösem und künstlerischem Gewand. Bei einer weitgehend analphabetischen Bevölkerungsmehrheit erfolgten Agitation und Gesellschaftskritik zumeist mündlich – über öffentliche Predigten. Oder aber über Werke der bildenden Kunst, die in öffentlich zugänglichen Räumen – meist Kirchen – ausgestellt wurden.


Viele in dieser Zeit tätige Künstler – Maler, Bildhauer, Holzschnitzer – haben diese gesellschaftliche Unruhe verspürt, sie dokumentiert und verarbeitet. Ihre Werke vermitteln bis heute ein eindringliches Bild dieser Epoche. Sie spiegeln die wachsende Armut in der Zeit des Übergangs, auch die gewalttätigen Auseinandersetzungen und die Rache der Sieger an den Besiegten.


Viele damals tätige Künstler wurden auch selbst Opfer dieser gesellschaftlichen Veränderungen. Der bekannteste, jedoch keineswegs einzige Fall ist der von Jörgen Schürtz, genannt Rathgeb. Maler zu Stuttgarten. Er hatte zuletzt den Pinsel gegen das Schwert getauscht und die Bürgerschaft seiner Heimatstadt genötigt, sich für die Sache der Bauern zu erklären. Rathgeb wurde dann selbst Kriegsrat des Bauernheeres, geriet nach dessen Niederlage gegen die Landsknechtshaufen des Truchseß von Waldburg im Jahr 1525 in Gefangenschaft, wurde zum Tode verurteilt und von Pferden »auf vier Wegstraßen« in Stücke zerrissen.


Das vermutlich letzte große Kunstwerk, das diese Zeit des Umbruchs und auch ihre barbarischen Grimassen treffend darstellt, ist das monumentale Bauernkriegspanorama von Bad Frankenhausen, ein Werk des Malers Werner Tübke, begonnen 1976, fertiggestellt 1987 – eines der bedeutendsten Kunstwerke, die in der DDR geschaffen wurden. Was aber geschah in dieser Zeit wirklich? Und was waren die Hintergründe der damals tobenden Auseinandersetzungen? Wirken sie bis heute nach? Aber gewiss doch.



Krise des Feudalismus


Der Kapitalismus hatte bekanntlich seine Wurzeln in den Nischen der hochmittelalterlichen Agrargesellschaft Europas. Es gab zwar Geld und Warenbeziehungen, Fernhandel und Märkte schon seit der europäischen Antike in kleinerem, manchmal auch größerem Umfang – aber ohne aber dass damals daraus ein allumfassendes System von Markt- und Geldwirtschaft entstand. Bei der sich auf den Trümmern der europäischen Antike und der vormodernen Clanstrukturen herausbildenden Feudalgesellschaft handelte es sich um ein auf Gewalt beruhendes System tributärer Verhältnisse.


An den Rändern dieser Wirtschaft hatten allerdings noch Reste des Gemeinschaftseigentums überlebt, uralte Rudimente aus der Zeit vor Beginn der sozialen Aufspaltung der Gesellschaft. Es gab gemeinschaftlich genutzte Viehweiden, Jagd-, Fischerei- und Holzrechte. Karl Marx beschrieb dies wie folgt: »Das Gemeindeeigentum – durchaus verschieden von dem […] Staatseigentum – war eine [...] Einrichtung, die unter der Decke der Feudalität fortlebte.«


Die ständische Starre des Feudalsystems in Verbindung mit Bildungsfeindlichkeit der kirchlichen Oberschicht behinderte die wirtschaftliche Entwicklung des hochmittelalterlichen Europa irgendwann entscheidend. Und die Expansion feudaler Herrschaftsgebiete stieß dann auch noch – schon rein territorial – an ihre Grenzen. Vorhandene Ländereien mit wachsender Bevölkerung mussten unter immer mehr Bewohnerinnen und Bewohnern aufgeteilt werden. Damit steckte die Feudalgesellschaft in einer ausweglos scheinenden Krise, die sich in immer schärferen Verteilungskämpfen äußerte. Jeder Grundherr, der in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckte, war nun bestrebt, nicht genau beurkundete Grenzziehungen zwischen Besitztümern zu seinen Gunsten zu verschieben. Die lieben Nachbarn ließen sich Eingriffe in ihre überkommenen Rechte und Schmälerung ihres Besitzes dann meist nicht gefallen.


Leidtragende dieser Entwicklung war im wesentlichen die Agrarbevölkerung. Konnten die Kämpfer des Mittelalters sich oft noch selbst mit Schwertern, Lanzen und Harnischen ausrüsten, so mussten sie nun entweder vom jeweiligen Kriegsherrn oder aber von einer gesellschaftlichen Zentralgewalt bewaffnet werden. Und die Betreiber der jeweiligen Werkstätten ließen sich die Aufrüstung der Söldnertruppen teuer bezahlen. Folge war eine fortschreitende Monetarisierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft samt Erhöhung von Steuern, Zöllen und Abgaben. Und natürlich plünderten die schlecht bezahlten Söldner im Zuge der von ihnen geführten Auseinandersetzungen meist nach Herzenslust. Das Ganze ging – wie konnte es denn anders sein – zu Lasten der Produzenten, also primär der Bauernschaft. Schon Friedrich Engels beschrieb dies wie folgt: »Auf dem Bauer lastete der ganze Schichtenbau der Gesellschaft: Fürsten, Beamte, Adel, Pfaffen, Patrizier und Bürger.«


Die im Zuge dieser Entwicklung verarmten Bauern endeten dann entweder als Bettler auf irgendeiner Landstraße oder aber sie verstärkten den sozialen Bodensatz der zumeist seit der Antike bestehenden Handelsstädte – damals Zentren der schrittweisen Entwicklung hin zum Kapitalismus. Der zumeist als frühbürgerliche Revolution betitelte Übergang zu kapitalistischen Verhältnissen war demzufolge flankiert von nicht wenigen bewaffneten Erhebungen der immer mehr verarmenden Bauernschaft, die sich gegen die Zumutungen der neuen Zeit auflehnte. Im frühen 16. Jahrhundert war dies vor allem der Große Deutsche Bauernkrieg. Allerdings gab es zuvor und auch danach ähnliche Revolten der Agrarbevölkerung anderer europäischer Regionen. Die meist eher primitiv bewaffneten revoltierenden Bauern scheiterten in aller Regel an den von der feudalen und/oder städtischen Oberschicht besoldeten und mit (damals) modernsten Waffen ausgerüsteten Söldnerhaufen.


Karl Marx beschrieb den dann folgenden Übergang zum frühen Kapitalismus: »Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt.«



Häresien


Die anstehenden und gewaltsam durchgesetzten sozialen Veränderungen der spätfeudalen Gesellschaft bedurften einer passenden Legitimationsideologie. Und das bereits in der Antike aus dem mosaischen Glauben hervorgegangene frühe Christentum war dafür passend. Im frühen Feudalismus war es allerdings schon zu einer Verschmelzung kirchlicher Hierarchien mit dem damals entstehenden Hochadel gekommen. Aus der Krise des Feudalismus resultierte nun eine Reihe von religiösen Häresien. Es waren meist aus dem Bürgertum kommende Prediger, die dem katholischen Klerus und der Papstkirche vorwarfen, von dem verkündeten wahren Wort Gottes abgewichen zu sein.


Karl Marx schrieb dazu: »Das Kircheneigentum bildete das religiöse Bollwerk der altertümlichen Grundeigentumsverhältnisse. Mit seinem Fall waren sie nicht länger haltbar.« Mittels Enteignung kirchlicher Ländereien und Immobilien wurde demzufolge in nicht wenigen westeuropäischen Regionen die Infrastruktur entstehender bürgerlicher Nationalstaaten finanziert. Dazu aber später.


Aus den Häresien des europäischen Spätmittelalters gingen die bis heute existierenden protestantischen Kirchen verschiedenster Ausrichtung hervor. Bekannt sind die Theologen Martin Luther und Johann Calvin – sie waren jedoch keinesfalls die einzigen Abweichler von der bis dahin als einzig richtig geltenden katholischen Lehre. Und es gab auch reformatorisch gesinnte Prediger, die nicht nur die Interessen des Bürgertums, sondern auch die Interessen der städtischen Armen vertraten – bekanntester Vertreter dieser Richtung war der Theologe Thomas Müntzer. Und von da bis hin zum Interessenvertreter der verarmt in die Städte strömenden Bauern war es dann nicht mehr sehr weit. Zur Verdeutlichung sei zitiert aus einem Forderungskatalog der aufständischen Bauern von Frankenhausen aus dem Mai 1525: »[...] dass ihr wollt lassen frei sein, was Christus hat frei gemacht: Holz, Wasser, Weide, Wildbann, ein jeder nach seiner Notdurft zu gebrauchen, das Holz zum Feuerwerk, zu seiner Behausung und zum bauen«.


Insgesamt gesehen hatten die Kirchenreformen des 16. Jahrhunderts keinesfalls ihre Wurzeln in den verzweifelten Revolten der Bauernschaft. Im Gegenteil: Sie flankierten ideologisch die beginnende kapitalistische Umgestaltung. War die neue Gesellschaft doch von einer Art, die »keine religiöse Legitimation erheischt, sondern ganz im Gegenteil Kapitalprofit bzw. schiere Macht zum Inhalt hat«, wie Carsten Weber in seinem Aufsatz Der Urschrei des Subjekts, schreibt. Statt auf Armenspeisung und Vertröstung auf ein besseres Jenseits lag der Schwerpunkt der reformierten Kirchenpolitik nun auf der Beförderung von Arbeitsethos und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Der ausufernde Apparat der katholischen Kirche sollte beschnitten werden; deren nicht unbeträchtlicher Besitz weckte Begehrlichkeiten der in permanenter Finanznot steckenden frühkapitalistischen Herrscher. Auf dem Umweg über deren Verwaltungsapparat wanderte der enteignete Kirchenbesitz dann in die Hände neureicher Bürger.



Scheitern an der Theologie


Plünderungen von Burgen und Klöstern durch Rotten aufrührerischer Bauern passten natürlich überhaupt nicht in diese angestrebte Entwicklung. Gegen bäurische Aufständische waren sich adlige und städtische Obrigkeit, waren sich katholische und reformierte Kirchenfürsten demzufolge plötzlich einig.


Martin Luther als bedeutendster Ideologe der Reformation war durchaus ein Verfechter von bürgerlichem Besitzdenken und Arbeitsethik. Seine Parteinahme gegen die revoltierenden Bauern war keinesfalls ein Ausrutscher und resultierte auch nicht aus persönlichen Differenzen mit Thomas Müntzer, dem »Erzteufel, der in Möhlhusen residiert«. Forderungen nach Wiederherstellung und Erhalt von Gemeineigentum mussten Luther als wahrlich der Hölle entsprungen erscheinen. Was der Reformator in seltener Offenheit auch bekannte: »Denn hundert Töde soll ein frummer Christ leiden, ehe ein Haarbreit von der Bauren Sache bewilliget. [...] Steche, schlahe, würge hie, wer da kann! Bleibst du druber tot, wohl dir!«


Die sowohl von katholischen als auch von reformierten Fürsten besoldeten Landsknechte richteten unter den unkoordiniert operierenden und schlecht bewaffneten Haufen der Aufständischen furchtbare Blutbäder an. Auch die Entscheidungsschlacht bei Bad Frankenhausen war mehr ein Abschlachten denn eine Schlacht. Und die Rache der Sieger fiel ebenfalls furchtbar aus. Nicht wenige Aufständische wurden grausam hingerichtet, andere gefangengesetzt, körperlich verstümmelt, des Landes verwiesen und/oder all ihres Besitzes beraubt. Dörfern und Städten, die sich an dem Aufstand beteiligt hatten, wurden verbriefte Rechte aberkannt, andere gebrandschatzt oder aber zu hohen Geldstrafen verurteilt.


Karl Marx schrieb in einem seiner frühen Texte, in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie dazu: »Damals scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, an der Theologie.« Gemeint hatte Marx natürlich die protestantische Theologie als ideologischer Wegbereiter der entstehenden kapitalistischen Verhältnisse. Was Marx im selben Text auch treffend beschrieb: »Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat.«


Die Auflösung der spätfeudalen Verhältnisse wurde durch die Niederlage der aufständischen Bauern tatsächlich eher beschleunigt. Aus der enteigneten Bauernschaft entwickelte sich schrittweise eine Schicht von Heimwerkern und frühen Lohnarbeitern – Voraussetzung für die Entstehung einer wirtschaftlich bedeutenden Industrie. Etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte der Kapitalismus dann in mehreren Ländern Westeuropas seine erste Blüte. Marx beschrieb diese Entwicklung später, nämlich im Kapital, wie folgt: »Andrerseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer.«


Die sozialen Grausamkeiten und kriminellen Auswüchse der neuen Gesellschaft konnten sich spätestens in dieser Zeit nicht mehr hinter der Maske von Rudimenten feudaler Machtverhältnisse verstecken. Der Philosoph Robert Kurz hat im 1999 erschienenen Schwarzbuch Kapitalismus diese Zeit der sozialen Grausamkeiten treffend geschildert: »Die gesamte Geschichte des Frühkapitalismus ist durch einen steilen Absturz des Lebensniveaus gekennzeichnet. [...] In der frühmodernen Epoche vor der Industrialisierung hatte sich ganz Europa in eine Dante’sche Hölle der Verelendung verwandelt …«