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Anselm Jappe


Eine neue Hofkunst?



Manuskript eines Vortrags, gehalten im September 2024 im Rahmen eines Kongresses in Rio de Janeiro

Aus dem Französischen übersetzt von Andreas Urban



Welche Beziehung besteht zwischen kulturellen Ausdrucksformen und zeitgenössischen Formen von Subjektivität? Für einige Kommentatoren scheinen die Frontlinien sehr klar zu sein: Auf der einen Seite finden wir eine bürgerliche Kultur, die Ausdruck der Klassenherrschaft, aber auch der westlichen Herrschaft über den Rest der Welt, der Herrschaft von Männern über Frauen und generell der Eliten über die Subalternen ist. Auf der anderen Seite stehen die Bemühungen der Subalternen, der Beherrschten, der Marginalisierten und der unsichtbar Gemachten, wie man heute sagt, ihre eigene Kultur in allen Bereichen zu entwickeln, damals wie heute. Diese Bemühungen zielen vor allem darauf ab, dass sich die Weltanschauungen der Ausgegrenzten artikulieren können, indem sie sich von der Identifikation mit westlichen Werten, mit dem male gaze, mit den kulturellen Formen befreien, die historisch zuerst von den griechischen und römischen Sklavenhaltern, dann von den Aristokratien und zuletzt von den Bourgeoisien entwickelt wurden und die ohnehin aus einer Vergangenheit stammen, die mit unserer heutigen Lebensweise kaum etwas zu tun hat. Sowohl aufgrund der zeitlichen Distanz als auch aufgrund der Komplexität der verwendeten Sprachen erfordern die kulturellen Formen der Vergangenheit eine Beherrschung der Codes, eine Decodierung, die nicht nur in der Schule, sondern auch durch eine Erziehung erlernt werden muss, die in der Oberschicht üblich war, in den unteren Schichten jedoch fehlte. Die sogenannte „klassische“ Kultur, sei es Literatur, bildende Kunst oder Musik, wurde weitgehend von weißen, westlichen Männern geschaffen, die die Ansichten der herrschenden Klassen widerspiegelten. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat vor einigen Jahrzehnten wichtige Analysen des auf „Distinktion“ basierenden „kulturellen Kapitals“ vorgelegt, mit dem die Bourgeoisie ihre Privilegien legitimiert (vgl. Bourdieu 1982). Allerdings beschrieb Bourdieu diese Selbstlegitimation der bürgerlichen Macht durch die Kultur – die ohnehin schon immer typischer für Frankreich als für andere Länder war – zu einem historischen Zeitpunkt, als sie in Wahrheit bereits im Verschwinden begriffen war. Heute berufen sich die Herrschenden nirgends mehr auf die „hohe“ Kultur, sondern erinnern eher mit Stolz daran, in ihrem Leben nie ein Buch gelesen zu haben (wie etwa George W. Bush).


Politische und soziale Kräfte, die sich als links, oppositionell, kritisch, emanzipatorisch usw. definieren, machen es sich heute oft zur Aufgabe, dieses Verhältnis zwischen der sogenannten „Hochkultur“ und der sogenannten „Populärkultur“ umzukehren. Ich führe ein Beispiel an, das ich für bedeutsam halte: In Lyon, der drittgrößten Stadt Frankreichs, beschloss der frisch gewählte grüne Bürgermeister vor einigen Jahren, die jährlichen Subventionen der Stadtverwaltung für die Oper zu kürzen und stattdessen die Zuschüsse für Hip-Hop-Festivals am Stadtrand und ähnliche Aktivitäten zu erhöhen. Die Logik scheint unwiderlegbar: Anstatt eine Kulturform wie die Oper, die nur von einer winzigen Minderheit besucht wird, während der Rest der Bevölkerung sie entschieden als überholt und unverständlich betrachtet, unterstützt man aufstrebende Kulturen, in denen vergessene und benachteiligte Bevölkerungsgruppen endlich zum Ausdruck kommen.


Und doch – ist es wirklich so einfach?


Ein erster Einwand: Die Oper – die wir hier natürlich als Symbol für die „klassische“ oder „gehobene“ Kultur nehmen, und nicht, weil die Oper im heutigen Kulturpanorama eine besonders große Bedeutung hätte – könnte auf dem Markt niemals überleben, da ihre Kosten von dem eher kleinen Publikum, das sie besucht, nicht getragen werden können. Wenn man innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft, in der sich alles bezahlt machen muss, möchte, dass es Opern gibt oder Studienzentren für lateinische Autoren oder archäologische Ausgrabungen oder Festivals für Experimentalfilme, dann muss man akzeptieren, dass es nur eine Minderheit, manchmal eine sehr kleine, gibt, die sich dafür interessiert. Man muss ihnen also entweder ihre Meriten als solche, unabhängig von der Gunst der Bevölkerung, zuerkennen oder sie als nutzlose Verschwendung zum Tode verurteilen.


Ein Rap-Festival hingegen braucht keine öffentliche Unterstützung: Das potenzielle Publikum ist so zahlreich, dass es den Veranstaltern auch ohne jegliche Subventionen Geld einbringen wird. Diese Aussage gilt auch für andere Formen der „Pop“-Musik, einen Großteil des Kinos, Comics, Videospiele, Fernsehserien und so weiter. Zeigen ihr Erfolg und ihre Verbreitung, dass es sich um wirklich populäre Künste handelt? Oder zeigen sie vielmehr die Stärke der wirtschaftlichen Investitionen in diesem Sektor? Handelt es sich wirklich um spontane Entscheidungen des Publikums oder sind es von außen durchgesetzte Entscheidungen? Abgesehen von dem immer möglichen Sonderfall eines Künstlers, Musikers, Schriftstellers oder Filmemachers, der sich abseits jeder Werbekampagne durchsetzt, entspricht der Erfolg in der Regel der Investition, zumindest in einem späteren Moment. Wenn wir also die Kultur bevorzugen, die das größte Publikum anzieht, leisten wir kein Werk der „Demokratie“, sondern dienen den stärksten Wirtschaftsakteuren.


Wir haben es also mit einer Industrie zu tun. Hier müssen wir natürlich auf die „Kulturindustrie“ verweisen. Dieser Begriff wurde erstmals von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung geprägt, das 1947 veröffentlicht, aber bereits einige Jahre davor geschrieben wurde, als die beiden Philosophen, die aus dem deutschen „Bildungsbürgertum“ stammten, ihre Erfahrungen im US-Exil reflektierten. Im Kulturindustrie-Kapitel analysieren die Begründer der Frankfurter Schule die Rolle des Hollywood-Kinos mit seinen Happy Ends, von Comics wie Donald Duck, von Jazzmusik, von Neuaufführungen klassischer Musik und des Radios im Allgemeinen (das Fernsehen gab es damals noch nicht). Die in diesem Buch geäußerte Kritik war in den 1960er und 1970er Jahren in verschiedenen Ländern sehr einflussreich. Die Konzepte der Kulturindustrie und der „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) sind zwar in sehr unterschiedlichen Kontexten und unabhängig voneinander entstanden, weisen jedoch viele Ähnlichkeiten auf (vgl. Jappe 1995).


Später haben die sogenannten postmodernen Autoren im Gegenteil oft gegen den Begriff der Kulturindustrie und seine Autoren polemisiert und sie des Elitarismus und der Verachtung der Massen bezichtigt. In diesem Zusammenhang sei aber daran erinnert, dass der Untertitel des Kapitels „Aufklärung als Massenbetrug“ lautet: Seine Autoren betrachten „die Massen“ und die „Massenkultur“ nicht arrogant von oben nach unten, von einem überlegenen, elitären Standpunkt aus, wie es die Vertreter der „Hochkultur“ tatsächlich oft tun, die alles, was von den „Massen“ kommt, als „unseriös“, als bloße „Unterhaltung“ verabscheuen. Aber Adorno (der der Hauptautor dieses Kapitels ist und in seinen nachfolgenden Schriften häufig auf dieses Thema zurückkam) identifiziert die Kulturindustrie nicht mit einer Kultur, die von den Massen produziert wird, sondern die für die Massen produziert wird – um sie besser täuschen, manipulieren und beherrschen zu können. Man könnte sagen, dass es sich um eine Kultur gegen die Massen handelt, eine Kultur, die produziert wird, damit die Massen im schlimmsten Sinne des Wortes Massen bleiben und nicht zu einem kritischen Bewusstsein über die Gesellschaft, in der sie leben, gelangen. Die Kulturindustrie dient den Interessen des Kapitalismus, und zwar mindestens in zweierlei Hinsicht: Auf der einen Seite nimmt sie den kulturellen Ausdrucksformen ihr kritisches und subversives Potenzial, indem sie es in den Dienst der Konsensbildung, der Akzeptanz des Bestehenden und der Resignation stellt: „Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen.“ (Horkheimer/Adorno 2010, S. 147). Und es geht nicht nur um Inhalte, sondern sogar um die Rhythmen der Musik: „Weitergehen und Weitermachen überhaupt wird zur Rechtfertigung für den blinden Fortbestand des Systems, ja für seine Unabänderlichkeit. Ewig grinsen die gleichen Babies aus den Magazinen, ewig stampft die Jazzmaschine.“ (ebd., S. 157) Adorno zufolge reproduziert die Wiederholung der gleichen Rhythmen im Jazz die Monotonie der Maschine und macht sie „natürlich“. Diese kulturellen Formen haben also, obwohl sie sehr weit verbreitet, sehr „populär“ und sehr zugänglich sind, eine anti-emanzipatorische Funktion. Die Kulturindustrie operiert auf zwei Ebenen: Sie schafft neue Ausdrucksformen wie Comics oder Musicals, die leicht zu konsumieren sind und bei breiten Bevölkerungsschichten die zuvor konsumierten, komplexeren Formen ersetzen. Gleichzeitig bemächtigt sie sich bereits etablierter Formen wie klassischer Musik oder Romanen, um neue, kommerziellere Versionen davon zu schaffen.


Auf der anderen Seite besteht die Kulturindustrie in der Umwandlung kultureller Formen in Waren, die auf den Markt gebracht werden, um möglichst viel Geld damit zu verdienen. Dies existierte bis zu einem gewissen Grad bereits im 18. Jahrhundert, aber als Adorno und Horkheimer 1938 in die USA kamen, war dieser Prozess dort schon viel weiter fortgeschritten als in Europa. Sie waren daher erstaunt über das, was für sie etwas ganz Neues darstellte, wie die „like and dislike studies“, mit denen man Adorno während seiner ersten Arbeit in den USA, einer Studie über das Radio, beauftragen wollte: Es erschien ihm absurd, die Auswahl der Musik, die gesendet werden sollte, einer Abstimmung des Publikums und nicht Qualitätskriterien zu unterwerfen. Sie konnten sich noch über eine Entwicklung wundern, die dann schnell die ganze Welt eroberte und über die sich heute niemand mehr wirklich wundert. In der Tat muss man sich daran erinnern, dass der Begriff Kulturindustrie als Paradoxon, als contradictio in adiecto gedacht war: Entweder ist es Kultur oder es ist Industrie. Die beiden Dinge können nicht gleichzeitig existieren, das wäre wie ein eckiger Kreis. Die Industrie mit ihrer Massenproduktion von Waren, die einem bestimmten Publikum gefallen müssen, um verkauft zu werden, und die daher dem Publikum schmeicheln müssen, stellt das Gegenteil von echter Kultur dar, die spätestens seit der Emanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert und dem Austritt aus der religiösen Welt das Publikum zumindest implizit dazu bringt, eine kritische Distanz zur Welt einzunehmen, indem sie auf all das hinweist, was in dieser Welt nicht stimmt. Die Autonomie der Kunst, die ihre „Authentizität“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert ausmachte, stellte tatsächlich eine Form des Widerstands gegen die totale Eroberung der Welt durch die Ökonomie dar, weil man auf der Überlegenheit „kultureller Werte“ über vulgäre materielle Interessen bestand – wenn auch fast immer vor dem Hintergrund der Akzeptanz der Diktatur der Wirtschaft in allen anderen Lebensbereichen. Die kapitalistische Ökonomie, in der alles verkauft und gekauft wird, wurde lediglich gebeten, nicht in den kleinen, geschützten Garten der Kultur einzudringen – dies bildete die verlogene Grundlage für die Autonomie der Kunst.


Die Kunst dieser Zeit drückte auch, vor allem in der Musik, die Hoffnung auf eine schließliche Versöhnung aus. Dies ist das utopische Potenzial der Kunst, das in bestimmten Formen der Avantgardekunst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts am stärksten zum Ausdruck kam. Eine solche Kunst scheute sich also nicht, ihr Publikum vor den Kopf zu stoßen und es verunsichern zu wollen. Sie spielte nicht mehr die traditionelle Rolle der Kunst, die darin bestand, eine Weltsicht zu vermitteln, die im Wesentlichen mit der der herrschenden Klassen übereinstimmte. Seit Jean-Jacques Rousseau und vor allem den Romantikern brachen die Künstler den Vertrag, der sie an die Auftraggeber – religiöse, staatliche, aristokratische, bürgerliche – band. Anstatt die Welt so schön und perfekt darzustellen, wie sie nach Ansicht der Herrschenden sein sollte, begannen sie, sie so hässlich und schmerzhaft darzustellen, wie sie sie empfanden. Die Romantik auf der einen und der Realismus auf der anderen Seite, sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst, stellten im gesamten 19. Jahrhundert eine Art Unabhängigkeitserklärung der Kultur dar: Künstler schufen nicht mehr, um eine königliche Pension zu erhalten, in eine Akademie aufgenommen zu werden oder eine Kirche auszuschmücken. Neue Formen der Kommunikation mit der Öffentlichkeit halfen ihnen dabei, wie Romane in sehr hohen Auflagen (z.B. bei Alexandre Dumas oder Victor Hugo) oder von den Akademien unabhängige Malersalons und später private Galerien. Nicht alle Künstler konnten davon profitieren; viele bezahlten ihre Treue zu ihrer Mission und ihre Weigerung, sich der Welt anzupassen, wie sie nun einmal ist, mit mangelnder Anerkennung, Marginalisierung, Armut, Krankheit und frühem Tod: So entstand die Figur des verfluchten Künstlers – von Charles Baudelaire bis Vincent van Gogh, von Amedeo Modigliani bis zum Bluesmusiker Robert Johnson.


Diese Vorstellung vom Künstler als notwendigerweise in Opposition zur Gesellschaft und zur „Welt“ stehend, oft als Märtyrer und Verfluchter, hat das Publikum bis heute tief geprägt. Oft scheint es uns, als sei dies das Wesen des Künstlers. Es handelt sich jedoch um eine historische Figur: Sie existierte nicht bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als Künstler, Schriftsteller und Musiker „Angestellte“ der herrschenden Mächte waren und – mit wenigen Ausnahmen – deren Werte vermittelten. Mit der Romantik öffnete sich eine tiefe Kluft zwischen Kultur und Gesellschaft – und auch diese betraf nur einen Teil, wenn nicht sogar nur einen kleinen Teil der Künstler: Die Mehrheit von ihnen machte weiterhin die Kunst, die die Auftraggeber oder die breite Öffentlichkeit erwarteten. Diese sind heute jedoch in der Regel vergessen – wir erinnern uns in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem an die oppositionellen Autoren, die Neuerer, die Verfluchten.


Der oppositionelle, kritische, emanzipatorische und revolutionäre Charakter der Kunst ist jedoch nicht Teil eines zeitlosen Wesens. Fast die gesamte Geschichte hindurch war die Kunst vor allem ein Spiegel der Gesellschaft und konnte sich nur gelegentlich, zwischen den Zeilen, von ihr lösen. Und es gibt keine Garantie dafür, dass die Kunst immer eine oppositionelle Rolle beibehält. Bis heute lebt die bildende Kunst weitgehend von dieser glorreichen Vergangenheit, die durch die Abneigung, die der Nationalsozialismus und der Stalinismus gegenüber der modernen Kunst demonstrierten, noch verstärkt wurde. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die moderne Kunst – sagen wir kurz: die nicht-mimetische Kunst, die mit dem Impressionismus entstand – zumindest im Westen von der Öffentlichkeit und den Institutionen nicht nur vorbehaltlos akzeptiert, sondern schaffte es auch, sich als die einzig akzeptable Kunst zu etablieren. Die moderne Kunst und später, ab den 1960er Jahren, die zeitgenössische Kunst war per Definition „progressiv“, selbst wenn sie völlig abstrakt oder konzeptuell war. Lange Zeit setzte sich die moderne Kunst durch ein regelrechtes ideologisches Sperrfeuer gegen jeden Gegner durch, der unweigerlich als „reaktionär“, „faschistisch“ oder „stalinistisch“ klassifiziert wurde. In den letzten Jahrzehnten ist jedoch ein Großteil der zeitgenössischen Kunst wieder dazu übergegangen, eine Hofkunst zu sein, die den neuen Herren der Welt dient: den großen Wirtschaftskonzernen, vor allem in den Bereichen Mode, Luxus und Unterhaltung. Andy Warhol hat den Weg geebnet, danach sind Jeff Koons, Damien Hirst, Yayoi Kusama ihn weitergegangen – im Dienste von Vuitton, Armani, Disney. Und im Dienste der Sammler: Wir wissen, dass die zeitgenössische Kunst nur ein großes Geschäft ist. Die im Rampenlicht stehende Kunst ist nicht mehr auch eine Ware, sie ist nur noch Ware. Eine Handvoll Künstler sind Superstars der Neureichen, die Kunst nur wegen des Glamours kaufen. Diese Kunst ist eine Investition – eine „sichere Wertanlage“, wenn es sich um bereits berühmte Künstler handelt, und ein riskantes Spekulationsobjekt bei neuerer Kunst. Oft will diese Kunst das Publikum vor allem mit gigantischen Dimensionen, sehr teuren Materialien und spektakulären Effekten beeindrucken. Sie ist eine „Siegerkunst“, wie der deutsche Kunsthistoriker und Kunstkritiker Wolfgang Ullrich sagt (vgl. Ullrich 2016), eine Kunst für die Reichen, ein reines Luxusprodukt. Man könnte sagen, dass die Kunst nach einer (teilweisen) Freiheit von zwei Jahrhunderten in den Heimatstall zurückgekehrt ist und wieder zu

Kreuze kriecht. Das Inhotim-Museum[*] passt perfekt in diese Kategorie! Es ist sogar unfair, diese zeitgenössische art world als „elitär“ zu bezeichnen – sie ist es nur in dem Sinne, dass sie sehr teuer ist, nicht in dem Sinne, dass sie nur von Leuten verstanden werden kann, die an den besten Universitäten ausgebildet wurden oder die mit fünf Jahren anfingen, Latein zu lernen, wie es in einer gewissen europäischen Bourgeoisie um 1900 üblich war! Ganz im Gegenteil, die Bezugswelt dieser Künstler – nennen wir als Beispiel noch einmal Andy Warhol und Jeff Koons – ist genau die anti-elitäre Welt der Kulturindustrie, mit Comicfiguren, Popstars, Turnschuhen, Sportlern...


Dennoch, und das ist der bemerkenswerte Unterschied zur höfischen Kunst früherer Zeiten, spricht die zeitgenössische Kunst ständig von Überschreitung, Bruch, Tabubruch, Provokation und behauptet fast immer, im Dienste irgendeiner edlen Sache, irgendeiner misshandelten Minderheit zu stehen, den Respekt vor dem Anderssein, Toleranz und Ökologie zu fördern – und kombiniert so die immer noch progressive Aura mit dem Geld der Superreichen und kann diejenigen, die sich fragen, wozu das alles gut sein soll, stets als „reaktionär“ abstempeln.


So befinden wir uns trotz ihres sehr elitären Auftretens und des Unverständnisses der Öffentlichkeit mitten in der Kulturindustrie! Die kapitalistische Gesellschaft hat nach dem ersten Angriff, den die Avantgarden Anfang des 20. Jahrhunderts unternommen haben, deren Innovationen aufgenommen und sie auf ihren formalen Aspekt reduziert. Der Dadaismus war der schillerndste Fall – von einer authentisch subversiven Kunst wurde er zur wichtigsten Inspirationsquelle für die zeitgenössische Kunst nach 1960. Man muss dazu sagen, dass die meisten Künstler nicht allzu lange gezögert haben, sich auf das Spiel einzulassen. Die Situationistische Internationale war in den 1950er und 1960er Jahren wohl der konsequenteste Versuch, das authentische Erbe der Avantgarden gegen seine Vereinnahmung zu verteidigen, indem sie die „Überwindung der Kunst“ in einer revolutionären Aktivität propagierte.


Also hat sich die Kulturindustrie viel weiter ausgedehnt, als Adorno und Horkheimer 1944 vorhersehen konnten. Sie hat eine erstaunliche Fähigkeit bewiesen, fast jede Form von Protestkultur zu absorbieren. Das Wort selbst hat seine Bedeutung völlig verändert, und das ist sehr bezeichnend: Während es für seine Schöpfer, wie gesagt, eine eindeutig pejorative Bedeutung hatte und einen Kampfbegriff darstellte, indem es auf eine Absurdität hinwies, kann man heute, und schon seit einiger Zeit, an den Universitäten Masterstudiengänge in „Kulturindustrie“ finden! Der Begriff verweist dann auf die Organisation von Veranstaltungen und das Management von Kultureinrichtungen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass diejenigen, die diese Kurse erstellen, und erst recht diejenigen, die sie belegen, nicht einmal den Ursprung des Begriffs kennen!


Gleichzeitig mit dem Erfolg der Kulturindustrie, sich selbst einen Adelstitel zu verleihen und ihre verachtenswerten Ursprünge vergessen zu machen, konnte sie einen sehr großen Teil des kulturellen Feldes im weitesten Sinne für sich vereinnahmen. Wie wir gerade gesagt haben, ist das Erbe der Avantgarde, der experimentellen Kunst, zu einer neuen offiziellen Kunst geworden, die im Dienste der herrschenden Klassen, der neuen Aristokratie und neuer Formen von Klerus steht, allerdings mit dem Unterschied, dass diese neuen herrschenden Klassen unendlich ignoranter und vulgärer sind als die alten. Die Sammler von heute kaufen einfach, was teuer ist, ohne einem persönlichen Geschmack zu folgen.


Wenn die Kunst in der Vergangenheit das Gegenteil der Warenwelt zu sein schien, in der alles verkauft und gekauft wird, hat ihre Kommerzialisierung schließlich die „hohe“ Kunst erfasst, aber genauso gut jede Kunst verschlungen, die vorgibt, von „unten“ zu kommen oder oppositionell zu sein. Rock und Punk, Hip Hop und Rap, Street Art und Graffiti, Künstler wie Keith Haring oder Basquiat wurden schnell in die große Unterhaltungsmaschinerie integriert, jenseits der Absichten ihrer Schöpfer. Egal, für welche Sache geworben wurde – Antirassismus und Emanzipation der Subalternen, Hass auf die Polizei und Lob des Gangsters, Feminismus und Verteidigung sexueller Minderheiten, aber auch soziale Gerechtigkeit, humanitäres Engagement, Sorge um die Umwelt – am Ende sieht alles gleich aus, wenn es über die Bildschirme flimmert. McLuhan und Andy Warhol, aber auch Guy Debord hatten dies auf ihre jeweils eigene Weise erkannt. Häufig drücken diese Formen der Alternativkultur, des Undergrounds, der Subkultur oder der Jugendkultur eine radikale Ablehnung der Welt, wie sie ist, aus und präsentieren sich als Stimme all derer, die in der kapitalistischen Welt keinen Platz haben. Manche betonen, dass die Urheber von Ausdrucksformen wie Rap oder Street Art zu den Kategorien von Menschen gehören, denen der Zugang zur Kultur immer verwehrt wurde, und dass ihre Produkte daher nicht kritisiert werden dürfen – vor allem nicht von Menschen, die nicht zu derselben Kategorie gehören, sondern zu den „Privilegierten“. Diese kulturellen Formen sind jedoch fast immer mit einem hypermodernen Kapitalismus verbunden, der aus Technologie und Computer, Geschwindigkeit und übermäßiger Kommunikation, Marken- und Kleiderkult und Outfit im Allgemeinen besteht. Es handelt sich im Wesentlichen um eine bereits domestizierte Revolte, um eine Vereinnahmung des Subversiven zur Produktion immer aufregenderer Waren, die stets neue Bevölkerungsschichten erreichen. Es sind Formen der Revolte, die sich vor allem durch die Wahl der konsumierten Waren ausdrücken. In der Regel richten sich diese Revolten nicht gegen die kapitalistische Gesellschaft als solche, sondern drücken vielmehr den Wunsch aus, in sie hineinzugelangen, und die Wut darüber, von ihr ausgeschlossen zu werden.


Design ist zu einer Kunst geworden, die alle anderen umfasst, die Worte, Bilder, Formen und Klänge für ihre Zwecke benutzt. Dazu beizutragen, dass Waren, die sich untereinander nicht durch ihre Qualität unterscheiden, trotzdem begehrenswert sind, ist nun das Schicksal fast der gesamten Kultur. Der französische Soziologe Gilles Lipovetsky hat diese Situation recht gut beschrieben, in der die Künste nach der Zeit ihrer Rebellion, die auch als Zeit der autonomen Kunst bezeichnet wird, im Dienst der multinationalen Design-, Mode- und Unterhaltungskonzerne stehen (vgl. Lipovetsky/Serroy 2013) – die selbst zu den größten Unternehmen der Welt gehören. Disney, Nike, Dior oder Armani sind von der Größe her vergleichbar mit Ölkonzernen oder Autoindustrien, und selbst „seriöse“, materielle Produkte wie Autos werden hauptsächlich aufgrund ihres Designs verkauft.


Diese Feststellung scheint ziemlich trostlos zu sein. Was bleibt dann noch an kulturellen Praktiken übrig, die nicht in den zeitgenössischen Kapitalismus integriert sind?


Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Möglichkeiten vorschlagen, die aber nichts weiter als Möglichkeiten sind.


Einerseits gibt es eine Fülle von kulturellen Praktiken außerhalb der Scheinwerfer der Unterhaltungsbranche. Menschen, die Lieder für Freunde komponieren oder Treffen für improvisierte Poesie abhalten, oder die mit Xylografie oder anderen Formen der handwerklichen Grafik arbeiten, und alle Künstler, ob professionell oder nicht, die vor allem etwas sagen wollen und die Frage des Inhalts nicht als zweitrangig oder unwesentlich betrachten!


Andererseits haben wir angesichts dessen, was alle Merkmale einer allgemeinen Krise der kulturellen Sphäre als Teil der allgemeinen Krise des Kapitalismus aufweist, immer noch die Möglichkeit, uns individuell oder kollektiv mit dem immensen kulturellen Erbe, das wir erhalten haben, auseinanderzusetzen. Was wirklich zählt, ist, dass wir beim Betrachten, Lesen oder Hören eines Werks einen existenziellen Schock erfahren. Dieser Moment kann manchmal entscheidend für ein Leben sein, vor allem in der Adoleszenz. Und jedes Werk, aus jeder Epoche, jedem Land oder jeder Kultur, jeder Autor kann diese Rolle spielen. Die Auswahl ist praktisch unendlich. Natürlich unter einer Bedingung: sich der universellen Natur wahrer Kultur bewusst zu werden. Es ist überhaupt nicht notwendig, dass ein Werk in unserer Zeit geschaffen wurde, um es genießen zu können, oder dass der Autor derselben sozialen Klasse, demselben Geschlecht oder derselben „Rasse“ angehört wie wir. Das Verdienst echten kulturellen Schaffens besteht gerade darin, dass es uns aus unserem besonderen und begrenzten Zustand herausreißt und uns mit der Gesamtheit der menschlichen Existenz verbindet. Wenn wir unser persönliches Leben mit dem eines Chinesen aus dem 17. Jahrhundert verbinden können, uns in den Schicksalsschlägen eines Griechen vor 2800 Jahren wiederfinden, uns von der Musik eines Deutschen aus dem 18. Jahrhundert bewegen lassen, von einem Renaissance-Porträt berührt werden oder uns in einem polynesischen Lied wiedererkennen, bedeutet das, unseren Horizont zu erweitern, unsere Erfahrungen zu relativieren und zu verstehen, inwiefern sie Teil eines gemeinsamen menschlichen Erbes sind oder nicht. Natürlich gilt dies nicht für die gesamte Kultur der Vergangenheit, weit gefehlt. Aber angesichts des „Präsentismus“, der die heutige kapitalistische Lebensweise kennzeichnet und in dem „unsere“ Welt als die einzig mögliche betrachtet wird, ist es sehr heilsam, sich mit dem ganzen Reichtum menschlicher Erfahrung auseinanderzusetzen. Wenn man sich als Kind für Piraten, als Jugendlicher für verfluchte Dichter und als junger Erwachsener für Revolutionäre begeistert, wächst die Vorstellungskraft, und man baut sich seine eigene Welt auf – ganz im Gegensatz zu einer Welt der Bilder, die auf Bildschirmen geliefert werden, industriell produziert werden, mit dem Ziel, Profit zu machen und möglichst vielen Menschen zu gefallen. Wir erleben eine zunehmende Standardisierung und Kolonisierung der Vorstellungswelt und den Verlust jeder individuellen oder in spezifischen Umständen verankerten Vorstellungswelt. Das übermäßige Gewicht von Bildern spielt dabei eine Rolle – Bilder ermöglichen es weit weniger als Worte, sich eine persönliche Sicht der Welt zu erarbeiten. Um die große französische Schriftstellerin und Essayistin Annie Le Brun zu zitieren: Die Abholzung des Imaginären ist ebenso besorgniserregend wie die Abholzung des Amazonas.





Literatur


Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.


Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (2010): Dialektik der Aufklärung (19. Auflage). Frankfurt/Main: Fischer.


Jappe, Anselm (1995): Sic transit gloria artis. Theorien über das Ende der Kunst bei Theodor W. Adorno und Guy Debord, in: Krisis 15, S. 143-173, online unter wertKRITIK.org


Lipovetsky, Gilles/Serroy, Jean (2013): L’Esthétisation du monde: vivre à l’âge du capitalisme artiste. Paris: Gallimard.


Ullrich, Wolfgang (2016): Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust. Berlin: Wagenbach.





Endnote


[*] Das Centro de Arte Contemporânea Inhotim (Zentrum für Gegenwartskunst) ist ein riesiges Freiluftmuseum für zeitgenössische Kunst in Belo Horizonte (Brasilien).