Druckversion/PDF

Andreas Urban


„Kriegstüchtigkeit“ als krisenkapitalistische Flucht nach vorn

 


Man kann sich angesichts der jüngsten Entwicklungen und insbesondere der forcierten europäischen Bemühungen um Remilitarisierung und „Kriegstüchtigkeit“ zuweilen nur schwer des Eindrucks erwehren, Zeuge der empirischen Verifikation so mancher Thesen von Fabio Vighi zu werden. Vighi – ein in Großbritannien lehrender italienischer Theoretiker, der sich mehr oder weniger systematisch auf die Wertkritik bezieht (und diese dabei mit Hegel, Lacan und ein wenig Žižek amalgamiert, vgl. Vighi 2022a) – ist einem größeren Publikum vor allem durch seine kritischen Analysen zur sogenannten „Corona-Krise“ bekannt geworden. Er hat in diesem Zusammenhang die These entwickelt (und u.a. auch in unserem Corona-Sammelband Schwerer Verlauf zur Diskussion gestellt), dass die Corona-Lockdowns weniger eine epidemiologische Funktion zur Eindämmung der „Pandemie“, sondern in erster Linie eine politisch-ökonomische bzw. geldpolitische Funktion erfüllten; diese hätten gewissermaßen als eine Art Schutzschild fungiert, um eine Hyperinflation zu verhindern, als im Herbst 2019, sozusagen am Vorabend der „Pandemie“, das Finanzsystem aufgrund einer heftigen Krise des Repo-Marktes kurz vor einer Kernschmelze stand und zu seiner Rettung enorme Geldmengen geschöpft und in das System gepumpt werden mussten. Ziel sei mithin gewesen, die „Wirtschaft zum Stillstand [zu bringen], in der Hoffnung damit zu verhindern, dass das massenhaft künstlich geschaffene Geld zu schnell in Umlauf kommt. Das virusinduzierte Koma der Realwirtschaft ermöglichte es den Zentralbanken, tonnenweise computergenerierte Liquidität an die großen Finanzakteure zu ‚liefern‘. [Absatz] Das ‚Schutzschild‘ kam also in Form der Covid-Lockdowns und der damit verbundenen Maßnahmen, die zur Pleite kleiner Unternehmen, zum Verlust von Arbeitsplätzen und zu einem weiteren Anstieg der Vermögensungleichheit führten – kurz: zur kontrollierten Zerstörung einer bereits stagnierenden Realwirtschaft.“ (Vighi 2023, S. 24f.)


In einschlägigen wert-abspaltungskritischen Kreisen wurden seine Thesen freilich umgehend als „verschwörungstheoretisch“ gelabelt (vgl. Böttcher 2022) – wohl allein schon deshalb, weil er damit gegen den Glaubenssatz von der „tödlichen Pandemie“ verstieß. Nun weist die Argumentationsführung Vighis in der Tat eine gewisse offene Flanke zum Verschwörungstheoretischen auf, die vor allem dadurch befördert wird, dass bei ihm – wie Kurt B. Uhlschütz zutreffend bemerkte – letztlich offen bleibt, „auf welche Weise sich denn die behaupteten Systemzwänge“, die Vighi explizit (und soweit anschlussfähig an die Wertkritik) hinter dem als „Pandemiebekämpfung“ in Szene gesetzten Krisenmanagement am Werk sah, „in konkretes Akteurshandeln umgesetzt haben sollen“ (Uhlschütz 2023, S. 199). Mit anderen Worten: Ihre Schwäche besteht in einer teilweise unzureichenden oder inkonsequenten theoretischen Vermittlung der empirischen Handlungs- und Akteursebene mit den heute krisenbedingt zunehmend aus dem Leim gehenden kapitalistischen Fetischverhältnissen (vgl. hierzu auch meine Kritik in Urban 2023). Ob die Lockdown-Politik tatsächlich, entgegen ihrer offiziellen Rechtfertigung, primär durch Kalküle und Zwänge der kapitalistischen Krisenverwaltung angetrieben und motiviert und Corona sozusagen nur der willkommene Vorwand war, um die zur Systemrettung erforderlichen, historisch beispiellosen Maßnahmen zu ergreifen, bleibt schlussendlich spekulativ und wird sich im Nachhinein nur noch schwer beweisen lassen. Manches spricht auch dagegen – so etwa die offensichtliche Überzeugung und der beinahe religiöse Eifer, mit der wesentliche Teile der Öffentlichkeit, unter Einschluss des kapitalistischen Führungspersonals, das Pandemie-Narrativ verfochten. In den kritischen Beiträgen auf dieser Website wurde vor diesem Hintergrund den Faktoren „Irrationalität“ und „Realitätsverlust“ einiges an Gewicht zur Erklärung der Ereignisse während der Corona-Krise beigemessen und dies auch mit zahlreichen empirischen Belegen versehen (vgl. Urban 2022 & 2024; Urban/Uhnrast 2023). Durch und durch abwegig erscheint Vighis These gleichwohl nicht – vor allem, wenn man die inzwischen hinlänglich durch wissenschaftliche Evidenz nachgewiesene, geringe bis moderate Gefährlichkeit des „neuen“ Coronavirus sowie die, gemessen daran, extreme Unverhältnismäßigkeit des installierten Corona-Maßnahmenregimes in Rechnung stellt. Schon allein aus diesem Grund wäre es voreilig und geradezu kontraproduktiv, derartige Thesen einfach als „Verschwörungstheorie“ abzutun, zumal es auch einigermaßen naiv wäre, einem derart irrationalen und destruktiven System wie dem warenproduzierenden und den an seinem Sterbebett herumdokternden Funktionseliten einen solchen Irrsinn und Zynismus so ganz und gar nicht zuzutrauen. Dass die „Pandemie“ auch dazu diente – jedenfalls aber den Effekt hatte –, einzelnen Kapitalfraktionen und Leitsektoren (Pharmaindustrie, Digitalindustrie, Online-Handel etc.) im Angesicht der stetig voranschreitenden Verwertungskrise insbesondere durch hochdimensionierte staatliche Subventionierung (z.B. mRNA-Impfstoffe, Masken, Laptops und Tablets für „Homeschooling“) zumindest kurzfristige Extraprofite zu verschaffen, war ohnehin mit Händen zu greifen.


Einen ähnlichen Zusammenhang sieht Vighi sodann hinsichtlich des im Februar 2022 mit dem russischen Angriff in ein neues Stadium eingetretenen Krieges in der Ukraine. Ähnlich wie schon davor Corona, sei auch der Ukraine-Krieg ein brauchbares Vehikel oder zumindest eine willkommene Rechtfertigung dafür, die immer größere Dimensionen annehmende Gelddruckerei, auf der der Kapitalismus im aktuellen Stadium der Krisenreife nur noch beruht, weiter aufrechtzuerhalten. Der Krieg sei „die ideale Fortsetzung des War on Covid. Das übergeordnete Ziel besteht darin, das eigentliche Problem zu verschleiern. Es besteht in den Bergen von billigem Geld, das in die schuldensüchtige Wirtschaft geschleust wird“ (Vighi 2022b, S. 104). Wie bereits Corona, so gebe jetzt also auch der Krieg den Zentralbanken „einen Freibrief, ihre monumentalen Gelddruckereien fortzusetzen, die die Märkte ankurbeln und gleichzeitig die Weltwirtschaft weiter unter Druck setzen“ (ebd., S. 107).


Vighi verdichtet seine an Corona und am Ukraine-Krieg entwickelten Thesen schließlich zum übergeordneten Befund eines von ihm so genannten „emergency capitalism“ (Vighi 2024), quasi eines Katastrophen- oder Notstandskapitalismus, der nicht nur durch seine destruktive Funktionsweise am laufenden Band Katastrophen und Krisen produziert, sondern in seinem gegenwärtigen Stadium krisenbedingter Agonie globale Notfälle und Ausnahmezustände geradezu benötigt, um die zu seiner unmittelbaren Existenzbedingung gewordene Gelddruckerei und Politik des „leichten Geldes“ (Quantitative Easing) weiterhin am Laufen bzw. aufrechtzuerhalten. Der Kapitalismus verlange nach immer neuer und dabei auch quantitativ immer größerer Zufuhr von aus dem Nichts geschaffenen Geld, um seinen Kollaps noch weiter hinauszuzögern – koste es, was es wolle. Welcher Art die Notstände und ob sie real oder bloß inszeniert sind, ist dabei, wie Vighi nicht ohne Ironie bemerkt, zweitrangig: „Pandemie, terroristische Kampagnen, nukleare Bedrohungen, Handelskriege, militärische Konflikte oder – warum nicht – die Landung von Außerirdischen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit muss das Chaos heraufbeschworen werden, im Idealfall mit der Figur eines brutalen, blutrünstigen Feindes. Ob als Medienereignis oder in der Realität, es kommt auf den Notfallkreislauf an, denn er hält den Geldhahn offen.“ (Vighi 2022b, S. 107)


Die jeweiligen „Notfälle“ haben dabei in besonderem Maße auch und vielleicht sogar vorrangig eine Legitimationsfunktion: Sie sollen die immer waghalsigeren und zynischeren Stunts, die zur Rettung des klinisch längst toten Kapitalismus erforderlich sind, und nicht zuletzt die damit einhergehenden sozialen Grausamkeiten rechtfertigen und so in einem Handstreich auch jede potentielle Kritik und Widerstand bereits im Keim ersticken. Das notorische „Es ist Pandemie!“, das es erlaubte, der verängstigten Bevölkerung die disruptiven Systemrettungsmaßnahmen unter der Begründung der „Pandemiebekämpfung“ schmackhaft zu machen und dabei zugleich auf äußere Umstände verweisen zu können, wenn es um eine Rechtfertigung der durch die Maßnahmen verursachten sozialen Verwerfungen ging, hat dabei propagandistisch laut Vighi dieselbe Funktion wie die permanente Dämonisierung Putins als „neuer Hitler“ und die Beschwörung der von ihm (angeblich) ausgehenden existentiellen Bedrohung für die „westlichen Demokratien“ – einer Bedrohung, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abgewehrt werden müsse, sei es durch eine exorbitante (und dabei kontraproduktive und autodestruktive) Sanktionspolitik, sei es durch eine nicht weniger exorbitante Waffenhilfe für die Ukraine und inzwischen auch durch eine mit aller Macht forcierte europäische Remilitarisierung.


Man mag, wie gesagt, von Vighis Thesen im Detail halten, was man will. Insbesondere im Hinblick auf den Ukraine-Krieg mag seine primär geldpolitische, auf die legitimatorische Funktion des Krieges für die Geldschöpfungsorgien der Notenbanken abhebende Argumentation, zumindest auf den ersten Blick, deutlich weniger plausibel erscheinen als etwa mit Blick auf Corona – zumal für den Ukraine-Krieg, der ja im Wesentlichen einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA darstellt, auch geopolitische und krisenimperialistische Faktoren ausschlaggebend sind. Der Krieg ist also in besonderem Maße auch ein Abwehrkampf des Westens, allen voran der USA, gegen ihren eigenen geopolitischen Abstieg und eine Reaktion auf die tiefe Krise ihrer globalen Hegemonie. Betrachtet man allerdings den in Europa (und besonders in Deutschland) derzeit wieder fröhliche Urständ feiernden und mit dem beabsichtigten Rückzug der USA aus dem Krieg unter der neuen Trump-Regierung auf immer neue Niveaus kletternden Bellizismus und Militarismus, so scheint sich Vighis Diagnose auf phänomenologischer Ebene in fast beeindruckender Weise zu bestätigen. Ist es denn nicht genau das, was wir aktuell beobachten können? Putin, schon längst als größenwahnsinniger Diktator konstruiert, der die Ukraine „überfallen“ hat, um sie der Russischen Föderation einzuverleiben, möchte nun, so heißt es, auch einen großen Krieg mit und gegen ganz Europa führen. Dass dieses Szenario so

halluzinatorisch ist, dass es selbst die US-Geheimdienste für extrem unwahrscheinlich halten[1], legt nahe, auch hier wieder den Faktor „Realitätsverlust“ nicht gänzlich außer Betracht zu lassen (wofür auf dieser Website ebenfalls bereits über die gesamte Dauer des Krieges hinweg zahlreiche Belege beigebracht wurden, vgl. abermals Urban 2022). Erstaunlich ist daran auch weniger, dass derartige Propaganda überhaupt verbreitet wird und den öffentlichen Diskurs beherrscht – der gezielte Aufbau von Bedrohungsszenarien und die Dämonisierung des Gegners ist so weit noch ein Charakteristikum jeglicher Kriegspropaganda (vgl. Morelli 2004). Was die dominante antirussische Propaganda hierzulande auszeichnet und für ein schier erschreckendes Ausmaß an Realitätsverlust spricht, ist jedoch, dass deren Urheber und primären Verbreiter allem Anschein nach selber die Lügen glauben, die sie in die Welt setzen. Was Karl Kraus einst sarkastisch am Beispiel von Diplomaten über die mediale Multiplikation von Kriegspropaganda feststellte, lässt sich heute im Prinzip über das politische Führungspersonal und den bürgerlichen Mainstream insgesamt sagen: Man kommuniziert Propagandalügen an die Journalisten und glaubt diese anschließend selbst, wenn man sie in der Zeitung liest.


Ohne eine offenbar krisenbedingt um sich greifende Irrationalität der bürgerlichen Subjekte, allen voran ihrer westlichen (Mittelschichts-)
Exemplare und der im Westen an den Schalthebeln sitzenden „reduzierten kapitalistischen Funktionsintelligenz“ (Kurz 2003, S. 425), sowie einen darüber vermittelten voranschreitenden Verlust des Welt- und Wirklichkeitsbezugs sind die aktuellen Entwicklungen also wahrscheinlich gar nicht zureichend zu erklären. Aus der Perspektive Vighis ist an dieser Stelle jedoch nur relevant, dass das propagandistisch aufgebaute Bedrohungsszenario die Legitimationsgrundlage für die sich derzeit abzeichnende Remilitarisierung und die dafür notwendigen fiskal- und geldpolitischen Operationen bildet. Und dies ist empirisch in der Tat kaum weniger evident: Vergessen sind nunmehr sämtliche, aus der neoliberalen Ära überkommene „Schuldenbremsen“. Die scheidende deutsche Ampelregierung verabschiedet im März 2025 noch rasch ein „Sondervermögen“ – ein Euphemismus für einen schuldenbasierten „Schattenhaushalt“ – in der Höhe von bis zu einer Billion Euro für Rüstung und entsprechende Infrastruktur.[2] Die EU plant, 800 Milliarden für die Wiederaufrüstung Europas zu mobilisieren – dies zunächst ganz offen unter dem Label „ReArm Europe“, um sich kurz darauf doch lieber auf das eingeübte Orwell’sche Neusprech zu verlegen und das Programm unter dem Titel „Readiness 2030“ laufen zu lassen.[3] Das Jahr 2030 ist dabei übrigens bewusst gewählt, denn ungefähr bis dahin erwartet man einen Angriff Russlands auf ein EU- oder NATO-Land. Dies bekräftigt auch der NATO-Generalsekretär Mark Rutte in einem Vortrag Anfang Juni 2025:
Russland könnte innerhalb von fünf Jahren in der Lage sein, militärische Gewalt gegen die NATO einzusetzen.Begründet oder auch nur irgendwie belegt muss das bequemerweise nicht werden, es reicht der lapidare Hinweis darauf, dass man es mit einem ganz und gar bösartigen Feind zu tun hat, der Gewalt um der Gewalt willen“ anwendet. Und so kann mit der nicht minder Orwell’schen Logik, der zufolge Krieg Frieden ist, verkündet werden: Die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir uns auf den Krieg vorbereiten müssen, um den Frieden zu bewahren. Wunschdenken wird uns nicht sicher machen. Wir können die Gefahr nicht wegträumen. Hoffnung ist keine Strategie. Deshalb muss die NATO ein stärkeres, gerechteres und tödlicheres Bündnis werden.[4] Inzwischen gibt es sogar in Deutschland Stimmen, die den ursprünglich von Trump geforderten Fünf-Prozent-Anteil des BIP für Verteidigungsausgaben ernsthaft in Erwägung ziehen, was immerhin bedeuten würde, fast 50 Prozent des gesamten bundesdeutschen Haushalts in Hinkunft in Rüstung und Militär fließen zu lassen.[5] Gespart muss dann selbstverständlich überall anders werden, insbesondere im Sozialbereich, in der Kultur, in der Bildung. Dies wird auch unverhohlen so ausgesprochen, denn [m]it Sozialleistungen lässt sich [das] Land nicht verteidigen“.[6] Nennenswerter Protest dagegen oder gar Widerstand aus der Bevölkerung regt sich bislang praktisch keiner, eher im Gegenteil[7] – auch das eine Leistung der ubiquitären Kriegspropaganda und der systematischen Denunziation jeglicher Kritik als „rechtsextrem“, „verschwörungstheoretisch“, „prorussisch“ usw., wie sie bereits während der Corona-Krise so erfolgreich eingeübt wurde.


In einem seiner rezenteren Beiträge kommentiert Vighi selbst die jüngsten Entwicklungen aus der Perspektive seiner These eines „emergency capitalism“ (vgl. Vighi 2025). Anlass und Ausgangspunkt dafür waren insbesondere der „Eklat im Weißen Haus“, als der ukrainische Präsident Selenskij vom neu im Amt befindlichen US-Präsidenten Trump, quasi als öffentliche Demonstration seiner Kehrtwende im Ukraine-Krieg, regelrecht vorgeführt worden war[8], und die praktisch unmittelbar darauffolgenden Ankündigungen neuer massiver Rüstungsausgaben in Europa. Man vermag Vighi in seiner Einschätzung des neuen europäischen Willens zur „Kriegstüchtigkeit“ kaum etwas zu erwidern, zumal er auch den sich darbietenden Irrsinn durchaus akkurat benennt und mit angemessener Polemik zusammenfasst. Es sei daher im Folgenden in einiger Länge aus dem Text zitiert, zumal dieser bislang nicht in deutscher Sprache vorliegt:


„Es genügt, die Punkte zu verbinden, um zu begreifen, dass die heutigen geopolitischen Schlüsselereignisse ihren Ursprung in der elementaren Triebkraft und dem verzweifelten Rettungsanker des heutigen Kapitalismus haben: der Verschuldung. Selenskij und Trump treten vor den Kameras gegeneinander an (‚this is going to be great television‘, sagt Donald). Ein paar Stunden später wird der ehemalige Komiker, der nun Opfer institutionellen Mobbings geworden ist, von der ‚Koalition der Willigen‘ (sic!), einem Haufen düsterer Politiker, die passenderweise von Keir Starmer angeführt werden, wieder im liberalen Europa begrüßt. Wie ein Pawlow’scher Hund wird unterdessen die Empörung aller ‚wahrhaft progressiven Kräfte‘ auf dem Alten Kontinent entfesselt. Und konsequenterweise nutzt der Deutsche Bundestag den allgemeinen Aufschrei, um Deutschlands fiskalische Zwänge zu lockern und die Gelddruckmaschinen zu ölen: mehr Schulden für uns und für alle! Die Bedingungen sind perfekt: eine frischgebackene Große Koalition, eine fortschreitende Rezession und vor allem die unwiderstehliche Urszene zweier Formen ‚politischen Wahnsinns‘ (Trump und Putin), die sich offenbar lieben. […] Es ist Deutschlands so lang ersehnter Moment des ‚koste es, was es wolle‘, seine spektakuläre Kapitulation vor wirtschaftlichem Druck, getarnt als geopolitische Verantwortung. Unter der neuen Führung von ‚BlackRock Merz‘ konvertiert die letzte Bastion der Haushaltsdisziplin zum amerikanischen Modell des schuldenbasierten ‚Finanzwachstums‘.“ (ebd., Übersetzung hier und im Folgenden A.U.)


Ähnlich äußert er sich zu den europäischen Remilitarisierungsplänen, wobei er die dem ganzen zugrunde liegenden Halluzinationen von einem bevorstehenden russischen Eroberungsfeldzug gen Westen als das ausweist, was sie sind, und diverse andere Widersprüche sowie unmittelbare Folgen und soziale „Kollateralschäden“ der europäischen „Strategien“ deutlich beim Namen nennt:


„In einer koordinierten Anstrengung schlagen die Funktionäre des ‚Krisenkapitalismus‘ vor, die Beschränkungen für Defizitausgaben (deficit spending) aufzuheben, sofern diese Ausgaben für die Verteidigung (was nur ein anderes Wort für Kriegsführung ist) verwendet werden. Offenbar könnte ‚ReArm Europe‘ etwa 840 Milliarden Euro für unsere Sicherheit mobilisieren, denn wir können der Ukraine in der dunkelsten Stunde ja nicht den Rücken kehren (ungeachtet der Tatsache, dass der Krieg längst verloren ist und den tragischen und vermeidbaren Verlust von Hunderttausenden von Ukrainern zur Folge hatte); ebenso wenig können wir darauf warten, dass Putin in Portugal einmarschiert. Bedauerlicherweise ist diese Aussage nicht im Scherz gemacht – sie spiegelt das verstörende Narrativ wider, dem wir seit nunmehr drei Jahren ausgesetzt sind. Hier stellt sich eine ganz einfache Frage: Warum in aller Welt sollten die Russen in Europa einmarschieren wollen, wenn sie bereits zu viel Land und Ressourcen zu verwalten haben und eine wachsende Wirtschaft besitzen? Übrigens, wenn Europa es mit der ‚Aufrüstung‘ ernst meint, was noch zu beweisen ist, muss es die Sozialausgaben (Bildung, Infrastruktur, Gesundheitswesen, Renten usw.) kürzen und die Mittel in das Militärbudget umleiten, wovor sogar die Financial Times warnte. Dies würde auch steigende Waffenkäufe von – raten Sie mal von wem? – den Vereinigten Staaten bedeuten, die bereits während der Biden-Regierung um 35 Prozent zugenommen haben.“ (ebd.)


Die forcierte Remilitarisierung stellt somit eine zunehmend psychotische und autodestruktive Züge tragende Flucht nach vorn dar, die in erster Linie darüber hinwegtäuschen soll (sich selbst, aber auch die jeweiligen Bevölkerungen), dass das warenproduzierende System de facto am Ende ist. Und das Vehikel dafür, so Vighi, ist das Narrativ einer globalen (diesmal geopolitischen und militärischen) Notlage:


„Anstatt über die eigentlichen Ursachen des Niedergangs nachzudenken, binden Europas technokratische Führer das deficit spending an ein verzweifeltes Narrativ einer geopolitischen Notlage. Die fundamentale Wahrheit dieses Narrativs ist, dass der Westen seine Fähigkeit zu ‚Wirtschaftswundern‘ erschöpft hat. Tatsächlich stagnieren die Wachstumsraten seit langem, die Arbeit ist prekär, die Fiat-Währungen entwerten, die Verschuldung ist strukturell, und die daraus resultierenden Finanzblasen werden durch groteske Notfallmanipulationen ‚gemanagt‘. Das neue Wettrüsten unterstreicht vielmehr die elitären und undemokratischen Tendenzen der europäischen Führung, die durchaus zum Zusammenbruch des Euro führen können – vor allem, wenn man bedenkt, dass Merz mit seiner Verbindung zu BlackRock in erster Linie den Interessen des transnationalen Finanzkapitals treu ist. Sollten die europäischen Schuldenrenditen in die Höhe schnellen – ähnlich wie bei den deutschen Bundesanleihen am 5. März –, könnte die Situation außer Kontrolle geraten. In einem solchen Szenario könnte sich die ‚Kriegsmobilisierung‘ von einer bloßen Propagandataktik zu einer echten Katastrophe entwickeln. […]
Wir haben es nun mit dem zunehmend chaotischen Krisenmanagement eines fragilen Wirtschaftssystems zu tun, das strukturell obsolet ist, da es nicht mehr in der Lage ist, sich durch Wertschöpfung aus Arbeit zu vergesellschaften […]. In der Zwischenzeit ist das Projekt der Globalisierung gescheitert. Im globalen Wettbewerb verliert der Westen nun an allen Fronten: wirtschaftlich, militärisch, politisch-diplomatisch.“ (ebd.)


Der Zynismus, der die kapitalistische Krisenverwaltung in zunehmendem Maße auszeichnet – auch daran lässt Vighi keinen Zweifel – ist ein systemischer: „Der strukturelle Zusammenbruch des Gesellschaftsvertrags zwischen Arbeit und Kapital, der die Grundlage der modernen liberalen Ordnung bildet, kann nur zu einem Anstieg des institutionellen Zynismus führen.“ Er erteilt daher allen Krisenerklärungen eine explizite Absage, die im zynischen Agieren der Funktionseliten sozusagen das Wesen und den letzten Grund der aktuellen Entwicklungen sehen möchten. Seine diesbezüglichen Aussagen sollten insbesondere diejenigen zur Kenntnis nehmen, die Vighi mit Vorliebe (und zumeist ohne jegliche inhaltliche Durchdringung seiner Thesen) zum „Verschwörungstheoretiker“ zu erklären neigen. Auch für Vighi „gibt es heute nichts Ideologischeres, als diesen Zynismus mit der Ursache all unserer Probleme zu verwechseln. Wenn wir lediglich mit Entsetzen auf die Handlungen einer psychopathischen politischen Elite reagieren, tun wir dies wahrscheinlich, um uns von der lähmenden Angst abzulenken, uns mit den Gründen für den Kollaps einer ganzen Zivilisation auseinanderzusetzen.“ (ebd.)


Einen Ausweg aus dieser nur noch auf zivilisatorischen Zerfall und Barbarei zusteuernden Spirale sieht Vighi – auch hier im Prinzip in voller Übereinstimmung mit der Wertkritik – einzig und allein in einer emanzipatorischen Überwindung des an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden Wert- und Kapitalverhältnisses:


„Wenn das Ergebnis der Krisenbewältigungsstrategien unweigerlich zu einer Geldentwertung führt, sei es durch Inflation oder Deflation, ist es vielleicht an der Zeit, sich dem Geldfetisch zu stellen und endlich nach Alternativen zum modernen warenproduzierenden System zu suchen. Alle traditionellen Reformpolitiken, einschließlich ihrer diversen linken Ausprägungen, werden angesichts einer Kreditsucht, die die Fiat-Währungen zerstört, zunehmend absurd und sozial repressiv. Der einzige Hoffnungsschimmer scheint in der Entstehung einer Widerstands- und Transitionsbewegung zu liegen, die sich idealerweise auf die Ablehnung des Krieges gründet und ein neues Bewusstsein für die unbewältigbaren Widersprüche schaffen könnte, die das Leben im Kapitalismus prägen – und die versucht, diese zu überwinden.“ (ebd.)




Literatur


Böttcher, Herbert (2022): Du musst „Gesundheitsdiktatur“ sagen! Wer ist der beste beim Regredieren?, exit-online.org


Kurz, Robert (2003): Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung. Bad Honnef: Horlemann.


Morelli, Anne (2004): Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Springe: zu Klampen.


Office of the Director of National Intelligence (2024): Annual Threat Assessment of the U.S. Intelligence Community. February 5, 2024, online verfügbar unter dni.gov


Uhlschütz, Kurt B. (2023): Inkompetenzgesellschaft. Konturen einer Zeitdiagnose, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom. Wien: Promedia, S. 195-218.


Urban, Andreas (2022): Realitätsverlust und suizidale Drift. Der Abstieg des Westens im Viruswahn und „Krieg gegen Putin“ (Artikel in 3 Teilen), wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2023): Kapital im Katastrophenmodus. Bemerkungen zu Fabio Vighi und seinen Thesen eines „emergency capitalism“, wertKRITIK.org


Urban, Andreas (2024): Im Jahr 4 n.C. – Ein vorläufiges Resümee über die Corona-Krise, wertKRITIK.org


Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (2023): Die Gesundheitskrise. Thesen zu Ursachen und Bedingungen eines historischen Nervenzusammenbruchs, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom. Wien: Promedia, S. 69-96.


Vighi, Fabio (2022a): Unworkable. Delusions of an Imploding Civilization. Albany: State University of New York Press.


Vighi, Fabio (2022b): Von Covid-19 zu Putin-22, in: Der Erreger #2, S. 104-109.


Vighi, Fabio (2023): Die Untergangsschleife. COVID-19 und das Zeitalter der kapitalistischen Dauerkrise, in: Urban, Andreas/von Uhnrast, F. Alexander (Hg.): Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom. Wien: Promedia, S. 21-46


Vighi, Fabio (2024): Emergency Capitalism: Financial Hubris, Economic Collapse and Systemic Manipulation. Sublation Media.


Vighi, Fabio (2025): Rearmament: The Charade and the Game of Chicken, thephilosophicalsalon.com




Endnoten


[1] Im Jahresbericht der US-Geheimdienste für das Jahr 2024 (also noch unter Biden) heißt es etwa hierzu: „Russland ist mit ziemlicher Sicherheit nicht an einem direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO interessiert und wird seine asymmetrischen Aktivitäten unterhalb der Schwelle fortsetzen, die es als Schwelle für einen militärischen Konflikt auf globaler Ebene ansieht.“ (Office of the Director of National Intelligence 2024, S. 14; Übersetzung A.U.)


[2] „1000 Milliarden für Waffen, Schienen und Brücken – kann sich Deutschland das leisten?“, derstandard.at, 15.3.2025

[3] „Wie die EU aufrüsten will und welche Hürden es gibt“, derstandard.at, 30.3.2025

[4]Building a better NATO. Speech by NATO Secretary General Mark Rutte at Chatham House London, United Kingdom“, nato.int, 9.6.2025, Übersetzung A.U. 


[5] „Nach Wadephul-Vorstoß: Was würde die Fünf-Prozent-Forderung Deutschland kosten?“, n-tv.de, 16.5.2025

[6] „‚Mit Sozialleistungen lässt sich dieses Land nicht verteidigen‘“, zeit.de, 21.5.2025

[7] Einer aktuellen Meinungsumfrage zufolge befürworten 70 Prozent der Deutschen die geplante Erhöhung der Verteidigungsausgaben, 59 Prozent sind für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. Die einzige Gruppe, die sich mehrheitlich dagegen ausspricht, ist wenig überraschend die Gruppe der unter 30jährigen, die den neuen Rüstungswahn im Kriegsfall ja an vorderster Front auszubaden hätte (vgl. „Jugend ans Gewehr!“, jungewelt.de, 7.6.2025).


[8] „Eklat im Weißen Haus: Trump und Selenskyj brechen Treffen ab“, tagesschau.de, 28.2.2025