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Andreas Urban


Corona als gesellschaftliches Verhältnis – aber welches?

 


Rezension zu:

René Bohnstingl, Linda Lilith Obermayr & Karl Reitter: Corona als gesellschaftliches Verhältnis. Brüche und Umwälzungen im kapitalistischen Herrschaftssystem. Kassel, Mangroven Verlag, 2023



 

Es gibt bislang, schon allein aufgrund der (jedenfalls hierzulande) historisch beispiellosen und vermutlich endgültigen Selbstdemontage der Linken im Zuge der sogenannten Corona-Krise, nur wenig theoretisch Elaboriertes über die „Pandemie“ und die mit dem Maßnahmenregime einhergegangenen Verwerfungen aus einer kapitalismuskritischen bzw. marxistischen Perspektive. Den wahrscheinlich umfassendsten Versuch stellt das im August 2023 im Mangroven Verlag erschienene Buch Corona als gesellschaftliches Verhältnis von René Bohnstingl, Linda Lilith Obermayr und Karl Reitter dar. Grund genug, das Buch auch aus wertkritischer Sicht wahrzunehmen.


Das Buch und seine Autor/innen – der bekannteste unter ihnen Karl Reitter – sind eher in theoretischen Zusammenhängen zu verorten, die Robert Kurz gerne als „traditionsmarxistisch“ bezeichnete und deren kapitalismuskritische Perspektive sich bevorzugt auf den exoterischen „Klassenkampf-Marx“ stützt.[1] Alle drei Autor/innen sind Mitherausgeber des noch recht jungen, im Mandelbaum Verlag erscheinenden Jahrbuchs für marxistische Gesellschaftstheorie. Karl Reitter war Redaktionsmitglied der im Jahr 2014 eingestellten linken Theoriezeitschrift grundrisse, ist ein leidenschaftlicher Verfechter des Bedingungslosen Grundeinkommens (Reitter 2012 & 2021) und im Übrigen expliziter Kritiker der wertkritischen Theorie (wobei bezweifelt werden darf, dass er sie verstanden hat[2]). Auch im hier besprochenen Buch wird bereits in der Einleitung mit dem im wertkritischen Theoriegebäude zentralen Begriff des „automatischen Subjekts“ aufgeräumt.[3] Der theoretische Zugang, der im Buch entfaltet wird, ist daher folgerichtig einer, der sich wesentlich um Klassenherrschaft und Klassenkampf dreht. Im Mittelpunkt der Analyse steht der (von Joachim Hirsch und Jens Wissel entliehene) Begriff der „transnationalen Klassenherrschaft“ (S. 55), und die Hauptthese des Buches lautet, dass die herrschenden Klassen gegenwärtig an ihrer Konsolidierung und einer „Umwälzung“ des „kapitalistischen Herrschaftssystems“ entlang ihres spezifischen (wenn auch nicht einheitlichen, sondern durch die ubiquitäre Konkurrenz in sich zerrissenen) Klasseninteresses arbeiten – ein Prozess, der zwar keineswegs erst mit Corona begonnen, damit aber einen neuen Höhepunkt erreicht habe. Ausdrücklich werden die Entwicklungen der letzten dreieinhalb Jahre in den Kontext eines „Klassenkampfs von oben“ (S. 141ff.) gestellt.


Es liegt vor diesem Hintergrund auf der Hand, dass sich aus wertkritischer Perspektive zwangsläufig Einwände und divergierende Interpretationen ergeben, was die gesellschafts- und kapitalismustheoretische Einordnung einiger dieser jüngsten Entwicklungen betrifft. Das soll aber nicht schon von vornherein die Leistung schmälern, die mit dem vorliegenden Buch erbracht wurde – vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass große Teile der Wert- und Wert-Abspaltungskritik angesichts der Wucht der Ereignisse sprichwörtlich „wie der Ochs vorm Berg“ (Jappe 2022, S. 1) standen und nicht nur zu keiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Pandemienarrativ und dem darauf gegründeten Maßnahmenregime fanden, sondern darüber hinaus auch jeden Versuch einer solchen Kritik bis heute abwehren und als „Verschwörungstheorie“ diffamieren (siehe hierzu etwa das Editorial der EXIT! Nr. 20; kritisch dazu Urban 2022a & 2023a). Schon in dieser Hinsicht ist es der Autorin und den Autoren als großes Verdienst anzurechnen, mit ihrem Buch den Versuch unternommen zu haben, Corona mit marxistisch-kapitalismuskritischen Begriffen zu fassen – etwas, worum sich andere eben nicht einmal mehr bemüht haben. Gleichwohl ist das Buch aus wertkritischer Sicht weniger aufgrund der darin entfalteten gesellschaftstheoretischen Perspektive auf Corona bedeutsam – wenngleich auch dies keineswegs pauschal gilt –, sondern eher auf phänomenologischer Ebene. Hier liefert es Einsichten und Erkenntnisse, auf die auch für eine wertkritische Analyse der Corona-Krise nicht verzichtet werden kann. Dazu trägt insbesondere bei, dass das Buch sehr gut recherchiert ist, sei es im Hinblick auf die Strukturen der „Pandemie-Industrie“, sei es mit Blick auf die haarsträubenden Widersprüche und oft genug auch herben intellektuellen Zumutungen des Corona-Narrativs. Positiv hervorzuheben ist außerdem – was in den vergangenen dreieinhalb Jahren leider selten genug zu konstatieren war –, dass es den Autor/innen weitestgehend gelingt, die notwendige kritische Distanz sowohl zu tatsächlichen Verschwörungstheoretikern, die in der „Pandemie“ ausschließlich eine Inszenierung machtgieriger Eliten oder Ähnliches sehen wollen, als auch zur nicht minder verqueren Position derjenigen zu wahren, die jegliche Kritik an der Corona-Politik pauschal als „Verschwörungstheorie“ abtun.[4]


Interessanterweise gibt es trotz besagter grundlegender gesellschafts- bzw. kapitalismustheoretischer Differenzen durchaus einige Parallelen zu einem wertkritischen und insbesondere krisentheoretischen Zugang, wie er ansatzweise in Beiträgen auf dieser Webseite (vgl. Urban/Uhnrast 2022a & 2022b; Urban 2022b, 2023b & 2023c) sowie im Sammelband Schwerer Verlauf (Urban/Uhnrast 2023a) entfaltet wurde: So gehen die Autor/innen des gegenständlichen Buches ausdrücklich davon aus, dass sich der Kapitalismus gegenwärtig in einer schwerwiegenden, dynamisch fortschreitenden Krise befindet, welche die „herrschenden Klassen“ u.a. mit den in der Corona-Zeit sichtbar gewordenen Methoden zunehmend autoritär zu bewältigen versuchen. Auch wenn diese Krise von den Autor/innen analytisch auf den tendenziellen Fall der Profitrate reduziert wird (vgl. S. 315), die Analyse sich also nicht auf der höheren Abstraktionsebene der Wertform und der sich in der Krise vollziehenden „Entwertung des Werts“ bewegt, kann dies als eine deutliche Annäherung an die wertkritische Krisentheorie und ihre Annahme einer finalen Krise des Kapitals gewertet werden – zumal die Autor/innen offenbar auch (zu Recht) skeptisch sind, ob die schwerlich zu leugnenden aktuellen Bemühungen um ein neues biotechnologisches, digitales, „grünes“ Akkumulationsregime von Erfolg gekrönt sein werden (S. 317). Die Autor/innen thematisieren darüber hinaus die in der Krise stetig voranschreitende Produktion einer „Überflussbevölkerung“ (S. 318), die der Kapitalismus aufgrund von zunehmender Automatisierung und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkeit nicht mehr durch Lohnarbeit zu reproduzieren vermag, weshalb [b]estimmte Klassenfraktionen“, welche „die Zeichen der Zeit erkannt“ hätten (S. 319), Mittel und Wege suchen, die „Überflüssigen“ durch den Aufbau einer entsprechenden, technologisch zeitgemäßen Kontroll- und Überwachsungsinfrastruktur in Schach zu halten. Auch dieser Befund erscheint im Buch zwar „klassenkampf-marxistisch“ verkürzt als ein primär aus dem Kontroll- und Herrschaftsstreben der transnationalen Kapitalistenklasse entspringendes Kalkül, die, nachdem sie „einen wachsenden Teil der Bevölkerung nicht mehr allein über das Lohnverhältnis kontrollieren könne (ebd.), auf alternative „Kontrollmechanismen“ (ebd.) angewiesen sei – und nicht als eine sich systemimmanent gleichsam naturwüchsig aus der fundamentalen Krise des Kapitalismus und der (Un-)Logik der kapitalistischen Krisen- und Notstandsverwaltung ergebende Konsequenz. Gleichwohl können solche wie auch immer verkürzten, impliziten oder expliziten Annäherungen an die Krisentheorie als Indiz dafür genommen werden, dass nicht nur die kapitalistischen Funktionseliten[5], sondern auch manche „klassenmarxistisch“ argumentierende und mitunter sogar gegen die Wertkritik polemisierende Linke mittlerweile „die Zeichen der Zeit erkannt“ haben.


Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert. Im ersten, mit Neuorientierung von Herrschaft überschriebenen Abschnitt, entwickeln die Autor/innen ihren theoretischen Ansatz einer gegenwärtig in Konsolidierung befindlichen transnationalen Klassenherrschaft und analysieren die Corona-Krise als wesentliches Teilmoment und gewissermaßen historische Zäsur in diesem globalen Umwälzungsprozess. Sie thematisieren dabei zunächst die im Laufe der letzten neoliberalen Jahrzehnte rasch vorangeschrittenen Prozesse der „Verwissenschaftlichung von Herrschaft“ (S. 23-50). Hier geht es u.a. um die zunehmende Abhängigkeit und teilweise auch unmittelbare Verflechtung des Wissenschaftsbetriebs von bzw. mit der Industrie, etwa in Gestalt der die Finanzierung von Universitäten mittlerweile dominierenden Drittmittelsysteme, aber auch, quasi als parallel dazu verlaufende Entwicklung, um die Herausbildung einer technokratischen Kaste von externen Beratern, „Experten“ und privaten Thinktanks, die zum einen immer größeren Einfluss auf das Regierungshandeln ausüben und diesem zum anderen (und vielleicht vor allem) die Legitimation wissenschaftlicher „Evidenz“ und damit nicht nur den Anschein der „Alternativlosigkeit“, sondern auch des „Fortschrittlichen“, „Vernünftigen“ und „Richtigen“ verleihen. Gerade Corona bot eindrucksvolles Anschauungsmaterial für die zentrale Rolle politisch handverlesener „Experten“ und entsprechend zusammengesetzter Gremien (etwa in Gestalt der notorischen „COVID-19-Taskforces“), die mit ihren auf methodisch fragwürdigen Modellrechnungen beruhenden Prognosen und ihrer stets regierungstreuen „Expertise“ nicht nur maßgeblich den Kurs der Pandemiepolitik mitbestimmten, sondern dabei auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der „Pandemie“ prägten und damit letztlich auch ihre konkrete Realität wesentlich mitschufen.[6] Das Pandemienarrativ konnte sich mithin „auf ein Herrschaftswissen stützen, welches inzwischen systematisch institutionalisiert und, mit oftmals gigantischen Finanzmitteln ausgestattet, wirkmächtig Realitäten formt. Es geht dabei nicht bloß um die Produktion von Meinungen und Ansichten, die als Wissenschaft verkleidet die Interessen der herrschenden Klassen als die der Gesellschaft insgesamt behaupten. Es geht um die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst.“ (S. 25) Das erklärt einerseits, wie es gelang, „die Pandemiepolitik als Ausdruck wissenschaftlicher Erkenntnis zu simulieren“ (S. 31), andererseits, weshalb Zweifel am Narrativ und Kritik an der Corona-Politik so rigoros bekämpft und oftmals mit einer regelrechten Pathologisierung von Skeptikern beantwortet wurden. Wie wir spätestens seit Michel Foucault wissen[7], kommt die Weigerung, sich „realitätsgerecht“, d.h. konform zur gesellschaftlich gültigen, diskursiv konstruierten „Wirklichkeit“ zu verhalten, einer Form von Wahnsinn gleich – dies offenkundig selbst (und vielleicht sogar gerade?) dann, wenn die vorherrschende, gesellschaftlich gestützte und sanktionierte Realitätswahrnehmung auf derart schwachem Fundament steht wie das offizielle Pandemienarrativ. Bekanntlich hat sich das hegemoniale Narrativ oft genug grandios und vorhersehbar an der Realität blamiert, sei es im Hinblick auf die mit der Zeit immer deutlicher werdende Unverhältnismäßigkeit und Schädlichkeit des Maßnahmenregimes, sei es im Hinblick auf das zweifelhafte Nutzen-Schaden-Profil der Massenimpfung. Doch auch aus dieser Not konnte unter Rückgriff auf „die Wissenschaft“ stets eine (perfide) Tugend gemacht werden: „Auf Denunziation und Beleidigung der KritikerInnen und ihrer Positionen folgte ein teilweises Zugeben der Mängel und negativen Wirkungen bis schlussendlich die Implosion der ursprünglichen Erzählung als Anerkennung von Wissenschaft angepriesen wurde.“ (S. 40f.)


Sodann zeichnen die Autor/innen – im Anschluss an ihre theoretische Begriffsbestimmung von „transnationaler Klassenherrschaft“ (S. 51-59) – ein instruktives „Portrait der Big Player der Viren-, Impfstoff- und Medikamentenforschung“ (S. 66-79) sowie einiger „Akteure der Ideologie-, Berater- und Medienindustrie“ (S. 79-89). Zur Sprache kommt hier praktisch alles, was Rang und Namen hat und während der Corona-Krise an prominenter Stelle aktiv und in jeweils unterschiedlicher Weise zum „schweren Verlauf“ (Urban/Uhnrast 2023a) der „Pandemie“ beigetragen hat: von der u.a. vom Pentagon finanzierten und strukturell wie personell in die bisweilen apokalyptisch[8] anmutende (vermutlich auch für die Entstehung von SARS-CoV-2 verantwortliche) Gain-of-Function-Forschung verwickelten EcoHealth Alliance, der berühmt-berüchtigten, mit ihren „disruptiven“ Methoden (vgl. Levich 2018) auf den Bereich der öffentlichen Gesundheit zugreifenden Bill & Melinda Gates Foundation, der zu 80 Prozent von privaten Stiftungen finanzierten WHO, der wiederum von internationalen Konzernen und Stiftungen wie Microsoft und der Rockefeller Foundation gesponserten, auf die Entwicklung und Forcierung digitaler Identifikationssysteme spezialisierten Initiative ID2020, bis hin zu internationalen Presseagenturen (z.B. Reuters, The Associated Press), die durch die weitgehende Vereinheitlichung der medialen Berichterstattung einen wesentlichen Beitrag zur sogenannten message control leisten, oder den gerade während der Corona-Krise wie Pilze aus dem Boden geschossenen, ebenfalls in der Regel von „philanthropischen“ Stiftungen finanzierten „Faktencheck“-Organisationen (wie z.B. Correctiv), die unter dem Vorwand der Bekämpfung von „Desinformation“ und „Fake News“ zunehmend rabiat gegen unliebsame, die Regierungslinie hinterfragende Positionen und Personen vorgehen. Dazu kommen prominente, bestens vernetzte Einzelpersonen wie z.B. der bis 2022 als Leiter des US-amerikanischen National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) und als leitender medizinischer Berater des US-Präsidenten fungierende Anthony Fauci, der am Londoner Imperial College wirkende Modellepidemiologe Neil Ferguson, der sich bereits vor Corona (z.B. während der Schweinegrippe 2009) immer wieder mit grotesk falschen, zig bis hunderte Millionen Tote prognostizierenden Pandemie-Modellierungen hervorgetan hatte, oder Christian Drosten, der ebenfalls seit Beginn des Jahrtausends noch bei praktisch jeder (Pseudo-)Pandemie als Virensequenzierer, Testentwickler und medialer Panikmacher seine Finger im Spiel hatte. Ein eigenes, kurzes Unterkapitel widmen die Autor/innen dem (ebenfalls dank engagierter „Philanthropen“ wie Bill Gates und den von ihnen ins Leben gerufenen Organisationen wie der öffentlich-privaten „Impfallianz“ Gavi) immer größere Dimensionen annehmenden Impf-Business, das sich nicht nur – quasi nach dem Motto one size fits all – anschickt, alle möglichen, überwiegend gesellschaftlich bedingten Krankheits- und Leidenszustände einfach „wegzuimpfen“[9], sondern dabei auch ein ideales Komplement zur fortgesetzten Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitswesens darstellt: „Impfen statt medizinischer Versorgung“ (S. 89-93).


Diese recht ausführliche Beschreibung der Akteure und Netzwerke der „Pandemie-Industrie“ kulminiert schließlich in einem der instruktivsten Kapitel des Buches mit einer (semantischen) Analyse der sogenannten pandemic preparedness (S. 94-144). Die europäische Seuchenschutzbehörde ECDC beschreibt das Prinzip der pandemic preparedness – am Beispiel der Influenza – wie folgt: „Die Vorbereitung auf eine Grippepandemie ist ein kontinuierlicher Prozess der Planung, Übung, Überarbeitung und Umsetzung von nationalen und subnationalen Bereitschafts- und Reaktionsplänen für eine Pandemie [pandemic preparedness and response plans].“[10] In diesen Zusammenhang gehören etwa auch die während der Corona-Krise unter Kritikern einige Aufmerksamkeit erlangt habenden „Planspiele“ (so etwa das im Vorfeld der Corona-Krise im Herbst 2019 in New York abgehaltene Planspiel Event 201, in dem eine Coronavirus-Pandemie simuliert wurde), ebenso die aktuellen Bemühungen um einen globalen „Pandemieplan“, der u.a. der WHO im Interesse eines in Zukunft noch „effektiveren“ Pandemie-Managements noch mehr Befugnisse einräumen soll (auch dem „Pandemieplan“ widmet das Buch ein kurzes Kapitel auf den Seiten 44-50). Insbesondere im Hinblick auf die Planspiele im Kontext der pandemic preparedness arbeiten die Autor/innen heraus, dass es sich dabei keineswegs, wie manche zu Verschwörungstheorien neigende Kritiker des Corona-Regimes unterstellen, „um eine simple Ausarbeitung eines unmittelbar umzusetzenden Plans handelt, sondern vielmehr um die Anbahnung effizienter Handlungsstrukturen und die Vernetzung der dafür entscheidenden Akteure“ (S. 134). Zugleich lassen sie wenig Zweifel daran, dass es in den Planspielen nicht so sehr um „reale medizinische Effekte“, etwa die effektive Bekämpfung einer Pandemie, geht, sondern „die eigentliche Zielsetzung“ sei „die Steuerung von Verhalten“ (S. 102), insbesondere durch die Kontrolle der (Des-)Informationsströme. Dies geschieht, wie eindrucksvoll während der Corona-Krise zu besichtigen war, zum einen durch die Bekämpfung von als „Falschinformationen“ deklarierten Inhalten[11], zum anderen durch die Überflutung des öffentlichen Diskursraums mit den gewünschten Nachrichten und Informationen (flooding the zone, vgl. S. 119ff.). Die dafür zum Einsatz kommenden Methoden und Technologien zur „zielgenauen Informationssteuerung“ (S. 110) sind freilich per se keineswegs neu, sondern existierten schon lange vor Corona. „Sie entwickelte[n] ihre Produktivkräfte im Einsatz zur Realisierung des Werts, also für das Auffinden und Schüren neuer Bedürfnisse zum schnelleren Warenumsatz“ (ebd.) – wenngleich vor allem die in den vergangenen dreieinhalb Jahren auf dem Vormarsch befindlichen Formen der Zensur (z.B. die Löschung von YouTube-Beiträgen und -Kanälen) durchaus eine neue Qualität darstellen. Soweit es in den Plänen der pandemic preparedness auch um Medizinisches geht, betrifft es primär die Schaffung von Möglichkeiten für die Pharmaindustrie, „Medikamente schneller und durch ein weniger engmaschiges Sicherheitsnetz zu schleusen“ (S. 136). Dies lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass sich entsprechende Kommunikationsstrategien – z.B. hinsichtlich der Vorbereitung der Bevölkerung auf eine Impfung – zumeist schon aufgrund des Zeitpunkts ihrer Veröffentlichung völlig „abseits der wissenschaftlichen Faktenlage“ (S. 118) bewegen und letztlich ein perfides Spiel mit den Ängsten und Hoffnungen der Menschen treiben, um diese für einen medizinischen Eingriff zu disponieren, über dessen Wirkungen und Nebenwirkungen noch gar nichts bekannt ist (und die offenbar auch nebensächlich sind). Auch dafür ist Corona und die zu seiner Bekämpfung in Rekordzeit entwickelte und auf den Markt geworfene Impfung ein vortreffliches Beispiel:


„Dass man bereits [im Juli 2020, A.U.], ohne einen Grund gehabt haben zu können, von einer sterilen Immunität ausgeht und sowohl mit der wiederzuerlangenden Freiheit als auch der Solidargemeinschaft argumentiert, zwei Sujets, die sich später in ihrer vollen Hässlichkeit entfalten sollten, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass diese Versatzstücke der Risikokommunikation in den Schubladen der pandemic preparedness-Protagonisten nur darauf warteten, losgelassen zu werden.“ (S. 118f.)


Die instruktive Beschreibung der pandemic preparedness, ihrer Strukturen, Akteure und Inhalte, leidet freilich insofern unter der klassenmarxistischen Fixierung des Buches, als diese nahezu ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der sich darin artikulierenden Kapitalinteressen, und der während der Pandemie (sowie später auch im Kontext des Ukraine-Kriegs) entfesselte, regelrechte Informationskrieg primär als Phänomen eines „Klassenkampfs von oben“ gedeutet werden. Dass Kapitalinteressen in der „Pandemie“ eine erhebliche Rolle spielten und wir Zeugen eines wahrscheinlich historisch beispiellosen Informationskriegs wurden (und nach wie vor werden), ist offensichtlich und kann gar nicht in Abrede gestellt werden. Der alleinige Fokus darauf verstellt aber den Blick auf andere, in gesellschaftstheoretischer Hinsicht nicht minder plausible und relevante Erklärungsansätze. So verweisen die etablierten Systeme der pandemic preparedness mindestens ebenso sehr auf eine immer (auto-)destruktivere Züge annehmende moderne Naturbeherrschungsrationalität und einen daraus geborenen Wahn, Krankheitserreger mit allen Mitteln aufspüren und bekämpfen zu müssen (und zu können). Dass sich dies keineswegs mehr nur auf natürlich vorkommende, z.B. durch Mutation oder Zoonose entstandene Viren beschränkt, sondern zunehmend auch solche Erreger umfasst, die durch die Virus- und Impfstoffforschung oder gar im Rahmen der Biowaffenforschung[12] künstlich erzeugt wurden, also aus derselben blinden, destruktiven Logik der Naturbeherrschung hervorgegangen sind, verdeutlicht nur das Ausmaß an Irrationalität und Hybris, das der pandemic preparedness von vornherein inhärent ist. Die in diesem Zusammenhang durchgeführten Planspiele zeugen denn auch nicht zufällig von einer kaum anders als paranoid zu nennenden Disposition ihrer Macher, „und allein die mit der Zeit technisch immer ausgefeilteren und auf immer noch mehr ‚Realismus’ getrimmten Szenarios [...] hinterlassen beim kritischen Beobachter zuweilen den Eindruck, man befinde sich im Wohnzimmer jugendlicher Gaming-Nerds, die angesichts der grafisch hochentwickelten und mittlerweile entsprechend realistisch wirkenden Computerwelt, in der sie leben, bekanntlich manchmal Probleme haben, adäquat zwischen ihrer virtuellen und der sie umgebenden objektiven Realität zu unterscheiden. Hier ist also dieselbe postmoderne Virtualisierung am Werke, und es spricht wenig dafür, dass diese bei den Eliten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien weniger verheerende Auswirkungen auf Realitätssinn und Weltbezug entfaltet als beim Rest der Bevölkerung.“ (Urban 2022b, S. 10) Die Corona-Krise ist so gesehen also nicht zuletzt auch das Resultat einer durch und durch medikalisierten und von Krankheitserregern und deren Bekämpfung regelrecht besessenen Gesellschaft, die ein Opfer ihrer eigenen Naturbeherrschungsrationalität und den aus dieser Rationalität geborenen Technologien geworden ist (pandemic preparedness, Virusmonitoring und -sequenzierung in Permanenz, anlasslose Massentests mit fehleranfälligen Testinstrumenten etc.). Dies kann wiederum als Hinweis auf die umfassende „Gesundheitskrise“ (Urban/Uhnrast 2023b) gewertet werden, in der sich die spätkapitalistische Gesellschaft gegenwärtig und in zunehmendem Maße befindet. Aus einer solchen krisentheoretischen Perspektive, die nicht nur politökonomische Prozesse, sondern auch moderne Denk- und Subjektformen (sowie deren krisenbedingte Erosion) berücksichtigt, wird schließlich auch einiges der unübersehbaren und beeindruckenden Absurdität und Dysfunktionalität des Corona-Regimes – die im Buch übrigens an vielen Stellen durchaus zur Sprache kommt[13] – einer Erklärung zugänglich(er), ebenso wie die Tatsache, dass nicht wenige aus der Riege der kapitalistischen Funktionseliten offenbar ihrer eigenen Propaganda auf den Leim gingen und den Unsinn, den sie von sich gaben, häufig auch selbst glaubten. Im relativ engen theoretischen Korsett „transnationaler Klassenherrschaft“ finden solche Aspekte jedoch kaum, jedenfalls aber nicht systematisch Eingang in die kritische Analyse.


Vor diesem Hintergrund erscheint es auch angebracht, die bereits an früherer Stelle im Buch vorgenommene Begriffsbestimmung von „Herrschaftswissen“, welche die Autor/innen u.a. entlang des bekannten Marx’schen Diktums entwickeln, wonach die „herrschenden Gedanken die Gedanken der Herrschenden“ seien (S. 27), ein wenig zu relativieren. Einmal davon abgesehen, dass Marx im Kapital auch von „objektiven Gedankenformen“ (Marx 1986, S. 90) spricht, die den „objektiven Daseinsformen“ im Kapitalismus korrespondieren – er gesellschaftliche Denk- und Wissensformen also nicht einfach (nur) aus den spezifischen Interessen und der (Macht-)Stellung der „Herrschenden“ ableitet, sondern sie im Wesentlichen als Produkt der kapitalistischen Fetischkonstitution bestimmt, welcher Kapitalist und Arbeiter gleichermaßen unterworfen sind –, legt gerade das Auftreten nicht weniger Angehöriger der kapitalistischen Funktionärsklasse während der Corona-Krise den Schluss nahe, dass auch sie überwiegend Beherrschte sind, das „Herrschaftswissen“ also mindestens ebenso sehr die Herrschaft des Kapitals auch über die Funktionseliten reflektiert und nicht nur eine Herrschaft durch die Funktionseliten.


Dass sich Corona nicht zureichend „klassenkampf-marxistisch“ mit einem „Klassenkampf von oben“ erklären lässt und der Gegenstand sozusagen den klassenmarxistischen Rahmen sprengt, zeigt sich noch eindrucksvoller im zweiten Abschnitt des Buches (Erzählung einer Krise und Krise einer Erzählung). Dieser beginnt mit einem Die Massenformation überschriebenen Kapitel, das sich massenpsychologischen Dimensionen der Corona-Krise widmet (S. 149-188). Dass solche Dimensionen eine nicht geringe Rolle spielten und die Corona-Politik sowie einige Reaktionen der Bevölkerung auf das Virus wahnhaften, zuweilen massenpsychotischen Charakter annahmen, war kaum zu übersehen und nicht zufällig auch Gegenstand der auf dieser Webseite versammelten wertkritisch-krisentheoretischen Erörterungen (z.B. Urban/Uhnrast 2022b). Reitter und Kolleg/innen beziehen sich dabei insbesondere auf das Buch Die Psychologie des Totalitarismus des belgischen Psychologen Mattias Desmet (2023), der im Corona-Ausnahmezustand die Vorhut eines totalitären Systems sieht, das wesentlich auf einer (wenn auch nicht alle Menschen gleichermaßen umfassenden) kollektiven Psychose basiere. Desmet spricht in diesem Zusammenhang eben von „Massenformation“, für die er mit Blick auf den Corona-Wahn vier Grundvoraussetzungen ausmacht: Verlust sozialer Bindungen, fehlenden Sinn im Leben, frei flottierende Angst (die sich sodann an ein Objekt wie das Coronavirus heften kann) sowie eine daran geknüpfte latente Frustration und Aggression. Viele der Widersprüche und oftmals krassen Unsinnigkeiten der Corona-Zeit sowie nicht zuletzt die kaum anders als faschistoid zu nennenden Gebärden eines signifikanten Teils der Bevölkerung (z.B. in Gestalt der massiven Hetze gegen „Ungeimpfte“) werden dadurch verstehbar. Auch der von den Autor/innen sehr frei nach Marx (und nicht ganz ohne Gewalt an seinem Fetischbegriff) so bezeichnete „Fetischcharakter“ des Virus ist zweifelsohne von einigem Erklärungswert, nämlich vor allem für die Umstandslosigkeit, mit der der gesamte gesellschaftliche Modus Operandi in historisch einzigartiger Weise, unter Absehung von allen sinnlichen und sozialen Bedürfnissen der Menschen (und trotz einer für die Mehrheit nur geringen Gefahr durch das Coronavirus), auf das nackte Überleben reduziert und im Weiteren alle voraussehbar durch das Maßnahmenregime verursachten Schäden externalisiert bzw. dem Virus zugeschrieben wurden:


„Wie in der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt das soziale Verhältnis vergegenständlicht als Warenwert erscheint, so erschien es in der Corona-Krise vergegenständlicht als Virus. […] Der Fetischcharakter konnte sich problemlos an das Virus heften. Was aber schon für die Verdinglichung in der Warenwirtschaft galt, gilt ebenso in der Biopolitik, wo es auch eine Projektionsfläche für die in Vergessenheit geratenen gesellschaftlichen Verhältnisse brauchte. Nachdem man sich bereits selbst auf eine rein biologische Existenz reduziert hatte, musste auch die Erklärung für sämtliche ‚Folgen der Pandemie‘ einem biologistischen Reduktionismus folgen. Egal, ob es die in ihrer Existenz bedrohten Tagelöhner sind oder die überlasteten Pflegekräfte, ob die an Essstörung leidenden Jugendlichen oder die ‚Ungeimpften‘: Verantwortlich ist das Virus. Keine Maßnahme, die nicht unmittelbar aus dem Wesen des Erregers heraus gerechtfertigt wurde.“ (S. 157f.)


Unter dem Strich hinterlässt diese Analyse den wertkritischen Krisentheoretiker jedoch einigermaßen unbefriedigt, da die eigene Qualität der ausführlich beschriebenen sozial- und massenpsychologischen Phänomene kaum hinreichend gewürdigt wird. Letztlich dient den Autor/innen ihre Analyse nur als Grundlage zur Erklärung der hochgradigen Manipulierbarkeit der Subjekte – die freilich nicht zu bestreiten ist und fraglos das ihre zum konkreten Verlauf der Corona-Krise beigetragen hat –, welche sich die „Herrschenden“ sodann durch gezielten Propagandaeinsatz in ihrem Klasseninteresse zunutze machen können. Die Frage, auf welche soziopsychischen Dispositionen und (Krisen-)Prozesse auf der Ebene des Subjekts diese in der Tat kaum noch zu überbietende Manipulierbarkeit sowie das dafür immerhin auch erforderliche Ausmaß an Realitätsverlust und intellektueller Verkommenheit verweisen, rückt auf diese Weise weit in den Hintergrund (wenn sie denn überhaupt gestellt wird). Dies wiegt umso schwerer, als auch die Funktionseliten, wie gesagt, alle Anzeichen derselben intellektuellen Verfallserscheinungen zeigen und oft genug selbst Opfer ihrer eigenen Propagandanarrative zu werden scheinen (das gilt übrigens nicht nur mit Blick auf Corona, sondern in fast noch stärkerer Form im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg, vgl. Urban/Uhnrast 2022c; Urban 2022b).


Auch der an etwas späterer Stelle im Buch (S. 231-251) akkurat beschriebene Verfall kritischen Denkens, die ubiquitäre „Denkfaulheit“ (S. 231) und in vielen Fällen wohl auch schlicht manifeste Denkschwäche, der ausgeprägte „Wille zum Nichtwissen“ (S. 241), den die zeitgenössischen Subjekte gerade in der Corona-Zeit an den Tag legten, all das wäre – neben manchen sicherlich auch klassenspezifischen Einflussfaktoren, etwa dem der eigenen sozialen Stellung und entsprechenden Interessenlagen geschuldeten Konformismus in linksliberalen und grünen Milieus – vor dem Hintergrund einer allgemeinen Krise der bürgerlichen Subjektform und damit zusammenhängenden Erosionsprozessen zu sehen. Hier wäre die postmoderne Verflachung des Denkens (deren zersetzende Wirkung auf die intellektuellen Kapazitäten Robert Kurz schon vor Jahren anhand der postmodernen „Lifestyle-Linken“ beschrieben hat, vgl. Kurz 2013) und eine daraus resultierende tendenzielle Abkoppelung von der Wirklichkeit ebenso zu berücksichtigen, wie krisenbedingte Abstiegs- und Zukunftsängste und eine damit einhergehende nervliche Zerrüttung der Subjekte, die nicht nur die Neigung zu irrationalen Reaktionen erhöht, sondern auch das eigenständige Denken, ja selbst das Bedürfnis danach, nachhaltig lähmt. Auch die von Desmet als Voraussetzungen für die „Massenformation“ genannten Aspekte (soziale Isolation, Sinnleere, Frustration etc.) beschreiben im Wesentlichen zentrale Charakteristika jener postmodernen Subjektkonstitution im gegenwärtigen Krisenkapitalismus.[14] Es ist also (auch) eine grundlegende, stetig voranschreitenden Krise des bürgerlichen Subjekts, die sich in diesen Erscheinungen reflektiert und die mit der fundamentalen Krise des Kapitalismus Hand in Hand geht. Bei Reitter und Kolleg/innen erschöpft sich der „Wille zum Nichtwissen“ hingegen in einem konformistischen „Herrschaftsbewusstsein“ (S. 241). Und dieses Herrschaftsbewusstsein meint dabei gerade nicht die Neigung, an den verinnerlichten kapitalistischen Formen und Verhältnissen noch gegen alle evidenten Hinweise auf deren zunehmende Unhaltbarkeit und Destruktivität festzuhalten, sondern vor allem das Bedürfnis, „auf der richtigen, weil herrschenden, Seite“ (ebd.), also auf der Seite der „Herrschenden“ zu stehen und mit diesen, bewusst oder unbewusst, gemeinsame Sache zu machen oder ihnen zumindest durch Konformismus und Denkverweigerung kräftig in die Hände zu spielen.


Das Kernstück des zweiten Abschnitts bildet denn auch nicht zufällig ein Kapitel mit dem Titel Die reelle Subsumption der Kommunikation unter das Kapital (S. 189-230). Darin geht es um die Geschichte, die Mechanismen und die mit den digitalen Kommunikationstechnologien und
-medien erreichten neuen Formen und Qualitäten von Propaganda. Diese werden zum Teil auch an konkreten Beispielen aus der Corona-Krise illustriert, so etwa an den zahlreichen, an Orwell’sches „Neusprech“ und „Doppeldenk“ erinnernden Wortneuschöpfungen und
-verdrehungen in der politischen und medialen Kommunikation:


„Neben den schlichten Verdrehungen, die dem Orwellschen Neusprech gleichkommen und aus Gefügsamkeit Freiheit, aus Ignoranz Solidarität, aus Krieg Frieden machen, ist es vor allem die […] Einführung ständig neuer Ausdrücke, deren Gehalt notwendig unbestimmt bleibt, die uns nicht erst seit Corona begleitet. […] So kristallisiert sich etwa im Ausdruck ‚Corona-Tote‘ totale Willkür im Hinblick auf die Verknüpfung zwischen Todesfall und COVID-Infektion. Der unbestimmte Ausdruck ‚starben mit oder an Corona‘ lässt es statistisch zu, auch eine mit Corona infizierte, jedoch in einem Autounfall verunglückte Person als ‚Corona-Tote‘ zu verbuchen. […] Besonders eindrücklich spiegeln sich die autoritären Strukturen der pandemischen Wirklichkeit in der Neubesetzung des Begriffes der ‚Eigenverantwortung‘. Eigenverantwortung löst sich gänzlich auf, wenn sie entweder mit Egoismus oder mit sozialer Verantwortung gleichgesetzt wird. Wie darüber hinaus totale Medien- und Obrigkeitshörigkeit mit Eigenverantwortung zusammengehen, ist ein Rätsel, zugleich aber ein paradigmatischer Fall nicht nur des Neusprechs, sondern des doublethink.“ (S. 196)


Der zentralen These, die die Autor/innen in diesem Kapitel entfalten, kann durchaus einiges abgewonnen werden. Analog zur Marx’schen Bestimmung der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital durch das Fabriksystem, entwickeln sie die These, dass auch die gesellschaftliche Kommunikation durch die Massenmedien und insbesondere die neuen digitalen Formen der Wissensvermittlung nicht mehr nur formell, sondern reell unter das Kapital subsumiert wird. Dabei geht es nicht bloß darum, dass Kommunikation dem Zweck der Mehrwertproduktion untergeordnet wird – das ist schon lange der Fall und entspricht der formellen Subsumtion unter das Kapital. Entscheidend ist vielmehr, dass der Produktionsprozess des zu vermittelnden Wissens und damit auch dessen Inhalte selbst ihre Form verändern: „Die Tatsache, dass das Geschriebene verkauft werden muss, bedeutet seine formelle, die Veränderung des Geschriebenen zum Geschrei dessen reelle Subsumtion.“ (S. 191) Es lässt sich wahrscheinlich nicht exakt bestimmen, an welchem Punkt bzw. zu welchem historischen Zeitpunkt sich dieser Umschlag vollzogen hat[15], aber es dürfte unbestritten sein, dass sich durch Internet, Smartphone, „soziale Medien“ usw. Form und Inhalt der Kommunikation besonders schnell und umfassend verändert haben. Die Autor/innen gehen im Weiteren auf die „Formbestimmtheit der Information“ (S. 205-217) unter den Bedingungen der reellen Subsumtion und die daraus resultierende Veränderung des „Weltzugangs“ ein: Welt, das ist nicht mehr Totalität, sondern Ereignis, Aktualität, Sensation, das heißt Fragment eines Weltganzen, das seine systematische Eingebundenheit und geschichtliche Herkunft vollständig vergessen hat.“ (S. 205f.) Man könnte auch von einem tendenziellen Verlust des Welt- und Realitätsbezugs sprechen – eine Tendenz, die sich, wie gesagt, schon seit geraumer Zeit abzeichnet und in zunehmendem Maße für das Welt- und Selbstverhältnis der postmodernen Krisensubjekte charakteristisch zu sein scheint. Die Massenmedien tragen systematisch zum wachsenden Realitätsverlust bei, z.B. durch die „Aneinanderreihung voneinander unterschiedener Informationen zu linearen Informationsketten“ (S. 210) und die darüber vermittelte Erzeugung einer „sachliche[n] Gleichgültigkeit der Informationen gegeneinander, in der nicht nur Qualitätsunterschiede der aneinandergereihten Informationen untergehen, sondern auch Widersprüche zwischen den Informationen nicht mehr benennbar sind“ (ebd.). Auch hierfür liefert Corona reiches Anschauungsmaterial:


„Aus ‚Corona und Menstruation: Impfnebenwirkung auf Periode nicht erkennbar‘ (mdr.de, 28.07.2021) und ‚Stärkere Regelblutung nach Covid-19-Impfung weit verbreitet‘ (mdr.de, 16.07.2022) folgt, dass man im Winter Kniebeugen machen und in die Hände klatschen soll, um nicht zu frieren (sueddeutsche.de, 09.12.2020).“ (S. 209f.)


Oder:


„‚Coronadesaster in Afrika: Das passiert, wenn die Delta-Variante auf eine ungeimpfte Bevölkerung trifft.‘ (Der Spiegel, 19.06.2021)
‚Geringe Fallzahlen und leere Krankenhäuser trotz niedriger Impfquote: Das afrikanische Corona-Wunder‘ (Der Spiegel, 04.11.2021)“ (S. 210)


Die haarsträubenden Widersprüche und Logikbrüche des Pandemie- und Impfnarrativs gehen in den Dauerkaskaden „gleichgültiger“ Nachrichten systematisch unter, die „additive Aneinanderreihung von Ereignissen tritt an die Stelle der synthetisierenden Einsicht ins Ganze“ (S. 209).


Auch die Ausführungen dieses Kapitels vermitteln also eine Reihe instruktiver Einsichten in die Funktion und die Wirkungsweise von Propaganda unter den Bedingungen der neuen digitalen Kommunikations- und Manipulationstechnologien, die für eine radikale Kapitalismuskritik ohne Zweifel von hoher Relevanz sind. Gleichwohl schlägt sich abermals – und hier sogar besonders deutlich – der klassenmarxistisch verkürzte Bezugsrahmen des Buches nieder: Das Kapital, unter das die Kommunikation subsumiert wird – das ist bei Reitter und Kolleg/innen nicht etwa das aus der kapitalistischen Fetischkonstitution hervorgehende gesellschaftliche Verhältnis, die tautologische Selbstzweckbewegung des Werts, die notwendig dazu tendiert, sich bis in die hintersten Winkel und Nischen der zum bloßen Material degradierten Welt auszudehnen, sondern es ist die „herrschende Klasse“, mit der die Autor/innen das Kapital direkt und quasi personell identifizieren.


Dies könnte kaum deutlicher werden als an ihrer Auffassung der neuen Kommunikationstechnologien, der „sozialen Medien“ und digitalen Endgeräte. Diese erscheinen in erster Linie – zum Teil sogar wörtlich – als „Instrumente der herrschenden Klasse“ (S. 142, Fn. 95) zur Kontrolle und forcierten Überwachung der Subalternen sowie als Propagandawaffe im Informationskrieg. Selbst die unzweifelhaft von diesen Technologien ausgehende „Degeneration der Kommunikation“ verdankt sich für die Autor/innen offenbar primär der „jahrelange[n] Gewohnheit, über Instrumente der herrschenden Klasse kommuniziert zu haben“ (ebd.), folgt also nicht (neben zahlreichen anderen Einflüssen wie der bereits im Kapitalverhältnis begründeten Entfremdung oder der fortschreitenden postmodernen Individualisierung) aus den Eigenschaften und immanenten Funktionslogiken dieser Technologien selbst, sondern aus dem Umstand, dass die „herrschende Klasse“ sie entwickelt hat. Nach dieser Logik wäre somit auch der angesprochene Realitätsverlust oder die ständig auf neue Niveaus gehobene Verdummung der postmodernen Subjekte durch Smartphone und Co. (Stichwort: „digitale Demenz“) eher ein genialer Schachzug der „herrschenden Klasse“ als eine aus den digitalen Technologien, ihrer Funktionsweise und ihrer besinnungslosen Anwendung folgende Konsequenz. Auch wenn sicherlich nicht das Potenzial (und längst auch die reale Praxis) des Einsatzes dieser Technologien zum Zweck der Propaganda und forcierter digitaler Überwachung und Kontrolle zu bestreiten ist und darüber hinaus schwerlich angezweifelt werden kann, dass den kapitalistischen Funktionseliten durch die digitalen Kommunikationsmedien schon allein aufgrund der Tatsache große Macht verliehen wird, dass diese bei einer Handvoll Internet-Oligarchen (Google, Facebook, X – ehemals Twitter), also bei der Kapitalistenklasse selbst, konzentriert sind, erscheint ein solcher Zugang doch als arg unterkomplex und funktionalistisch. Erstens sind schon die Konkurrenz unter den „herrschenden Klassen“ und der Gegensatz zwischen Staat und Kapital ein gewisses Hindernis für einen wirklich konzertierten und einheitlichen Einsatz der digitalen Technologien zur lückenlosen Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung (siehe z.B. die Eskapaden eines Elon Musk, der sich nach der Übernahme von Twitter den politischen Bestrebungen zur rigorosen Bekämpfung von „Desinformation“ und „Fake News“ bislang tendenziell widersetzt). Zweitens liegt die Macht im Fall der neuen digitalen Technologien und Medien nicht allein bei den „Herrschenden“. Vor allem das Internet hat auch Möglichkeiten geschaffen, dissidente Inhalte leichter und weiter zu verbreiten als jemals zuvor, und gerade der von den „Herrschenden“ geführte Abwehrkampf gegen „Falschinformationen“ ist eine unmittelbare Reaktion darauf. Wie erfolgreich dieser Kampf ist, wird sich erst noch herausstellen müssen. Jedenfalls ist es keineswegs so, dass die neuen Technologien einfach „Instrumente der herrschenden Klasse“ sind und von dieser ohne weiteres kontrolliert werden (können). Wie bei allen anderen Technologien, die der Kapitalismus bisher hervorgebracht hat, folgen auch deren Entwicklung und Anwendung (sowie ihre meist nicht vorhergesehenen Nebenwirkungen) denselben blinden, durch den selbstzweckhaften und ebenso blind ablaufenden Prozess der Wertverwertung angetriebenen Logiken des technologischen Fortschritts, welchen die „herrschenden Klassen“ kaum weniger unterworfen sind als die „Beherrschten“; zumal die kapitalistische Gesellschaft spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts abhängig ist vom Funktionieren technischer Großsysteme, was letztlich alle ihre Mitglieder und im Prinzip das meiste Leben auf der Erde betrifft. Mit Günther Anders könnte man sagen, wir alle sind „bemittelte Habenichtse“, deren „Machen“ und „Handeln“ auf ein „Bedienen“ und „Tun“ degeneriert ist. Wir „bedienen“ die Technik und lungern „wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten einfach herum[...] (Anders 1992, S. 16). Drittens – und unmittelbar damit zusammenhängend – ziehen die neuen digitalen Technologien unter den „Herrschenden“ so ziemlich dieselbe Spur der Verwüstung auf intellektueller Ebene und hinsichtlich ihres Welt- und Wirklichkeitsbezugs wie bei den Subalternen. Wer das bezweifelt, möge sich einmal die Internetauftritte und das „Getwittere“ von Figuren wie Karl Lauterbach vergegenwärtigen oder die schwachsinnigen Ergüsse von Angehörigen jener geschäftigen Philanthropen-Kaste, wie etwa Klaus Schwabs größenwahnsinniges Machwerk vom „Great Reset“. Auch das spricht dagegen, dass die „herrschenden Klassen“ die digitalen Technologien und Medien vollends „kontrollieren“. Ein theoretischer Ansatz wie die Wertkritik, der weniger die „Klassenherrschaft“, sondern vor allem die Fetischkonstitution der kapitalistischen Gesellschaft (unter den Bedingungen ihrer fundamentalen Krise) inkl. der darin stattfindenden technologischen Entwicklung ins Zentrum stellt, vermag daher auch in dieser Frage zu tieferen kritischen Einsichten und damit letztendlich auch zu einer umfassenderen Kapitalismuskritik zu gelangen.


Der dritte und letzte Abschnitt des Buches beschäftigt sich schließlich mit dem Notwendigkeitscharakter des Versagens der Linken (S. 253-314). Über das Versagen der Linken während der Corona-Krise ist bereits einiges geschrieben worden (z.B. Wallat 2022; Soiland 2022). Es erscheint daher gerechtfertigt, sich an dieser Stelle auf eine sehr knappe Zusammenfassung der im Buch entwickelten Thesen zu beschränken. Neben bzw. in Vermittlung mit der während der vergangenen neoliberalen Jahrzehnte und den dabei in den Vordergrund gerückten postmodernen Identitätspolitiken vollzogenen Abkehr von der Staatskritik, machen die Autor/innen eine grundlegende „Verschiebung“ von der „Herrschaftskritik“ zur „Gesinnungskritik“ (S. 258-285) als Hauptursache für den Verfall der Linken aus: „Gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse geraten zunehmend aus dem Blick und werden durch den Gegensatz zwischen Rechtspopulismus auf der einen und einer liberalen, identitätspolitischen Gesinnung auf der anderen Seite ersetzt.“ (S. 258) Anstelle eines Denkens in gesellschaftstheoretischen Kategorien, insbesondere solchen kapitalistischer Herrschaft, tritt ein Denken in Kategorien der Diskriminierung (Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Homo-/Transphobie etc.). Dieses Denken neigt dazu, „permanent Verstöße gegen eine ‚eigentlich‘ harmonische Gesellschaft, nämlich die Gesellschaft als Gemeinschaft, anzumelden. Das verhindert grundsätzlich die Einsicht in die objektive Struktur kapitalistischer oder staatlicher Herrschaft.“ (ebd.) Anstatt als Kritikerin der kapitalistischen Verhältnisse geriert sich die Linke zunehmend als „Gesinnungspolizei“ (S. 266). Es ist hinlänglich bekannt, welche Formen dies während der „Pandemie“ annahm: Kritik an den Maßnahmen und an der autoritären Corona-Politik galt (zumindest in Deutschland und Österreich) pauschal als „rechtsextrem“, wobei die angeblich „rechte“ Gesinnung der Kritiker auch „über die Wahrheit der Aussage“ (S. 272) entschied und damit eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der Maßnahmen- und Impfkritik von vornherein obsolet machte – ganz nach dem Motto: „Wer nicht politisch korrekt denkt, hat auch unrecht.“ (ebd.) Dem korrespondierte auf der anderen Seite die bedingungslose Parteinahme für und Unterordnung unter das staatliche Maßnahmenregime, wie auch gegenwärtig vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs erhebliche Teile der Linken als aggressive „Avantgarde des transatlantischen Bellizismus“ (S. 259) auftreten.


Diese toxische Mischung aus notorischer Denkschwäche und bornierter Gesinnungskritik offenbarte sich im Corona-Kontext besonders eindrucksvoll an Initiativen wie dem in intellektueller Hinsicht ebenso schlichten wie stockreaktionären und von Allmachtsphantasien durchdrungenen ZeroCovid, das eine Zeitlang recht prominent mit Forderungen nach noch strengeren, kompromisslosen Lockdowns und einer vollständigen Ausrottung des Coronavirus in Erscheinung trat, und dem die Autor/innen daher ein eigenes Unterkapitel widmen (S. 276-282). Was an ZeroCovid besonders beeindruckte, war die „Fähigkeit“ zur völligen Abstraktion von den voraussichtlichen gesellschaftlichen Folgen und „Kollateralschäden“, die allein der Versuch der Umsetzung ihrer Forderungen in die Praxis nach sich ziehen würde. Man vermag gegen die Kritik von Reitter und Kolleg/innen kaum etwas einzuwenden, wenn sie die Vorstellung, „eine organisch gewachsene Produktionsweise, zumal die kapitalistische, deren anarchischer Charakter sich ohnehin in permanenten Krisen und Katastrophen entlädt, könne von heute auf morgen kontrolliert heruntergefahren werden“, als „wahrlich kindlich und naiv“ bezeichnen und den ZeroCovid-Propagandisten eine „Komplexitätsleugnung“ bescheinigen, die „jede Verschwörungstheorie in den Schatten“ stellt (S. 281). Auch die entsetzliche Flachheit und Kurzsichtigkeit der „Kapitalismuskritik“, die ZeroCovid für sich beanspruchte, wird von den Autor/innen gültig beschrieben:


„Die Wirtschaft wird [im bürgerlichen Denken, A.U.] […] als eigenständige Entität vorgestellt, die dem lebendigen Arbeitsprozess gegenüberstehen würde und deren mystische Kraft Reichtum für den Menschen schaffe. ‚Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.‘ ZeroCovid konnte entgegen dieser bürgerlichen Vorstellung, die in den Protesten durchaus in dieser Abstraktheit immer wieder gefordert wurde, nun endlich den Menschen über die Wirtschaft stellen. Diesem, vor allem seiner Desinfektion, sollten von nun an die Produktivkräfte dienen. Anstatt des Primats der Wirtschaft sollte nun der Primat des Menschen stehen. Weit davon entfernt, die abstrakte Vorstellung dieses Verhältnisses aufzuheben, hat man es lediglich umgedreht. Und weil es sich eben um nichts mehr als um eine abstrakte Vorstellung handelt, konnte man auch den weitgehenden Stillstand der Wirtschaft fordern, ohne dadurch befürchten zu müssen, dass damit auch eine Einschränkung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses einhergehen könnte.“ (S. 281f.)


Die aktuellsten Erscheinungsformen dieses gesellschaftstheoretisch abgerüsteten, linksidentitären Aktivismus treiben u.a. unter den Labels TikTok for Biden und Gen-Z for Change ihr Unwesen (S. 308-312), deren [u]nverbindliches Engagement für die gute Sache […] inzwischen zum Lifestyle [zählt] (S. 310) und sich in bedingungsloser Ukraine-Solidarität ebenso artikuliert wie in schamloser Werbung für die Corona-Impfung oder der Unterstützung der Regierungen im Kampf gegen „Falschinformationen“ und „Fake News“. Hier laufen mediale und propagandistische Dauerbeschallung und intellektuelle Verkommenheit sowie ein konformistischer, sich gleichwohl als Gesellschaftskritik missverstehender „Wille zum Nichtwissen“ endgültig zusammen. Das bereits erkennbare Endstadium dieser mit Enthusiasmus betriebenen Selbstdemontage der Linken stellt der Versuch dar, safe spaces zu schaffen, d.h. „bestimmte Orte und Räume […], die frei von allen erdenklichen Ismen und Diskriminierungen sein sollen“ (S. 313) und in denen „gerade jene, die ihre Ohnmacht in der Außenwelt am meisten beklagen, die schärfsten Machtstrukturen durchsetzen“ (S. 314). Die ohnehin schon den Namen „Gesellschaftskritik“ nicht verdienende „Gesinnungskritik“ degeneriert vollends zum Tugendterror.[16]


Das Buch schließt mit einem Epilog, in dem die Autor/innen ihre Schlussfolgerungen darlegen, und der mit Die Homogenisierung des Klasseninteresses überschrieben ist (S. 315-320). Dieser Abschnitt ist denn insgesamt auch der schwächste des ganzen Buches – obwohl (und weil) darin mit den bereits eingangs erwähnten Bezugnahmen auf eine fundamentale, aus dem Wegrationalisieren von Arbeit resultierende Kapitalismuskrise und die damit einhergehende Produktion einer „Überflussbevölkerung“ die deutlichsten Überschneidungen zur Wertkritik und ihrer Krisentheorie zu finden sind. Bereits an früheren Stellen des Buches wurden immer wieder Hinweise auf eine umfassende Krise des warenproduzierenden Systems eingestreut, so etwa die Feststellung, die kapitalistische Produktionsweise laufe „immer mehr auf Pump“ (S. 281) oder das „Ausweichen des Kapitals in den fiktiven Sektor“ sei Ausdruck einer „veritablen Verwertungskrise des Kapitals“ und spätestens mit der Finanzkrise von 2008 an seine Grenzen gestoßen (S. 60). Trotz dieses klaren und offen ausgesprochenen Befunds läuft die ganze Argumentation jedoch letztlich auf die althergebrachten, wenngleich zeitgemäß mit dem Prädikat „transnational“ versehenen, deshalb aber, angesichts der offenbar konsensfähigen fundamentalen Krise der kapitalistischen Produktionsweise als solcher, nicht weniger anachronistischen Interpretationen einer sich konsolidierenden „Klassenherrschaft“ hinaus. In der Corona-Krise und in den aktuellen Versuchen der kapitalistischen Krisenbewältigung drücke sich „auf der Seite der Herrschenden“ schlicht ein „gemeinsame[s] Klasseninteresse“ (S. 319) aus. Es geht dabei an dieser Stelle keineswegs darum, die Rolle der „herrschenden Klassen“ und ihrer Strategien und Kalküle zur immanenten Krisenbewältigung kleinzureden oder gar zu negieren. So deckt sich etwa die Feststellung der Autor/innen, die Corona-Krise stehe „exemplarisch für die systemische Krisentendenz der kapitalistischen Produktionsweise […], indem sie verschiedenen Kapitalfraktionen kurzfristige Profite abseits einer niedrigen Durchschnittsprofitrate bietet“ (ebd.), im Wesentlichen mit der wertkritischen Diagnose, wonach einzelnen Leitsektoren und großen Kapitalfraktionen (insbesondere Pharmaindustrie, Digitalindustrie und Online-Handel) in der Corona-Krise durch eine staatlich subventionierte, auf gigantischer Gelddruckerei beruhende „Sinnlosproduktion“ im Interesse der Bremsung des Profitratenfalls historisch beispiellose Renditen beschert wurden (vgl. Urban 2022b, S. 4). Dieser Prozess verweist aber schon deshalb nicht auf eine „Homogenisierung des Klasseninteresses“[17], weil dabei – beim erreichten Stadium der Krise – auch immer mehr Kapitale unter die Räder kommen, und bereits der von den Autor/innen konstatierte „Mechanismus der Zentralisation“ (S. 319) kann nur zulasten zahlreicher Einzelkapitale gehen. Es scheint also keineswegs so zu sein, dass die Kapitalinteressen sich tendenziell vereinheitlichen, sondern diese gehen, ganz im Gegenteil, eher wild durcheinander und drücken sich in immer brutaleren Verteilungskämpfen aus (vgl. auch Bedszent 2023, S. 64ff.).


Auch ist nicht zu leugnen, dass die verzweifelten und zunehmend zynischen Systemrettungsversuche der Funktionseliten (notgedrungen) immer mehr soziale und ökologische Kollateralschäden verursachen. Vom Standpunkt einer fundamentalen, systemischen Krise muss eine emanzipatorische Kritik daher auf die Überwindung dieser unhaltbaren und nur noch die Aussicht auf unterschiedliche Formen der Barbarei bereithaltenden Produktionsweise abzielen – und diese emanzipatorische Perspektive scheitert längst nicht nur an den „herrschenden Klassen“, sondern auch am Bewusstseinsstand der Subalternen. Es ist den Autor/innen z.B. entschieden zu widersprechen, wenn sie an mindestens einer Stelle des Buches schreiben, die Widerstandsbewegung gegen die Corona-Maßnahmen und den Impfzwang hätte mit „zusätzlichen Kräften das Potenzial gehabt […], die Verhältnisse umzuwälzen“ (S. 244). Wenn es – wie auch den Autor/innen sehr bewusst sein dürfte (siehe etwa die oben zitierte Passage aus S. 281f.) – ein gemeinsames Merkmal der Corona-Proteste wo auch immer auf diesem Planeten (von einigen Ausnahmen abgesehen) gab, dann das bornierte Festhalten an der kapitalistischen „Normalität“ und die Forderung nach deren unmittelbarer Wiederherstellung. Eben diese „Normalität“ ist aber das Problem und eine Rückkehr zu ihr weder wünschenswert noch möglich. Hier artikuliert sich nur die illusorische Sehnsucht nach der Rückkehr „in eine Zeit, in der der Kapitalismus noch expandierte und seine Glücksversprechen (scheinbar) noch galten“ (Bedszent 2023, S. 68). Schon allein aufgrund des kläglichen Bewusstseinsstands der Subjekte kann im Übrigen auch keine Rede davon sein, der sukzessive Aufbau einer digitalen Überwachungs- und Kontrollinfrastruktur sei primär motiviert durch das Bestreben der „Herrschenden“, eine „Revolte der Subalternen“ (S. 307) zu verhindern – jedenfalls wenn man unter „Revolte“ das kollektive Handeln organisierter Gruppen versteht. Dergleichen fürchten die kapitalistischen Funktionseliten sicher nicht und brauchen sie auch nicht zu fürchten. Was sie viel eher fürchten, sind „anomische, chaotische Reaktionen von verzweifelten Bevölkerungsgruppen“ (Jappe 2022, S. 5) im Zuge der noch bevorstehenden Krisenschübe. Gerade auch manche während der Corona-Krise erprobten Techniken, wie etwa der „Grüne Pass“, zielten wesentlich darauf ab, ein Klima der Unterwerfung [zu] schaffen und die Kontrollinstrumente [zu] präparieren, die die Staaten brauchen, wenn die wirklichen Krisen kommen(ebd.). Es besteht kein Zweifel: „Von einer emanzipatorischen [...] Gesellschaft war die Menschheit wohl selten so weit entfernt wie in unserer Gegenwart“ (Bedszent 2023, S. 66). Es ist aber keineswegs (nur) die „herrschende Klasse“, die einer befreiten Gesellschaft im Wege steht, sondern der von den kategorialen kapitalistischen Formen ausgehende Fetischismus, der „Herrschende“ und Subalterne gleichermaßen auf die kapitalistischen Verhältnisse vergattert und beide noch im Angesicht ihrer fundamentalen Krise und der daraus hervorgehenden Katastrophen stur daran festhalten lässt. Warum die Autor/innen ebenso beharrlich an den verkürzten Begriffen von „Klassenherrschaft“ und „Klassenkampf“ festhalten, wo doch auch sie nicht mehr um das Eingeständnis herumkommen, dass das Problem ein an seine Grenzen stoßendes warenproduzierendes System ist, das die Funktionseliten nur noch zu Tode verwalten (und im besten Fall mit Aussicht auf kurzfristige Profitsteigerungen ausschlachten) können, erscheint nicht nachvollziehbar und kann aus wertkritischer Sicht nur verwundern.


Gerade aus der Perspektive einer dynamisch fortschreitenden, fundamentalen Kapitalismuskrise ist es daher auch nur konsequent, dass die Autor/innen an keiner Stelle des Buches ausführen, worin die von ihnen behauptete „Konsolidierung“ der herrschenden Klasse eigentlich bestehen und woran die angestrebte Festigung ihrer Herrschaft konkret abzulesen sein soll: Am aufzubauenden Repressionsapparat? An fragwürdigen Massenimpfkampagnen und verlorenen Weltordnungskriegen? An forcierter Umweltzerstörung und einem nicht minder zerstörerischen Greenwashing-Business? Das ist etwas wenig für eine konsolidierte Klassenherrschaft! Das Problem, das sich hier ausdrückt und mit dem die Autor/innen offenkundig konfrontiert sind, besteht darin, dass es auf dem mittlerweile erreichten Krisenniveau nichts mehr zu konsolidieren gibt. Auch die „Herrschenden“ können die Krise nur noch verwalten und mit immer repressiveren Mitteln gegen die Zerfallsprodukte des in Agonie befindlichen warenproduzierenden Systems vorgehen. 


Zusammenfassend (und trotz der dargelegten Kritikpunkte) kann Corona als gesellschaftliches Verhältnis aus kapitalismuskritischer bzw. gesellschaftstheoretischer Sicht durchaus als großer Wurf bezeichnet werden – schon allein deshalb, weil bislang kaum andere Versuche auf ähnlichem Niveau und mit vergleichbarem theoretischem Anspruch vorliegen. Das Buch ist exzellent recherchiert, gut geschrieben und – auch das heute keine Selbstverständlichkeit mehr – überdurchschnittlich gut lektoriert. Auf phänomenologischer Ebene gibt es wenige Publikationen, die die Geschehnisse der letzten dreieinhalb Jahre so umfassend und gut strukturiert zusammenfassen. Wenn es aus wertkritischer Sicht etwas einzuwenden gibt, dann aufgrund des klassenmarxistischen Bezugsrahmens, der von den Autor/innen selbst dann noch konsequent durchgehalten wird, wenn das mittlerweile offenbar auch in „traditionsmarxistischen“ Kreisen zumindest ansatzweise bestehende Bewusstsein einer fundamentalen Kapitalismuskrise diesen eigentlich systematisch in Frage stellt. Wertkritisch ergeben sich daher an zahlreichen Punkten andere oder zumindest weitergehende Interpretationen und Einschätzungen, die am Ende keineswegs marginal sind. Es markiert nun einmal in gesellschaftstheoretischer Hinsicht durchaus einen Unterschied ums Ganze, ob Corona als Symptom einer sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen manifestierenden Krise und ihrer ebenso repressiven wie illusorischen Verwaltung aufgefasst wird, oder als Ausdruck eines „Klassenkampfs von oben“ und einer sich auf diesem Wege konsolidierenden „Klassenherrschaft“. Das Buch ist trotzdem allen an einer theoretischen Aufarbeitung der Corona-Krise Interessierten, auch solchen aus wertkritischen Zusammenhängen, zur Lektüre zu empfehlen. Es hat allemal einen Maßstab gesetzt, an dem jede noch folgende gesellschaftstheoretische Publikation zum Thema zu messen sein wird.




Literatur


Anders, Günther (1992/1956): Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München.


Bedszent, Gerd (2023): Corona-Regime: Virusinfektion und Krisenverwaltung, in: Urban/von Uhnrast (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 47-68.


Desmet, Mattias (2023): Die Psychologie des Totalitarismus, München.


Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-1976), Frankfurt/Main.


Frankiewicz, Ada (2021): Die Freiheit zur Krankheit. Wider die biopolitische Dressur des Menschen, Hannover.


Frankiewicz, Ada (2023): Biopolitik und Subjektdispositive im Zeichen von COVID-19, in: Urban/von Uhnrast (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 173-193.


Jappe, Anselm (2022): Haben Sie „Gesundheitsdiktatur“ gesagt?, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion)


Kurz, Robert (2000): Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert, Frankfurt/Main.


Kurz, Robert (2001): Apokalyptische Technologien. Der ökonomisch-naturwissenschaftliche Komplex und die destruktive Objektivierung der Welt, exit-online.org


Kurz, Robert (2004): Subjektlose Herrschaft. Zur Überwindung einer verkürzten Gesellschaftskritik, in: ders.: Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef, S. 153-221.


Kurz, Robert (2013): Die Welt als Wille und Design. Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise, 2. Auflage, Berlin.


Levich, Jacob (2018): Disrupting global health. The Gates Foundation and the vaccine business, in: Parker/García (Hg.): Routledge Handbook on the Politics of Global Health, London, S. 704-742.


Marx, Karl (1986/1867): Das Kapital, Bd. 1. MEW, Bd. 23, Berlin.


Münch, Richard (2022): Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen. Regieren in Zeiten des Szientismus, Frankfurt/Main.


Ortlieb, Claus Peter (1998): Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft, in: Krisis 21/22, S. 15-51, online verfügbar unter exit-online.org


Reitter, Karl (2006): Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Interpretation, in: grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte 17, S. 13-27, zitiert nach der Online-Version auf grundrisse.net


Reitter, Karl (2012): Bedingungsloses Grundeinkommen, Wien.


Reitter, Karl (2021): Kritik der linken Kritik am Grundeinkommen, Wien.


Schlauch, Patrice (2023): Trieb und Trauma. Vom Verlust des Objekts und dem achtsamen Ende der Kritik, fractura.online


Soiland, Tove (2022): Ein postideologischer Totalitarismus. Zur politischen Immunisierung des Pandemieregimes, in: Der Erreger #2, S. 84-87.


Urban, Andreas (2022a): Ein Gespenst geht um in der Wertkritik. Anmerkungen zur wert(abspaltungs)kritischen Corona-„Debatte“, wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2022b): Realitätsverlust und suizidale Drift. Der Abstieg des Westen im Viruswahn und „Krieg gegen Putin“. Teil 1: „Killervirus“ und „Mad Vlad“ – Die postmoderne Krisenwelt als Wille und Irrenhaus, wertKRITIK.org (zitiert nach der Druckversion).


Urban, Andreas (2023a): Ein altbekanntes Syndrom. Zur Ersetzung inhaltlicher Kritik durch Denunziation im wert-abspaltungskritischen Sektenwesen, wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2023b): Realitätsverlust und suizidale Drift. Der Abstieg des Westens im Viruswahn und „Krieg gegen Putin“. Teil 2: Systemische Lebensmüdigkeit – Die „Pandemie“ als krisenkapitalistische Abrissbirne, wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2023c): Realitätsverlust und suizidale Drift. Der Abstieg des Westens im Viruswahn und „Krieg gegen Putin“. Teil 3: Systemische Lebensmüdigkeit – Mit wehenden Fahnen in den Dritten Weltkrieg, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022a): Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Teil 1: Auf der Suche nach dem „Killervirus“, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022b): Corona als Krisensymptom? Thesen zu Ursachen und historischen Bedingungen eines globalen Nervenzusammenbruchs. Teil 2: Pandemischer Nervenzusammenbruch, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2022c): Down the rabbit hole. Bemerkungen zum Ukraine-Krieg und zu seiner wertkritischen Diskussion, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.) (2023a): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien.


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2023b): Die Gesundheitskrise. Thesen zu Ursachen und Bedingungen eines historischen Nervenzusammenbruchs, in: dies. (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom, Wien, S. 69-96.


Wallat, Hendrik (2022): Der autoritäre Seuchenstaat und die Linke, in: Der Erreger #2, S. 126-131.





Endnoten


[1] Zur Unterscheidung zwischen exoterischem „Klassenkampf-Marx“ und esoterischem „Fetisch-Marx“ vgl. Kurz 2000, S. 23ff.


[2] Folgendes Zitat aus einem sich kritisch mit der Wertkritik befassenden Text von Reitter aus dem Jahr 2006 soll an dieser Stelle als Beleg ausreichend sein: „Wertkritik beruht einfach auf dem Verfahren, die Entgegensetzung von Tauschwert und Gebrauchswert, von konkreter und abstrakter Arbeit, von Arbeits- und Verwertungsprozess monistisch einzuebnen. Der gesellschaftliche Horizont bleibt jener der einfachen WarenbesitzerInnen, mit allen verbundenen contrafaktischen Unterstellungen (Gleiche und Freie tauschen Äquivalente aus). Da der ganze Prozess jedoch der Bewegung G – W – G' unterliegt, unterliege die gesamte Gesellschaft und alle Klassen gleichermaßen dem Fetisch und der Entfremdung, dem Diktat des automatischen Subjekts. That’s it.“ (Reitter 2006, Endnote 1)


[3] „Weder existiert eine kleine Gruppe von Entscheidungsträgern, die im Geheimen souverän die Welt regiert, noch das automatische Subjekt des Kapitals oder eine abstrakte Struktur, die konkrete Akteure immer schon aus der Verantwortung entlässt.“ (S. 18) Als hätte dies jemals ein Wertkritiker behauptet oder sei es die Quintessenz des „automatischen Subjekts“, dass die Akteure bloße Marionetten des Werts und daher für ihr konkretes Handeln nicht verantwortlich seien. Der Marx’sche Begriff des „automatischen Subjekts“ besagt doch nicht mehr und nicht weniger, als dass die Menschen – auch jene, die der „herrschenden Klasse“ angehören – mit ihren bewussten, interessegeleiteten Handlungen stets den Logiken und Zwängen der Wertverwertung unterworfen sind. Das entbindet sie aber noch nicht von ihrer Verantwortung für ihr Tun, denn dieses ihr Tun ist es, das den Wert und die auf ihm beruhende kapitalistische Gesellschaft überhaupt erst hervorbringt und ihre weitere Reproduktion gewährleistet. Robert Kurz hat dies einmal auf die schöne dialektische Formulierung gebracht, das Subjekt sei eine „Marionette, die selber die Fäden zieht“ (Kurz 2004, S. 188).


[4] Wenngleich man auch hier, speziell an der im Buch formulierten Kritik an den überall nur noch Verschwörungstheorien witternden Linken, aus wertkritischer Sicht nicht alles unwidersprochen lassen kann. So ist der auf S. 95 des Buches zu findende Satz, die „Rede von der Verschwörungstheorie“ sei „genauso verkürzt wie das gesellschaftliche Verständnis jener Linken, die sich ihrer bedienen und alles denunzieren, was ihnen nicht unmittelbar als automatisches Subjekt des Kapitals erscheint“, mit Blick auf das tatsächliche Auftreten zahlreicher Wert(abspaltungs)kritiker/innen während der Corona-Krise zwar berechtigt und im Übrigen auch ein Hinweis darauf, dass das Einschwenken von EXIT! und Co. auf den autoritären Pandemiekurs auch außerhalb der wertkritischen Szene zur Kenntnis genommen wurde. Daraus ein Argument gegen die Wertkritik per se und ihr Verständnis vom Wert als einem „automatischen Subjekt“ zu konstruieren, ist aber allzu billig. Denn dass eine kritische Masse von Wert(abspaltungs)kritiker/innen während der Corona-Krise (und vielleicht sogar auf Dauer) das dialektische Denken eingestellt hat und das automatische Subjekt in der Tat tendenziell auf eine nur noch abstrakte Herrschaft reduziert, ohne dialektische Vermittlung mit den Menschen als Akteuren, die diese abstrakte Herrschaft durch ihr Handeln tragen und reproduzieren, sagt nichts über die Theorie als solche aus. Es ist höchstens ein Indiz dafür, dass manche Proponenten der Wertkritik sich von ihrer Theorie verabschiedet oder bislang als wertkritische Essentials geltende theoretische Prämissen über Bord geworfen haben.


[5] Auch diesen Begriff lehnen die Autor/innen des Buches übrigens – man möchte fast sagen: naturgemäß – ab. Der Grund, weshalb die Wertkritik den Begriff der „Funktionseliten“ gegenüber jenem der „herrschenden Klasse“ bevorzugt, ist keineswegs identisch mit der Argumentation der „Elitensoziologie“, von der sich die Autor/innen ausdrücklich abgrenzen – nämlich, dass aufgrund einer „Pluralisierung und Diversifikation von Herrschaft“ dieselbe „nicht mehr durch eine einheitliche herrschende Klasse bzw. Elite, sondern von vereinzelten, ‚miteinander konkurrierende(n) funktionale(n) Teileliten‘ […] ausgeübt werde“ (S. 53) (wenngleich auch dieses Argument sicher eine gewisse Berechtigung hat). Der Grund dafür besteht, neben der (teilweisen) Verflüchtigung der empirisch-soziologisch fassbaren „Klassen“ im Laufe des 20. Jahrhunderts, vielmehr darin, dass der Begriff „Funktionseliten“ am ehesten der kapitalistischen Fetischkonstitution gerecht wird und das Wesen bzw. die Stellung der „herrschenden Klassen“ innerhalb des Wertverhältnisses am besten zum Ausdruck bringt: Auch sie unterliegen der abstrakten Herrschaft des Werts und sind letztendlich nur „Charaktermasken“ (Marx) des Kapitals – auch wenn das, wie gesagt, nicht bedeutet, dass ihre immanent interessegeleiteten Handlungen für die kritische Analyse vernachlässigbar oder die Funktionseliten von der Verantwortung für ihr konkretes Handeln entbunden wären.


[6] Zur „Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen“ und der „gesellschaftlichen Konstruktion der Pandemie“ vgl. auch Münch 2022.

[7] Siehe hierzu etwa Foucaults Abhandlungen über die „Macht“ von Diskursen oder über die von ihm so genannte „Biopolitik“ (z.B. Foucault 2001). Es gehört übrigens zu den zahlreichen Merkwürdigkeiten der Corona-Krise, dass von all den Foucauldianern, die uns jahrelang mit ihrer Diskurstheorie und ihrer Biopolitik traktiert haben, während der „Pandemie“ wenig bis nichts zu vernehmen war. Dabei hatten sie mit dem Corona-Maßnahmenregime die Biopolitik buchstäblich vor der Nase, und am offiziellen Pandemienarrativ konnte die Herausbildung eines Diskurses, der laut der Foucault’schen Diskurstheorie immer ein machthaltiger Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit und damit auch von Wahrheit ist, quasi in Echtzeit beobachtet werden. Als eine der wenigen kritischen Analysen aus Foucauldianischer Sicht vgl. Frankiewicz 2021 & 2023.


[8] Zu den „apokalyptischen Technologien“, die der Kapitalismus in zunehmendem Maße ausbrütet, vgl. Kurz 2001.

[9] Inzwischen gibt es sogar schon Impfungen gegen Übergewicht – mit wahrscheinlich fraglichem Nutzen, dafür aber mit beträchtlichen Nebenwirkungen (vgl. „Abnehmspritze Wegovy: Das sind die Risiken und Nebenwirkungen“, rnd.de, 17.7.2023).


[10] „Why is pandemic preparedness planning important?“, ecdc.europa.eu (abgerufen am 2.10.2023), Übersetzung A.U.


[11] Deshalb sagte z.B. WHO-Chef Ghebreyesus bereits Anfang Februar 2020: „Bei der WHO kämpfen wir nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen die Trolle und Verschwörungstheorien, die unsere Reaktion [auf den Virusausbruch, A.U.] untergraben.“ („Coronavirus: WHO chief warns against ‚trolls and conspiracy theories’“, bbc.com, 8.2.2020, Übersetzung A.U.)


[12] Die ersten Pandemie-Planspiele in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren simulierten nicht von ungefähr hauptsächlich Gesundheitsnotfälle nach einem Biowaffenangriff.


[13] Auch die groteske und immer menschenverachtendere Formen annehmende Naturbeherrschungsrationalität klingt im Buch an verschiedenen Stellen zumindest an, etwa wenn von den „wahnwitzigen Vorstellungen de[r] Technokraten“ die Rede ist, denen der menschliche Körper „nur noch als Material des technischen Fortschritts“ dient (S. 138).


[14] Wobei Desmet, der freilich alles andere als kapitalismuskritisch argumentiert, diesen historischen Zusammenhang nicht herstellt, sondern die soziale Isolation und Sinnleere der Subjekte allzu oberflächlich, monokausal und ahistorisch auf das „mechanistische Weltbild“ zurückführt (dessen Wurzeln er wiederum nicht historisch in der Durchsetzungs- und Entwicklungsgeschichte des warenproduzierenden Systems verortet; dazu Ortlieb 1998). Reitter und Kolleg/innen kritisieren diese Verkürzung ebenfalls zu Recht, setzen dem aber selbst nur recht allgemein die aus den kapitalistischen Verhältnissen hervorgehende „Entfremdung“ entgegen, während auch sie die historisch-spezifische Subjektkonstitution der Post- und Spätpostmoderne nicht würdigen (vgl. S. 153ff.).


[15] Beispielsweise hat schon Karl Kraus einen jahrzehntelangen Kampf gegen die Windmühlen der „journaillistischen“ Phrase geführt. Es ist wohl nicht allzu vermessen, zu behaupten, dass sich manches, was die Autor/innen unter „reelle Subsumtion der Kommunikation unter das Kapitals“ fassen, bereits seit dem Ersten Weltkrieg zumindest als phasenweiser Modus Operandi der bürgerlichen Öffentlichkeit etabliert haben dürfte.


[16] Zur linken Schwundstufe der Awareness und dem „achtsamen Ende der Kritik“ siehe auch den vorzüglichen Aufsatz Trieb und Trauma von Patrice Schlauch (2023).


[17] Dass die speziell im Epilog ausgebreitete These einer „Homogenisierung des Klasseninteresses“ in gewissem Widerspruch zu früheren Passagen im Buch steht, in denen stets betont wurde, dass aufgrund der kapitalistischen Konkurrenz die „objektiven Interessen“ der herrschenden Klassen „notwendig miteinander [konfligieren] und daher nicht von einer „Interessenhomogenität“ ausgegangen werden könne (S. 55), sei an dieser Stelle nur nebenbei bemerkt.