Andreas Urban
Zum Krieg Israels gegen den Iran
Die Geschwindigkeit, mit der das kapitalistische Weltsystem in strukturellen Zerfall und (potentielle) finale Selbstzerstörung übergeht, ist gleichermaßen beeindruckend wie beängstigend. Als Insasse der von innen heraus implodierenden kapitalistischen Tretmühle bleibt einem kaum noch genügend Zeit, um zwischen den diversen empirischen Manifestationen des kapitalistischen Todestriebes, der das warenproduzierende System in seiner fundamentalen Krise in zunehmendem Maße anzutreiben scheint, ausreichend Atem zu schöpfen. In immer kürzeren Abständen folgt auf eine Eskalation bereits die nächste, und mit jeder Eskalationsstufe wird nicht nur der Krisenprozess auf ein höheres Niveau gehoben, sondern scheint auch die Irrationalität der Gesellschaft und der sie gleichermaßen tragenden wie von ihr überhaupt erst produzierten Subjekte immer neue Höhen zu erreichen – ein Ausmaß an Verrücktheit, das man selbst als kritischer Theoretiker, dem die für die kapitalistische Antizivilisation ja bereits im Normalbetrieb charakteristische Irrationalität alles andere als fremd ist, kaum für möglich gehalten hätte. Überhaupt – um vielleicht auch einmal einen Einblick in die Befindlichkeit des kritischen Theoretikers zu geben: Es lässt sich kaum in Worte fassen, wie unbefriedigend es ist, zahlreiche lohnende Gegenstände und daran geknüpfte gesellschaftstheoretische Vorhaben permanent zurückstellen und vernachlässigen zu müssen, weil sich die krisenbedingten Ereignisse in einem Maße überschlagen, dass man auch bei einer halbwegs gegebenen intellektuellen Wendigkeit und schreiberischen Produktivität seine liebe Not hat, mit den gesellschaftlichen Krisentendenzen Schritt zu halten und die sich laufend aktualisierenden phänomenologischen Erscheinungsformen der Krise zumindest ansatzweise theoretisch adäquat zu verarbeiten und zu reflektieren. Regelmäßig und mit zunehmender Häufigkeit stellt sich ein regelrechter Unwille ein, die jeweils neueste empirische Eskalation der Krise zu analysieren oder nur zu kommentieren, nachdem gerade erst ein (vermeintlicher) neuer Höhepunkt des gesamtgesellschaftlichen Irrsinns auf mehr oder weniger tragfähige (krisen)theoretische Begriffe gebracht wurde. Dies sei an dieser Stelle vorausgeschickt für den Fall, dass jene Lustlosigkeit den Leserinnen und Lesern des vorliegenden Textes entgegenschlagen und sich sozusagen auf sie übertragen sollte. Denn genau das ist es, was der Autor dieser Zeilen bereits zuletzt während der durch die gesellschaftlichen Entwicklungen förmlich aufgezwungenen Auseinandersetzung mit dem neuen europäischen Streben nach „Kriegstüchtigkeit“ empfand (wo aber immerhin noch der Umweg über eine Kommentierung der diesbezüglichen Thesen eines anderen Autors genommen werden konnte, vgl. Urban 2025). Und noch größer ist der Widerwille, sich mit der jüngsten empirischen Vergegenständlichung der Krise und des damit einhergehenden zivilisatorischen Zerfalls beschäftigen zu müssen: dem kürzlich erfolgten Angriff Israels auf den Iran und die dadurch bewirkte abermalige Eskalation im Nahen und Mittleren Osten.
Ich werde gar nicht erst den Versuch machen, eine umfassende Analyse dieser neuen Entwicklungen zu prätendieren – dies wäre zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin zu früh, da weder der weitere Verlauf des Krieges noch sämtliche (insbesondere geopolitischen) Hintergründe des israelischen Angriffs hinreichend beurteilt werden können. Was sich mit ziemlicher Sicherheit sagen lässt, ist, dass es sich bei der offiziellen Rechtfertigung für die Angriffe – der Zerstörung der iranischen Atomanlagen – um einen Vorwand handelt, denn offensichtlich zielten die israelischen Angriffe von Anfang an auch und insbesondere auf die Eliminierung der (militärischen) Führung des Iran ab. Auch so manche Verlautbarung des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, in denen er die iranische Bevölkerung explizit dazu aufforderte, sich gegen die Regierung zu erheben, lässt darauf schließen, dass es um wesentlich mehr geht, nämlich um einen Sturz der iranischen Regierung, ergo um einen Regime Change. Dies lässt wiederum den Schluss zu, dass die israelischen Angriffe nicht nur mit Billigung, sondern mit tatkräftiger Unterstützung der USA erfolgten. Ohnehin muss angenommen werden, dass Israel eine derart weitreichende Eskalation nicht ohne das ausdrückliche Plazet der USA wagen würde, zumal Israel in vielerlei Hinsicht in einem extremen Abhängigkeitsverhältnis zu den USA steht (wenngleich man dem mittlerweile völlig außer Rand und Band agierenden rechtsextremen Netanjahu-Regime auch einen Alleingang gegen den Willen seiner US-amerikanischen Schutzmacht durchaus zutrauen würde). Dass die USA selbst in die „militärische Operation“ (wie Israel seine Angriffe in bester westlicher Tradition nennt) gegen den Iran involviert sein könnten, wurde zunächst durch zahlreiche Aussagen von US-Präsident Trump mindestens gestützt. Nachdem sich die USA der „Operation“ aktiv angeschlossen und den Iran ebenfalls angegriffen hatten, konnte auch in diesem Punkt bald kein Zweifel mehr bestehen. Es ist kein Geheimnis, dass ein Regime Change im Iran schon seit längerer Zeit auf der außenpolitischen Agenda der USA steht, quasi als Bestandteil einer grundsätzlichen politischen Neuordnung des Nahen Ostens bzw. Westasiens entlang westlicher Interessen. Bereits in den frühen 2000er Jahren, im Anschluss an den Irakkrieg und den Sturz von Saddam Hussein, wurde unter dem Label der sogenannten „Dominotheorie“ der Sturz zahlreicher weiterer
Regime in der Region anvisiert, beginnend bei Syrien über den Iran bis hin zu Nordkorea.[1] Es passt vor diesem Hintergrund trefflich ins Bild, dass das offenbar schon lange geplante Regime-Change-Projekt in Syrien erst vor wenigen Monaten erfolgreich zu Ende gebracht wurde (wenn man unter „Erfolg“ – was allerdings unter den westlichen „Regime Changers“ ebenfalls schon eine lange, unselige Tradition besitzt – den Austausch eines fraglos autoritären Regimes durch ein islamistisch-dschihadistisches Racket und den damit wahrscheinlich endgültig ratifizierten Übergang des Landes in den offenen Staatszerfall versteht). Der Iran wäre nun gewissermaßen das nächste Projekt auf der sukzessive abzuarbeitenden Liste. In den Strategiepapieren der notorischen US-Foreign-Policy-Thinktanks wird dies auch offen ausgesprochen. Darin findet man dann u.a. Kapitel mit so vielsagenden Überschriften wie „Leave it to Bibi: Allowing or Encouraging an Israeli Military Strike“ (Pollack et al. 2009, S. 89ff.). Israel sozusagen militärisch als Stellvertreter in US-amerikanischem Interesse zu verwenden, bildet darin also ausdrücklich eine von mehreren Strategien in der außenpolitischen Auseinandersetzung mit dem Iran. In Europa, wo man zwar nichts mitzureden hat, scheint man immerhin eingeweiht zu sein in das höhere Ziel, das mit den Militärschlägen im Iran mutmaßlich verfolgt wird – abzulesen etwa an den freimütigen Bekundungen des deutschen Bundeskanzlers Merz, Israel mache aktuell im Iran die „Drecksarbeit für uns“.[2] Auf einer höheren geopolitischen Maßstabsebene wäre nicht zuletzt denkbar, dass es sich bei den Angriffen auf den Iran um eine weitere verzweifelte Strategie des Westens bzw. der USA im Kampf gegen den eigenen geopolitischen Abstieg und ihre tiefe Hegemoniekrise handelt, die u.a. darauf abzielt, dem multipolaren Projekt von China und Co. durch eine gezielte Spaltung der BRICS einen schweren Schlag zu versetzen – ein Kalkül, das (wenn es denn ein solches gibt) vielleicht sogar aufgehen könnte.[3]
All das sind aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts weiter als (wenn auch naheliegende) Spekulationen, noch dazu solche auf einer rein immanent geopolitischen Ebene, die daher aus einer auf die gesellschaftliche Totalität abhebenden kritisch-theoretischen Perspektive nicht für sich allein stehen können, sondern zu gegebener Zeit systematisch mit jener gesellschaftlichen Totalität zu vermitteln wären, um ihre Gegenstände als spezifische Erscheinungsformen eines übergeordneten gesellschaftlichen „Wesens“ – nämlich des in strukturelle Auflösung übergehenden kapitalistischen Weltsystems – zu analysieren und auf kritische Begriffe zu bringen. Ich möchte mich daher im Folgenden auf einige allgemein gehaltene Thesen in krisentheoretischer Perspektive beschränken. Streng genommen handelt es sich dabei auch nur um Aktualisierungen von bereits in früheren Beiträgen vorgenommenen Überlegungen und wird kein anderer Zweck verfolgt, als die jüngsten Entwicklungen im Lichte jener krisentheoretischen Thesen zu reflektieren.
Aus krisentheoretischer Sicht wirft der von Israel begonnene Krieg gegen den Iran zunächst einmal ein Schlaglicht auf den abermaligen Fortschritt dessen, was Robert Kurz die „innere Krise der israelischen Gesellschaft“ nannte (Kurz 2003, S. 136), d.h. auf die spezifisch israelischen Verfalls- und Barbarisierungsformen im Kontext der fundamentalen Kapitalismuskrise. Diese Verfallsformen stellen sich insbesondere in einem weit fortgeschrittenen Rechtsruck, um nicht überhaupt zu sagen: einer zunehmenden Faschisierung der israelischen Gesellschaft dar, politisch verkörpert durch das rechtsextreme Regime rund um Benjamin Netanjahu. Wie weit die Barbarisierung Israels mittlerweile vorangeschritten ist – u.a. in Vermittlung mit einem, quasi parallel und komplementär zu islamistischen Erscheinungsformen in muslimischen Ländern verlaufenden, spezifisch jüdischen Fundamentalismus –, wird auf erschreckende Weise durch das kaum anders als genozidal zu nennende Vorgehen des israelischen Staates in Gaza und zunehmend auch im Westjordanland, als Reaktion auf die Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023, vor Augen geführt. Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter darauf ein und behalte dies einer an anderer Stelle zu führenden Diskussion vor, ob und inwieweit in den seit mittlerweile mehr als eineinhalb Jahren systematisch an der palästinensischen Bevölkerung verübten Verbrechen und den im Grunde offen betriebenen ethnischen Säuberungen, über die historische Metatendenz zur zivilisatorischen „Verwilderung“ hinaus, heute etwas zu sich kommt, das möglicherweise bereits von vornherein als negatives Potential im politischen Zionismus angelegt ist – eine Frage, die etwa Moshe Zuckermann von einiger Zeit aufgeworfen hat (Zuckermann 2025) und die erhebliche Implikationen für die in der Wertkritik verbreitete These vom „Doppelcharakter des israelischen Staates“ mit sich bringen würde (einige unsystematische Überlegungen hierzu habe ich in einem Beitrag anlässlich des 7. Oktober angestellt, vgl. Urban 2023). Zumindest so viel lässt sich sagen, dass ein Menschheitsverbrechen wie der an den Juden begangene Holocaust und ein daraus abgeleiteter Sonderstatus des israelischen Staates als Zufluchtsort für weltweit verfolgte Juden unter keinen Umständen als Rechtfertigung dienen kann für die Barbarei, wie sie Israel bzw. dessen Regierung gegenwärtig in Gaza ins Werk setzt, und dass eine kritische Theorie, die dergleichen vertritt,
sei es explizit oder implizit, sich im Grunde selbst desavouiert und überflüssig macht.[4]
Allemal ein Indikator für den fortgeschrittenen zivilisatorischen und insbesondere politischen Verfall in Israel sind die offensichtlich irrationalen und potentiell selbstzerstörerischen Tendenzen im Agieren des israelischen Staates. Bereits die extreme Reaktion auf die von der Hamas verübten Massaker trug in hohem Maße irrationale Züge und war bzw. ist dazu angetan, eine Entwicklung hervorzurufen, die nicht nur für andere Länder in der Region, sondern auch für Israel selbst gefährlich werden kann. Allerspätestens mit den Angriffen auf den Iran (im Prinzip aber bereits davor mit diversen Angriffen auf libanesisches Staatsgebiet im Zuge der Kämpfe gegen die Hisbollah sowie mit der Besetzung von Territorium in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes) hat Israel einen regionalen Krieg von hoher Intensität vom Zaun gebrochen, der unter Umständen auch mit der Zerstörung Israels enden könnte. Welche Höhen der Wahnsinn der israelischen Führung mittlerweile erklommen hat, wird an den hochgefährlichen und historisch beispiellosen[5] Versuchen Israels ersichtlich, iranische Atomanlagen zu bombardieren. Selbstverständlich kann und muss dasselbe über die USA gesagt werden, die sich dem israelischen Krieg gegen den Iran angeschlossen und ebenfalls iranische Nuklearanlagen unter Beschuss genommen haben. Nach eigenen Angaben haben die USA dabei bunkerbrechende Bomben eingesetzt, um die unterirdisch untergebrachten und daher vor den bisherigen israelischen Angriffen relativ gut geschützten Anlagen tatsächlich treffen und potentiell zerstören zu können. Das Ausmaß der angerichteten Schäden ist bislang unklar. Entgegen den, wie gewohnt, vollmundigen Behauptungen der Trump-Administration, die die Angriffe als einen „überwältigende[n] Erfolg“ bezeichnete und die vollständige Zerstörung der Anlagen verkündete[6], scheint sich der Schaden für den Iran vergleichsweise in Grenzen gehalten zu haben. Dafür spricht insbesondere, dass nicht nur der Iran, sondern u.a. auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) keine erhöhten Strahlungswerte festgestellt hat.[7] Es scheint auch so zu sein, dass der Iran seine Atomanlagen bereits evakuiert und spaltbares Material rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte.[8] Das Ganze dürfte also (zum Glück!) noch mal glimpflich ausgegangen sein. Aber allein, dass Israel und die USA überhaupt derartige Aktionen setzen und die nukleare Verseuchung ganzer Regionen in Kauf nehmen, spricht für den himmelschreienden Irrsinn und/oder eine kaum noch zu überbietende Verderbtheit ihrer Führungseliten. Auch hier sind gewisse autodestruktive Tendenzen nicht von der Hand zu weisen. Denn wenn die iranischen Atomanlagen ernsthaft beschädigt und auf diese Weise eine nukleare Katastrophe ausgelöst würde, könnte nachgerade Israel bald mit einer Situation konfrontiert sein, die Robert Kurz im Weltordnungskrieg den USA für den Fall des damals offenbar ernsthaft angedachten Einsatzes taktischer Nuklearwaffen im Zuge ihrer sicherheitsimperialistischen „humanitären Interventionen“ in den Krisen- und Zerfallsregionen der kapitalistischen Peripherie prophezeite: Israel würde den „grenzenlosen und unstillbaren Hass einer überwältigenden Mehrzahl der Menschheit auf sich ziehen, der Mittel und Wege zur Rache finden wird, und sei es einer ebenso entmenschten und infernalischen“, womit es letztlich auch seine eigene „Selbstvernichtung besiegeln“ würde (Kurz 2003, S. 434).
Auch ohne die an Wahnsinn grenzende Bombardierung iranischer Atomanlagen ist der Krieg, auf den sich Israel mit dem Iran eingelassen hat, mindestens eine hochriskante Strategie zu nennen. Der Iran hat bereits bewiesen, dass er mit seinen Gegenschlägen durchaus beträchtlichen Schaden anrichten kann. Denn anders, als Israel unmittelbar nach jedem iranischen Gegenschlag verlautbart (und westliche Medien ungeprüft nachplappern), vermag das israelische Luftabwehrsystem – der viel gepriesene „Iron Dome“ – offenbar längst nicht alle Raketen- und Drohnenangriffe des Iran zu neutralisieren. Wenn Israel sich erwartet haben sollte, den Iran in kurzer Zeit mit einigen Enthauptungsschlägen zu „erledigen“, dürfte sich dies als herbe Fehleinschätzung erweisen. Schnell könnte Israel sich in einem längeren und intensiven Krieg wiederfinden, der konventionell nicht zu gewinnen ist. Dann könnte Israel verleitet sein, Atomwaffen einzusetzen – mit den oben bereits beschriebenen Konsequenzen; sofern dies nicht überhaupt eine unkontrollierbare Eskalations- und Vernichtungsspirale in Gang setzen und den Krieg zu einem verheerenden nuklearen Dritten Weltkrieg ausarten lassen würde. Israel mag den Angriff auf den Iran – aus der israelischen Perspektive vielleicht sogar irgendwie verständlich (zumal die Zerstörung Israels von der iranischen Führung mit einiger Regelmäßigkeit als Ziel ausgegeben wird) – mit den angeblich schon sehr weit gediehenen Bemühungen der Islamischen Republik, eine Atombombe zu entwickeln, begründen. Ohne Frage kann aus radikal gesellschaftskritischer Sicht die Vorstellung eines nuklear bewaffneten Iran nur Schaudern auslösen. Nüchtern und realistisch betrachtet geht jedoch aktuell genauso fraglos die mit Abstand größte nukleare Bedrohung, aus den genannten Gründen, von Israel selbst aus. Es erübrigt sich damit, sich unmittelbar mit dem von Israel permanent strapazierten Argument, es nehme bloß sein Recht auf Selbstverteidigung wahr, gemein zu machen. Aus Sicht des Völkerrechts – das freilich keine Kategorie darstellt, auf die sich die Wertkritik umstands- und kritiklos stützt, das aber sehr wohl, wenn auch auf die inzwischen hinlänglich bekannte willkürliche Weise und unaufhörlich, von den westlichen Repräsentanten von „Demokratie & Marktwirtschaft“ bemüht wird – ist die Sachlage ohnehin eindeutig: Eine „unmittelbare“ nukleare Bedrohung durch den Iran würde voraussetzen, dass der Iran überhaupt erst einmal über eine Atomwaffe verfügt – was bislang offensichtlich nicht der Fall ist. (Wie wahrscheinlich es ist, dass der Iran eine einmal erfolgreich entwickelte Atombombe tatsächlich für einen Vernichtungskrieg gegen Israel einsetzen würde, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt – angesichts der überwältigenden nuklearen Überlegenheit Israels wäre dies jedenfalls ein geradezu selbstmörderisches Ansinnen). Wäre das Völkerrecht nicht längst nur noch der stinkende Kadaver, zu dem es in den vergangenen Jahrzehnten nicht zuletzt von seinen westlichen Apologeten zugrunde geritten wurde, könnte also keinerlei Zweifel daran bestehen, dass es Israel und die USA sind, die sich mit ihren Angriffen ins Unrecht setzen – ein Tatbestand, über den auch eine kritische Theorie nicht so ohne Weiteres hinwegsehen kann, ohne damit ein wesentliches Symptom der Krise der in der kapitalistischen Moderne historisch gewachsenen politischen und rechtlichen Formen einfach zu negieren.
Die jüngste Eskalation im Nahen und Mittleren Osten liefert freilich nicht nur reiches Anschauungsmaterial über den rasch voranschreitenden Verfall und eine damit Hand in Hand gehende Barbarisierung Israels, sondern auch seiner westlichen Verbündeten. Hier ist zunächst einmal die bereits erwähnte Beteiligung der USA an der Bombardierung iranischer Atomanlagen zu nennen. Man ist versucht zu hoffen, dass es sich dabei um eine von Trumps erratischen Schnellschuss-Aktionen und sozusagen um eine paradoxe Exit-Strategie handelte nach dem Motto: „Sieg verkünden und wieder abziehen“. Mit der medienwirksam verlautbarten (tatsächlichen oder nur vermeintlichen) Zerstörung der iranischen Atomanlagen könnte das Kriegsziel für erreicht erklärt und Israel eine günstige Gelegenheit gegeben werden, den Krieg rechtzeitig zu beenden, bevor er sich für es selbst in einen militärischen Alptraum verwandelt. Dafür könnte u.a. auch sprechen, dass der US-Präsident nach den iranischen „Vergeltungsangriffen“ auf US-Militärbasen in Katar, die in Reaktion auf die vorhergegangene Bombardierung iranischer Atomanlagen durchgeführt worden waren, eine Waffenruhe ankündigte (die freilich umgehend sowohl von israelischer als auch von iranischer Seite gebrochen wurde[9]). Selbst in diesem Fall wäre jedoch die Irrationalität eines solchen Vorgehens (von seiner völligen Rechtswidrigkeit einmal ganz abgesehen) schwerlich von der Hand zu weisen, zumal keineswegs gesagt wäre, dass der Iran bei dieser Scharade mitspielen würde, und Aktionen wie die US-amerikanischen Bombenangriffe auf den Iran allemal dazu angetan sind, eine weitere Eskalation des Krieges hervorzurufen.[10]
Kräftige Hinweise auf die fortschreitende Krise des Westens im Allgemeinen und der USA im Besonderen gibt der Krieg gegen den Iran aber auch in anderer Hinsicht, und zwar ganz unabhängig von der Frage, ob Israel den Krieg eigenmächtig begonnen hat oder nicht. Gesetzt den (höchst unwahrscheinlichen) Fall, bei den Angriffen auf den Iran handelte es sich initial um einen israelischen Alleingang, etwa mit der Absicht, Tatsachen zu schaffen und dadurch seine Verbündeten, allen voran die USA, in einen Krieg gegen den Iran zu involvieren (denn auch Netanjahu macht bereits seit den 1990er Jahren kein Geheimnis daraus, den Iran angreifen zu wollen), wäre dies als starkes Indiz für die inzwischen weit fortgeschrittene Erosion der Weltmachtstellung des Westens und insbesondere der Rolle der USA als „Weltpolizei“ zu werten. Wenn nunmehr sogar die eigenen Bündnispartner oder gar nur Vasallen sich Alleingänge von derartigen Dimensionen herausnehmen sollten, spräche das Bände über die fundamentale Krise, der die westliche Hegemonie gegenwärtig unterworfen ist. Denn letztlich bedeutet Hegemonie nichts anderes, als dass eine in Anspruch genommene politische Vormachtstellung von den Untergebenen auch als solche anerkannt und akzeptiert wird. Das allein würde also bereits unmittelbar auf den sukzessiven Verfall des Westens und seiner historisch gewachsenen hegemonialen Stellung verweisen und wäre krisentheoretisch entsprechend einzuordnen und zu theoretisieren – umso mehr, wenn, wie in der Wertkritik, davon ausgegangen wird, dass das Ende der westlichen Hegemonie auch einen Kipppunkt der finalen Kapitalismuskrise insgesamt anzeigt, da es „an den Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise und damit der modernen
Weltmachtfähigkeit aufscheint“ (Kurz 2003, S. 432; vgl. in diesem Sinne auch Konicz 2024).[11]
Viel wahrscheinlicher ist aber ohnedies, dass der von Israel begonnene Krieg gegen den Iran in den größeren Zusammenhang einer neu eröffneten Front im verzweifelten Abwehrkampf des Westens und der USA gegen den eigenen geopolitischen Abstieg zu stellen und damit insbesondere als Symptom der spezifisch westlichen Erscheinungs- und Verlaufsformen der finalen Krise zu betrachten ist. Hier ist vor allem zu berücksichtigen und kommt sozusagen erschwerend hinzu, dass sich der Westen bei seinem unmittelbar vorangegangenen krisenimperialistischen Abenteuer in der Ukraine gerade erst eine blutige Nase geholt und damit tatkräftig zur abermaligen Verschärfung seiner Hegemoniekrise beigetragen hat. Die USA unter Trump versuchen derzeit, einigermaßen gesichtswahrend aus diesem militärischen und geopolitischen Desaster auszusteigen – wahrscheinlich auch weniger in der Absicht, mit Russland Frieden zu schließen (Trumps Inszenierungen als „Friedensstifter“ haben ohnehin eher kabarettistische Qualitäten und sind allerspätestens mit dem Angriff auf den Iran de facto hinfällig), sondern die Fortsetzung der Feindseligkeiten gegen „den Russen“ den Europäern zu überlassen und sich stattdessen anderen und wichtigeren Zielen auf der geopolitischen Agenda zuzuwenden, insbesondere der Eindämmung des momentan mit Abstand größten geopolitischen und ökonomischen Rivalen der USA, nämlich Chinas. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Angriffe auf den Iran aus westlicher Sicht u.a. die Funktion – allemal aber den Effekt – haben könnten, die sich gegenwärtig als konkurrierendes ökonomisches und geopolitisches Bündnissystem etablierenden BRICS zu spalten und damit nachhaltig zu schwächen. Hier darf auch nicht übersehen werden, dass der Iran aus chinesischer Perspektive sowohl einen wichtigen Lieferanten von als auch Transitkorridor für Öl und Gas darstellt, vor allem auch im Rahmen der von China vorangetriebenen Belt and Road Initiative („neue Seidenstraße“).[12] Das eigentliche Ziel der Angriffe dürften also China bzw. die BRICS insgesamt sein. Freilich besitzt der Iran generell einiges Gewicht bei der globalen Versorgung insbesondere mit Erdöl und könnte dies unter Umständen als Waffe einsetzen, indem etwa durch die Schließung der Straße von Hormus die Ölexporte der wichtigsten Golfstaaten lahmgelegt werden. (Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des vorliegenden Artikels hat der Iran diese Maßnahme tatsächlich ergriffen, weshalb sich der Konjunktiv an dieser Stelle eigentlich erübrigt.) Über diese Meerenge wird fast ein Fünftel des weltweiten Tagesverbrauchs an Rohöl umgesetzt.[13] Eine Schließung dieses wichtigen Transportwegs könnte nicht nur zu einem drastischen Anstieg der Ölpreise, sondern womöglich auch zu einer Ölknappheit im Westen (zumindest in Europa) führen, wodurch sich also der Westen mit dem Krieg gegen den Iran nicht zuletzt (wieder einmal) ins eigene Fleisch schneiden würde. Bereits in dieser Hinsicht könnte sich die „militärische Operation“ im Iran somit auch und gerade für den Westen als kontraproduktiv und selbstzerstörerisch erweisen – von dem alles andere als geringen Risiko, damit einen Dritten Weltkrieg auszulösen, was dementsprechend von der galoppierenden Irrationalität eines solchen Vorgehens künden würde, einmal abgesehen.
Die nur noch auf (Selbst-)Zerstörung geeichte Strategie der westlichen „Weltordnungskrieger“ würde sich nicht zuletzt dann und daran erweisen, wenn das (offiziell bislang freilich dezidiert in Abrede gestellte) primäre Ziel der Angriffe im Sturz der iranischen Regierung bestehen sollte. Die verheerenden Effekte westlicher Weltordnungskriege und damit einhergehender Regime-Change-Operationen können längst auf der ganzen Welt besichtigt werden – vom Irak über Afghanistan und Libyen bis hin zum bereits erwähnten Syrien, wo erst vor wenigen Monaten eine dschihadistische Bande mit eifriger westlicher Hilfe an die Regierungsmacht geputscht wurde, deren Kopf ein offiziell als „Terrorist“ geführter Islamist bildet, auf den bis dahin vom FBI ein Kopfgeld ausgesetzt war und der von westlichen Politikern und Medien im Handumdrehen und ohne jegliche kognitive Dissonanz zum honorigen Staatsmann geadelt wurde. (Ein willkommener Nebeneffekt dieses Coups ist übrigens, dass Syrien bald darauf als „sicherer Drittstaat“ eingestuft wurde, was es nun endlich ermöglicht, Asylbewerber aus diesem Land guten Gewissens abzuschieben und neue Asylanträge in größerer Zahl abzulehnen – allein das verdeutlicht die politische und moralische Verkommenheit, die im Westen und insbesondere in Europa heute den politischen Mainstream charakterisiert.) Wie destruktiv die vom Westen seit Jahren durchgeführten, als „humanitäre Interventionen“ beschönigten Militäroperationen sind, kann schon daran abgelesen werden, dass der mit Abstand größte Teil der globalen Flucht- und Migrationsbewegungen in Richtung Westen, die dort dann besonders lautstark beklagt und zunehmend repressiv verwaltet werden, aus eben jenen Ländern und Regionen stammt, die im Zuge der westlichen Interventionen in Schutt und Asche gelegt wurden. Dieser „Politik der verbrannten Erde“ gedenkt der Westen, erst recht unter den Bedingungen seiner eigenen, sich immer weiter zuspitzenden (Hegemonie-)Krise, unbedingt treu bleiben. Vergleichbares darf und muss man daher für den Iran erwarten, sollte sich ein Sturz der iranischen Führung tatsächlich als ein wesentliches Ziel der militärischen Angriffe erweisen – natürlich immer unter der Voraussetzung, dass die westliche „Strategie“, was keineswegs zwingend und eher sogar unwahrscheinlich ist (zumal der Iran ein ganz anderes Kaliber darstellt als gescheiterte Staaten wie Syrien), „erfolgreich“ sein sollte und sich die „Weltordnungskrieger“ nicht, schneller als ihnen lieb ist, abermals in einem längeren, ressourcenaufwändigen, letztlich nicht gewinnbaren Krieg wiederfinden, der am Ende womöglich nur noch die Flucht nach vorn in die nukleare Eskalation offen lässt und damit in die eigene Selbstzerstörung mündet. Aber selbst wenn ein Sturz des iranischen Mullah-Regimes gelingen sollte, ist der Ausgang der Operation mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits vorgezeichnet. Ein wesentliches Problem, vor dem ein beabsichtigter Regimewechsel im Iran steht, ist, dass es im Land gar keine politischen Kräfte gibt, die einen solchen tragen oder umsetzen könnten. Die einzigen, die dafür infrage
kämen, sind die Revolutionsgarden und die Basidsch-Milizen, und die befinden sich ohnehin bereits an der Macht.[14] Es besteht also schon von vornherein kaum eine andere Option, als irgendein vom Westen finanziell und militärisch gepäppeltes Racket in Stellung zu bringen, das gegen das Regime und seine Verteidiger vorgehen kann, wie dies ja bereits in Syrien, in Libyen, im Libanon usw. praktiziert wurde – mit all den destruktiven Effekten, die aus diesen Ländern nur allzu bekannt sind. Im besten Fall würden wir mithin eine zusätzliche Destabilisierung der Region erleben.
Abschließend noch ein paar Worte zum ebenfalls bereits angesprochenen Völkerrecht, über dessen nunmehr vermutlich endgültig abgeschlossene Demontage die israelischen Angriffe auf den Iran und insbesondere die westlichen Reaktionen darauf einiges an Aufschluss geben. Ohnehin ist das Völkerrecht schon seit längerer Zeit nur noch ein Schatten seiner selbst und wurde nicht zuletzt durch die vom Westen bzw. den USA seit Jahren geradezu manisch beschworene „regelbasierte Ordnung“ sukzessive abgelöst oder zumindest deutlich in den Hintergrund gedrängt. Statt Recht galten bzw. gelten nun „Regeln“, die die Eigenschaft haben (hier durchaus ähnlich den „westlichen Werten“), nirgends geschrieben zu stehen und vom Westen diktiert und dementsprechend bei Bedarf willkürlich abgeändert werden zu können. Es gibt denn auch nichts und niemanden auf diesem Planeten, der sich so dreist über die eigenen „Regeln“ und erst recht über das weitgehend ausgehöhlte Völkerrecht hinwegsetzt wie der „demokratische“ Westen. Allein die westlichen Weltordnungskriege der vergangenen drei Jahrzehnte sind eine einzige Ansammlung von systematischen Völkerrechtsbrüchen durch die USA und deren Bündnispartner. Das Völkerrecht ist dabei auch nur eine Institution unter mehreren, die einem fortschreitenden Zersetzungsprozess unterliegen. Es ist generell ein interessantes und bemerkenswertes Phänomen der westlichen Hegemoniekrise, dass der Westen in seinem verzweifelten Kampf um die Bewahrung seiner Hegemonie mit zunehmender Tendenz und geradezu mutwillig eine ganze Reihe von Institutionen ruiniert, die er selbst installiert hatte, um eben diese Hegemonie zu erhalten und zu stärken – vom INF-Treaty (jene 2019 einseitig von den USA aufgekündigte Vereinbarung mit Russland über die Vernichtung aller boden- bzw. landgestützten Nuklearraketen mit mittlerer und kürzerer Reichweite) bis zur Welthandelsorganisation (WTO), von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) über SWIFT bis hin zum besagten Völkerrecht. Es ist so gesehen vor allem eine fulminante Selbstdemontage, die der Westen seit Jahren und derzeit besonders eifrig ins Werk setzt. Im Fall des jüngsten Krieges gegen den Iran sind die Hauptopfer sicherlich die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und der Atomwaffensperrvertrag, die der Liste an systematisch zerstörten westlichen Institutionen neu hinzugefügt werden können.
Was das Völkerrecht betrifft, kann man angesichts seiner schon lange vorangetriebenen und heute mutmaßlich finalisierten Demontage jedenfalls in der Tat, wie so mancher empörter Kommentator der aktuellen Geschehnisse[15], nur noch das Brechen kriegen, wenn in Politik und Medien der westlichen Hemisphäre das „Völkerrecht“ strapaziert wird. Die in diesem Zusammenhang oftmals geradezu abenteuerlichen doppelten Standards, welche die Funktionseliten hierzulande in der Definition von diversen „Völkerrechtsbrüchen“ ohne jeden Anflug von Scham anlegen, sind bereits für sich allein geeignet, den weit gediehenen Zerfall historisch gewachsener demokratischer und rechtsstaatlicher Formen und Institutionen anzuzeigen. Während etwa der russische Angriff auf die Ukraine (zu Recht, auch wenn man hinsichtlich der Ursachen, Hintergründe und Ziele des russischen Vorgehens gänzlich anderer Meinung sein darf als der Mainstream) als „völkerrechtswidrig“ eingestuft und verurteilt wurde, herrscht geradezu gespenstische Stille nach dem israelischen Angriff auf den Iran und wird eher sogar, ganz im Gegenteil, allenfalls ein wenig herumdrucksend, die Unterstützung der israelischen Militäroperationen bekundet, weil dabei ja (frei nach Merz) irgendwie auch für „unsere Sache“ gekämpft werde (so wie auch schon die Ukraine gegen Russland „unsere westlichen Werte“ verteidigte – wie dies für die Ukraine ausgegangen ist, sollte Israel vielleicht bei Gelegenheit einmal bedenken). Der neue deutsche Außenminister Wadephul, der sich anschickt, sein Land von der Traufe, in die es mit seiner Amtsvorgängerin Baerbock geraten ist, in die Sturzflut zu führen, musste vom ehemaligen, langjährigen Generaldirektor der IAEO, Mohamed El Baradei, öffentlich zurechtgewiesen werden, er möchte sich doch bitte „mit den Grundprinzipien des Völkerrechts vertraut machen“, nachdem er den in Politik und Medien rauf und runter gebeteten, deshalb aber nicht weniger völkerrechtswidrigen Glaubenssatz verbreitet hatte, Israels Angriff auf den Iran erfolge offensichtlich in einem legitimen Sicherheitsinteresse und diene allein der Selbstverteidigung. El Baradei erinnerte ihn u.a. daran, „dass ‚gezielte Angriffe auf Nuklearanlagen‘ gemäß Artikel 56 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen, denen Deutschland beigetreten ist, verboten sind“ sowie daran, „dass die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen gemäß Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen generell verboten ist, mit Ausnahme des Rechts auf Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs oder mit Genehmigung des Sicherheitsrats im Falle einer kollektiven Sicherheitsmaßnahme“ (zit. nach kodoroc.de). Wenn es die USA sind, die das Völkerrecht brechen, hat man daran, wie schon bei allen früheren Völkerrechtsbrüchen des „großen Bruders“ von der anderen Seite des Atlantiks, ohnehin nichts auszusetzen – nicht einmal, wenn es sich dabei um Trump handelt. NATO-Chef Rutte, stellvertretend für alle anderen Speichellecker auf dem Alten Kontinent, küsst Trump förmlich den Allerwertesten und bedankt sich via Social Media herzlich für dessen „entschlossenes Handeln im Iran, das wirklich außergewöhnlich war und das niemand sonst zu tun wagte“. Bei der Gelegenheit setzt er ihn auch gleich darüber in Kenntnis, dass es gelungen ist, praktisch alle europäischen NATO-Staaten auf einen 5-Prozent-Anteil des BIP für Militärausgaben zu verpflichten: „Europa wird im GROSSEN Stil bezahlen, und das sollte es auch, und es wird Ihr [d.h. Trumps] Gewinn sein“ (zit. nach einem X-Post von Martin Sonneborn, Übersetzung A.U.).
Was Kritiker wie der ehrenwerte Herr El Baradei leider noch nicht begriffen haben und ihren kritischen Interventionen eine tragische Note verleiht, ist, dass es das Völkerrecht selbst ist, das heute zunehmend von innen heraus erodiert, da mit der Krise des warenproduzierenden Systems auch die daraus abgeleiteten politischen und rechtlichen Formen in strukturelle Auflösung übergehen – nicht anders als „Demokratie“ oder „Grund- und Menschenrechte“. Freilich ist aus wertkritischer Sicht – auch dies gilt wieder für „Demokratie“ und „Menschenrechte“ nicht weniger als für das „Völkerrecht“ – keineswegs schade darum, schon allein, wenn man die historische Entstehung und Entwicklung des Völkerrechts im Rahmen der Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus bedenkt (das Völkerrecht wird geboren aus der imperialen Weltpolitik zuerst des spanischen und später der anderen europäischen Reiche, gehört also unmittelbar in den Kontext der frühmodern-westlichen Eroberung der Welt). Gleichwohl stellt die Demontage des Völkerrechts aus krisentheoretischer Sicht einen würdigen Gegenstand der Analyse dar, weil diese eben auf die fortschreitende Erosion der in der Moderne gewachsenen Institutionen und (Rechts-)
Formen insgesamt verweist. Die aktiven Demonteure des Völkerrechts vom Schlage eines Netanjahu ebenso wie die sie gewähren lassenden bürgerlich-demokratischen Degenerationsgestalten wie Wadephul und Co. sind lediglich die Exekutoren jenes gesamtsystemischen Krisen- und Zerfallsprozesses, bloße „Charaktermasken“, die mit der sich immer deutlicher abzeichnenden Gegenstandslosigkeit der kapitalistischen Kategorien die auf diesen Kategorien beruhenden Strukturen und Institutionen nach und nach niederreißen (in den USA ist es aktuell Trump, der diesen Prozess der Schleifung von Demokratie und Rechtsstaat zwar nicht unbedingt radikaler, dafür aber wesentlich offener als seine Vorgänger auf die nächste Stufenleiter hebt). Am Ende werden wohl sie die Totengräber des Kapitalismus sein, als die Marx fälschlicherweise noch das Proletariat bestimmte, weshalb es auch nicht im eigentlichen Sinne der Kapitalismus mitsamt seinen Herrschaftsformen, sondern die Menschheit selbst sein wird, die gleichsam unter dem Schutt der zerfallenden kapitalistischen Antizivilisation lebendig begraben werden könnte – es sei denn, der an seinen Widersprüchen zugrunde gehende Kapitalismus findet sein Ende durch eine emanzipatorische Transformations- und Befreiungsbewegung, die sich gegenwärtig allerdings nicht einmal in rudimentärsten Formen abzeichnet. Der kaum noch erträgliche Zynismus[16], mit dem die Funktionseliten heute ihrem Zerstörungswerk nachgehen – hier ist Fabio Vighi uneingeschränkt recht zu geben – kann und darf nicht dazu verleiten, „diesen Zynismus mit der Ursache all unserer Probleme zu verwechseln“ (Vighi 2025; vgl. auch Urban 2025, S. 6), auch wenn das manchmal schwerfallen mag. Die Ursache des auf immer neue Niveaus kletternden Irrsinns und der kaum noch von der Hand zu weisenden autodestruktiven Tendenzen ist die fundamentale Krise des Kapitalismus, die sich ja nicht bloß auf einen separaten Bereich der „Ökonomie“ beschränkt, sondern eine ganze, historisch gewachsene Gesellschafts- und Lebensform betrifft; eine Krise, die inzwischen auch in ihren westlichen Zentren voll angekommen ist und dort entsprechend spezifische Erosions- und Verfallserscheinungen zeitigt. Auch der jüngste Krieg zwischen Israel/USA und Iran, wie auch immer sein weiterer Fortgang sein mag – ob er nur eine kurze, durch den derzeitigen Waffenstillstand beendete Episode bleiben wird (es scheint sich bereits die Bezeichnung „12-Tage-Krieg“ einzubürgern) oder ob er bald in eine neue Runde gehen wird –, ist letztlich nur ein Teilmoment und gewissermaßen eine besonders grelle Entladung im Wetterleuchten des fortschreitenden Krisenprozesses.
Literatur
Aumercier, Sandrine (2025): Remarques sur le congrès allemand „Gegenform: alliance contre la formation autoritaire“, grundrissedotblog.wordpress.com
Konicz, Tomasz (2024): Krise der Hegemonie, in: exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft 21, S. 22-70.
Kurz, Robert (2003): Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung. Bad Honnef: Horlemann.
Pollack et al. (2009): Which Path to Persia? Options for a New American Strategy toward Iran. Analysis Paper, Number 20, June 2009. Washington, D.C.: The Saban Center for Middle Eats Policy at the Brookings Institution, online verfügarbar unter brookings.edu
Urban, Andreas (2023): Ein weiteres Kapitel im globalen Barbarisierungsprozess, wertKRITIK.org
Urban, Andreas (2025): „Kriegstüchtigkeit“ als krisenkapitalistische Flucht nach vorn, wertKRITIK.org
Vighi, Fabio (2025): Rearmament: The Charade and the Game of Chicken, thephilosophicalsalon.com
Zuckermann, Moshe (2025): Trumps Lösung für Gaza, overton-magazin.de
[2] „Merz: Israel macht in Iran Drecksarbeit für uns“, zdfheute.de, 17.6.2025
In welcher historischen Tradition ein derartiges Denken steht, kann in folgendem Beitrag nachgelesen werden: „Einer muss den Dreckskerl geben“, kodoroc.de, 17.6.2025
[3] „Achse des Bösen 2.0: Brics tief gespalten“, telepolis.de, 17.6.2025
[4] Ob daraus folgt, was Sandrine Aumercier in einem rezenten Kommentar anzudeuten scheint, nämlich dass die These vom „Doppelcharakter“ Israels überhaupt zu verwerfen sei, weil darin ein problematischer und heute aufs Schäbigste missbrauchter Sonderstatus Israels axiomatisch gesetzt ist (vgl. Aumercier 2025), kann man allerdings ebenso infrage stellen. Meines Erachtens wäre die These vom israelischen „Doppelcharakter“ überhaupt erst noch konsequent theoretisch zu entfalten, indem der monströse Widerspruch, der diesem inhäriert und heute vollends zur Kenntlichkeit entstellt wird, auf theoretische Begriffe gebracht wird. Kritischen Theoretikern, die sich auf dialektisches Denken berufen, sollte es eigentlich zugemutet werden können, mit dem Widerspruch fertig zu werden, dass ein immanent aus historischen Gründen zugestandener und berechtigter israelischer Sonderstatus auf derselben immanenten Ebene mit allerhand Grausamkeiten einhergehen kann, die den Nahostkonflikt (auf beiden Seiten) schon so lange kennzeichnen und heute, so wie die Zeichen derzeit stehen, mit der vollständigen ethnischen Säuberung Gazas enden könnten (wie es im Übrigen auch denkmöglich sein sollte, dass ein Volk wie das jüdische, das historisch so viel Unrecht und Verbrechen erdulden musste, selbst auch zu Unrecht und Verbrechen fähig sein kann).
[5] Vielleicht mit Ausnahme der immer wieder unternommenen Versuche der Ukraine, das von Russland kontrollierte Atomkraftwerk in Saporischschja zu beschießen. In dem Fall war es allerdings die Ukraine selbst, die in Kauf nahm, ihr eigenes Territorium atomar zu verseuchen. Israel hat bereits 1981 bei einem gezielten Luftangriff den irakischen Kernreaktor Tammuz-1 in Osirak zerstört. Dieser war zum Zeitpunkt des Angriffs allerdings noch nicht fertiggestellt. Die jüngsten Angriffe auf iranische Atomanlagen haben daher zweifellos eine ganz andere Qualität.
[9] Israel scheint sich bereits auch gezielt auf eine Fortführung des Krieges vorzubereiten (siehe „The Israel–Iran War: Concluded but not Resolved“, inss.org.il, 25.6.2025). Der Iran wird es Israel wohl gleichtun.
[10] In manchen Teilen der Blogosphäre geht übrigens die These um, bei den US-Angriffen habe es sich in Wahrheit um ein abgekartetes „theatrical bombing“ gehandelt, d.h. um eine zwischen den USA und dem Iran abgesprochene Inszenierung, in deren Rahmen die Zerstörung der iranischen Atomanlagen gleichsam vorgetäuscht worden sei (siehe z.B. „Humiliation: Israel Tucks Tail After Failing All Objectives in War against Victorious Iran“, simplicius76.substack.com, 25.6.2025). Begründet wird dies einerseits mit den offenbar relativ geringen Schäden an den Anlagen, andererseits damit, dass sowohl die USA ihre Bombenangriffe als auch der Iran seine „Vergeltungsschläge“ gegen US-Militärbasen in Katar gegenseitig angekündigt zu haben scheinen und einander so eine rechtzeitige Evakuierung der jeweiligen Zielobjekte ermöglichten. So absurd dies klingen mag – kategorisch ausschließen (zumal bei einer Figur wie Trump) lässt sich vermutlich nicht einmal das, und es würde immerhin für eine gewisse, wenn auch sehr verquere Restrationalität sprechen, wenn eine derartige Farce tatsächlich (und vorübergehend womöglich sogar erfolgreich) zum Zweck der Deeskalation aufgeführt worden sein sollte. Ein Argument gegen die stetig wachsende Verrücktheit der spätkapitalistischen Welt würde daraus gleichwohl (und eben deshalb) ganz gewiss nicht.
[11] Eine These, die sich, zumindest in dieser apodiktischen Form, vielleicht noch als voreilig herausstellen könnte. Es lässt sich aktuell durchaus nicht ausschließen, dass wir noch eine Phase des Krisenprozesses erleben werden, die von einer heute vielbeschworenen „Multipolarität“ geprägt sein könnte, welche an die Stelle der bisherigen „unipolaren“ Weltmachtstellung des Westens bzw. der USA tritt – wenngleich dies freilich eher die Gestalt einer „multipolaren Weltunordnung“ (Konicz 2024, S. 40) annehmen dürfte. Die wertkritische These von der finalen Kapitalismuskrise wird dadurch keineswegs infrage gestellt – lediglich ihre konkrete Verlaufsform (und eventuell auch ihre Dauer) könnte sich anders darstellen als vorhergesagt.
[12] „Russland und Chinas Rolle im Iran-Krieg: Wie der Konflikt Beijings Pläne durchkreuzt“, telepolis.de, 20.6.2025
[13] „Die USA treten in den Krieg gegen den Iran ein“, telepolis.de, 22.6.2025
[14] „Regime-Change im Iran? Eine westliche Illusion“, telepolis.de, 17.6.2025
[15] Siehe exemplarisch: „Ich will nie wieder das Wort ‚Völkerrecht‘ hören“, nachdenkseiten.de, 16.6.2025
[16] Darunter fallen nicht zuletzt die Diskussionen im Vorfeld des Kriegseintritts der USA, ob denn damit unter Umständen auch ein NATO-Bündnisfall eintreten könnte (vgl. „NATO-Generalsekretär Rutte: ‚Ich bin mir sicher, dass Deutschland liefern wird‘“, tagesschau.de, 19.6.2025). Die so gefährliche wie hirnrissige Logik dahinter lautet: Wenn die USA in den Krieg gegen den Iran eintreten und der Iran sich dagegen zur Wehr setzt, indem er z.B. US-Militärbasen angreift, wird daraus ein NATO-Krieg mit Beistandspflicht für alle Mitglieder. Man darf froh sein, dass der Krieg, wie es aussieht, mit dem ausgerufenen Waffenstillstand fürs erste beendet ist. Andernfalls wären die Verantwortlichen in der NATO womöglich in die Situation gekommen, unter Beweis stellen zu müssen, wie ernst es ihnen mit derartigen Erwägungen ist.